Die Energie indigener Kultur und Religion

Die Energie indigener Kultur und Religion: Eine bedeutende Quelle des Widerstands und der Lebensgestaltung
Alfons Vietmeier schreibt aus Mexiko
“Der andere Blick”, Ausgabe April 2011

1.
Am Sonntagnachmittag des 20. März bewegen hunderttausende ihre Arme hin zur abendlichen Sonne: Diese Menschen bewegen und schütteln Hände und Arme, sie tanzen dabei in kleinen Kreisen im Reigen. Es ist genau die Stunde des Frühlingsbeginns. Zu Füßen der großen Sonnenpyramide von Teotihuacan (etwa eine Autostunde entfernt von der Megacity Mexiko) sind es etwa 50.000 Menschen nach Schätzungen der Medien und insgesamt eine halbe Million in den verschiedenen archeologischen Zonen. “Wir füllen uns mit kosmischer Energie. Diese braucht unsere Seele: Ich selbst und wir hier und unsere Gesellschaft. Denn wir alle sind schlimm entseelt”, erzählt eine junge Frau im Interview in den Abendnachrichten. “Ich bin Biologin. Unsere Gruppe hier arbeitet in der Universität und wir wissen was los ist. Überall Gewalt, unter uns Menschen und gegen die Natur! Schaut doch mal jetzt, was in Japan passiert ist! Und vor einem Jahr bei der Erdöltiefbohrung im Golf von Mexiko… Ist das Fortschritt, wenn wir Überfluss haben, immer mehr Milliardäre …sowie schädliche Energie, Katastophen …und vor allem immer mehr Müll produzieren? Der Krebs nimmt zu und vernichtet unsere Körperzellen. Auch unsere Gesellschaft insgesamt hat Krebs. Deshalb sind wir hier. Die Weisheit unserer Vorfahren, ihre Kultur und Religion erfüllt uns mit Energie!”
Wer sind diese Hunderttausende? Es ist ein buntes Gemisch aus vielen jungen Familien und Jugendlichen die eine “Event- Atmosphäre” geniessen, viele Anhänger neuer religiöser New-Age-Bewegungen sind dabei, viele Verunsichterte aus der großstädtischen Berufswelt, die “irgendwie” spüren, dass ihr Leben immer sinnloser wird. Sie finden keine reale affektiv – solidarische Alternative in ihren Kirchen; eine wachsende Szene der “Eine andere Welt ist möglich” – Bewegungen, unter ihnen auch viele Akademiker und dann natürlich auch traditionelle indigene, also “indianische” Organisationen. Und da fast alle hier zumindest “irgendwas” an “Indio – Blut” in sich haben, ist deren Kulturerbe und ihre Utopie das Verbindende.

2.
Nach den neuesten Daten des Statistischen Bundesamtes gehören von den 112 Millionen Mexikanern etwa 15 %, d.h. über 18 Millionen Personen, zu den über 50 registrierten Indio – Volksgruppen. In Wirklichkeit ist der Prozentsatz erheblich höher, wenn kulturelle und religiöse Kriterien hinzugenommen werden. Die zahlenmäßig stärksten Volksgruppen sind beheimatet in den Bundesländern Yucatan (Maya Yucateco), Chiapas (Tzotzil, etc.), Oaxaca (Zapteken und Mixteken), Veracruz und Guerrero. In der Megacity Mexico wohnen mehr als doppelt so viele Indios wie es indianische Völker in ganz Brasilien gibt. Sie überleben und widerstehen. Ihre Zahl nimmt zu, sie haben mehr Kinder als andere. Mexiko hat also nicht nur eine reiche Indio – Vergangenheit, die in Museen zu bewundern ist, sondern eine gewichtige indigene Gegenwart. Und: Die Energie ihrer Kultur und Religion ist ganz wichtig, um die schwierigen Zeiten auszuhalten und persönliche, soziale und gesellschaftliche Zukunftsperspektiven zu vitalisieren.

3.
Worin besteht diese Energie? Die indigenen Völker in Lateinamerika haben sich über Jahrtausende, selbständig und ohne Fremdeinfluss, ihre Antworten erarbeitet auf die vitalen Grundfragen menschlicher Existenz:
Wie können wir überleben? Ökologie und Ökonomie gehen Hand in Hand, Gemeinwirtschaft gibt es ohne Privateigentum, Tauschwirtschaft ohne Gold und ohne Geld, etc.
Wie können wir zusammenleben? Es gibt ein komplexes Dienstsystem an der Gemeinschaft: Jeder ist irgendwann in jedem Dienst eingespannt; für jeden Dienst gibt es eine Feder und alle Dienste zusammen ergeben den großen Federschmuck und das Recht der Teilnahme am “Rat der Weisen”.
Wie können wir dies alles mit den kosmischen Kräften verknüpfen, die unsere Existenz ordnen? Alles, was wir sind und schaffen, ist verknüpft mit dem Ganzen und alles ist durchwoben von göttlicher Energie, die immer neu Leben schafft, erhält und erneuert.
Der Mond macht die weiblichen Dimension (Monatsregel) des Kosmos sichtbar, also alles, was mit Fruchtbarkeit, Geburt und Erhalt von neuem menschlichen Leben und dem Leben der Natur zu tun hat. Es gibt einen naturbedingten Rhythmus des Jahres und des Lebens. Es ist der Weg vom Süden (tropische Lebensfülle) in den Norden (Kälte und Tod). Deshalb gebührt der “Mutter Erde” Respekt und Pflege, denn sie erhält uns. Sie darf deshalb z.B. nicht in Privatbesitz zerstückelt oder genetisch manipuliert werden. Sie wird in einer religiösen Zeremonie um Erlaubnis gebeten, das Feld zu beackern… Das Leben von Natur und Mensch ist mittels eines Mondkalenders geordnet.
Dieser Naturrythmus wird täglich durchkreuzt von der Sonne, der männlichen Dimension des Lebens. Die Sonne geht auf (wird geboren) in Osten und geht unter (stirbt) in Westen. Die Sonne wird damit zum Ordnungssymbol für den täglichen Einsatz um ein gutes und gerechtes Miteinander. Das konkretistert sich dann im sozialen und politischen System, das das Gemeinwohl garantiert. Dies wird mittels eines Sonnenkalenders geordnet.
Beide Dynamiken durchkreuzen sich täglich und bilden das “Kreuz des Lebens”. Insofern ist die göttliche Energie immer fruchtbar in der Ergänzung zweier Kräfte: Frau und Mann, Sonne und Mond, Tag und Nacht, Leben und Tod… Es gibt nur Leben – Sinn – Zukunft im Miteinander von beiden.
Die symbolische Synthese dieser Kosmovision – Philosophie / Theologie finden wir im Quetzalcoatl – Mythos die “gefiederte Schlange”: Als Schlange lebt sie in der Erde und verkörpert Leben und Tod. Und sie bekommt Federn, d.h. Himmel und Erde integrieren sich. Transzendenz in Immanenz, und umgekehrt. Wäre das nicht dialogfähig zum Thema “Christus”?

4.
Mir geht es hier keinesfalls darum, die indigene Kultur und Religion zu idealisieren. Im realen Geschichtsverlauf hat sich eine pyramidalen Mehrklassengesellschaft herausgebildet, es gab grausame Könige, Menschenopfer und Kriege.
Aber es gab vor allem auch die Eroberung durch die Spanier: Das war ein dramatischer Schock zweier Welten, Kulturen und Religionen mit brutalen Siegern und vergewaltigten Verlierern, ein noch heute andauerndes Trauma. Der große Anthropologe und Soziologe Tzvetan Todorov hat das in seiner Studie “Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen” differenziert herausgearbeitet bezüglich der Alterität, d.h. der Schwierigkeit bis Unfähigkeit, mit anderer Kultur und Religion adäquat umzugehen. Ein wirklicher interkultureller und interreligiöser Dialog auf Augenhöhe war tragischerweise damals unmöglich und ist bis heute nicht einfach. Um von Deutschland zu sprechen: Liegt hier nicht auch heute noch ein Schlüsselproblem im Umgang mit dem Islam?
“Die offene Adern Lateinamerikas”, das berühmte, beinahe klassische Buch von Eduardo Galeano ist weiterhin gültig in seiner Grundstruktur: Der Herrschaftskontext ist fast immer auf Ausbeutung orientiert: Die offenen Adern von Natur (Bodenschätze) und Menschen (Arbeitskräfte) bluten weiter aus…
Mir ist wichtig zu unterstreichen, dass in der mexikanischen Volksseele, d.h. in ihrem “kollektiven Unbewussten” (um einen Begriff von C.G. Jung aufzugreifen), die Grundelemente indigener Kultur und Religion weiterleben, aber unerklärt und ohne entsprechendes kritisch – erneuerndes Bewusstsein. Darüber gestülpt wurden die religiösen Gebräuche spanisch – katholischen Frömmigkeit des 16. Jahrhunderts und Katechismusnormen der Gegenreformation, Beides als das neue “Über – Ich”.
So entstand die typisch mexikanische Volkfrömmigkeit. Für die Menschen, insbesondere wenn sie arm, unterdrückt und ohne Schutz leben, sind religiöse Ausdrucksformen (Zeichen und Riten) notwendig, um so Vitales wie Geburt und Tod, Krankheit und Konflikten, die Freuden einer Hochzeit oder einer gelungenen Ernte mit dem Göttlichen zu verbinden und Gnade zu erfahren. Was als heilsam erfahren wurde von der ererbten Religion (und nicht direkt verboten bzw. verteufelt wurde), das wurde beibehalten. Und was von der neuen (christlichen) Religion nicht als Widerspruch zum Traditionellen erlebt wurde, das wurde integriert. Das Ergebnis ist viel Synkretistisches. Ich möchte das kurz erläutern an den beiden Ursymbolen “Mond” und “Kreuz”:
Das göttlich Weibliche als Urenergie hat sich in der Mariengestalt, der “Señora de Guadalupe” verdichtet. Sie ist “Gott und Mutter”, die immer hilft, wenn Not ist. Sie tröstet, heilt und ermutigt. Ihr Heiligtum steht auf einem vorspanischen Wallfahrtsort der “Mutter Erde” (Tonantzin). Es gibt kaum eine Familie, kaum ein Taxi, einen Markt oder oder ein Geschäft, beinahe alle verehren ihr Bild in einer Art “Herrgottswinkel”. In dieser Mariengestalt und mit ihr humanisiert sich unser familiärer und sozialer Alltag. Sicher hat das Tröstliche viel mit Verdrängung zu tun. Hier wird deshalb die Wichtigkeit der Basisgemeinden und der befreienden Erziehung (Paolo Freire) deutlich.
Das göttlich Männliche hat sich in verschiedenen Figuren des “Gekreuzigten” verdichtet: Er ist “Gott und solidarischer Bruder”. Sein Erleiden von Gewalt ist auch unsere brutale Alltagserfahrung. Er nimmt sie in sich auf und verwandelt sie in positive Energie. In ihm und mit ihm humanisiert sich unser gesellschaftliche Alltag und wächst die österliche Kraft des immer neuen und befreienden Auferstehens inmitten von Ungerechtigkeit aller Art.
5.
Die vitalen Grundfragen menschlicher Existenz bleiben, auch wenn sie neue Ausdruckformen bekommen und neue Organisationsformen benötigen.
Im Blick auf die großen ökologischen Katastrophen: Wir Menschen müssen begreifen, dass wir nicht über die Natur herrschen, um sie beliebig auszubeuten. Wir sind Teil eines umfassenderen Ökosystems und es ist dringend not-wendig, uns mit unserer “Mutter Erde” zu versöhnen.
Im Blick auf die wachsende Gewalt im alltäglichen Miteinander, unter den gesellschaftlichen Gruppen und in den soziopolitischen Strukturen: Wir Menschen müssen (statt immer mehr haben zu wollen und dies gegen alle anderen durchboxen zu müssen) erneut begreifen, dass nur im solidarischen Miteinander unsere Gesellschaft überlebenfähig ist.
Diese Neuorientierung beinhaltet radikale wirtschaftliche Umstrukturierungen und Veränderungen der entsprechenden politischen Rahmenbedingen. Diese sind nur möglich, wenn zugleich auch ein radikaler Bewusstseinswandel und damit ein Kulturwandel in der Bevölkerungsmehrheit sich vollzieht. Die verschiedenen Lebens- und Gesellschaftsbereiche müssen insgesamt und integral neu beseelt werden. Es geht dabei nicht um den in der griechischen Philosophie gestalteten Begriff “Seele”, sondern um Energie, die Natur mit Wirtschaft, Sozialkultur mit Politik, Kunst mit Religion, etc. wieder neu in positive Beziehungen bringt. Es geht um einen holistischen Neuansatz.
Wir in Mexiko besitzen sicher dafür nicht den “Stein der Weisen”. Wir erfahren jedoch einen Umschwung: Statt arrogant aufklärerisch auf die “armen, dummen, zurückgebliebenen, abergläubisch – frommen, naiven, … Indios” herabzuschauen, wird erneut deren Reichtum einer Spiritualität entdeckt, die verschiedenen Lebensdimensionen verbindenet. Sie ist für Millionen Menschen die reale Quelle, um den harten Alltag auszuhalten. Und sie ist zudem und immer mehr eine Art Vitalisierungskraft, um den Kulturwandel voranzubringen, der die reale Not wendet.
Copyright: Alfons Vietmeier, Mexiko.