Meinen Tod annehmen – meinen Tod sterben dürfen. Ein Interview mit Prof. Wilhelm Gräb, Humboldt Universität

Meinen Tod annehmen, meinen Tod sterben dürfen

Ein Interview mit Prof. Wilhelm Gräb, Humboldt Universität zu Berlin

Die Fragen stellte Christian Modehn. Veröffentlicht am 12. 11.2012

In unserer Gesellschaft, vor allem im Fernsehen und Kino, sind Sterben und Tod, sind Mord und Totschlag, „spielerisch“ wie real in Kriegen und Katastrophen, allgegenwärtig. Zeigt sich in dieser Überfülle von Todesbildern eine Fluchtbewegung vor der Auseinandersetzung mit meinem eigenen Tod?

Bei solchen Kulturverfallsklagen werde ich immer etwas misstrauisch. Ich bin mir nicht sicher, ob die Menschen früherer Generationen, als das Sterben in der nächsten Umgebung von Familie und Nachbarschaft noch viel häufiger vorkam als heute, sich mit dem Tod und dem eigenen Sterben intensiver auseinandergesetzt haben. Es ist zwar richtig, dass in unserer Mediengesellschaft die Begegnung mit dem Tod der anderen zu einer solchen aus zweiter Hand geworden ist. Wir erleben den Tod nicht mehr so hautnah, seltener in sozialer Nähe, sind aber durch die Medien dennoch ständig mit ihm konfrontiert. Gleichwohl wissen wir genauso, dass wir sterben müssen. Jeder und jede weiß das. Und auch heute fragen schon die Kinder, was das heißt, tot zu sein.

 

Ich meine, dass die Menschen sich heute genauso intensiv mit der Tatsache von Tod und Sterben auseinandersetzen wie früher. Was sich ändert, dies aber durch die ganze Menschheitsgeschichte hindurch tut, ist die Kultur unseres Verhaltens dazu, dass wir sterben müssen. Der Tod wird auch heute nicht verdrängt, aber die Vorstellungen, die sich mit ihm verbinden, sind andere geworden. Sie sind in ihrer Vielfältigkeit vor allem so unübersichtlich. Es werden keine direkt neuen Vorstellungen entwickelt. Alles, was die Religionsgeschichten der Menschheit sowie ihr theologisches und philosophisches Nachdenken an Todes- und Jenseitsvorstellungen hervorgebracht haben, ist präsent und kann leicht im Internet abgerufen werden. Aufschlussreich ist es, die Esoterik-Foren und auch die Internet-Friedhöfe zu besuchen. Da kann man sehen, wie die Frage nach Tod und Sterben und vor allem nach dem „danach“ auch heute die Menschen beschäftigt. Man kann verfolgen, wie sie das reiche Angebot an Jenseitsvorstellungen, das die Welt der Religionen und Philosophien bietet, nutzen, letztlich doch, um sich zum eigenen Tod, von dem man durchaus weiß, dass er sich nicht wird vermeiden lassen, verhalten zu können.

Aber ist es nicht so, dass unsere Gesellschaft, die wie selbstverständlich völlig aufs Haben und Besitzen, aufs Bewahren und Verteidigen setzt, auf die Verdrängung des Altwerdens („Anti – Aging“) usw., eine „Kultur des Loslassens“ verhindert, des Sich – Freigebens auch auf den eigenen Tod hin?

Wenn ich von mir selbst reden darf, so muss ich gestehen, dass ich die „Kultur des Loslassens“, für die Sie gewissermaßen plädieren, selbst nicht kann und wahrscheinlich auch bis zuletzt nicht lernen werde. Und ich frage mich auch, ob das sein muss. Muss ich mich auf den eigenen Tod hin „freigeben“? Ja, irgendwann muss ich mich in das Unvermeidliche fügen. Aber, ein „Mich-in-den-eigenen-Tod-Freigeben“, das ist ein mir fremder Gedanke. In solcher Rede ist für mich zu sehr die Zumutung ausgedrückt, dass ich mich gewissermaßen aus eigenem Antrieb und somit absichtsvoll in den Tod hineinbegeben könnte. Das ist eine mir nicht nachvollziehbare Vorstellung. Für mich behält die Einwilligung in den Tod den Charakter einer im letzten widerwilligen Fügung ins Unvermeidliche.

Ich lebe doch so gerne und kann mir mein eigenes „Nicht-Mehr-Dasein“ gar nicht denken. Zugleich weiß ich, dass ich diesen Gedanken denken muss. Ich denke ihn ja auch immer wieder. Aber woran denke ich, wenn ich meinen Tod und mich als Toten denke? Ich vermute, dass für die meisten von uns Heutigen die Gedanken über den Tod, auch den eigenen Tod, auch diejenigen, von denen wir wissen, dass die Religionen sie sich gemacht haben und machen, zu Grenzgedanken geworden sind. Es ist uns klar, dass wir zwar, weil wir um unseren Tod wissen, auch über die Grenze des Todes hinaus zu denken genötigt sind, aber wir wissen zugleich, dass wir über diese Grenze hinaus kein Wissen zu gewinnen vermögen. Alles, was wir über den Tod und ein mögliches „Danach“ sagen, entspringt unseren grenzgängerischen Todes- und Jenseitsgedanken. Dabei lassen wir uns von philosophischen, religiösen und theologischen Lehren inspirieren, versuchen, die verschiedenen Vorstellungen von der unsterblichen Seele, der Auferstehung der Toten, der Wiedergeburt oder der astralleiblichen Verwandlung auf ihre innere Stimmigkeit zu überprüfen. Aber letztlich sind wir uns doch dessen bewusst, dass wir mit dem Tod in die Nacht der Bildlosigkeit eintreten. Alle Todes- und Jenseitsvorstellungen sind Versuche, begreiflich zu machen, was wir einfach nicht begreifen können.

Aber genau das zeichnet uns Menschen unter allen Kreaturen aus, dass wir von unserem unvermeidlichen Ende wissen und deshalb auch über die Grenzen unseres Wissens hinaus denken, hinaus glauben und hinaus hoffen. Weil uns das Wissen um unsere Endlichkeit ständig begleitet, auch wenn wir uns nicht ständig mit diesen Fragen beschäftigen, führen wir unser Leben gewissermaßen in der permanenten Antizipation unseres Endes, im Vorlauf zum Tod, wie Martin Heidegger das in seiner Analytik des menschlichen Daseins beschrieben hat. Doch auch für Heidegger war die bewusste Antizipation des eigenen Todes kein „Sich-in-den-Tod-Freigeben“, sondern die Ermöglichung einer gesteigerten Bewusstheit und Wertschätzung des einmaligen, zeitlichen, endlichen Lebens. Die Bewusstheit der Unvermeidlichkeit der eigenen Endlichkeit macht das eigene Leben gerade unendlich kostbar.

Warum also nicht das Leben auskosten, es genießen, solange es uns gegeben ist? Ich kann auch an der Lebenshaltung, die Sie ansprechen, nicht per se etwas Verwerfliches finden. Aus dem Bewusstsein unserer Endlichkeit entspringt schließlich auch die Sinnfrage. Dass das Jenseits einen Ausgleich für diesseitige Entbehrungen bereit hält, glauben die meisten Menschen zu Recht nicht mehr. Der Jenseitsglaube ist also nicht die Alternative zu der von Ihnen als problematisch empfundenen Gegenwartsversessenheit und Besitzmentalität. Worauf es m.E. ankäme – und so würde ich gerne auch den christlichen Ewigkeitsglauben verstanden wissen – das wäre die Bewusstheit der unendlichen Bedeutung jedes einmaligen, endlichen Menschenlebens. Sie macht das Herz frei, lässt die anderen sehen, denen dieses Lebensrecht genauso zukommt wie mir selbst. Der Glaube an den „unendlichen Wert jeder Menschenseele“ (A. v. Harnack), kann die Gewissheit bedeuten, auf keinen Fall vergeblich zu leben. Diese Gewissheit aber macht das Leben kostbar, ja, auch wenn es zuletzt eher sollte erlitten werden müssen.

Immer mehr Menschen in Europa fordern – laut Umfragen -, dass sie ihren eigenen, selbst verantworteten Tod sterben wollen, etwa im Fall von sehr starken Schmerzen bei unheilbaren Erkrankungen. Gehört  das „selbst bestimmte Abschiednehmen“ (im Rahmen aktiver Sterbehilfe) auch zu einer christlichen Kultur von Sterben und Tod?

Gibt es nicht auch eine Freiheit zum Sterben dann, wenn das Leben so erfahren werden muss, als nur noch leidvoll und erbärmlich, danach fragen Sie? Müssen Menschen, wenn die Schmerzen nicht mehr zu ertragen und keine Aussicht auf Heilung mehr besteht, nicht sagen können: Es ist genug. Lasst mich sterben! Stellt die Apparate ab! Das ist in der Tat eine nur zu berechtigte Frage.

Die Möglichkeit, lebensverlängernde Maßnahmen zu verweigern, ist ja auch in Deutschland gesetzlich eingeräumt. Außerdem sieht das Gesetz zur „Patientenverfügung“ die Möglichkeit vor, zum Zeitpunkt noch voller eigener Zurechnungsfähigkeit, selbst darüber zu bestimmten, dass – sollte man dazu am Ende nicht mehr fähig sein – von den Ärzten entsprechend entschieden werden darf.

Die Grenzen des Erlaubten sind in Deutschland vom Gesetzgeber allerdings eng gezogen. Außer der Sistierung bestimmter lebens-erhaltender Maßnahmen ist es Ärzten nicht erlaubt, selbst wenn der Sterbende dies ausdrücklich will und seinen Willen zu äußern auch in der Lage ist, Eingriffe vorzunehmen, die gezielt den Tod herbeiführen. Sie fragen, ob das richtig ist. Wird damit nicht das Recht auf Selbstbestimmung verweigert? Sollte die Möglichkeit aktiver Sterbehilfe, wie sie in anderen Ländern, z.B. in der Schweiz oder den Niederlanden gegeben ist, nicht auch bei uns eröffnet werden?

Das ist eine Frage, die auch bei uns heftig diskutiert wird. Dabei hat es zunächst eine gewisse Plausibilität, zu erwarten, dass, wer für das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben eintritt, auch für ein „selbstbestimmtes Sterben“ plädieren müsste. Ich muss jedoch gestehen, dass mir das schwer fällt. Zunächst gar nicht aus theologischen Gründen, sondern schlicht deshalb, weil ein selbstbestimmte Lebens und dann noch sehr viel mehr ein „selbstbestimmtes Sterben“ höchst komplexe und voraussetzungsvolle Anforderungen mit sich führen. Um selbstbestimmt entscheiden zu können, muss ich die Situation, in der ich mich befinde, zu überschauen in der Lage sein. Ich muss mir in unserem besonderen Fall ein Urteil darüber bilden können, ob wirklich keinerlei Chance auf Heilung mehr besteht, durch ärztliche Maßnahmen kein Aufschub des Endes um vielleicht doch noch wertvolle Tage oder Monate mehr besteht. Dann kommt hinzu, dass auch die Palliativ-Medizin immer größere Fortschritte macht. Unerträgliche Schmerzen müssen heute nicht mehr ertragen werden. Es gibt Möglichkeiten, die Patienten diesen Schmerzen gegenüber weitgehend empfindungslos werden zu lassen, somit also ihrem Leben auch in der letzten Phase noch eine gewisse Qualität zu geben.

Wenn ich noch einmal von mir selbst reden darf. Das wünsche ich mir für mein Ende, sofern es ein solches ist, das vor entsprechende Entscheidungen führt, dass Menschen, Angehörige und Ärzte, da sind, die entscheiden, wann weitere lebenserhaltende Maßnahmen unterlassen werden sollten. Ich kann mir für mich selbst eine Situation nicht vorstellen, in der ich mich selbst zum Tode könnte bestimmen wollen. So zu denken, fällt mir bereits schwer, wenn ich an die Möglichkeit denke, eine „Patientenverfügung“ auszustellen, also den Angehörigen und Ärzten das Recht zu geben, in dem Fall, dass ich selbst nicht mehr entscheidungsfähig sein sollte, an meiner Stelle in das Unterlassen lebenserhaltender Maßnahmen einzuwilligen. Lieber möchte ich darauf vertrauen können, dass die Angehörigen, aber erst Recht die Ärzte, ihre Aufgabe strikt im heilenden bzw. den Schmerz lindernden Eingriff sehen, nie aber in einer absichtsvoll herbeigeführten Tötungsmaßnahme.

In der christlichen Tradition wird gesagt: „Gott hat den Menschen das Leben gegeben. Nur Gott darf das Leben wieder nehmen“. Was ist von einem solchen Spruch theologisch zu halten?

Ich habe schon zuvor immer wieder von mir selbst geredet. Denn die Fragen, die Sie ansprechen, lassen sich m.E. überhaupt nur in der Perspektive der 1. Person beantworten. Es geht in der Tat um Selbstbestimmung. Selbstbestimmung ist aber genau deshalb eine so komplexe und voraussetzungsvolle Angelegenheit, weil sie ohne ein Selbstverstehen gar nicht möglich ist. Wenn ich mich selbst soll bestimmen können, dann muss ich mich selbst auch zu verstehen in der Lage sein, letztlich ein Auffassung darüber mir gebildet haben, woher ich komme und wohin ich gehe, wohin also ich gehöre, was mir wichtig ist und mein Leben mit Inhalt füllt. Die Frage der Möglichkeit der Selbstbestimmung hängt im Grunde an der Antwort darauf, welchen Sinn mein Leben für mich selbst hat.

Nie würde ich einem anderen Menschen sagen, dass er sich sein Leben nicht nehmen darf, weil es ihm doch von Gott gegeben sei. Schon gar nicht würde ich dies einem anderen Menschen sagen, wenn dieser mir gegenüber den Wunsch oder gar den Willen äußert, jetzt, da keine Aussicht auf Heilung mehr besteht und die Schmerzen unerträglich sind, sterben zu wollen. Denn ein solcher Satz ist ein religiöser Satz. Und religiöse Sätze sind für uns – nach der Aufklärung – nur dann wahr, wenn sie für uns selbst übernehmen können, genauer, wenn sie unserem eigenen Selbstverständnis entsprechen. Ein religiöser Satz beschreibt kein biologisches Faktum. Auch so könnte die Aussage, dass niemand sich das Leben selbst gegeben hat, ja verstanden werden. Dann würde dieser Satz die Feststellung machen, dass der Mensch (von einer Frau) geboren wird und nicht die Fähigkeit besitzt, sich selbst ins Dasein zu bringen. Der theologisch häufig gebrauchte, aber selten richtig verstandene Spruch, wonach Gott das Leben gegeben habe, deshalb auch nur er es wieder nehmen dürfe, spricht nicht die biologische Tatsache an, dass das Leben immer gegebenes und nicht selbstgemachtes Leben ist. Dieser Spruch versieht vielmehr diese schlichte biologische Tatsache mit einer religiösen Deutung. Und die Frage ist dann, ob ein Mensch das Gegeben-Sein seines endlichen Lebens so sehen kann, als abhängig von einem höheren, göttlichen Willen.

Ich sagte vorhin, dass meine Ablehnung der Vorstellung von einem „selbstbestimmten Sterben“ nicht aus theologischen Gründen erfolgt. Da wollte ich auf die Komplexität dessen aufmerksam machen, was „Selbstbestimmung“ heißt, vor allem darauf, wie sehr sie nach einem „Sich-Selbst-Verstehen“ verlangt. Von daher komme ich jetzt aber doch wieder auf die Theologie zurück. Für mich selbst ist der von Ihnen herangezogene theologische Spruch dann wahr, wenn er zum Ausdruck bringt, dass ich mich unbedingt zum Leben bestimmt wissen kann, ja, dass jedes Leben seinen Wert in sich selbst trägt, bedingungslos wert ist, gelebt zu werden. Leben ist an sich selbst wertvoll. Das ist es als endliches Leben. Wem sein Leben in der christlich-religiösen Selbstdeutung als endliches Leben zugleich unendlich wertvoll ist, für den gibt es – so der theologische Gedanke – keine situativ bedingten Gründe, diesem Leben absichtsvoll ein Ende zu setzen.

Wenn die christliche Tradition sagt „Unsere Heimat ist im Himmel“ (Paulus im Philipper Brief 3, 20), dann könnte sich doch auch ein Mensch voller Vertrauen für den frei gewählten Abschied entscheiden, weil er so in seine „von Gottes Liebe bestimmte Heimat“ zurückkehrt?

So wie Sie fragen, lässt mich das fast an islamistische Selbstmordattentäter denken, die mit der Vorstellung einer Einkehr ins Paradies in den Tod gehen. Den christlichen Ewigkeitsglauben verstehe ich anders.

Die unbedingte Bestimmung zum Leben, die für mich aus dem christlichen Glauben an Gott, den Schöpfer allen Lebens, folgt, wertet gerade dieses einmalige, zeitliche, endliche Leben unendlich auf. Der Schöpfungsglauben bestimmt dieses endlichen Lebens dazu, gerade nicht nur eine „Krankheit zum Tode“ (Kierkegaard) zu sein, sondern der Durchgang ins ewige Leben. Der christliche Ewigkeitsglaube entwertet jedenfalls unser diesseitiges, endliches Leben nicht, sondern sofern wir uns in diesem Glauben selbst verstehen, glauben wir, dass wir mit diesem unseren endlichen Leben unendlich bei Gott geborgen sind. In dem von Ihnen angezogenen biblischen Bild gesprochen, könnte man auch sagen, dass wir im gläubigen Gottvertrauen wissen, wo unsere wahre Heimat ist: Ob wir leben oder sterben, so sind wir bei Gott. (Vgl. Römer 14, 8)

Sie merken, ich mag nicht von einem „selbst gewählten Abschied“ reden, nicht weil ich meine, dass ein solcher einem Christen nicht erlaubt wäre. Diese Form eines verordneten Christentums lehne ich ab. Vielmehr halte ich dafür, dass der christliche Glaube ein solches Sich-Selbst-Verstehen ermöglicht, das Menschen die Gewissheit geben kann, unbedingt in Gott gründet zu sein. Das kann ihnen deshalb möglicherweise sogar dazu helfen, auch das Leiden – wenn es sich denn gar nicht vermeiden lässt – zu ertragen.

Copyright: Wilhelm Gräb, Humboldt Universität zu Berlin und Religionsphilosophischer Salon Berlin.