Glauben ist “einfach”: Was ist das Wesen des Christentums?

Glauben ist “einfach”: Was ist das Wesen des Christentums?
Ein Interview mit Prof. Wilhelm Gräb, Humboldt Universität zu Berlin
Die Fragen stellte Christian Modehn

Papst Franziskus spricht oft von der armen Kirche als dem Ideal christlichen Lebens, also Bescheidenheit und Solidarität sind oberste Tugenden. Aber sollten sich die Kirchen, wenn sie denn arm werden wollen, nicht auch auf eine “arme” Theologie besinnen, also auf eine ganz dem Wesentlichen verpflichtete Lehre? Was wäre in Ihrer Sicht heute, etwa für Westeuropa gesprochen, das Wesen des christlichen Glaubens?

Wie kommt es denn, dass Papst Franziskus vom christlichen Leben spricht, dann von Tugenden wie Bescheidenheit und Solidarität, die das christliche Leben auszeichnen? Deshalb doch hat er sich nach dem hl. Franziskus benannt, als erster in der Geschichte des Papsttums: Weil es ihm wie Franz, dem Begründer des Ordens der „Minderen Brüder“, um die „Imitatio Christi“, um ein Leben in der Nachahmung Christi geht. Das ist nicht allein moralisch, sondern auch religiös gemeint. Der Papst appelliert nicht, bescheidener zu leben. Er ermahnt nicht nur zu mehr Solidarität, indem er die zerstörerischen Auswüchse eines um soziale Gerechtigkeit unbekümmerten Kapitalismus brandmarkt. Es geht diesem Papst tatsächlich um das, was für den christlichen Glauben wesentlich ist: Dass dieser ein bedingungsloses Vertrauensverhältnis zu Gott ist.
Gott ist dem christlichen Glauben die unerschöpfliche Quelle allen Lebens. Aus ihr strömen allem Leben unaufhörlich Mut und Tatkraft, vor allem aber die Hoffnung zu, wenn die Kräfte schwinden und wir ganz und gar am Ende scheinen. Dieses Vertrauensverhältnis zu Gott als dem unergründlichen Geheimnis des Lebens hat Jesus gelebt. Aus ihm heraus war er fähig zu liebender Hingabe an die Kranken, die Armen, die in ihrer Schuld Gefangenen. Aus diesem unbedingten Vertrauensverhältnis zu Gott als der unerschöpflichen Kraftquelle des Lebens hat Jesus Gewalt nicht mit Gegengewalt beantwortet, sondern sich in den Tod am Kreuz dahingegeben. In das unbedingte Vertrauensverhältnis zu Gott, das Jesus gelebt hat, ist insofern auch die Hoffnung auf Auferstehung, d.h. die unendliche Lebensenergie, die aus Gott kommt, einbezogen.
Im biblischen Weltbild ist der Glaube als unbedingtes Vertrauen auf die göttliche Liebe als das Geheimnis des Lebens in Vorstellungen ausgedrückt, die wir Heutigen als Mythen auffassen: Dass Christus von den Toten auferstanden ist, erhöht wurde zur Rechten Gottes des Vaters. Das sind Vorstellungen, die eine jenseitige Parallelwelt voraussetzen, wenn man sie nachvollziehen will. Der Glaube an diese jenseitige Parallelwelt existiert aber nur noch in den kirchlichen Liturgien und in einer komplizierten, den Mythos in eine spekulatives Gott-Denken überführenden, mit metaphysischen Setzungen operierenden Theologie. Aber diese Theologie versteht nur, wer zugleich in der neuplatonischen Philosophie der frühen christlichen Jahrhunderte bewandert ist.
Einfach wird die Theologie erst dann wieder, wenn sie die mythischen Vorstellungen von dem auferstandenen und zur Rechten des Vaters erhöhten Christus als Symbole und Metaphern liest, als bildliche Vorstellungen, mit denen wir die unendliche Liebe zum Leben, die Jesus gelebt hat, in ihrer göttlichen Tiefendimension zum Ausdruck bringen. Wenn wir den Mythos nicht einfach beiseite schaffen, sondern als Mythos, als Bild vom unsagbaren, göttlichen Geheimnis des Leben deuten, dann bleibt der Glaube einfach, aber gewinnt an religiöser Tiefe, wird somit vor einem Abgleiten in trivialmoralische Appelle geschützt.

Wenn man sich theologisch stark konzentriert auf Gott als Geheimnis des menschlichen Lebens: Wie lässt sich dieses Geheimnis heute den Menschen vermitteln, wie kann es Hinweise darauf geben?


Auch da setzt der Papst im Grunde die richtigen Zeichen. Dass Gott das Geheimnis des Lebens ist, das lässt sich niemanden andemonstrieren. Davon kann man Menschen nur überzeugen, wenn man darauf zeigt, zu welcher Lebenshaltung solcher Glaube befähigt. Der Gott, der das Geheimnis des Lebens ist, ist ja gerade kein Gegenstand, nichts, was in dieser Welt auf beobachtbare Weise vorhanden wäre. Gott ist der, der alle Welt und unser Leben in ihr trägt, die Quelle unseres Lebensmutes und unserer auch noch den Tod übersteigenden Lebenszuversicht. Zu einem solchen Gott gehört der Glaube als das bedingungs-, ja grundlose Vertrauen auf ihn. Ohne den Glauben ist auch der Gott nicht. Der „Beweis“ seiner Existenz ist der Glaube. Der Glaube, der grundloses Vertrauen ist, erbringt den Gottesbeweis.
Für jeden, der einiger Selbstbeobachtung und dann auch Selbstachtung fähig ist, zeigt sich in den Erfahrungen des Lebens alltäglich, wie sehr wir angewiesen sind auf Liebe, Zuwendung und Anerkennung. Wir können ohne Anerkennung gar nicht leben und sehnen uns nach der vollkommenen, unaufhörlichen Liebe, solange wir sind. Solange die Liebe nicht aufhört, sind auch wir, eine jeder und eine jede von uns, unendlich. Gottes Liebe hört nimmer auf. Darauf verlässt sich der christliche Glaube. Das Zeichen seiner Wahrheit hat er in dem unserem Lebensvollzug eingeschriebenen, unendlichen Liebesverlangen.

Wenn Gott als Geheimnis verehrt wird, entsteht dann ein völlig bildloser Glaube? Welche Rolle spielen dann noch Kunst und Literatur etwa?


Das Urbild des Glaubens an Gott als Geheimnis des Lebens, der der christliche Glaube ist, bleibt ganz ohne Frage der Mensch Jesus. Er hat diesen grundlosen Glauben gelebt, bis in seine Selbsthingabe in den Tod am Kreuz. Jesus war aus seinem Gottvertrauen heraus fähig zum Tun der Liebe, zu vorbehaltloser Solidarität mit den Verachteten, Armen und Elenden. Damit wurde er zum Christus, zu dem Menschen, der alle anderen zum grundlosen Gottvertrauen ermutigt und dazu, das Leben in Bescheidenheit und Solidarität zu führen.
Wichtig ist, dass wir nicht meinen, wir müssten Jesus als das Urbild des Glaubens in eine himmlische Parallelwelt erhöhen und zum Gegenstand unserer Anbetung machen. Es kommt vielmehr darauf an, dass wir uns von Jesu Glaubenszuversicht und Lebensmut anregen lassen und ihm darin nacheifern. Das freilich fällt oft entsetzlich schwer, angesichts der Ströme von Blut, die nach wie vor die Menschheitsgeschichte durchziehen, angesichts all der Gräuel und Ungeheuerlichkeiten, die Menschen einander angetan haben und fortwährend antun. Denken wir gegenwärtig nur an die Syrien, eines der Länder, in denen das Christentum seinen Ursprung hatte.
Der Glaube ist nicht bildlos. Er hat und behält sein Bild in dem gekreuzigten Christus. Und dessen Darstellung endet eben nicht mit der sog. christlichen Kunst, in dem mit Goldglanz bestückten „Christus Imperator“. Wir finden das Bild des Christus, der sein grundloses Grundvertrauen bis hinein in die Verzweiflung der Gottverlassenheit am Kreuz festhält, in Picassos Guernica ebenso wie in Anrulf Rainers Bildübermalungen. Ganz zu schweigen von der Literatur, die nicht nur voll ist von Erzählungen über die „Liebe in Zeiten der Cholera“, sondern überhaupt davon zeugt, dass das unfassliche Geheimnis des Lebens unaufhörlich danach strebt, in eine Form gebracht zu werden, die es uns möglich macht, dass wir ihm , wenn auch nur mit „Furcht und Zittern“ doch nahe kommen können.

Wenn Gott als Geheimnis ganz im Mittelpunkt des Glaubens steht, ergeben sich dann auch Verbindungen zur Gesellschaft, zur Solidarität? Oder wäre dieser Glaube eher “mystisch” zu nennen?


Dieser Glaube ist ein mystischer Glaube, wenn ein mystischer Glaube meint, dass das, woran der Glaube glaubt, nicht in gegenständlicher Distanz zum Glaubenden verbleibt, sondern der Glaubende auf die Verschmelzung mit seinem Glaubensinhalt aus ist. Mystischer Glaube, so könnte man auch sagen, ist ein in der Lebensgemeinschaft mit Jesus gelebter Glaube, ein mit dem grundlosen Gottvertrauen Jesu eins werdender Glaube. Darin liegt dann aber auch, dass die Lebenshaltung, die aus dem Glauben Jesu folgt, demjenigen, der glaubt, auch zu seiner eigenen wird. Dieser Glaube wird in den Glaubenden zu einem solchen, der zu Liebe und Solidarität, zur Hinwendung zu den Armen und Schwachen befähigt.
Schon der „Altmeister“ der Mystik, Meister Eckhart (1260 – 1328) hat die christologische Dogmatik entgrenzt. Was die Schultheologie Christus alleine vorbehält, spricht er jedem Menschen zu: „Alles, was die Heilige Schrift über Christus sagt, das bewahrheitet sich völlig an jedem guten und göttlichen Menschen.“ Und: „Alles, was Gott Vater seinem eingeborenen Sohn in der menschlichen Natur gegeben hat, das hat er alles auch mir gegeben: hiervon nehme ich nichts aus, weder Einigung noch Heiligkeit, sonder er hat mir alles ebenso gegeben wir ihm.“ (Predigt 5 und Bulle Johannes XXII., Nr. 12 und 11)


Offenbar liegt in Ihrem Vorschlag, Gott als Lebensgeheimnis im Zentrum des christlichen Glaubens zu sehen, auch eine starke Bedeutung im Blick auf andere Religionen, etwa in Richtung Frieden, mit Blick auf Muslime usw. 


Die entscheidende Frage in der Verständigung über Religion, gerade auch wenn wir mit Angehörigen anderer Religionskulturen sprechen, ist nicht mehr primär die nach den Gegenständen des Glaubens. Nicht mehr die Frage, was glaubt ihr, weil es euch die Bibel oder der Koran, die Kirche oder der Imam gelehrt hat, ist dann wichtig. Die entscheidende Frage im Gespräch der Religionen ist jetzt: Wie lebt ihr? Wie lebt ihr, weil das euer Glaube ist, weil ihr darauf euer Vertrauen setzt, weil das für euch die Wahrheit ist. Wenn wir anfangen, uns über unsere Lebenseinstellungen zu verständigen, dann kommt heraus, was an unserem jeweiligen Glauben wesentlich ist. Und möglicherweise merken wir dann auch, dass unter der Decke so verschieden auftretender Religionslehren ein Gemeinsames liegt, nämlich, dass sie uns alle Aufschluss geben über Gott als das Geheimnis des Lebens. Freilich, sie tun es dann eben doch auf sehr verschiedene Weise.
Worauf es also ankäme im Gespräch der Religionen: In dieser Vielfalt sollte die unendliche Fülle der Perspektiven auf das unerschöpfliche Geheimnis des Lebens gesehen werden. Diese Vielfalt würde dann zur Bereicherung. Wir würden sie also gar nicht mehr überwinden wollen, sondern uns an ihr erfreuen. Das würde dann auch für den innerchristlichen Pluralismus gelten. Die Vielfalt der Konfessionen wäre ebenso wenig auf eine Einheitskirche hin zu überwinden. Es braucht die Vielfalt der Konfessionen unabdingbar auf dem unendlichen Weg zu Gott als dem unerschöpflichen Geheimnis des Lebens – selbst wenn dieses Lob des Pluralismus auch dem jetzigen Papst vermutlich nicht gefallen dürfte.


Copyright: Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin.