Religion – Eine Angelegenheit des Menschen. Ein Vortrag von Wilhelm Gräb

 

Wilhelm Gräb: Religion – eine Angelegenheit des Menschen

Vortrag auf der internationalen Tagung „Menschsein und Religion. Anthropologische Probleme und Perspektiven der Glaubenskultur des Christentums“ in Wien, 9.4. – 12.4.2014

 1. Von einer aufgeklärten Theologie mit Leidenschaft für den Menschen

Vom Menschen gilt es auszugehen, in aller kirchlichen Praxis. Das ist es, wozu die Kirche da ist, dass die Menschen in eine tiefere Verständigung über sich selbst und die Bestimmung ihres Daseins finden. Dass der Mensch sein Leben in Würde zu führen vermag, dazu braucht er Religion und dazu ist die Kirche da. Das ist keine Entdeckung aufgeschlossener Theologie von heute. Es war bereits das Projekt der Theologie der Aufklärung in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, vorangetrieben von Theologen, die zugleich im kirchlichen Beruf standen. Die Erinnerung an die durch die Aufklärungstheologie betriebene Umformung des Christentums zur Humanitätsreligion, die dem Gedanken der unantastbaren Würde des Menschen und sei-ner unveräußerlichen Rechte auch von kirchlicher Seite den Boden bereiten half, soll deshalb in meinem Beitrag den Anfang machen. Eine Theologie und kirchliche Praxis, die heute ihr Bestreben wieder darauf richtet, zur Geltung finden zu lassen, dass der christliche Glaube eine bestimmte Kultur humanen Sich-selbst-Verstehens ermöglicht, kann sich durch Impulse der kirchlichen Aufklärungstheologie dazu anregen lassen.

 

In seiner frühen Schrift „Die Bestimmung des Menschen” (1748)1 ging der Berliner Aufklärungstheologie und Prediger an St. Nikolai Johann Spalding darauf zurück, dass dem Menschen nicht von einer höheren göttlichen oder weltlichen Instanz gesagt ist, weshalb er auf der Welt ist und wie er zu leben hat. Der Mensch ist vielmehr dasjenige Wesen, das sich selbst über seine Bestimmung Klarheit verschaffen muss. Er ist fähig, sich im Denken über seine Stellung in der Welt und den Sinn seines Lebens zu orientieren.

 

Spaldings Betrachtung über die Bestimmung des Menschen nahm die Gestalt einer Selbstbe-trachtung an. In der Achtung vor dem selbst entworfenen Gesetz des guten Lebens ist dessen Sinn und Ziel zu finden. Sie kommt der Achtung vor dem Wert des eigenen, vernünftigen Daseins gleich. Die Bestimmung des Menschen ist ein Leben, das aus der Kraft zur Selbstbe-stimmung geführt wird. Zu ihr fähig zu sein, ermöglicht dann auch die Selbstachtung, somit ein Leben, das im Gefühl der ihm eigenen Würde gelebt werden kann.

 

Die Gefahr, sich selbst zu verfehlen ist dabei immer mitgegeben. Vorzuwerfen habe ich mir, so meinte Spalding, aber nur dann etwas, „wenn ich nicht die ernsthafteste Überlegung auf dasjenige gerichtet hätte, worauf mein eigentlicher Wert und die ganze Verfassung meines Lebens ankommt. Es ist doch einmal der Mühe wert zu wissen, warum ich da bin und was ich vernünftigerweise sein soll.”(2) Menschen zu solcher Selbstüberlegung zu befähigen, das ist jetzt die Aufgabe kirchlicher Predigt und Seelsorge, nicht ihnen von oben herab zu sagen, was sie zu glauben und wie sie zu leben haben. Schon die kirchlichen Aufklärungstheologen ha-ben das Ende der heteronomen kirchlichen Autoritätskultur ausgerufen.

 

Andere kirchliche Aufklärungstheologen wie Marezoll, Töllner, Teller und Jerusalem teilten Spaldings Auffassungen energisch und unternahmen den groß angelegten Versuch, das Ver-ständnis vom Christentum in eine Religion der freien Einsicht in das Gute umzuformen. Einer Ethik der autonomen Selbstbestimmung sollte ein souveräner Glaube, der als der eigene aus persönlicher Überzeugung vollzogen wird, entsprechen.(3)

Johann Gottlieb Töllner brachte in seinen „theologische(n) Untersuchungen” (4) das neue Ver-ständnis vom humanen Sinn der christlichen Religion auf den Begriff, wenn er eine seiner Abhandlungen unter das Thema stellte: ”Die ganze Religion Dank: und die ganze Religion Vertrauen” (5). Auch Töllner ging es um das Verständnis vom Menschen und die Frage, wie er religiös so anzusprechen ist, dass ihm deutlich wird, es ist die christliche Religion, die der Selbstbestimmung keineswegs entgegensteht, sondern zu ihrer Wahrnehmung befähigt. Deshalb richtete Töllner sich gegen die Lehre der lutherischen Orthodoxie, wonach der Mensch von Natur aus böse ist, ein verlorener Sünder, dem mit der Predigt des Gesetzes ein heiliger Schrecken einzujagen sei, auf dass er mit der Botschaft von Gottes gnädiger Vergebung wieder erhoben werden kann. Nein, sagte Töllner, „ich glaube klar zu sehen, daß dieses gar nicht die wahre Methode sey, deren sich ein Seelsorger zu bedienen hat: und daß sein ganzes Be-mühen dahin gerichtet seyn muß, Vertrauen zu Gott in seinen Zuhörern aufzurichten, wenn er von dem Wunsche belebt wird, wahrhaftig die Religion in ihnen aufzurichten.” (6) Der rechte Seelsorger vermittelt – wie Töllner weiter ausführte – das Vertrauen auf Gott, indem er zur Einsicht bringt, dass Gott Güte ist und die Menschen liebt. (7) Damit ist die Anerkenntnis ver-bunden, dass der Mensch zwar nicht von Natur aus gut ist, wohl aber von Natur aus fähig zur vernunftbestimmten, freien Einsicht in das, was ihm und seinesgleichen guttut. Ein Gott, der Güte und Liebe ist, lässt dankbar sein für alle guten Gaben, mit denen er die Menschen ge-schaffen hat. Er ist der Grund des Vertrauens auch auf der Menschen Güte. Wer auf des Menschen Güte vertraut, der aber begegnet ihnen nicht mit „Gesetzespredigten”( 8), nicht nach der „gewöhnliche(n) Bekehrungsmethode”, nicht auf dem Wege der Einschüchterung und Anklage, sondern „sogleich” mit „Liebe und Vertrauen” (9). So soll daher der Seelsorger auch vorgehen. Dann lässt er die Menschen erfahren, wie Gott ist. (10)

Auf eine menschenfreundliche Anschauung des Menschen sowie den daraus folgenden anderen Umgangsstil unter den Menschen, wollte Töllner das alte Buß- und Bekehrungschristentum umgeformt wissen. Es sollte wegkommen vom Glauben an die dunkle Macht der natürlichen Sündhaftigkeit des Menschen. Statt die Lehre „Von der Erbsünde” (11) weiterzuverbreiten, sollte das Vertrauen auf die „Güte der menschlichen Natur” (12) treten. Die Menschen in ihrer Selbstgewissheit zu stärken, das sollte die Richtschnur für die aufgeklärte kirchliche Predigt und Seelsorge werden. Die Menschen sollten in der Kirche die Erfahrung machen können, dass sie anerkannt und geliebt sind, solche, die zum Tun des Guten aus eigener Einsicht fähig sind. Gott, so sagten es die Aufklärungstheologen in ihrer Predigt, ist derjenige, der zum Tun des Guten befähigt und die Erwartung künftigen Glücks bekräftigt. Dass dies beides, das Tun des guten wie das zukünftige Glück aus einem vertrauensvollen Gottesverhältnis erwachsen kann, dafür hat Jesus das eindrücklichste Beispiel gegeben.

 

Grundlegend für den Entwurf dieses Humanitätschristentums war ein theologisches Denken vom Menschen her, eine Anthropologie, so könnte man sagen, in theologischer Absicht. Nicht von Gott in seiner biblischen Offenbarung, nicht von der Hl. Schrift als dem alleinigen Prinzip theologischer Erkenntnis gingen die Aufklärungstheologen aus. Sie setzten beim Menschen und seinem Gottesbewusstsein an, wollten zunächst einmal die Religion als eine konstitutive Dimension der humanen Natur verstanden wissen, bevor sie ihr christliches Proprium als die entscheidende Antriebskraft in der Perfektibilität, in der Vervollkommnung des Menschen explizierten.

 

Die anthropologische Begründung der Religion und einer die christliche Religion in ihrer Lebensdienlichkeit explizierenden Theologie hat mit Breitenwirkung vor allem wieder Spalding dargelegt. Zu verweisen ist hier auf die zunächst anonym erschienenen „Vertraute(n) Brie-fe(n), die Religion betreffend” (13), sowie seine Altersschrift „Religion, eine Angelegenheit des Menschen” (14). ”Religion eine Angelegenheit des Menschen”, schon mit diesem Titel seiner Schrift wollte Spalding darauf hinweisen, dass die Religion etwas ist, das wir uns angelegent-lich sein lassen sollten, dass sie etwas jeden Menschen Angehendes ist. Insbesondere wenn vom Christentum die Rede ist, so Spalding, möge von etwas die Rede sein, „was uns angeht, wobey wir etwas zu gewinnen oder zu verlieren glauben, wodurch folglich auch unser Wille, unsere Neigung, unser Herz in Bewegung gesetzt und angezogen wird.”(15)

Spalding schloss mit seinen Religionsschriften direkt an seine über 40 Jahre hinweg in unzähligen Auflagen erschienen populäre Schrift „Betrachtung über die Bestimmung des Menschen” an. Die Frage des Menschen nach sich selbst, nach dem, was ihn seiner Würde und seines Wertes gewiss macht, sollte nicht nur für Theologie und Kirche zur wichtigsten Frage werden, sie allein führt auch zum angemessenen Verständnis von der Religion und von dem Gott, zu dem die Religion die Beziehung herstellt.

Die Religion aber, das ist die Beziehung des Menschen zum Göttlichen, die den ganzen Menschen ergreift und umwandelt, ihn in seinem Fühlen, Denken und Wollen bestimmt und zu einem Leben in vertrauens- und hoffnungsvoller Zuversicht befähigt. In seinen „Vertrauten Briefen, die Religion betreffend“ drückt dies Spalding so aus, dass er sagt: die ”Religion ent-hält schon unstreitig solche Erkenntnisse und Ueberzeugungen, die, vermittelst einer anschau-enden Betrachtung, nothwendig rühren, große Empfindungen aufwecken, Bewunderung, An-dacht, Freude, Zuversicht und Hoffnung, überhaupt Bewegung, Erhebung und Veredlung der Seele wirken müssen.” (16) Doch, damit wir Gott so als die innere Kraft unseres Lebensglaubens und unserer Ewigkeitshoffnung erfahren können, müssen wir, so Spalding, von „einer ernsthaften Nachfrage bey uns selbst und der genauen Beobachtung unserer wesentlichen, von der menschlichen Natur untrennbaren Anlagen” (17) ausgehen.

 

Die Aufklärungstheologen haben Schleiermachers Apologie der Religion bereits kräftig vor-gearbeitet. (18) Gewiss, Schleiermacher vollzog in seiner Religionsschrift von 1799 sehr viel energischer die Unterscheidung von Religion und Moral. Auch zielte er im Gegensatz zu Spalding, von dem er freilich dennoch viele Anregung, auch hinsichtlich der Bedeutung des Gefühls in der Religion, erlangt hatte, (19) auf eine nichttheistische Fassung des religiösen Be-wusstseins.20 Aber auch Spalding hat die Religion keineswegs den Zwecken einer Glückse-ligkeitsmoral untergeordnet, sie nicht, was ihm oft vorgeworfen wurde, für den durchaus vorherrschenden Eudämonismus funktionalisiert. Er hat vielmehr deutlich gemacht, dass die Religion dem Menschen zu seiner Menschlichkeit verhilft. Sie tut dies, weil sie den Menschen auf Gott als den Sinn des Ganzen von Welt und Leben ausrichtet und in jedem Menschen das Gefühl einer unendlichen Bedeutung weckt.

 

2. Vom heutigen Interesse an der Religion als einer Angelegenheit des Menschen

Der gesellschaftliche Resonanzverlust der Kirchen hält an. Dennoch stimmt die These nicht, die für die Auswertung der jüngsten EKD-Mitgliedschaftsuntersuchung leitend war. Diese behauptet, es nähme die Indifferenz der Religion gegenüber immer weiter zu, nur die kirch-lich Hochverbundenen wären noch an ihr interessiert. Ihr Engagement steigere sich angesichts der sonst dominierenden Indifferenz sogar noch, weshalb es kirchenstrategisch geboten sei, sich in Zukunft sehr viel stärker den Treusten der Treuen zuzuwenden. (21) Religiöse Indifferenz bescheinigt man der Mehrheit der Kirchenmitglieder und man schreibt sie erst recht denjenigen zu, die der Kirche nicht oder nicht mehr angehören. Von der Überlegung, dass die Men-schen sich von der Kirche abwenden, weil sie die kirchliche Religion nicht als lebensdienlich erfahren, ist die neue EKD-Studie zur Kirchenmitgliedschaftsentwicklung noch weiter entfernt als es ihre Vorgängerstudien auch schon waren. Dabei lässt sich das Interesse an einer Kirche, die die Menschen auf innerlich ergreifende Weise anzusprechen vermag, weil sie für die Rechtfertigung des Menschen eintritt, schon mit einiger Aufmerksamkeit auf literarische Zeitansagen feststellen.

 

Zum Beleg verweise ich zunächst auf das Buch des französischen Sozialphilosophen Bruno Latour: „Jubilieren. Über religiöse Rede“ (22). Dieses Buch führt emphatisch Klage darüber, dass der Gesellschaft und dem einzelnen Menschen etwas Lebensnotwendiges fehle, wenn die Kirche sich nicht mehr auf eine die Menschen ansprechende religiöse Rede versteht. Was dann fehlt, sind „Worte, die wieder aufrichten“ (23), die „Leben spenden“ (24), Worte, die heilsam sind. Die Kirche, so meint Latour, hat diese Worte verlernt. „Die Worte, die Leben spenden sollen, werden (sc. in der Kirche) in einer fremden Sprache ausgesprochen, die sich an historisch, räumlich, kulturell entfernte Menschen richtet“ (25).

Die Kirche hat, „die Worte, die Leben spenden“, davon zeigt sich der sich zu seinem Atheis-mus bekennende Philosoph überzeugt, aber sie findet die Sprache nicht mehr, nicht den rich-tigen Tonfall, nicht die richtige Tonart. Darauf, so Latour, käme es heute deshalb entschei-dend an, dass die Kirche „dem religiösen Ausdruck wieder Bewegungsfreiheit verschaff(t), diesem so einzigartigen Brauch, der im Lauf der Geschichte Wort und Sprache gewann und der ihm heute so entsetzlich gehemmt vorkommt … nur eine Ausdrucksform aus ihrer Ver-kapselung lösen, die, einst so frei und erfinderisch, fruchtbar und heilbringend, heute auf sei-ner Zunge zerfällt, wenn er ihren Schwung, ihren Rhythmus, ihre Artikulation wieder aufnehmen will.“ (26)

Die Sprache der Religion zu finden, ist aber eben keine bloße Formsache. An der religiösen Rede hängt die Wahrheit der Religion. Und die Wahrheit der Religion ist, so Latour, dass sie uns den Sinn für den Sinn unseres Daseins in dieser Welt eingibt. Sie lässt uns den Schmerz empfinden über das, was fehlt, sie stärkt ebenso unendlich die Hoffnung aufs Gelingen. Ge-nau dafür gilt es, „die passenden, genauen, präzisen Worte zu finden, um die Rede heilbrin-gend zu machen, um gut (sic!) über die Gegenwart zu reden.“ (27) Würde sich die Kirche darum bemühen, „gut über die Gegenwart zu reden“, dann wäre sie heute nötiger denn je.

 

Meinen zweiten Beleg für das heutige Interesse an der Religion als einer Angelegenheit des Menschen habe ich in dem Buch des Journalisten Jan Ross gefunden: „Von der Verteidigung des Menschen. Warum Gott gebraucht wird“ (28). Dass die Religion eine Angelegenheit des Menschen ist, die uns ganz wichtig sein sollte, macht Ross der Präsenz der biblischen Metapher von der Gottebenbildlichkeit des Menschen im heutigen Diskurs über die Unantastbarkeit der Menschenwürde deutlich. Solche Rede, so meint er, lässt sich „nüchtern gesprochen, in ein hermeneutisches Prinzip übersetzen, in einen Verständnisschlüssel, eine Suchrichtung für die Deutung des Menschen: in ihm im Zweifel eher mehr zu vermuten als zu wenig, etwas Unausgeschöpftes, einen Überschuss.“ (29) Jan Ross tritt für Gott ein, weil es ihm um die Verteidigung des Menschen geht, letztlich um seine Heiligung. Nur mit Gott, so meint er, sei ein ebenso realistischer wie universaler Humanismus möglich.

 

Der Mensch, so fährt Ross fort, gerät dort, wo ihm Gottes Ebenbildlichkeit zugeschrieben und Gottes unbedingte Rechtfertigung zugesprochen wird, unter den „Schutz des religiösen Tabus“ (30). Genau das, meint er, ist heute so wichtig. Denn „ohne den Schutz des religiösen Tabus wird der Mensch berechenbar für die Wissenschaft, kontrollierbar für die Macht, eine Funkti-on der biologischen, psychischen und sozialen Realität. Warum nicht versuchen, ihn zu dres-sieren, zu verbessern oder abzuschaffen? Der geheimnislose Mensch ist der verfügbare Mensch.“ (31) Und er fügt sogar noch hinzu: „Noch heute, in einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft, wird von der Heiligkeit der menschlichen Person als Grundlage der Mensch-rechte und der Menschenwürde geredet. Man kann offenbar kaum anderes, als für den letzten Schutz der Humanität auf ein religiöses Motiv zurückzugreifen. Das ist die Ausdrucksweise, in der die Kultur über die großen Fragen redet: Wenn sie ihren Mund auftut und das Aller-wichtigste sagt, spricht sie die Sprache des Glaubens“ (32)

Die Kultur spricht die Sprache des Glaubens, sagt der Journalist Jan Ross. Die Menschen in ihrer Alltagswelt sprechen die Sprache des Glaubens. Was ist ihre Sprache des Glaubens? Es ist die Sprache, mit der sie ihre elementaren Lebensinteressen äußern, ihre Ängste und Hoffnungen, ihre Sinnerfahrungen und Sehnsuchtsbilder. Die Sprache des Glaubens ist die Sprache, in der die Menschen selbst das aussprechen, was ihnen das Allerwichtigste ist. Die Sprache des Glaubens, so könnte man auch sagen, ja, so müsste die Theologie wieder zu sagen sich trauen, ist die Sprache der Menschenseele.

 

3. Von der Seele, durch die die Religion der Menschen ihre Sprache findet

 

Weil der Mensch eine Seele nicht nur hat, sondern ist, können wir von ihm reden als einem Wesen, das im bewussten Verhältnis zu sich steht. Als Seele ist der Menscheins mit seinem Leib und in der Einheit von Leib und Seele sich in seinem Lebensvollzug immer auch selbst gegenwärtig. Als Seele ist der der Mensch ein solcher, der sich selbst zu verstehen gegeben ist, auch und gerade in dem, was ihn auf unbedingte Weise angeht. Eine Theologie, die dem Menschen, seiner Verständigung über sich und seine elementaren Lebensinteressen, gilt, muss den Seelenbegriff wieder konstruktiv aufnehmen. Damit könnte sie dann auch wirksam wer-den für eine Kirche, die sich darauf besinnt, eine seelsorgliche Kirche zu werden, eine Kirche für die Religion der Menschen.

 

Wir meinen mit der Seele ja eben noch einmal etwas anderes als die „Psyche“. Zur Psyche gehört der Körper, zur Seele gehört hingegen der Leib. Wir haben einen Körper, aber wir sind in unserem Leib. Der Leib gehört zu uns wie die Seele. Mit der Seele wie mit dem Leib geht es gewissermaßen um den ganzen Menschen, Seele und Leib sind die beiden konstitutiven Dimensionen der Subjektivität des Menschen. (33) Die Psyche und der Körper sind hingegen Subsysteme im Menschen als einem organischen System. Leib ist der Mensch im Außenverhältnis zu einer Umwelt, als existierend in einer Welt, als ein Wesen das auf die Welt einwirken und sie erkennen kann, das wahrnehmbar ist für andere und sich zu anderen verhalten kann. Weil der Mensch Leib ist, kann er denken, reden und handeln, hat er Gefühle und kann sie äußern. Seele ist der Mensch im Innenverhältnis, als bewusste Beziehung auf sich, als Selbstbewusstsein. Alles das, was er als Leib im Außenverhältnis ist, ist ihm in der Einheit mit seiner Seele zugleich subjektiv auf privilegierte Weise zugänglich. Als Seele habe ich meine Gedanken, Absichten, Gefühle und Handlungen immer auch für mich selbst. Ich bin mir meiner selbst in meinen leibhaften Zuständen auf exklusive Weise bewusst. Ich denke mein Denken, fühle mein Fühlen, will mein Wollen.

Als Seele gerate ich deshalb aber immer auch in Widerspruch zu mir selbst. Ich merke, dass mich bestimmte Gedanken, Gefühle oder Willensabsichten motivieren, oder auch dass sie mir unangenehm sind, sie mir Angst machen. Als Seele, der ich zugleich in meinem Leib bin, entstehen mir deshalb all die Fragen und Probleme, die mit meiner personalen Identität zu tun haben. Als Seele frage ich, wer ich bin und worauf ich hinauswill, was der Sinn meines Le-bens ist, wie mein Leben gelingen kann. Als Seele wird mir bewusst, spüre ich, wenn ich den Kontakt zu verlieren drohe, zu mir selbst, zu anderen Menschen, zur Natur. Ich notiere den Resonanzverlust. Dann beschleicht mich vielleicht das Gefühl, dass ich eher gelebt werde als dass ich mein Leben selbstbestimmt führe. Von einem ‚seelenlosen Betrieb‘, in den ich einge-spannt bin, reden wir dann vielleicht und wenn alles viel zu schnell gegangen ist, sagen wir: ‚Die Seele geht zu Fuß‘. Weil wir eine Seele nicht nur haben, sondern in der Einheit unseres Leibes sind, nehmen wir uns selbst und unsere Welt immer in einer bestimmten Färbung  den Seelenbegriff wieder konstruktiv aufnehmen. Damit könnte sie dann auch wirksam werden für eine Kirche, die sich darauf besinnt, eine seelsorgliche Kirche zu werden, eine Kirche für die Religion der Menschen.

Wir meinen mit der Seele ja eben noch einmal etwas anderes als die „Psyche“. Zur Psyche gehört der Körper, zur Seele gehört hingegen der Leib. Wir haben einen Körper, aber wir sind in unserem Leib. Der Leib gehört zu uns wie die Seele. Mit der Seele wie mit dem Leib geht es gewissermaßen um den ganzen Menschen, Seele und Leib sind die beiden konstitutiven Dimensionen der Subjektivität des Menschen.33 Die Psyche und der Körper sind hingegen Subsysteme im Menschen als einem organischen System. Leib ist der Mensch im Außenver-hältnis zu einer Umwelt, als existierend in einer Welt, als ein Wesen das auf die Welt einwirken und sie erkennen kann, das wahrnehmbar ist für andere und sich zu anderen verhalten kann. Weil der Mensch Leib ist, kann er denken, reden und handeln, hat er Gefühle und kann sie äußern. Seele ist der Mensch im Innenverhältnis, als bewusste Beziehung auf sich, als Selbstbewusstsein. Alles das, was er als Leib im Außenverhältnis ist, ist ihm in der Einheit mit seiner Seele zugleich subjektiv auf privilegierte Weise zugänglich. Als Seele habe ich meine Gedanken, Absichten, Gefühle und Handlungen immer auch für mich selbst. Ich bin mir meiner selbst in meinen leibhaften Zuständen auf exklusive Weise bewusst. Ich denke mein Denken, fühle mein Fühlen, will mein Wollen.

Als Seele gerate ich deshalb aber immer auch in Widerspruch zu mir selbst. Ich merke, dass mich bestimmte Gedanken, Gefühle oder Willensabsichten motivieren, oder auch dass sie mir unangenehm sind, sie mir Angst machen. Als Seele, der ich zugleich in meinem Leib bin, entstehen mir deshalb all die Fragen und Probleme, die mit meiner personalen Identität zu tun haben. Als Seele frage ich, wer ich bin und worauf ich hinauswill, was der Sinn meines Lebens ist, wie mein Leben gelingen kann. Als Seele wird mir bewusst, spüre ich, wenn ich den Kontakt zu verlieren drohe, zu mir selbst, zu anderen Menschen, zur Natur. Ich notiere den Resonanzverlust. Dann beschleicht mich vielleicht das Gefühl, dass ich eher gelebt werde als dass ich mein Leben selbstbestimmt führe. Von einem ‚seelenlosen Betrieb‘, in den ich einge-spannt bin, reden wir dann vielleicht und wenn alles viel zu schnell gegangen ist, sagen wir: ‚Die Seele geht zu Fuß‘. Weil wir eine Seele nicht nur haben, sondern in der Einheit unseres Leibes sind, nehmen wir uns selbst und unsere Welt immer in einer bestimmten Färbung wahr, leben wir immer in einer gewissen Gestimmtheit, die uns gewissermaßen atmosphärisch ergreift und umgibt.

Dieses Präsenzgefühl aber, ist die die Präsenz des Religiösen, ist die Erschlossenheit der Zuständlichkeit unseres Daseins für uns selbst. Weil wir in der Einheit unseres Lebens eine Seele sind, empfinden wir, etwa wenn wir krank werden, auch nicht nur die Defekte im Organismus unseres Körpers, sondern es stellen sich uns zugleich die Sinnfragen, die letztlich wiederum religiöse Fragen sind, Fragen, die auf die Einheit, die Bestimmung und das Ziel des Ganzen unseres Daseins gehen.

Die Einheit unseres Selbstverhältnis aber ist genau von der Art, dass sie uns nicht gegenständlich gegeben wie eben die Seele selbst nicht gegenständlich gegeben ist. Wie sollte die Seele mir gegenständlich gegeben sein, so dass ich sie erkennen kann, wenn sie doch mein unmit-telbares Wissen mit ihr, davon, dass ich bin und dieses Leben habe, selbst umgreift. Ich kann mich gar nicht ohne sie denken. Daraus entspringen dann auch die Vorstellungen von der Un-sterblichkeit der Seele. Sie sind ein Resultat eben dessen, dass ich mein eigenes Nichtsein nicht denken kann. Die Seele, die ich bin, ist ein Gegenstand nicht des Wissens, sondern des Glaubens, so dann auch ihre Unsterblichkeit – aber kann es die Seele anders als in der Einheit ihres Leibes geben?

Die Psyche und der Körper sind differente Systeme im menschlichen Organismus, der sich wissenschaftlich analysieren und therapieren lässt. Der Mensch als Seele in der Einheit seines Leibes ist der ganze Mensch in seinem bewussten Selbstverhältnis. Als solcher ist er für sich das in seinem Selbstgefühl, auf dessen Basis er seine Einheit spüren und dann auch im Geiste denken, aber eben nicht erkennen kann. Wir können jedoch in der Seelsorge nicht auf den Begriff der Seele verzichten. Aber auch in unserer Alltagssprache im Grunde nicht. Inzwi-schen wird die Seele besonders in der Philosophie auch wieder Ernst genommen. Man erin-nert sich nicht nur daran, dass der Begriff der Seele bis in die Neuzeit einer der wichtigsten Begriff der Philosophie war, sondern auch heute durch Begriffe wie „Geist“, das „Subjekti-ve“, das „Mentale“ oder das „Psychische“ ersetzt werden soll und doch nicht ersetzt werden kann. Der Grund dürfte eben der sein, dass alle diese Begriffe konstitutive Funktionen menschlichen Lebens beschreiben, aber nie das integrative Ganze eines individuell selbstbe-wussten Lebens in der Einheit seines Fühlens, Denkens und Wollens erfassen. Wir brauchen aber einen Begriff für dasjenige, was alle Lebensfunktionen im Innersten zusammenhält und zugleich das personale Bewusstsein ihrer Einheit begründet. Der Begriff der „Seele“ kann dies leisten.

 

Weil wir eine Seele nicht nur haben, sondern sind, wissen wir um unsere Identität und sind uns doch zugleich immer um sie bemüht. Weil wir eine Seele sind, sind wir uns selbst zu-gleich ein Gegenstand der Sorge, brauchen wir ebenso andere, die unsere Sorgen zu teilen bereit sind. Die Regungen der Seele wahrzunehmen, heißt aufmerksam zu sein auf die tiefsten Ängste und mächtigsten Hoffnungen, auf das was das Sinnvertrauen eines Menschen erschüt-tert und ihn in die Verzweiflung treibt. Die Regungen der Seele wahrzunehmen, heißt wahr-zunehmen, was Menschen unbedingt angeht. In den Regungen der Seele stoßen wir auf die Religion, die eine Angelegenheit des Menschen ist. Eine Kirche, die die Regungen der Seele versteht und im Lichte des Evangeliums zu deuten unternimmt, wird zu einer Kirche für die Religion der Menschen.

 

4. Von einer Kirche, die zur Kirche für die Religion der Menschen wird

Eine Kirche für die Religion der Menschen ist eine seelsorgliche Kirche, eine Kirche, die sich um die Seele der Menschen sorgt, damit um das, was sie in ihrem je eigenen Selbstverhältnis als sie unbedingt angehend betrifft. Sie redet die Menschen auf die Fragen des Lebens an, die ihnen in den Erfahrungen ihres Lebens entstehen.

Ist das wirklich so? Spricht die Kirche die Menschen als die Subjekte ihres Lebens an? Oder meinen die professionellen kirchlichen Religionsagenten doch wieder oder immer noch, sie müssten den Menschen sagen, wie sie zu leben und was sie zu glauben haben? Bevor die Theologie der Aufklärung den christlichen Glauben auf die Füße des sein Glück erstrebenden Menschen stellte und die Religion zu einer Angelegenheit des zur Selbstbestimmung fähigen Menschen erklärte, hat die christliche Theologie ja doch eher ein negatives Menschenbild befördert. Sie tut es auch heute noch in kirchlichen Liturgien und der Moral frommer Gemeinschaften, nach denen Menschen sich allenfalls im Bewusstsein eigener Unwürdigkeit sich Gott zu nähern wagen dürfen. Schuld daran ist diese Sündentheologie, die behauptet, dass der Mensch wie er von Natur aus ist, gar nicht in die rechte Beziehung kommen kann, weder zu sich, noch zu seinem Nächsten und schon gar nicht zu Gott. Als der Sünder hat er immer schon die Beziehung verloren, zu sich, zu seinem Nächsten und zu Gott. Nur das göttliche Gnadenwunder kann ihn retten. Mit einem solchen Menschenbild im Kopf können kirchliche Religionsagenten nur mit Mühe zu der Auffassung gelangen, dass sie die christliche Rechtfertigungsbotschaft Menschen zu sagen haben, die selbst schon die Subjekte ihre Glaubens wie ihres Lebens sind, in einem bewussten Verhältnis zu sich stehen, auf die Sprache ihrer Seele hören, ein Empfinden dafür haben, was ihnen fehlt wie auch, dass ihr Leben gelingen könnte. Eine Kirche hingegen, die zur Kirche für die Religion der Menschen wird, ist eine Kirche, die mit Liebe und freudig interessiert den Menschen begegnet. Sie sucht das Gespräch mit ihnen, auf Augenhöhe, über die Beziehungen, die ihr Leben sind, die ihr Glück bedeuten und unter denen sie leiden. Und jetzt eben in Kontakt mit ihnen als Personen, als den souveränen Subjekten ihre Lebens und ihres Glaubens. Jeder und jede einzelne ist dann als Subjekt in Bezie-hungen gefragt. Wer für die christliche Religion spricht, sollte jedoch die Menschen eben als die souveränen Subjekte ihres Lebens und Glaubens auch explizit anerkennen. D.h. nicht, sie als fertige Persönlichkeiten anzusehen, das bin ich ja selbst auch nicht, keiner ist je fertig , schon gar nicht fertig mit den Fragen, die die eigentlichen Lebensfragen und zugleich die zentralen Fragen der Religion sind.

Eine Kirche, die Kirche für die Religion der Menschen ist, sucht das Gespräch über die Lebensfragen, auf die sie genauso wenig eine einfache und abschließende Antwort weiß wie sie: Woher die Liebe, warum dieser Hass, diese Rivalität, aber auch diese wunderbare Freundschaft? Wie kann zerstörtes Vertrauen wieder erneuert werden? Warum tun Menschen einan-der so vieles Böses an, Leid und Zerstörung? Warum müssen manche Menschen so früh steren, warum muss das Sterben überhaupt sein. Sich in die Komplexität dieser Fragen zu verstricken, Fragen, bei denen die Antwort offen und der Ausgang ungewiss bleibt, das heißt, die Menschen als Subjekte ihres Lebens und Glaubens anzusehen. Wo das in der Kirche der Fall ist, dort werden Gottesdienst und Predigt Seelsorge und Unterricht als Beziehung, als offener Dialog realisiert. Da kommt es zum Hö-ren und Reden auf beiden Seiten, wozu dann auch die Stille und das Schweigen gehören wer-den.

Die Religion gehört zum Menschen. Sie ist die Dimension der Tiefe in allen Lebensfragen, die uns auf unbedingte Weise in unserer Existenz betreffen. Nur im religiösen Bezug kann überhaupt die Frage nach dem Sinn des Ganzen ernsthaft aufgenommen werden. Diese Frage führt uns ins die Unendlichkeit einer Welt, die uns als Ganze nie gegeben ist. Aber aus dem religiösen Glauben, der auf Gott sein Vertrauen setzt, kann die Gewissheit in der Seele entste-hen, dass wir aus dem unendlich Ganzen einer von uns nie fassbaren Welt auf uns selbst zu-rückkommen und somit nie verlorengehen.

 

5. Von der Rechtfertigung des Menschen

Das ist die zentrale Botschaft des Christentums an den Menschen: „dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben“ (Röm 3,28). Die Rechtfertigungsbotschaft ist das befreiende Lebensdeutungsangebot des Christentums.

Aber gerade sie wird in Theologie und Kirche immer noch dem menschlichen Selbständigkeit- und Autonomiestreben entgegengesetzt. Immer noch gibt es eine Theologie, die das Evangelium so meint verstehen zu müssen, als würde es die Menschen vor die Alternative stellen, entweder zu Glauben oder ein freier Mensch zu sein. Das will ich exemplarisch an Wilfried Härles Aufstellungen „zur Gegenwartsbedeutung der ‚Rechtfertigungs‘-Lehre“ (34) zeigen.

Härle geht genau so vor, dass er dem Menschen, so wie er sich selbst erlebt, nicht das Recht zugesteht, ein angemessenes Verständnis von sich zu gewinnen. Wie er sich in Wahrheit, d.h. vor Gott zu verstehen hat, das muss er sich auf alle Fälle von der Bibel sagen lassen. Die Rechtfertigungszusage des Paulus, so wird er belehrt, gilt dem Sünder, der der Rechtfertigung Gottes in Jesus Christus bedürftig ist. Dass es so ist, kann der Mensch von sich aus gar nicht wissen, denn zu seinem Sündersein gehört es ja gerade, dass er sich selbst nicht als solcher erkennt. Sein Selbstsein, sein Selbstbestimmungsstreben sind insofern die ultimativen Aus-drucksformen seiner Sünde. Nur im Lichte der göttlichen Rechtfertigung, kann er zu einem seiner wahren Situation angemessenen Selbstverständnis kommen.

Obwohl Härle sich dafür interessiert, worin die „Gegenwartsbedeutung der Rechtfertigungslehre“ besteht, darf der gegenwärtige Mensch doch nicht sagen, wie er zu seiner Art zu leben gefunden hat und wie er sich darin versteht. Härle sieht zwar, dass die Theologie heute sich als Anthropologie zur Durchführung bringen muss, wenn sie überhaupt eine Chance haben soll, den heutigen Menschen zu erreichen. Aber die Anthropologie, die er entwickelt, geht nicht vom heutigen Menschen, seinem Erleben und seiner Selbstdeutung aus. Härle konstru-iert vielmehr, ausgehend von der paulinischen Rechtfertigungslehre und in deren weltbildhaf-tem Horizont, das christliche Wirklichkeits- und Menschenverständnis. In dieses muss der heutige Mensch sich einfügen. Nur dann kommt ihm zu, was der Mensch vor Gott ist, dass er sich als gerechtfertigt und in seiner Würde anerkannt wissen kann.

Heutige Menschen nehmen sich zumeist selbst als das Zentrum ihres Erlebens wahr. Sie suchen aus sich selbst heraus danach, wie sie eine ihnen zustimmungsfähige Art zu leben finden können. Sie entwickeln ihre Vorstellungen davon, was für sie ein gelingendes Leben wäre. Sie reflektieren darauf, was sie tun können, um mit sich und ihrem Wollen in Übereinstim-mung zu kommen Für alle diese Menschen ist in dem christlichen Wirklichkeitsverständnis, das Härle im Anschluss an Paulus als für christlich Glaubende normativ setzt, kein Platz. Die Gegenwartsbedeutung der Rechtfertigungslehre besteht dort vielmehr gerade darin, dass sie dem Menschen seinen trügerischen Selbstbestimmungswahn austreibt.

Es findet dabei natürlich auch keine Berücksichtigung, dass Menschen sich heute in viele Wirklichkeiten hineingestellt finden, in denen sich unterschiedliche Wirklichkeitsverständnis-se zur Durchsetzung bringen. Gibt es das überhaupt, das christliche Wirklichkeitsverständnis? Müssten, wenn es das gäbe, nicht die vielen Differenzierungen, die moderne Gesellschaften formieren, zurückgebaut werden? Ist aber eine christentumskulturell integrierte, auf dem christlichen Wirklichkeitsverständnis aufgebaute Gesellschaft überhaupt vorstellbar – und wünschenswert? Solche Fragen interessieren den Dogmatiker des christlichen Wirklichkeits-verständnisses nicht. Vor allem, und das ist das eigentlich Schlimme, lässt er sich nicht darauf ein, den gegenwärtigen Menschen als einen solches anzusehen, der immer schon sich selbst in seinem Erleben des Lebens wahrnimmt und darauf aus ist, sich in seinem Erleben auch zu verstehen, es ihm um ein Gelingen seines Lebens und deshalb auch die richtige Art zu leben geht. Einem solchen Menschen kann man nicht Bescheid geben wollen, wie er sich zu verste-hen hat, wenn ihm denn das Evangelium soll gelten können. Dem seiner Freiheit bewussten Menschen, sollte, so meine ich, auch das Evangelium als eine Möglichkeit in Aussicht gestellt werden, mit der er sich des Grundes seiner Freiheit gewiss werden kann, das ihm somit hilft, sein Leben selbstbestimmt zu führen.

 

6. Von einer kirchlichen Praxis, die Gutes über den Menschen sagt

Die Rechtfertigungsbotschaft eröffnet die Chance, über den Menschen, wer er auch sei und was immer er auch getan hat, Gutes zu sagen. Er ist der, auf den Gott seine Hand gelegt hat. Er kann sich auf alle Fälle mit Gott verbunden wissen, denn der Gott Jesu ist Liebe, Gnade, Vergebung, bedingungslos. Dies ist das Evangelium, dass nur Gutes über den Menschen ge-sagt wird. Die Rechtfertigungsbotschaft gibt ihm die Möglichkeit sich auch noch in dem, was er an sich selbst als unannehmbar erlebt oder auch von anderem ihm zu Vorwurf gemacht wird, sich dennoch als anerkannt und akzeptiert zu verstehen. Der aus der Rechtfertigungszu-sage lebende Mensch ist der Mensch, der zu sich stehen kann und aus einer unwahrscheinli-chen Freiheit zu leben vermag.

Dass ein Mensch diese Botschaft annehmen kann, sich vertrauensvoll auf sie einzulassen be-reit ist, also das tut, was die Theologie „glauben“ nennt, dazu gehört freilich, dass sie ihm nicht nur in dürren Worten und im Stil kerygmatischer Zusagen begegnet. Er muss die Erfah-rung dieser Zusage machen können. Für sie stehen die positiven Erfahrungen des Lebens. Worauf es daher in der Kirche ankäme, ihrer Predigt und ihren Gottesdiensten, ihrem Unter-richt und ihrer Seelsorge, ist, dazu beizutragen, dass Menschen dabei positive Erfahrungen machen. Positive Beziehungserfahrungen sind Erfahrungen des Beachtetwerdens, der Anerkennung, Erfahrungen eines liebevollen Interesses an der eigenen Person.

Eine Kultur der Anerkennung, der Liebe und der Freundschaft, das ist die Glaubenskultur des Christentums. Jeder Mensch kann merken, trotz allem, was er in seinen Beziehungskonflikten an Bösem erfährt und selbst anrichtet, dass er ein unendlich liebenswertes Geschöpf ist.

Die Glaubenskultur des Christentums ermöglicht einen unerschütterlich positiven, auch unge-heuer frustrationstoleranten Umgang der Menschen miteinander. Da kann Freiheitsluft geat-met werden. Da weht der Geist vorbehaltloser Anerkennung und wird göttliche Liebe emp-funden. In Räumen und Atmosphären, in denen Menschen das erleben können, gewinnen sie ein positives Selbstgefühl, Selbstvertrauen und oft auch neuen Lebensmut.

Da ist eine unbedingt gute Vorgabe, steht dann auch über der Kirchentür. Nenne sie Gott, Liebe, Geschenk des Daseins. Sein Leben von einer unbedingt guten Vorgabe her zu verste-hen, heißt christlich glauben. Glaubst du, dann lässt du diese Vorgabe unbedingt für dich selbst wahr sein. Dann lernst du, dass das Wichtigste im Leben sich nicht deinem eigenen Tun und Leisten verdankt. Es wird dir klar, dass du dir das Wichtigste im Leben schenken lassen musst. Das heißt aus Gottes Rechtfertigung leben. Es heißt einfach nur Mensch zu sein, dankbar, gelassen, heiter und frei.

COPYRIGHT: WIlhelm Gräb, Berlin.

 

Zu den Fußnoten:

1 Johann J. Spalding, Die Bestimmung des Menschen. Die Erstausgabe von 1748 und die letzte Auflage von 1794, hrsg. von Wolfgang Erich Müller, Waltrop 1997 (Seitenangaben im Folgenden nach der Originalpaginie-rung)

 

2 A.a.O. 4

 

3 Spalding hat in der Einleitung zur 13. und letzten, insgesamt erheblich erweiterten Ausgabe seiner Schrift über „Die Bestimmung des Menschen” (so die neue Titelformulierung in der Ausgabe von 1794) hinzugefügt, dass die überkommenen, „gewöhnlichen Grundsätze der Sittlichkeit und Religion” (A.a.O. Ausgabe 1794, 1) in der neuen Zeit eines alles relativierenden Historismus und mit alternativen Lebensformen konfrontierenden Plura-lismus keine hinreichende Lebensorientierung mehr zu geben vermögen. Das neue Bild vom Menschen, seiner ethischen Autonomie und der damit verbundenen Würde, ist – so wollte er sagen – im beschleunigten Kultur-umbruch unumgänglich geworden, auch für Kirche und Christentum. Anders als im Versuch, ”von vorn anzu-fangen; nichts als wahr anzunehmen oder als Vorurteil zu verwerfen, was ihm nicht bei dieser neuen und strengen Prüfung in seiner eigentümlichen Gestalt erscheinen würde”, kann es dem neuzeitlichen Menschen nicht mehr gelingen, wie der alte Spalding sagte, ”ein System des Lebens bei sich festzusetzen, woran er sich zu allen Zeiten halten könne” (A.a.O. 4 f.).

 

Von vorn anfangen, alles Überkommene einer kritischen Prüfung unterziehen, „das, was er auf die Art unleug-bar findet, zu sammeln und zu verbinden” (A.a.O. 4), war und blieb Spaldings Devise. Es stellte dies gewisser-maßen die Aufforderung zu einem synkretistischen Verfahren beim Bau des „System(s) des Lebens” dar. Der eigene Lebensentwurf sollte möglich sein, auf der Basis eben derjenigen Evidenzen, die sich im jeweils eigenen Innern einstellen. Was Eingang finden kann in das symbolische Gefüge der eigenen Lebensorientierungen, muss in kritischer Prüfung persönlich einleuchten. Und das gilt nun auch und gerade für die Religion, die kirchlichen Überlieferungen, die theologischen Lehrsätze. Auch die überkommene Symbolwelt des Christentums muss der kritischen Prüfung unterzogen werden. Und Maßstab der Kritik muss die Frage nach ihrer Lebensdienlichkeit sein. Sind die großen Erzählungen des Christentums hilfreich bei der Klärung der existentiellen Sinn- und mora-lischen Orientierungsfragen? Schenkt die christliche Religion Lebenserfüllung, nicht aufgrund autoritärer Vor-gaben, was zu glauben ist und wie man sich verhalten sollte, sondern weil da in ihren heiligen Schriften subjek-tiv Evidentes überliefert ist, Erzählungen von Gott und seinem Handeln, die auf persönliche Resonanzen rech-nen können, Vertrauen auf Gott und sich selbst entstehen und Dank empfinden lassen für das wunderbare Geschenk des Lebens? Das waren die Fragen, die Spalding sich vorgelegt und die er mit seinen populartheologi-schen Schriften, im Interesse auch einer neuen kirchlichen Publizistik, bearbeitet hat.

 

 

 

4 Johann Gottlieb Tönners theologische Untersuchungen, Riga 1772

 

5 A.a.O. Erster Band, erstes Stück, 108-161

 

6 A.a.O. 110

 

7 A.a.O. 142 f.

 

8 A.a.O. 137

 

9 A.a.O. 142

 

10 ”Daher dazu lasset uns, Brüder im Herrn, unmittelbar handeln, und auch bei den lasterhaftesten Leuten han-deln, daß dieses und jenes in ihnen werde. Lasset uns sie überzeugen, daß Gott die Menschen liebt und auch sie liebt. Ich sage überzeugen: Also es ihnen nicht bloß sagen und versichern, sondern zeigen und erweisen. Auch es nicht bloß mit einem Spruche aus der Bibel sagen und versichern. Die in derselben aufgestellten göttli-chen Religionslehrer thun das selbst nicht bloß, sondern geben Beweise. Christus sagt nicht blos, daß Gott auch seine Feinde liebt; er beweiset es mit der Erfahrung.”(A.a.O. 142)

 

11 A.a.O. Erster Band, drittes Stück, 105-159

 

12 A.a.O. 159-200

 

13 Breslau 1783, 31788 (hier zitiert); erst am Ende der ”Zugabe” zur 3. Aufl. nennt sich Spalding als Verfasser

 

14 Berlin 1797, 41806

 

15 A.a.O. 3

 

16 Vertraute Briefe die Religion betreffend, 251 f.

 

17 Religion, eine Angelegenheit des Menschen, 10 f.

 

18 Es ist zwar richtig, Spalding und die übrigen Aufklärungstheologen wiesen der Religion keinen eigenen anth-ropologischen Ort zu, obwohl sie auch schon erstaunlich viel von der Bedeutung des Gefühls für die Religion zu sagen wußten. Sie exponierten es noch nicht im Sinne der Erschlossenheit des Selbst im Ganzen der Anschau-ung einer Welt, wie dann Schleiermacher in seiner von romantischem Geist und transzendentaler Philosophie durchprägten Religionsschrift. Anders war auch, daß die Aufklärungstheologen das religiöse Bewußtsein nicht von den irrationalen Kontingenzerfahrungen des menschlichen Lebens und ihrer handlungssinntranszendenten Bewältigung her plausibel zu machen versuchten. Für Schleiermacher waren Geburt und Tod religiös relevant, die Erfahrung des unableitbaren Gegebensein des endlichen, menschlichen Lebens, der Faktizität seiner Frei-heit. Da sah er die Unbedingtheitdimension der Wirklichkeit aufscheinen sah, ihren im Unendlichen zerfließen-den Horizont. Auf irrationale Kontingenzerfahrungen, durch die religiöse Anschauungen und Gefühle ausgelöst werden, hat er die Aufmerksamkeit gelenkt. Demgegenüber sahen die Aufklärungstheologen das religiöse Be-wußtsein aufs engste mit der dem Menschen natürlichen Treibfeder zum moralischen Handeln verknüpft.

 

19 Vgl. Albrecht Beutel, Aufklärer höherer Ordnung? Die Bestimmung der Religion bei Schleiermacher (1799) und Spalding (1797). In: Ders., Reflektierte Religion. Beiträge zur Geschichte des Protestantismus, Tübingen 2007, 266-298.

 

20 Schleiermacher wollte zeigen, daß das religiöse Bewußtsein des Menschen die Wirklichkeit anders ansieht als das moralische. Der Religion geht um die Sinn erschließende Anschauung des Universums, um ein intuitives Erfassen des Ganzen der Wirklichkeit, dabei dann auch um die Stellung, sowie die Verfassung des individuellen, menschlichen Daseins in ihr. Die Religion schaut die Grundverfassung der Wirklichkeit. Die Moral weiß demge-genüber, daß sie zu bilden, vom Menschen Gutes getan werden muß. Der Moral geht es um die durch das Tun des Guten verbesserliche Welt. Deshalb braucht sie aber auch Religion, soll sie auch nach Schleiermacher zwar nicht aus Religion, aber mit Religion getan werden. Denn die Erkenntnis dessen was gut ist für Welt und Mensch, setzt deren Anschauung voraus. Die Moral braucht die Anschauung vom Ganzen der Wirklichkeit und ein Wissen um die Bestimmung des Menschen in ihr. Nur im Horizont einer letztinstanzlich religiösen, ganzheit-lichen Weltanschauung kann das moralische Handeln für Schleiermacher Orientierung und Sinn erfahren.

 

21 Vgl. Kirchenamt der EKD (Hrg.), Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis, Hanno-ver 2014.

 

22 Vgl. Bruno Latour, Jubilieren. Über religiöse Rede, Berlin 2011, franz. Original: Jubiler – ou les tourmentes de la parole religieuse, 2002.

 

23 A.a.O. 80.

 

24 A.a.O. 82.

 

25 A.a.O. 82.

 

26 A.a.O. 8f.

 

27 Ebd.

 

28 Jan Roß, Die Verteidigung des Menschen. Warum Gott gebraucht wird, Berlin 2012.

 

29 A.a.O. 37.

 

30 A.a.O. 38.

 

31 A.a.O. 38f.

 

32 A.a.O. 39.f.

 

33 Vgl. Ulrich Barth, Selbstbewusstsein und Seele. Kant, Husserl und die moderne Emotionspsychologie, in: dersb., Gott als Projekt der Vernunft, Tübingen 2005, 441-465.

 

34 Vgl. Wilfried Härle, Zur Gegenwartsbedeutung der „Rechtfertigungs“-Lehre. Eine Problemskizze, in: ZThK 95, Beiheft 10, 1998, 101-–139. Härles Beitrag steht im Zusammenhang einer breiten Debatte um die Stellung der paulinisch-reformatorischen Rechtfertigungslehre im Ganzen der christlichen Lehre, die dann bald darauf durch die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ (1999) noch einmal enorm verstärkt worden ist. Auf Härles Text nehme ich im Folgenden als einen solchen Bezug, der nicht nur eine breite Debattenlage gut dar-stellt, sondern dabei auch selbst eine Position vertritt, die von vielen geteilt wird. Ich beziehe mich auf Härle, weil er eine in der systematischen Theologie dominant vertretene Postionen repräsentiert und ich an seinem Text zur Rechtfertigungslehre gut zeigen kann, dass eine systematisch-theologische Verhandlung der Gegen-wartsbedeutung der Rechtfertigungslehre, wie sie von ihm auf exemplarische Weise vorgenommen wird, zwar die Probleme richtig erkennt, dann aber, weil sie das praktisch-theologische bzw. homiletische Vermittlungs-problem doch gravierend unterschätzt, in eine Sackgasse läuft. Das gibt dann natürlich auch wieder zu kriti-schen systematisch-theologischen Rückfragen Anlass.

 

Im Hintergrund der in diesem Text von Härle vorgetragenen und auf die „prinzipielle“ Bedeutung der Rechtfer-tigungslehre für das Gesamtverständnis des christlichen Glaubens ausgehenden Argumentation steht die 20 Jahre früher, gemeinsam mit Eilert Herms verfasste Schrift W. Härle / Eilert Herms, Rechtfertigung. Das Wirk-lichkeitsverständnis des christlichen Glaubens, 1979. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Versuch einer Aktualisierung der paulinischen Rechtfertigungslehre im Kontext des neuzeitlich-modernen Wirklichkeitsver-ständnisses, in Verbindung mit einer Reflexion auf die Konsequenzen, die dieses Unternehmen in der kirchli-chen (Predigt-)Praxis hat bzw. haben könnte, habe ich damals bereits zusammen mit Dietrich Korsch vorge-nommen, in: Wilhelm Gräb /Dietrich Korsch, Selbsttätiger Glaube. Die Einheit der Praktischen Theologie in der Rechtfertigungslehre, Neukirchen-Vluyn 1985. Dort liegt auch ausführlicher diejenige subjektivitätstheoretische Interpretation der paulinischen Rechtfertigungslehre vor, an die hier mit knappen Bemerkungen angeschlossen wird.