Gut leben in einer Gesellschaft jenseits des Wachstums

Gut leben – in einer Gesellschaft „jenseits des Wachstums“

Hinweise zum Salon-Gespräch am 20. November 2014 im „Afrika Haus Berlin“.

Von Christian Modehn

Der „Religionsphilosophische Salon Berlin“ lädt am „Welttag der Philosophie“ regelmäßig zu einer besonderen Veranstaltung ein. Diesmal war die Philosophin Dr. Barbara Muraca (Uni Jena, ab 2015 an der „Oregon State University“) bei uns, um über die Perspektiven ihres neuen Buches „Gut leben. Eine Gesellschaft jenseits des Wachstums“ (Wagenbach Verlag, 2014, 9.90 Euro) zu diskutieren.

Wir empfehlen dringend die Lektüre dieser komprimierten Studie, die verschiedene Aspekte ausleuchtet und ermuntert, weiter am Thema „dranzubleiben“.

Muss man (in gebildeten Kreisen) immer noch die vielen, allseits bekannten Fakten aufzählen, dass die Wachstumsgesellschaft ganz offensichtlich an ihr Ende gekommen ist?

Muss man an die heutige globale Klimaveränderung erinnern, die durch den unsäglich hohen und stetig steigenden (China, USA usw.) CO2 Ausstoß mit verursacht ist?

Muss man an die schlimmen Folgen der Massentierproduktion, nicht nur für die betroffenen, gequälten Tiere, erinnern? Diese Massenproduktion vernichtet riesige Flächen guten Bodens, der nun – wie in Brasilien, Argentinien und anderswo – nicht mehr zur Ernährung hungernder Menschen, sondern für die Viehfutter – Herstellung der Fleisch genießenden Leute im Norden zur Verfügung steht?

Muss man an die immer bedrohlicher werdende Situation der Trinkwasserversorgung erinnern?

Muss man daran erinnern, dass etwa 2.000 Fässer mit Atommüll, die in deutschen AKWs untergebracht sind, verrosten und beschädigt sind, deswegen tritt Radioaktivität aus (TAZ 22. Nov. 2014, Seite 2). Die AKWs sind bester Ausdruck für einen Staat, der an die Vorteile der permanenten Wachstumsgesellschaft glaubte.

Muss man daran erinnern, wie allen Menschen eingeredet wird, sie seien nicht in erster Linie autonome, freie Personen, sondern zuerst Konsumenten, Wesen also, die alles dran setzen müssen, das wenige verfügbare Einkommen auszugeben für Produkte, die morgen schon wieder entzwei gehen und zu neuen Einkäufen der Produkte multinationalen Firmen führen.

Diese Reduzierung des Menschen auf den Konsumenten, heute so selbstverständlich allerorten daher geredet, ist wohl das Schlimmste, philosophisch (und ethisch) gesehen, was die Wachstumsgesellschaft uns allen heute und seit langem schon antut. Da werden Menschen wesentlich zerstört. Mir ist nicht bekannt, dass die Kirchen sich mit dieser unheilvollen Definition des Menschen als Konsumenten auch nur entfernt auseinander setzen. Die Herren der Kirche diskutieren in Rom, in teuren Unterkünften nach teuren Trans-Atlantikflügen, viel lieber über die Wieder-Verheiratet-Geschiedenen…

Gibt es einen Ausbruch aus diesem Gefängnis der Rollenfestlegung Mensch=Konsument? Den gibt es, und die Wege dort hin, im Plural, weisen in Richtung „Überwindung der Wachstumsgesellschaft“.

Möge übrigens jede Leserin, jeder Leser, die legitimen und richtigen Litanei der Schädigungen der Wachstumsgesellschaft auf seine Art fortsetzen und ergänzen. Diese Litanei wird lang. Sie wird um so dringlicher, wenn man bedenkt, dass die Staatschefs der führenden Nationen (G20) bei ihrem Treffen in Brisbane, Australien, im November 2014, erneut das Ziel formuliert haben: Die Ökononien der reichen Länder sollen bis 2018 noch einmal um 2,1% wachsen, die anderen, die armen, bitte schön um 0,5%. Dieses Vorhaben wurde von der Chefin des Internationalen Währungsfonds, Christine Lagarde, als „Lichtblick“ bezeichnet. Wachstum ist ein Gott, wenn er wächst, gibt es Lichtblicke (für die internationalen Konzerne. Dass die Natur dann sozusagen schwarz sieht, wird bei so viel angeblichem Licht übersehen).

Wir brechen hier diese Gedankenreihe ab und erinnern an unseren Salon am 20. November 2014, erinnern an das Buch von Barbara Muraca. Sie hat in Leipzig beim 4. Degrowth/Décroissance Kongress im September 2014 einen der wichtigen Vorträge gehalten. Sie ist eine der wenigen, die Philosophie mit Kritik der herrschenden Ökonomie verbinden, sie betritt philosophisches Neuland.

Sie bezieht sich auf viele tausend Gruppen, die weltweit bereits jetzt aus der Wachstumsgesellschaft aussteigen, ein gemeinschaftlicher Prozess, ein langer Weg, aber voller Verheißung, weil er auch neue Gemeinschaftsformen stiftet unter den bislang eher individualistisch nebeneinander lebenden Menschen. Man lese als Konkretisierung etwa meinen Beitrag zur internationalen Transition-Bewegung.

Barbara Muraca hat in unserem Salon betont: Wir sollten uns eher an die lebendigen, mutigen Gruppen halten, die die Wachstumsgesellschaft in kleinen Schritten überwinden, als in der Ecke der Jammernden und Klagenden zu verharren, die alles so furchtbar finden in dieser Wachstumswelt. Klaus Töpfer hat darauf hingewiesen, dass das Jammern oft nur eine Entschuldigung fürs Nichtstun ist.

Ich meine: Es gilt auch hier, den eigenen Weg zu gehen, um dann mit anderen die Kraft zu entwickeln, Alternativen zu leben. Die Kraft wächst im Moment des Vollzugs, sie ist nicht vorher schon als solche da, etwa am Schreibtisch des einzelnen.

Barbara Muraca hat das erste Kapitel ihres Buches dem Thema „Postwachstum und die Kraft der Utopie“ gewidmet. Die Philosophin legt allen Wert darauf, Utopie bitte nicht schlicht (vulgär) als Spinnerei und Phantasterei zu verstehen, sondern als konkrete Utopie, also als Versuch, in der Gegenwart jene Tendenzen aufzuspüren, die über den gegenwärtigen Zustand bereits hinausweisen. In der Gegenwart ist sozusagen immer schon Zukunft angelegt, ist latent dabei, ist verborgen anwesend. Ob in der Freilegung dieser latenten neuen Welten eine bessere Zukunft realisiert wird, hängt von der Entschiedenheit der Akteure ab. Die Gegenkräfte sind natürlich heftig. Die multinationalen Firmen suchen ja auch fieberhaft, die alte Welt zu erhalten. Für diese Leute heißt Zukunft unserer Gegenwart nur eine Variante der Gegenwart, nichts Neues also, nur die Aufforderung, dass wir uns den neuesten Schrei an Klamotten, Geräten, Autos usw. kaufen.

Deutlich wurde: Postwachstum ist weder ein Weg zum Verzicht und Askese noch eine bloße Frage der individuellen Entrümpelung oder der voluntary simplicity. Es geht nicht an, Menschen, die heute schon darben, bedingt durch die Strukturen der Wachstumsgesellschaft, nun auch noch Askese zu verordnen. Es sind die Strukturen, die verändert werden müssen. Das schließt nicht aus, dass dabei sozusagen auch religiöse oder spirituelle Ressourcen wachgerufen werden.

Philosophie wird sich noch stärker mit der Verantwortungsethik (Hans Jonas) befassen. Sind wir gesinnungsethisch verpflichtet, Verantwortungstethik in den Mittelpunkt zu stellen?

Barbara Muraca weist in ihrem Buch darauf hin, dass die Wachstumsgesellschaft so tiefe Spuren (Verletzungen?) in unserem Geist und unserer Seele hinterlassen hat, dass so viele Wachstum wie einen Gott betrachten. Diesen Gott gilt es zu entthronen. Genauso spricht Barbara Muraca treffend von einer Sucht, wenn sie von der Bindung so vieler an die Wachstumsgesellschaft spricht. Die Befreiung ist also immer auch eine psychotherapeutische Aufgabe. Welche Psychotherapeuten befreien uns von dieser Wachstums-Sucht? Ist das überhaupt schon ein Thema?

Für alle, die sich mit dem Ende der Wachstumsgesellschaft auseinandersetzen, gibt es ein besonders dringendes Thema: Wenn die Ökonomie weltweit in einem Zustand extrem niedriger Zinsen verharrt, und das ist heute der Fall, „dann könnte es für Investoren langfristig sehr schwierig werden, alle vorhandenen Ersparnisse aufzunehmen“, so Larry Summers, u.a. Wirtschaftsberater Barack Obamas (zit. nach „Die Zeit“, 13. Nov. 2014, Seite 15). Es könnte also zu einer Stagnation kommen, zu einem selbst gemachten Ende der Wachstumsgesellschaft. Dieses Ende würde dann aber von den Politikern usw. gedeutet werden als die große Katastrophe, weil nur wenige die Wachtsumsgesellschaft als ohnehin zu überwindendes System voraus denken und voraus planen. Und keine Perspektiven haben für eine Welt ohne permanentes Wirtschafts-Wachstum.

Es gibt einfach jetzt schon viel zu viel erspartes Geld, die Banken sind sozusagen voll gestopft mit Geld, das fast niemand für Investitionszwecke (Wachstum) leihen will. Alle sparen, das ist auch und vor allem der Deutschen größte „Tugend“. Der Hintergrund: Viele Regierungen, auch in Deutschland, vor allem seit Kanzler Schröder, haben die staatlichen Sozialsysteme (Rentenversorgung usw.) reduziert und den Bürgern empfohlen, doch bitte schön privat fürs Alter zu sorgen. Das war zu einer Zeit, als es noch Zinsen gab und sich das Sparen noch etwas lohnte. Was tun die Bürger aber auch jetzt auf diese neoliberalen Zumutungen? Sie sparen weiter wie verrückt, so verrückt, dass sie jetzt keine Zinsen mehr auf ihren Sparbüchern erhalten. D.h. Ihr gespartes Geld wird Jahr für Jahr geringer, angesichts der Inflationsraten. Die Sparer verarmen. Wer denkt da grundsätzlich nach über das Ende DIESES Wirtschaftssystems? Es ist der blinde Glaube an dieses Wirtschaftssystem, der da wirksam ist und kritisches Nachdenken verhindert.

Wer profitiert von der Wachstumsgesellschaft: 0,004 Prozent der Weltbevölkerung besitzen jetzt 30 Billionen US Dollar, also etwa 24 Billionen Euro. Sie kontrollieren damit 13 Prozent des gesamten Vermögens der Welt. 211.275 Menschen gelten als “ultrareich”, das heißt sie haben ein Vermögen von mehr als 30 Millionen Dollar, von ihnen haben 2325 Menschen mehr als eine Milliarde Dollar als ihr Privateigentum, das selbstverständlich als Wert geschützt und verteidigt werden muss, sagen die Herrschenden. Die Zahl der Milliardäre steigt ständig! (Quelle: “Tagesspiegel”, 22. Nov. 2014, Seite 34).

Wer die Wachstumsgesellschaft heute überwinden will, muss Antwort geben auf die Frage: Wie können die vorhandenen Milliarden ersparter Euros sinnvoll eingesetzt werden, so dass zum Beispiel die vielen Millionen hungernder Menschen oder die vielen Millionen Analphabeten weltweit zu einem Leben finden, das menschenwürdig heißt. Die 25 größten an der Börse notierten deutschen Industrieunternehmen haben inzwischen ein Geldvermögen von insgesamt 77 Milliarden Euro angehäuft, bei Volkswagen sind es etwa 16 Milliarden Euro, bei Siemens 8,2 Milliarden Euro us. (vgl. Die Zeit, 13. Nov. 2104, Seite 14). „Die großen Konzerne verhalten sich auf einmal wie der kleine Sparer. Sie packen ihr Geld aufs Sparbuch“, so “Die ZEIT”. Und die Konzerne lassen es da schmoren, d.h. auf Dauer werden selbst deren Milliarden von selbst schrumpfen. Warum wird nicht an Alternativen gedacht? In humanitäre Projekte investiert? Gibt es keine Verantwortung der Konzerne für das Wohl der Menschheit? Leben wir tatschlich schon in einer Menschenwelt ohne menschliche Verantwortung? Haben die Religionen also total versagt, die ja doch von ihrer Ethik immer irgendwie ein bißchen das Teilen und das Solidarischsein gepredigt haben. Man könnte meinen, dass im christlichen Bereich, um nur bei diesem zu bleiben, tatsächlich eine ziemlich umfassende Wirkungslosigkeit der religiösen Lehren in der Gestaltung der Ökonomie festzustellen ist. Eine schreckliche Bilanz zur Wirkkraft des Religiösen. Natürlich auch zur Bedeutung der aufklärerischen Vernunft. Vielleicht wurde auch seit Jahren in den Kirchen viel zu viel von Ökumene geredet und viel zu wenig von Ökonomie…Aber immerhin, noch gibt es ja kritische Gruppen!

Wie konnte es soweit kommen, dass der Gedanke des Privateigentums und des Gewinns zur obersten Tugend und Haltung verkommen konnte? Wer ist schuld daran noch heute, dass unvorstellbare Dimensionen des Privateigentums, etwa die Milliarden der Milliardäre, als selbstverständlich und zu schützend hingenommen werden? Diese Herrschaften zahlen zudem oft sehr geringe Steuern. Welche Politiker haben diese Gesetze beschlossen, die derartige Privilegien gesetztlich, „demokratisch“, geschaffen haben? Diese Fragen gehören ins Zentrum einer kritischen Bildungsarbeit und Aufklärung, die den Namen noch verdient.

Der Salonabend hat den TeilnehmerInnen gezeigt, angesichts der weltweiten Bewegung derer, die eine andere Welt für möglich halten: Dieser dumme, leider populäre Spruch, von Madame Thatcher propagiert: „There is no alternative“, abgekürzt TINA) ist falsch, ihm gilt es theoretiosch wie praktisch zu widersprechen. Von der „unsichtbaren Hand“ (Adam Smith), die die gesamte Wirtschaft angeblich lenkt, haben wir uns befreit. Jetzt müssen wir uns definitiv von TINA verabschieden. Vielleicht könnte die Kurzformel TAMA heißen: There are many alternatives. In dem TAMA steckt das Wort amare = Lieben.

Also halten wir uns TAMA! In den Alternativen zeigen sich dann Spuren eines guten Lebens, im Sinne eines besseren Lebens als jenes, das uns die Fixierung auf Wachstum und Konsumentendasein zumutet.

Es könnte inspirierend sein an Joshua Wong (Hongkong) zu erinnern, er ist als Student aktiv in der Protestbewegung jetzt in Hongkong. Von ihm stammt das Wort: „Die Zukunft wird nicht von Erwachsenen entschieden werden“. Das Philosophie-Magazin (Ausgabe Dezember 2014, Seite 14) kommentiert diesen zentralen Satz: Der 18 jährige Student der Politikwissenschaften sieht das größte Problem der Gegenwart „in der Welt politisch träger, unmündig gewordener Erwachsener“.

Ein Problem der Sprachregelung bleibt noch: Im englischen und französischen Sprachraum haben sich degrowth oder décroissance längst eingebürgert in der Umgangssprache. Im Deutschen fehlt noch ein entsprechendes Wort, der eine treffende Begriff. Natürlich kann alles umschreiben, ob das Wort „Post-wachstum“ Chancen hat, weite Verbreitung zu finden, wage ich zu bezweifeln.

Wir empfehlen allen Französisch Lesenden die Monatszeitschrift „La Décroissance“. „Le Journal de la joie de vivre“. (Der Titel sagt es: Jenseits des Wachstum entesteht die Lebensfreude). Eine Zeitschrift, die schon über 100 Ausgaben zählt und eine Auflage hat von ca. 25000 Exemplaren, auch an vielen französischen Kiosken erhältlich ist. Die Adresse: 52, Rue Crillon, BP 36003, F 69411 LYON.

www.ladecroissance.net oder www.casseursdepub.org

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin