Für die Grenzgänger: Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb

Für die Grenzgänger.

Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb

Die Fragen stellte Christian Modehn

Sinn und Berechtigung der Grenzen ist jetzt „das“ Thema politischer Debatten: Die Erfahrung geschlossener Grenzen in Europa wird nicht nur von den Flüchtlingen als massive Einschränkung der Menschenwürde erlebt. Ein grundsätzliches Verstehen der Grenzen kann nicht auf theologische Überlegungen verzichten. Der christliche Glaube spricht vom begrenzten, vom „endlichen“ Leben immer nur im Zusammenhang von der Überwindung dieser Begrenzungen. Gott selbst sprengt die enge Befangenheit; er schenkt die Weite, selbst die Überwindung der absoluten Grenze im Leben, dem Tod. Sind Christen also Grenzgänger im Sinne von „Grenzen-Überwinder“?

Der Sinn der Religion, so könnte man geradezu sagen, ist der, dass sie sich an Grenzen abarbeitet, an unüberwindlichen Grenzen allerdings, an denen, die uns aufgrund unserer Endlichkeit gesetzt sind. Unser Leben ist begrenzt und diese Grenzen sind uns unverfügbar. Wir werden geboren und wir müssen sterben. Beides liegt nicht in unserer Hand. Was wir aber können, das ist, dass wir den Sinn zu erkennen versuchen, der unserem Leben in den uns gesetzten Grenzen zukommt. Warum bin ich auf der Welt? Was soll das Ganze, wenn irgendwann doch alles aus und vorbei ist und das Leben genauso ohne mich weitergeht.

Der christliche Glaube kann, wie jede Religion, die Grenzen, die uns mit unsere Endlichkeit gesetzt sind, auch nicht überwinden. Aber er kann unserem endlichen Dasein eine unendliche Bedeutung geben. Das tut der christliche Glaube, wenn er sagt, dass jeder Mensch als Gottes geliebtes Geschöpf auf die Welt kommt und seine Bestimmung darin hat, für das Ganze der Schöpfung von unschätzbarem Wert zu sein.

So nimmt die Religion die größtmögliche Distanz zu unserem begrenzten Leben ein. Sie anerkennt die Grenzen, die uns gesetzt sind, aber sie lässt den Sinn, der unserem Leben gegeben ist, nicht in diesen Grenzen aufgehen. Sie lockt in das Vertrauen darauf, dass jeder Mensch, wo auch immer er auf die Welt gekommen ist, welcher Kultur und Religion auch immer sie zugehören mag, welche Chancen und Möglichkeiten auch immer ihr mitgegeben sind, ein unbedingtes Recht darauf hat, ein menschenwürdiges Leben führen zu können. Weil die Religion jedem Menschen in den gesetzten Grenzen seines endlichen Daseins eine unendlich Bedeutung gibt, deshalb, genau deshalb existieren für sie keine unüberwindlichen Grenzen zwischen Staaten, Kulturen und auch nicht zwischen Religionen.

Diese Religion der Menschlichkeit ist „in aller Menschen Herz nur Eine“ (Herder). Wer diese Religion hat, für den schreit das Elend der Flüchtlinge an den jetzt (auch mit deutscher Hilfe)geschlossenen Außengrenzen Europas nicht nur zum Himmel, sondern ins eigene Herz.

Finden diese religiösen Überlegungen eine Bestätigung in der je eigenen Erfahrung von Musik, Kunst, Literatur, Erotik, Solidarität? Erleben dort Menschen, wie sie ihr wahres Leben finden, also über ihr kleines Ich hinauswachsen in immer neue Weiten hinein? Ist Grenzüberschreitung also auch eine anthropologische Konstante?

Wir machen immer wieder solche Erfahrungen, in denen uns die unendliche Bedeutung des Lebens, das uns gegeben ist und an dem wir mit allen unseren Sinnen teilhaben, aufgeht. Das sind die Augenblicke, zu denen wir mit Goethes Faust sagen möchten: „verweile doch, du bist so schön“. Es sind die Augenblicke, in denen uns die Ewigkeit ins Herz gegeben ist. Dann weitet sich unser Sinn, dann haben wir das Gefühl, wir könnten, wie es ein Psalmbeter gesagt hat, mit unserem Gott auch „über Mauern springen“ (Psalm 18,30). Solche Aussichten ins Unendliche können sich uns eröffnen, wenn wir mit dem „Seestück“ Caspar David Friedrichs, den Wolkenbildern Gerhard Richters oder den Farbkollagen Marc Rothkos über die Grenzen unserer sinnlichen Wahrnehmung hinausgetrieben werden. Ebenso erleben wir durch die Musik, wie sich unsere Sinne weiten und die Ahnung von einem Sinn, der dem unendlichen Ganzen einer Welt, zu der wir mit unseren begrenzten, endlichen Dasein gehören und die uns bedeutungsvoll in sich einbezieht, in uns aufsteigt – nicht zu schweigen von der erotischen Verschmelzungserfahrung, in der wir leibhaftig die Grenzen unseres Ichs transzendieren.

Von einer anthropologischen Konstante würde ich im Blick auf unser Grenzverhalten deshalb sprechen, weil wir Menschen eben nicht nur endliche, begrenzte Wesen sind, sondern darum wissen und uns zu diesen Grenzen verhalten. Dieses Grenzverhalten, ja, Grenzgängertum, ist in Wahrhaftigkeit gelebte Religion.

Wenn die gegenwärtigen radikalen Grenzschließungen in Europa, dieses Sich-Abkapseln vor den Fremden, schlimme seelische Auswirkungen (Angst, Egoismus) auch in Europa selbst haben: Könnten die Kirchen andere Akzente setzen? Wie könnten sie die Menschen ermuntern, sich nicht angstvoll eingrenzen zu lassen? Ist die Abgrenzung der christlichen Konfessionen voneinander dabei auch noch ein starkes Hindernis, diesen Weg zu gehen?

Die Kirchen haben starke Akzente gesetzt – jedenfalls solange sie sich hier in Deutschland im Einklang mit der Politik Angela Merkels wissen konnten. Merkels Satz „wir schaffen das“ hat ja geradezu zivilreligiöse Bedeutung gewonnen. Der Kanzlerin „freundliches Gesicht“ und die nach Deutschland offenen Grenzen konnten ansatzweise so etwas wie ein neues deutsches Identitätsbewusstsein begründen – ähnlich wie das „Sommermärchen“ von 2006. Da konnten die Kirchen sich gut anschließen und verstärkend in diese Richtung wirken. Jetzt gilt es aber aufzupassen, dass dieses zivilreligiöse Legitimationsmuster einer menschenrechtsorientierten Politik der Flüchtlingsaufnahmebereitschaft nicht zur schlechten Ideologie wird, die über eine in Wirklichkeit inhumane Praxis der längst geschlossenen Grenzen nur noch hinwegtäuscht.

Jetzt müssen die Kirchen, auch unter Inkaufnahme der Gefahr, dass in den Gemeinden harte Kontroversen entstehen (denn unser Land und auch die Christen in ihm sind in dieser Frage gespalten), klar ihre Stimme erheben und kompromisslos für offene Grenzen eintreten. Im September letzten Jahres, als die deutsche Bundesregierung Busse nach Ungarn schickte, um die gestrandeten Flüchtlinge abzuholen, waren sich die beiden großen Kirchen in ihrer Unterstützung dieser Flüchtlingspolitik sichtbar einig. Der Einsatz vieler Gemeinden in beiden Kirchen war beeindruckend.

Wenn es gelänge, diesen Elan erneut an den Tag zu legen, dann könnte das auch die Ökumene beflügeln. Die Überwindung der getrennten Kirchen, ja, was meine Hoffnung ist, auch der getrennten Religionen, wird nicht durch theologische Diskurse und die Arbeit an Lehrkonsensen gelingen, sondern durch die Einsicht, dass die Religion der Menschlichkeit, die ihre Bekenntnisgrundlage in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ (1948) hat, jedem Menschen sein Recht auf Leben und seinem Platz im Leben gibt. Aus dieser humanreligiösen Einsicht wächst die Kraft, die Grenzen zwischen Staaten, Kulturen und Religionen zu überwinden.

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin.