“Am wichtigsten ist die Religion der Menschlichkeit”. Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb

Die Fragen stellte Christian Modehn

Veröffentlicht am 24. April 2016

In Ihrem Interview im März 2016 mit dem Titel „Für die Grenzgänger“ haben Sie zum Schluss dafür plädiert, viel stärker in theologischen Debatten wie im Alltag des religiösen Lebens die „Religion der Menschlichkeit“ als allgemeine spirituelle Basis anzuerkennen.

Etliche LeserInnen haben darauf reagiert und wollen weitere Erläuterungen zu diesem Thema, das entscheidend ist für die Zukunft einer ständig Gewalt bereiten Menschheit wie auch angesichts der immer noch zerstrittenen christlichen Kirchen.

Die erste Frage ist: Kann denn unsere Beziehung zu den Menschenrechten, etwa in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ (1948), tatsächlich einen spirituellen Charakter bekommen? Sind die Menschenrechte nicht auf die Anerkennung „bloß“ durch den Verstand begrenzt? Wie kann ich eine möglicherweise ganzheitliche „emotionale“ Beziehung, zu ihnen aufnehmen?

Das Schicksal anderer Menschen ist uns nicht gleichgültig. Wir empfinden Mitleid, wenn wir die Bilder vom Grenzzaun in Idomeni sehen. Das Leiden anderer Menschen rührt uns an. Es treibt uns über uns selbst hinaus, und wir wollen etwas dagegen tun. Historisch gesehen waren es die Gräueltaten durch das nationalsozialistische Deutschland, die die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ beschließen ließ. Darin heißt es: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“ (Art. 1), sodann : „Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person“ (Art. 3) und dies „ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand“ (Art. 2) .

Das sind Aussagen, die, wie es in der Präambel heißt, ein „Ideal“ formulieren, auf dessen Anerkennung und Durchsetzung in der Gemeinschaft der Völker und Staaten hinzuarbeiten sei. So ist es nicht, noch nicht. Aber so soll es sein, ist damit gesagt. Es wird im Indikativ formuliert, der aber imperativisch gemeint ist. Lasst uns also, so die Aufforderung an die unterzeichnenden Staaten, als Vereinte Nationen auf nationaler und internationaler Ebene die rechtlichen Voraussetzungen dafür schaffen, dass solche Verhältnisse, in denen jeder Mensch sein Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person, unabhängig von seinen nationalen, rassischen und religiösen Zugehörigkeiten garantiert bekommt, überall auf der Welt Wirklichkeit werden.

Höchst interessant bleibt dennoch die Beobachtung, dass die Erklärung der Menschenrechte in Art. 1 eine Aussage über die allen Menschen angeborene Würde und das ihnen damit gleichermaßen zukommende Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit macht. Das ist kein auf Erfahrungswissen gründender Satz. Es ist auch kein moralischer Imperativ. Er formuliert auch keineswegs nur, wie in der Präambel gesagt wird, ein Ideal, dem es nachzueifern gelte. Dieser Satz stellt vielmehr eine Behauptung auf über das, was der Mensch ist bzw. über das, was ihm allein aufgrund seines Menschseins an Würde und Rechten zukomme. Zu dieser Behauptung berechtigt keine Erfahrung, kein Wissen. Unser Verstand dürfte uns ihr daher kaum zustimmen lassen.

Deshalb bin ich der Meinung, dass es sich hier um einen Glaubenssatz handelt. Die Zuerkennung der Menschenwürde und der sich aus ihr ergebenden Menschenrechte lebt vom Glauben an die Menschlichkeit des Menschen, jedes einzelnen Menschen, unabhängig von seinen nationalen, rassischen und religiösen Zugehörigkeiten. Von daher legt es sich für mich dann auch nahe, in unserer Beziehung zu den Menschenrechten eine spirituelle Dimension mit einer stark emotionalen Verankerung zu erkennen.

Es war das Erschrecken über das Fürchterliche, das Menschen einander antun können, das zur „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ geführt hat. Ihr Ziel war es, diejenigen unveräußerlichen Rechte festzuschreiben, auf die sich jeder Mensch, allein aufgrund seines Menschseins, sollten berufen können. Deshalb fordert die Präambel auch, sie in nationale und internationale Rechtsordnungen aufzunehmen. Aber in dem allem, das zu ihrer Durchsetzung und Einhaltung unabdingbar ist, gilt es zu sehen, dass sie auf einem emotional grundierten, humanitären Glauben an die Menschlichkeit jedes Menschen aufruhen.

Auf ein verstandesmäßiges Wissen um das, was der Mensch ist, können die Menschenrechte sich niemals gründen. Was wir vom Menschen wissen ist ja eben dies, dass er zu den schlimmsten Gräueltaten gegen seinesgleichen ebenso fähig ist, wie dass er sich anrühren lassen kann vom Leid anderer und ihnen zu helfen bereit ist. Nein, die Menschenrechte ziehen ihre politische Kraft allein aus dem Glauben an sie. Ich möchte diesen Glauben zunächst einen humanitären Glauben nennen. Dieser wird, wenn Menschen es mit ihm auf eine sie selbst in ihrem Handeln verpflichtende Weise ernst nehmen, zu einem moralischen Glauben. Er ist dann aber ebenso auch für eine religiöse Deutung offen. Auf sie stoßen wir, wenn wir die Frage zulassen, was uns dazu fähig macht, dass wir im anderen ein uns gleiches Wesen erkennen, wir uns mit ihm verbunden fühlen, in unserer elementaren Bedürftigkeit, im Angewiesen-Sein aufeinander, im Gefühl einer Zusammengehörigkeit, das über alle kulturellen Differenzen und politischen Gegensätze hinweg, ja, trotz Krieg und Terror, für uns doch die Welt im Innersten zusammenhält. Das Von-Woher dieses Gefühls ist für mich das Göttliche auf dem Grund jeder Menschenseele. Wo dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit in der einen Menschheitsfamilie, von dem der humanitäre und moralische Glaube an die Menschenrechte lebt, sich Ausdruck verschafft, dort kann aus diesem Glauben auch ein religiöser Glaube werden.

Die zweite Frage: Wenn die Menschenrechte auch das christliche Bekenntnis gründen, wie Sie im März sagten, und wenn sie auch den Mittelpunkt der christlichen Lehre darstellen: Wie sollte denn mit den Menschenrechten in den Kirchen, etwa auch in Gottesdienst, Gemeinde und Predigt, (vorrangig) umgegangen werden?

Die Kirchen haben sich ja lange Zeit sehr schwer getan, die Menschenrechte anzuerkennen. Vielleicht lässt sich dieser Sachverhalt aber auch als Hinweis darauf verstehen, dass die den Menschenrechten zugehörende spirituelle Dimension zwar von ihnen erkannt wurde, allerdings dann die Befürchtung aufkam, es könnte der Glaube an die Menschlichkeit des Menschen an die Stelle des Glaubens an Gott treten. Inzwischen haben die Kirchen jedoch nicht nur in ein positives Verhältnis zu den Menschenrechten gefunden, sie reklamieren jetzt sogar, sie erfunden zu haben. Wurden sie von den christlichen Kirchen im Zusammenhang ihrer ersten Ausformulierungen, die im Zusammenhang der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Französischen Revolution standen, als Ausdruck eines frevelhaften Aufstandes des sich autonom setzten Menschen abgelehnt, so werden sie heute schöpfungs- und rechtfertigungstheologisch begründet. Die Unverletzlichkeit der Menschenwürde und sein unveräußerliches Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit sind dann theologisch deshalb anzuerkennen, weil Gott den Menschen als sein Ebenbild geschaffen hat und sein unbedingter Liebeswille sogar noch dem Sünder gilt. Da ist keiner –sollten seine Untaten noch so zu Buche schlagen – dem die Anerkennung der Menschenwürde und der daraufhin auch ihm zukommenden Menschenrechte entzogen werden darf.

Die Reformulierung der christlichen Lehre auf der Basis und in der Aufnahme der Menschenrechte ist einer der erstaunlichsten Vorgänge in der neueren Religionsgeschichte. Darauf lässt sich heute aufbauen. Die Affirmation der Menschenrechte, wonach diese Rechte jedem Menschen unveräußerlich zugehören, gilt es offensiv als den heutigen Sinn des christlichen Schöpfungs-und Rechtfertigungsglaubens auszulegen. Dass jeder Menschen das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit seiner Person hat, folgt für Christen daraus, dass sie an Gott den Schöpfer und an Jesus Christus, den Mensch gewordenen Gottessohn glauben, wie dann an den Heiligen Geist, in dem sie die Verbundenheit aller Menschen untereinander leben. Der Mensch gewordene Schöpfergott ist in der Welt nicht anders als im Geist der gegenseitigen Anerkennung der Menschen und ihres je eigenen Rechts auf Leben, Freiheit und Sicherheit gegenwärtig.

Die dritte Frage: Wenn die Menschenrechte tatsächlich eines Tages hoffentlich Geist und Seele der Menschen, auch der Politiker, prägen und bestimmen, fehlt dann nicht aber doch etwas? Fehlt die Wirklichkeit Gottes? Oder wäre gar der wahre Respekt der Menschenrechte schon eine Form des Gottes-Dienstes?

Der Glaube an den Menschen und seine unveräußerlichen Rechte ist wirklich ein Glaube, kein sachhaltiges, verstandesmäßiges Wissen. Ich habe ihn zunächst einen humanitären Glauben genannt, der seine Herkunft im Erschrecken darüber hat, was Menschen einander an Schrecklichem antun können. Dem setzt der humanitäre Glaube dort, wo er zu einem existentiell verbindlichen, moralischen Glauben wird, sein trotziges Dennoch entgegen und die mutige Hoffnung darauf, dass die Menschlichkeit im Umgang der Menschen miteinander sich schließlich durchsetzen wird. An diesem Moment des Kontrafaktischen des humanitären Glaubens tritt zugleich aber auch die spirituelle Dimension in unserer Beziehung zu den Menschenrechten hervor. Denn der Glaube an die Menschlichkeit des Menschen und die ihm unveräußerlich zukommenden Rechte schreibt jedem Menschen eine unbedingte Bedeutung zu. Jeder Mensch wird als einer geglaubt, der nie schon aufgeht in dem, was von ihm vorhanden ist, somit auch nicht in dem, was von ihm sichtbar wird, nicht in seinen Wohltaten und nicht in seinen Untaten, wie bewundernswert oder wie verabscheuungswürdig auch immer sie zu Buche schlagen mögen.

In jedem Menschen ist mehr, ist eine Transzendenz, etwas letztlich Unbegreifliches. Das eben bringt die christliche Rede dadurch zum Ausdruck, dass sie den Menschen ein Kind Gottes nennt, von Gott geschaffenen, in Sünde verstrickt, aber noch in seiner sündhaften Verkehrung von Gott unendlich geliebt. Jeder Mensch ist, in religiöser Sprache ausgedrückt, ein solcher, auf den Gott seine Hand gelegt hat. Unantastbar ist die Würde jedes Menschen für den, der an die Menschlichkeit (Gottes) glaubt. Unveräußerlich sind die Rechte jedes Menschen, sein Recht auf Leben, auf Freiheit, auf persönliche Sicherheit, für den, der seinen Glauben an die Menschlichkeit (Gottes) in der Liebe zu den Menschen lebt.

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb, Humboldt Universität Berlin und Religionsphilosophischer Salon