Habermas und die Religion

Anläßlich des 80. Geburtstages von Jürgen Habermas habe ich für NDR, Redaktion Glaubenssachen, Sendung am 14. 6. 2009, einen Beitrag über diesen bedeutenden Philosophen geschrieben. Hier biete ich eine längere Fassung dieses Textes.

„Weil so vieles zum Himmel schreit“
Warum der Philosoph Jürgen Habermas auf religiöse Bindungen setzt
Von Christian Modehn
SIEHE AUCH DIE AKTUALISIERUNGEN 2019 ZUM THEMA. Sowie die Hinweise 2014.

Philosophen werden in der Öffentlichkeit häufig mit einem  einzigen Begriff oder einer Metapher identifiziert. Immanuel Kant steht für den „Kategorischen Imperativ“, Martin Heidegger für die „Seinsfrage“. Von Jürgen Habermas hat sich  – inzwischen weltweit – herumgesprochen, er sei „religiös unmusikalisch“. Es ist für Habermas durchaus ungewöhnlich, überhaupt Einblick in seine persönliche Weltanschauung zu geben, hat er sich doch immer gescheut, über Privates und Familiäres öffentlich zu sprechen. Vor 80 Jahren, am 18. Juni, wurde er in Düsseldorf geboren. Er beschreibt den Geist seines Elternhauses selbst mit „liberal – protestantisch“. Die biblische Botschaft war nur aus der Ferne, vom Hörensagen, bekannt. Mit einer Kirchen – Gemeinde war er nie eng verbunden. Seine fehlende Begabung für religiöse Fragen hat der international hoch geschätzte und vielfach ausgezeichnete Wissenschaftler mit einem umfangreichen Werk kompensiert. Darin diskutiert er die Grundlagen menschlicher Kommunikation und die Strukturen einer vernünftigen, nicht mehr religiös geprägten Ethik. Unermüdlich hat er als streitbarer Bürger zahllose kritische Kommentare zum Zeitgeschehen publiziert. In den großen Kreis der „religiös unmusikalischen Menschen“ hat sich Habermas im Jahr 2001 in aller Deutlichkeit eingereiht. Früher sprach man eher davon, mit der „Gnade des Glaubens“ von Gott nicht beschenkt zu sein. Aber heute sind die religiösen Begriffe in der Öffentlichkeit so weit verschwunden, dass sich die meisten „religiös Unmusikalischen“ mit den eher prosaischen Titeln „Atheist“ oder „weltlicher Humanist“ begnügen. Sie erklären ihren Unglauben zur bloßen Privatsache und kümmern sich eigentlich nicht weiter  um die „anderen“, die Religiösen,  genauso wie die Frommen wenig Neigung haben, neugierig und lernbereit mit Atheisten zu sprechen. Der Dialog der verschiedenen Religionen ist heute an vielen Orten eine Selbstverständlichkeit; an einem ausführlichen Gespräch zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden hingegen haben nur wenige Interesse. Habermas will das ändern. Er erinnert sich offenbar daran, dass schon so manch ein Unmusikalischer durch eindringliche Schilderungen eines Musikbegeisterten wenigstens die „Zauberflöte“ schätzen gelernt hat. Und ein musikalisch völlig Ahnungsloser konnte einem Opernfreund klar machen: Ich bin auch ohne intime Kenntnisse über „Lohengrin“ und „Tannhäuser“ glücklich. Habermas hatte als junger Erwachsener entscheidende Begegnungen mit glaubenden Menschen. Sie zeigten ihm, wie viel Vitalität und Widerstandskraft dem Glauben entspringen kann: Als Student zu Beginn der fünfziger Jahre lernte er evangelische Theologieprofessoren kennen. Sie konnten ihm zwar nicht den Besuch von Gottesdiensten schmackhaft machen. Aber sie haben ihn als Menschen, als politischen Bürger, geprägt.

„Es lehrten in Bonn die Theologen Helmut Gollwitzer und Hans Joachim Iwand, die sich während der Nazi Zeit nicht hatten korrumpieren lassen. Sie hatten in der frühen Bundesrepublik den Mut, gegen einen erdrückenden Konformismus mit ununterbrochen fortdauernden Nazi- Mentalitäten den Mund aufzumachen. Von solchen Theologen habe ich den aufrechten Gang gelernt“.

Opportunistische Anbiederei an die Herrschenden hat Habermas seit der Zeit als eine große Untugend gebrandmarkt. Die beiden authentischen Theologen haben aber noch einen anderen, nicht minder prägenden Eindruck hinterlassen:

„Ich konnte auch die spirituelle Tradition, aus der sie lebten, nicht einfach polemisch beiseite schieben“.

Es ist genau diese biblische Tradition, die Habermas nicht einfach beiseite schiebt, auch wenn er sich bis heute „Agnostiker“ nennt. Er sieht sich als Philosoph zwar außerstande, die grundsätzlichen Fragen der Metaphysik, etwa nach der Existenz Gottes, definitiv zu beantworten. Aber er kann es nicht leugnen, dass die großen Ideale der Freiheit und Selbstbestimmung jüdisch – christliche Wurzeln haben. Dabei haben die Kirchen als Institutionen diese Emanzipation Europas hin zu Demokratie und allgemeiner Menschenwürde allerdings eher behindert.

„Aber die Idee des solidarischen Zusammenlebens, der Emanzipation und der individuellen Gewissensmoral ist ein Erbe der jüdischen Ethik der Gerechtigkeit und der christlichen Liebesethik“.

Der „religiös Unmusikalische“ hat den Dialog mit Glaubenden immer gepflegt: In den siebziger Jahre als Professor in Frankfurt und später am Max Planck Institut in Starnberg hat er Theologen zum Gespräch getroffen, zu seinen Gästen gehörten Dorothee Sölle, Johann Baptist Metz und Jürgen Moltmann. Er widersetzte sich damit den Üblichkeiten seiner Freunden und Kollegen aus linken, zum Teil marxistisch geprägten Kreisen. Sie sahen es als eine Selbstverständlichkeit an, dass bei zunehmendem ökonomischen Fortschritt und dem Ausbau des Sozialstaates die religiöse Frage im ganzen an Bedeutung verliere. Die Verweltlichung des Lebens, die Säkularisierung, verdränge letztlich die Religionen, meinten sie.
Hingegen hat Habermas zur Kenntnis genommen, dass sich in den letzten Jahren immer wieder neue religiöse Gruppierungen in den Mittelpunkt drängen, wie die Pfingstler und die Evangelikalen oder die extrem fundamentalistisch geprägten muslimischen Kreise. Andererseits gibt es eine große Bewegung sozial engagierter Basisgemeinden in Lateinamerika, Afrika und auf den Philippinen: Sie versuchen linke politische Impulse mit der Bibel zu versöhnen. Habermas zweifelt also an der beinahe üblichen Einschätzung, Gott sei tot. Darum müssen ganz neue Begriffe geschaffen werden, die dieser Entwicklung entsprechen. Er nennt unsere Gegenwart „post-säkular“. D.h.: Sie ist gleichzeitig  geprägt von  frommen wie auch von ungläubigen, „säkulären“ Menschen. Als Habermas seine Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels im Oktober 2001 hielt, waren die Terroranschläge in New York gerade fünf Wochen vergangen. Auf dieses Ereignis muss er als kritischer Kommentator des Zeitgeschehens eingehen.

„Im Terrorismus äußert sich auch der verhängnisvoll sprachlose Zusammenstoß unterschiedlicher religiöser Welten. Aber jenseits der Gewalt müssen sie eine gemeinsame Sprache entwickeln!“

Eine gemeinsame menschliche Sprache wieder finden: Habermas hat damit das Motto seines philosophischen Programms zusammengefasst. Den neuen religiösen Herausforderung möchte er noch entschiedener als zuvor mit der Kraft der Argumente begegnen. Für ihn ist es ein Weg ins Verderben, angesichts der Verbrechen fundamentalistisch geprägter Kreise in blindem Wahn neue Kreuzzüge zu beschwören und oder gar Religionskriege großen Ausmaßes für möglich halten. Die Grundlagen seiner Philosophie lauten ganz anders:

„Wenn sich die Menschen nur auf  das Gespräch einlassen und  wenn jeder Teilnehmer des Dialogs als gleichwertig gilt, dann kann aus Verständigung doch noch Versöhnung werden“.

Aber Versöhnung kann niemals die Vorherrschaft der einen Meinung über die andere bedeuten: Auf die Toleranz kommt es an, entscheidend ist die wechselseitige Anerkennung von Menschen unterschiedlicher Weltanschauungen und Bekenntnisse:

„Toleranz heißt, dass sich Gläubige, Andersgläubige und Ungläubige gegenseitig Überzeugungen und Lebensformen zugestehen, die sie für sich selbst ablehnen. Dieses Zugeständnis muss sich auf eine gemeinsame Basis gegenseitiger menschlicher Anerkennung stützen, nur so lassen sich Widersprüche überbrücken. Die Basis für die Anerkennung der anderen Positionen ist die Gemeinschaft gleichberechtigter Bürger“.

Für eine Kultur der Toleranz und des friedlichen Miteinanders zu plädieren, hat oft den beliebigen Ton einer „netten Sonntagsrede“. Habermas vermeidet solche Belanglosigkeiten. Er erinnert mit scharfen Worten an die bedrohliche Situation der Menschheit. Dabei benutzt er häufig eine Metapher, die aus Welt der hoch spezialisierten Technik stammt: Er befürchtet, dass die moderne Welt, so wörtlich,  „entgleisen“ könnte, also in einer Katastrophe ihr Ende findet. Das Unglück muss verhindert werden, denn der Zug  rast bereits auf die falsch gestellten Weichen zu. Als Philosoph präsentiert er in allgemeinen, aber nicht minder schockierenden  Worten „die Welt kurz vor der Entgleisung“:

„Es gibt dauernde Verstöße gegen allgemeine Gerechtigkeitsnormen. Die Lebenschancen in einzelnen Ländern, aber auch auf Weltebene sind völlig ungleichmäßig  verteilt. Das drastische Elend nimmt zu. Die Regierungen haben den entfesselten,  so genannten freien Märkten einfach freien Lauf gelassen. Die Europäische Union ist keine Gestaltungskraft mehr, sie wird zur bloßen Freihandelszone. Als Konsequenz dieses Vordringens ökonomischen Denkens werden auch die menschlichen Beziehungen nach Kosten und Nutzen beurteilt. Der moralische Auftrag, verantwortlich für andere und mit anderen zu handeln, verschwindet. Die Bürger in den wohlhabenden Ländern richten ihre egoistischen Vorhaben und ihre subjektiven Rechte wie Waffen gegeneinander. Die Entfremdung unter den Menschen ist so weit fortgeschritten, dass die meisten diese Entfremdung gar nicht mehr spüren. Sie wissen nicht mehr, dass ihr Leben falsch ist“.

Wer diese Analysen von Habermas hört, fühlt sich manchmal  an den Protest alttestamentlicher Propheten erinnert. Aber das Jammern, Wehklagen und Weinen eines Jeremias oder Amos ist nicht Aufgabe des Philosophen. Er setzt darauf, die Stimme der Vernunft über alle ideologischen und religiösen Grenzen wirksam zu Gehör zu bringen:

„Die praktische Vernunft verfehlt ihre eigene Bestimmung, wenn sie nicht mehr die Kraft hat, bei den profanen Bürgern ein Bewusstsein für die weltweit verletzte Solidarität zu wecken und wach zu halten, und ein Bewusstsein von dem zu erzeugen, was zum Himmel schreit“.

So vieles schreit heute zum Himmel, meint Habermas, aber „hört“ der Himmel die Stimme der Verzweifelten? Für den „Agnostiker“  Habermas kommt der Himmel als Ort des Trostes nicht in Frage. Rettung angesichts der „Entgleisungen“ kann es für ihn nur in einer  gemeinsamen Anstrengung der Menschen geben. Als Philosoph setzt er darum wieder und wieder auf das Gespräch. Aber damit meint er  nicht das nette, kluge Plaudern ohne jede Verbindlichkeit. Er meint den Dialog, der von Lernbereitschaft bestimmt ist. Darum macht er weit reichende Vorschläge, wie religiöse und nichtreligiöse Menschen miteinander hier in Europa umgehen sollten. Den Atheisten und weltlichen Humanisten mutet er zu, von den Werten religiöser Menschen zu lernen.

„Schon in der heute gängigen Alltagssprache zeigen sich noch Verweise auf christlich fundierte Begriffe. Wenn wir „bitten“  sagen, klingt das „Beten“ noch mit. Wenn wir  das Wort „bezeugen“ verwenden, schwingt das „Zeugnis Ablegen“ noch mit. Wenn wir meinen, etwas sollte wieder „heil“ werden, klingt das „Heilige“ noch aus der Ferne“.

Habermas versucht, den religiös Unmusikalischen die unterschwellige Anwesenheit des Religiösen im scheinbar prosaischen „säkularen“ Alltag aufzuzeigen. Er plädiert bei den Atheisten für christliche Weisheitslehren, gerade weil sie menschlich wertvoll und unverzichtbar sind.

„Wir säkularen Bürger kennen nur das moralisch Falsche, haben aber den Sinn für das abgrundtief Böse verloren. Wir wollen verzeihen, wissen aber nicht, wie wir mit dem angetanen Leid umgehen können. Wir beklagen das Leid unschuldig misshandelter und getöteter Menschen, wissen aber nicht, was der Lebenssinn dieser sinnlos Ermordeten sein könnte“.

Kann die menschliche Vernunft darauf jemals eine Antwort finden? Habermas ist da skeptisch. Er sieht die Begrenztheit der weltlichen Moral. Aber er kann auf sie niemals verzichten. Denn nur die Ethik ist in ihrer von Vernunft geprägten Argumentation tatsächlich allen Menschen aller Religionen und Weltanschauungen zugänglich. Aber das schließt ja nicht aus, dass das Christentum den Atheisten und Humanisten neue Horizonte und weiterführende Perspektiven eröffnet. Nur muss dann eine Voraussetzung erfüllt sein: Die Christen müssen ihre religiösen Traditionen in einer vernünftigen Sprache und in allgemein nachvollziehbaren Begriffen darstellen. Sie müssen also bereit sein, ihre eigenen, spirituell bestimmten Wertvorstellungen zu übersetzen und möglicherweise Übersetzungshilfen vonseiten der Philosophen anzunehmen.. Habermas nennt ein Beispiel gelungener Übersetzungsarbeit:

„Die Bibel spricht davon, dass jeder einzelne Mensch Gottes Ebenbild ist. Weltlich übersetzt und deswegen plausibel für alle könnten wir sagen: Diese Ebenbildlichkeit gegenüber Gott meint die gleiche und unbedingt zu achtende Würde aller Menschen. Kein Mensch darf  als Zweck für anderes missbraucht werden. Durch diese Übersetzung einer religiösen Botschaft in die weltliche Sprache bleibt die Religion für die Menschheit im ganzen von Bedeutung. Die Religion wächst aus der kleinen Gemeinde der Frommen heraus“.

Aber der spirituelle „Mehrwert“  dieser religiösen Bilder kann dabei nicht bewahrt werden. Denn vom Gott selbst als absolutem Wesen ist z.B. in der weltlichen Deutung der Gott- Ebenbildlichkeit des Menschen nicht mehr die Rede. Einzig die humane, die menschliche Bedeutung steht im Mittelpunkt. Darüber ist Habermas nicht unglücklich. Denn für ihn wäre es schon ein hoher Gewinn für die Staat und Gesellschaft, wenn alle unterschiedlichen Gruppen die  Würde eines jeden Menschen in der Praxis unbedingt achten.
Diese Argumente inspirieren, noch weiter zu denken: Gehören denn die Bilder aus den Gleichnis Erzählungen Jesu von Nazareth nur den Kirchen? Dürfen sich nur die Gemeindemitglieder an der Erzählung vom Verlorenen Sohn erfreuen? Also an jener Geschichte von dem liebenden Vater, der seinen Sohn wieder aufnimmt, als er nach Jahre langen Abenteuern und moralischen Irrwegen zurückkehrt: Ohne Vorwürfe heißt er ihn willkommen und bereitet sogar ein Festmahl. Diese Erzählung vom „verlorenen Sohn“ kann auch Atheisten zu einem „großherzigen“ Lebensstil verleiten, jenseits aller bürgerlichen Üblichkeiten.  Sollten die Christen nicht dankbar sein, wenn diese Gleichnisse Jesu auf neue Art an ungeahnten Orten weiterleben? Weil „so vieles zum Himmel schreit“, weil überall Gerechtigkeit und Toleranz mit den Füßen getreten werden, müssen alle Gruppen in der Gesellschaft ihre dogmatisch verfestigten Ideologien überwinden. Wenn die Religionen sich im Getto einschließen, kann nur Gewalt entstehen. Wer nur seine religiöse Tradition achtet, vergisst das Interesse an der Gestaltung der Welt. Darum lässt Habermas nicht locker: Christen sollen die Gestaltung einer gerechten Gesellschaft genauso ernst nehmen wie die Pflege ihrer Frömmigkeit. Mit anderen Worten: Die Religionen, in unseren Breiten vor allem die Kirchen, müssen sich verändern.

„Die Religionen sollten den Pluralismus der Weltanschauungen anerkennen. Keine Religion hat heute ein Monopol, keine religiöse Gruppe „hat“ die Wahrheit. Die Religionen müssen anerkennen, dass heute nur die Wissenschaften qualifiziert deuten. Religiöse Mythen haben ihren Platz einzig im Gottesdienst. Die Frommen müssen anerkennen, dass die Moral sich heute einzig in der vernünftigen Diskussion erschließt. Einzig die allen gemeinsame Vernunft hat das letzte Wort, wenn es um das Zusammenleben der Menschen geht“.

Die Zumutung verbindet Habermas mit einer dringenden Mahnung an die andere Seite, die Atheisten, Skeptiker und Agnostiker. Auch von ihnen verlangt er um der Rettung der Menschheit willen ein „neues Denken“ :

„Säkulare Mehrheiten dürfen keine Beschlüsse fassen, bevor sie nicht dem Einspruch von religiösen Opponenten
Gehör geschenkt haben. Sie müssen diesen Einspruch als eine Art aufschiebendes Veto betrachten, um zu prüfen, was sie selbst daraus lernen können“.

Jürgen Habermas ist inzwischen zu einem Moderator zwischen Atheisten und Glaubenden geworden. Als Brückenbauer geht er selbst mit gutem Beispiel voran: Er hat sich mit einem der religiös wohl hoch „Musikalischen“  unter allen Frommen in München zu einem viel beachteten Dialog getroffen, mit Joseph Ratzinger. Damals, im Januar 2004, war er noch als katholischer Chef – Theologe der Leiter der römischen Glaubensbehörde in Rom. Diese Begegnung in der Katholischen  Akademie München wurde von den Medien nachträglich zu einem kleinen Weltereignis hochgespielt, obwohl es unter strenger Geheimhaltung nur für ein kleines, handverlesenes Publikum stattfand. Schon die Kleiderordnung war bemerkenswert: Joseph Ratzinger hatte auf seinen sonst immer üblichen Kardinals- Talar mit dem goldenem Brustkreuz verzichtet. Er trug einen schwarzen Anzug mit dem eher unauffälligen weißen Kollar eines gewöhnlichen Klerikers. Dadurch wollte er schon vom Äußeren her als Wissenschaftler und weniger als römische Amtsperson erscheinen. Die Fotos zeigten zwei alte, ergraute Herren, die tief versunken im Gespräch einzig ihren Gedanken nachgingen. Der Atheist und der Glaubenswächter hatten sich ein hoch komplexes Thema ausgesucht. Es hieß: “Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates“. Damit sollte angedeutet werden, dass die westliche Demokratie auf Werten beruht, die außerhalb des politischen Kalküls liegen. Zum Beispiel muss der Staat erwarten, dass die Bürger Zuverlässigkeit und Wahrhaftigkeit, Solidarität, Mitgefühl und Toleranz hoch halten. Aber diese Werte kann der Staat als solcher nicht schaffen, sie müssen sozusagen von außen, etwa von Philosophien oder Religionen,  vorgestellt und gefördert werden. Darin waren sich der Philosoph und der Kardinal einig. Und diese Übereinstimmung  wurde in den Medien oft hoch gepriesen; manch ein Journalist ließ sich später zu der Vermutung hinreißen: Dieses scheinbare Einvernehmen von Jürgen Habermas mit Joseph Ratzinger habe sogar noch bis in die Papstwahl 2005 hineingewirkt: Alle Kardinäle hätten einmal mehr die intellektuelle Brillanz Kardinal Ratzingers erlebt. Aber Habermas hat bei einem späteren Gespräch mit den Jesuiten in München eindeutig festgestellt:  Zwischen ihm, dem religiös Unmusikalischen und dem religiös hochbegabten Papst, liegen Welten. Denn der Führer aller Katholiken glaubt, einzig die religiösen Ideale des Christentums könnten die dringend erforderlichen Werte bereitstellen, um die Entgleisung der Welt zu verhindern. Die menschliche Vernunft sei hilflos, segensreich könne nur die christliche Religion sein. Joseph Ratzinger meint allen Ernstes: Nur das Christentum sei hilfreich, das „selbstverständlich“ einzig von Papst und Bischöfen authentisch interpretiert wird. Ohne die moralische Führung durch die Kirche gehe die Welt in die Irre. Habermas als Philosoph kann sich dieser Haltung nicht anschließen. Er empfindet es als Hochmut, wenn ein einzelner Gesprächspartner überhaupt auf die Idee kommt, zu behaupten: Ich besitze die Wahrheit. Darum hat Habermas für alle weiteren Religionsgespräche noch einmal die Prämisse unterstrichen:

„Einzig mit den Mitteln der Vernunft können wir Werte formulieren, die dann für alle als Leitlinien empfohlen werden“.

Die höchsten Autoritäten der katholischen Kirche und viele Kreise der evangelikalen Protestanten stellen sich taub, sie können diese Position noch nicht annehmen. Sie wollen nicht die Offenbarung auf den Bereich der Gläubigen und die Gemeinden einschränken, sondern mit „Gottes Wort“ Gesellschaft und Staat unmittelbar gestalten. Habermas aber lässt sich als Brückenbauer und Moderator von solchen Irritationen nicht beirren: Er hält an seinem „Dialog – Programm“ fest und fordert, angesichts der Krise der Menschheit einzig auf vernünftige Argumente zu setzen. Habermas ermuntert,  an dieser Haltung trotz aller Rückschläge festzuhalten:

„Bei allem empirisch begründeten Pessimismus über die Aussichten eines weltweiten Zustandes von Recht und Gerechtigkeit sollten wir die Hoffnung nicht aufgeben. Das Engagement für eine Neue Weltordnung könnte sich doch noch lohnen. Dabei fühlen wir uns zu diesem Engagement moralisch verpflichtet“.

Eine beinahe gläubige Haltung haben einige Beobachter aus dieser Stellungnahme herausgehört und eine Stimme der Hoffnung vernommen, die fast in religiöse Dimensionen weist. Aber Habermas weist solche Interpretationen zurück: Er sei Philosoph und nichts anderes! Er müsse in aller Nüchternheit die Sache der Vernunft hochhalten, mehr nicht. Denn nur die Vernunft kann davor bewahren, dass „alles entgleist“.

Heidegger und die Gelassenheit

Eine RADIO SENDUNG IM KULTURRADIO DES RBB am 7. Juni 2009

„Gelassenheit führt uns ins Offene“
Gespräche am Feldweg des Philosophen Martin Heidegger
Von Christian Modehn

1.SPR.: Berichterstatter
2.SPR.: Zitator Heidegger

1. musikal. Zusp. freistehend 0 04“.

2. O TON, 0 11“.
Also für mich ist die Gelassenheit der mystische Weg, indem man alles lässt, loslässt, was Abhängigkeit hervorbringt.

3. O TON,
Die Gelassenheit zu den Dingen und die Offenheit für das Geheimnis fallen uns niemals von selber zu. Beide gedeihen nur aus einem unablässigen herzhaften Denken.

4. O TON,
Heidegger hat versucht, sich vorzustellen, wie das Göttliche oder ein Gott jenseits religiöser Dogmen erfahren werden kann.

1. musikal. Zusp. 0 04“ wieder freistehend, dann wieder herunterziehen:

TITEL
„Gelassenheit führt uns ins Offene“
Gespräche am Feldweg des Philosophen Martin Heidegger
Von Christian Modehn

5. O TON, bleibt 006“ freistehend.

Glockenspiel der St. Martinskirche in Meßkirch. dann langsam ausblenden.

1. SPR.:
Pünktlich zum Glockenspiel der Sankt Martins Kirche in Meßkirch haben sie sich versammelt: Zwei Philosophen, ein Theologe und ein Mönch. Martin Heidegger, der weltweit bekannte „Meister Denker“, hat sie in seine badische Heimat eingeladen und diesen Treffpunkt ausgewählt: Hier, am „Kirchplatz“, im Mesnerhaus, wurde er 1889 geboren. Als Jugendlicher hat er die Glocken geläutet und in der Messe als Ministrant gedient. An der Kirche vorbei und über den weiten Platz des benachbarten Renaissanceschlosses hinweg ist er immer wieder zu Spaziergängen aufgebrochen. Seiner Heimat blieb Martin Heidegger bis zu seinem Tod im Jahr 1976 eng verbunden.

5. O TON, noch einmal 0 05“ freistehend..

1.SPR.:
Bevor sie zum philosophischen Spaziergang auf dem „Feldweg“ aufbrechen, empfiehlt der Gastgeber, zuerst einen grünen Tee zu genießen. Zur Inspiration. Schließlich habe er als europäischer Philosoph großen Respekt vor der meditativen Praxis asiatischer Kulturen: Die Japaner und auch Chinesen pflegen zum Beispiel beim Teetrinken die Achtsamkeit und Gelassenheit, erzählt Heidegger, als die Gruppe im „Schlosscafé“, der Kirche gegenüber, Platz nimmt.

25. O TON, ATMO, Café.

1.SPR.:
Bei diesem „himmlischen Getränk“ sammelt sich das Denken, lehren die Meister der klassischen Tee- Zeremonie: Der Geist wird wach, die Vernunft öffnet sich, weitet sich in die Transzendenz,  wichtige Voraussetzungen, um Heideggers anspruchsvolles Denken zu verstehen. Er hat immer versucht, Sympathien  für grundlegend – allgemeines Denken zu wecken. Abstrakte philosophische Begriffe sind für ihn  keine intellektuelle Spielerei. Sie tragen vielmehr zur Orientierung im Leben bei. Wer sollte denn die Frage nach dem Sinn des Lebens oder nach der Wirklichkeit des Göttlichen beantworten können, wenn nicht die Philosophie? Heidegger nennt alle Wirklichkeiten der Welt, Menschen wie Dinge,  „Seiendes“. Alles „Seiende“ wird vom „Sein“, also wie von einer unsichtbaren Energie, am Leben erhalten. „Sein“  ist die geistige Ursprungskraft. Ihr gilt das gesamte Denken Heideggers.  So verwundert es die Teerunde im Meßkircher Schlosscafé nicht, dass er das Gespräch mit seinem bevorzugten Thema  eröffnet:

6.O TON, ca. 0 43“.  ATMO vom Café leise runterlegen.
Das Auszeichnende des Menschen beruht darin, dass er als das denkende Wesen auf das Sein bezogen bleibt und ihm so entspricht. Der Mensch ist eigentlich dieser Bezug der Entsprechung. Im Menschen waltet ein Gehören zum Sein.
Mensch und Sein sind einander übereignet, sie gehören einander.

1. SPR.:
Der Mensch ist mit dem Sein, dem Unsichtbar – Wirkenden, verbunden. Er gehört zum Sein, vermag dessen „Stimme“ zu vernehmen. Das Sein ist so umgreifend und alles begründend, dass es über die Macht des Menschen hinausreicht, es hat geradezu einen unbedingten Charakter. Vom Sein her will Heidegger auf Transzendenz und Göttliches hin denken. Darauf weist der Philosoph Holger Zaborowski hin:

7. O TON, 0 43“.

Heidegger selbst ist ja geprägt von einer bestimmten Form von Religiosität, die versucht hat, Gott in ein System des Denkens einzuholen. Und das schreibt Heidegger auch 1919 schon in einem Brief an einen Freund, dass er mit dem System des Katholizismus brechen würde, dass er mit dem System des Katholizismus nichts mehr zu tun habe. Was er da zum Ausdruck bringt ist, dass ein geschlossenes System des Denkens, in dem man gemeint hat, man könne mit dem menschlichen Denken Gott in den Griff bekommen, ihm nichts mehr sagt. Was er dann gemacht hat? Er sagt in demselben Brief auch, dass für ihn das Christentum weiter wichtig ist, aber in einem neuen Sinne. Er hat versucht zu verstehen, wie denn dann eigentlich von Gott gesprochen werden kann.

1.SPR.:
„Eigentlich“ von Gott reden: Heidegger kann nur dankbar lächeln, dass man ihn in dieser Runde so gut versteht: Wie oft  hat er protestiert, wenn „uneigentlich“, nämlich unangemessen, vom Göttlichen gesprochen wurde. Beinahe naiv stellten selbst die berühmtesten Künstler den Ewigen und Unnennbaren als alten Mann mit Bart auf hohem Himmelsthron sitzend dar. Und der Heilige Geist, jene unanschauliche, gar nicht materielle Wirklichkeit, wurde im Symbol der Taube wie eine greifbare Realität vorgeführt. Auf diese Weise wird Göttliches zu etwas Bildhaftem, Weltlichem und somit für den Menschen verfügbar. Wer in diesen Kategorien denkt, verfällt der Herrschaft des heute üblichen „technischen Denkens“, meint Heidegger. Und so will er gleich in seiner eindringlichen, manchmal schroff und hart erscheinenden Sprechweise seine philosophische Kritik verdeutlichen:

8. O TON, 0 27“.
Jetzt erscheint die Welt wie ein Gegenstand, auf den das rechnende Denken seine Angriffe ansetzt, denen nichts mehr soll widerstehen können. Die Natur wird zu einer einzigen riesenhaften Tankstelle, zur Energiequelle für die moderne Technik und Industrie. Welche große Gefahr zöge dann herauf? Dann ginge mit dem höchsten und erfolgreichsten Scharfsinn des rechnenden Planens und Erfindens die Gleichgültigkeit gegen das Nachdenken zusammen.
Dann hätte der Mensch sein Eigenstes, dass er nämlich ein nachdenkendes Wesen ist, verleugnet und weggeworfen.

1. SPR.:
Beim Spaziergang will Heidegger seine Gäste einladen, darüber nachzudenken, wie denn ein „anderes“ Denken möglich ist, also ein friedliches, sanftes Denken, das nicht egozentrisch herrschen will und den „göttlichen Gott“ erfahren lässt.

10. O TON, Glockenschlag, 0 08“ freistehend

1. SPR.:
Heidegger führt seine Gäste durch das Hofgartentor auf seinen liebsten Weg, den Feldweg. Im Gehen, im Unterwegssein, stellen sich die besten Gedanken ein.

26. O TON,  Feldweg. 0 04“ freistehend, runterlegen.

1.SPR.:
Gleich hinter dem Tor  gibt Heidegger, wie immer ernst und gesammelt,  seinen Gästen eine „Weisung“, wie er so gern sagt:

9. O TON, 0 30“
Wird aber das besinnliche Denken wach, dann muss das Nachdenken unablässig am Werk sein und bei der unscheinbarsten Gelegenheit. Das besinnliche Denken verlangt von uns, dass wir nicht einseitig an einer Vorstellung hängen bleiben, dass wir nicht eingleisig in einer Vorstellungsrichtung weiter rennen.

26. O TON, Feldweg
0 04“ freistehend, runterlegen

1. SPR.:
Der Feldweg führt mit sanften Steigungen an Wiesen vorbei zum „Ehnried“. Im Schatten der Linden stehen schlichte Holzbänke. Sie laden zum Verweilen ein;  so wird das Leben langsamer, ruhiger. In der Stille hier hat Heidegger seine kleine philosophische Meditation mit dem Titel „Der Feldweg“ geschrieben,  darin heißt es:

2. SPR.:
Wachsen heißt, der Weite des Himmels sich öffnen und zugleich in das Dunkel der Erde wurzeln…Der Zuspruch des Feldweges erweckt einen Sinn, der das Freie liebt und auch die Trübsal noch überspringt in eine letzte Heiterkeit. So wird dem Unfug des Nur – Arbeitens gewehrt, der allein das Nichtige fördert.

26.O TON,  ist ausgeblendet!

1.SPR.:
Die Natur ist für Heidegger eine bergende Kraft. Wer ihr immer wiederkehrendes Blühen und Welken und Absterben erlebt, wer sich selbst in das Werden und Vergehen einbezieht, gelangt zur Gelassenheit, zur heiteren Annahme des Lebens. Aufgeregtheit und Stress verschwinden, ein seelisches Gleichgewicht stellt sich ein, wenn deutlich wird:  Natur und Welt werden von dem gründenden, aber  unsichtbaren Sein belebt. Diese philosophische Erfahrung ist für Heidegger entscheidend. Es ist die Verbindung mit der alles ermöglichenden Urkraft; in Formeln oder Definitionen kann man sie nicht griffig zur Hand haben. Deswegen ist für Heidegger das „Sein“ nicht ein irgendwann einmal zu lösendes „Rätsel“, sondern ein bleibendes „Geheimnis“:

11. O TON , 0 26“.

Die Gelassenheit zu den Dingen und die Offenheit für das Geheimnis gehören zusammen. Sie gewähren uns die Möglichkeit, uns auf eine ganz andere Weise in der Welt aufzuhalten. Sie versprechen uns einen neuen Grund und Boden, auf dem wir stehen und bestehen können.

12.O TON, musikal. Intermezzo, bleibt ca. 0 07“ freistehen.

1. SPR.:
Martin Heideggers Plädoyer für die Gelassenheit findet unter seinen Freunden einhellige Zustimmung. Die Gruppe hat auf  den Bänken Platz genommen. Ein Mönch will das Thema vertiefen. Bruder Johannes Kirschner leitet in Berlin – Schöneberg das Kloster „Meister Eckhart“:

13. O TON 0 35“.
Es geht um das Loslassen von Anhaftungen und Gewohnheiten letzten Endes, also einmal an diese ganz praktischen Dinge des Lebensalltags. Dass ich glaube, ich muss jetzt unbedingt das haben oder jetzt brauche ich ein Glas Wasser oder jetzt brauche ich die Zigarette oder das neue Auto. In dem Moment, wo ich mich abhängig mache von diesen Dingen, dann wird es negativ, weil ich dann nicht mehr innerlich frei bin für alle Inspirationen oder Gaben oder Erfahrungen, die ich machen kann.

1. SPR.:
Gelassenheit ist nicht eine beliebige Tugend neben anderen. Sie ist viel mehr als der kühle Kopf, den man gelegentlich in hektischen Situation bewahren muss. Gelassenheit sollte den Menschen ständig auszeichnen, meint der Bruder Johannes:

14. O TON, 0 54“
Es ist ein Übungsweg. Und es gibt verschiedene Formen der Übung, sei es die Meditation, sei es die Tätigkeit oder auch die geistige Auseinandersetzung mit diesem Thema, dass wir es einüben, tagtäglich, jeder in seiner Art, wie er veranlagt ist. Für mich ist der Karma Yoga Weg ganz wichtig, der Weg der Tätigkeit, indem man sich ganz der Tätigkeit hingibt. Und das ist eine Übung. Die meisten hören nebenbei Radio, wenn sie Küchenarbeiten machen oder sie unterhalten sich mit anderen. Oder wenn wir Tätigkeiten machen und allein sind, haben wir ständig Gedanken im Kopf. Und die Übung besteht darin, diese Gedanken loszulassen und sich ganz der Tätigkeit hinzugeben und mich mit dieser Tätigkeit zu vereinen und dann komme ich in die innere Leerheit, die mich dann freimacht.

15. O TON, 0 06“ Musikal. Intermezzo.

1.SPR.:
Martin Heidegger schaut in die Runde: Er ist dankbar, dass ein Mönch Gelassenheit als praktischen Übungsweg beschreibt. Er selbst als Philosoph kann im Nachdenken vor allem in die Richtung eines gelassenen, freien Daseins weisen. Und immer wieder hat er dabei auch an chinesische und japanische Denker erinnert, die aus der Kultur der Stille für die praktizierte Gelassenheit eintreten. Unter seinen Gästen ist auch ein Spezialist für asiatische Philosophien. Luis Gutheinz lebt als Jesuit in Taiwan. Er befasst sich seit vielen Jahren mit  Lao Tse und dessen Weisheitslehre im Buch „Tao Te King“: Diese Weisheitssprüche aus dem 5. Jahrhundert vor Christus inspirieren auf dem Weg zur Gelassenheit, meint er:

16. O TON, 1 27“
“Es sind eher Fingerzeige zu einem Lebensgeheimnis. Hinweise, wie wir ganzheitlicher, ehrlicher, wesentlicher werden könnten. Dadurch, dass wir das Allzugeschäftigsein, das Krampfen, all dieses übertriebene Bemühen, dass wir all das noch einmal fallen lassen und den Mut haben, näher an dem Rhythmus des Geschehenlassens herankommen, der Leere, des Hohlraumwerdens”.
Wenn man Tao Te King liest und sich hinein nehmen lässt in seine Bewegung,
dann wird der Tod, das Sterben, je länger, je mehr, so paradox es klingen mag, ein wichtiges Element des Lebens. Sterben ist nicht denkbar ohne Leben, Tod gehört wesentlich zu vollerem Leben. Und glücklich ist jene Person zu preisen, die das heute schon lernt. Tod hat seine negative Seite, die schmerzt. Und dennoch: Der Tod ist im Letzten nicht dieses Negative. Sondern daß das Letzte im Tod immer noch einmal volleres Leben ist.

17. O TON, Musikal. Intermezzo, ca. 0 07“ freistehend.

1.SPR.:
Martin Heidegger kann der Weisheitslehre  des „Tao te King“  nur zustimmen: Ohne die Annahme des Todes mitten im Leben kann es keine Gelassenheit geben. Wird der Tod verdrängt, ist das Leben von ständigen Ängsten bestimmt. Es ist ohne Ruhe, ohne inneres Gleichgewicht.
Die philosophierenden Spaziergänger erleben auf dem Feldweg, wie fern-östliche Philosophie und europäisches Denken ähnliche Einsichten aussprechen. Aber für Heidegger öffnet die Gelassenheit als praktische Lebenshaltung auch einen religiösen Horizont. Sie ermöglicht eine neue Gotteserfahrung. Daran hat Heidegger schon in seiner philosophischen Meditation „Der Feldweg“  erinnert:

2. SPR.:
Das Einfache der Natur verwahrt das Rätsel des Bleibenden und des Großen. Im Unscheinbaren des immer Selben verbirgt es seinen Segen. Die Weite aller gewachsenen Dinge, die um den Feldweg verweilen, spendet Welt. Im Unausgesprochenen ihrer Sprache ist, wie der alte Lese- und Lebemeister Eckhart sagt, Gott erst Gott.

1. SPR.:
Martin Heidegger bezieht sich auf einen seiner Vorläufer, den  Philosophen Meister Eckart. Er lebte als Dominikanermönch in Erfurt und Köln im Übergang vom 13. zum 14. Jahrhundert. Auch er philosophierte über das Wort Gelassenheit und interessierte sich für die darin enthaltenen Begriffe wie „Lassen“ und „Loslassen“, „Sich befreien“ und „Aufgeben“. Bruder Johannes Kirschner aus Berlin meldet sich zu Wort und beschreibt, wie der Patron seines Klosters sogar noch die Gelassenheit gegenüber Gott pflegte:

18.O TON, 0 47“.
Meister Eckart sagt ja, wenn du glaubst, du hast Gott erkannt, dann hast du irgendjemanden erkannt, aber nicht Gott. Also Gott gefunden, kann ja nur heißen, ich habe Vorstellungen und Bilder von Gott gefunden, die Bilder von Gott  sind ja sehr vielfältig und schön, sie sind wunderbar. Aber es sind eben die Bilder. Und dann gibt es dahinter eine Wirklichkeit, die sich ausdrückt in diesen Bildern.
Jede Religion darf ihre Bilder und Bräuche und Rituale haben. Wir müssen nur wissen, dass wir die Bilder nicht absolut setzen. Dass die Bilder Ausdruck sind dieser einen Wirklichkeit, die wir auch Leerheit nennen, weil das an Wirklichkeit hinter den Bildern steht, ist letzten Endes ein Geheimnis, wir können darüber nicht sprechen, wir können darüber nichts aussagen.

1.SPR.:
Die Gruppe hat im Spaziergang das „Ehnried“ erreicht, in der Ferne sind die Türme der Martins Kirche schon wieder sichtbar. Heidegger hat lange geschwiegen, seine Begleiter wissen, dass er schon als junger Mann von den Gedanken Meister Eckarts tief berührt war. Nach dem Abitur hatte der Philosoph zuerst katholische Theologie studiert, aber die selbstverständlich vorausgesetzten Definitionen Gottes befriedigten ihn nicht. Er wollte nicht Altbekanntes wiederholen, sondern im beständigen Fragen, in einer „philosophischen Unruhe“ bislang Ungesagtes entdecken.  Darum ist ihm der mittelalterliche Mönch Meister Eckart so wichtig, weil er hilft, die unangemessene Redeweise vom Göttlichen abzuwehren. Heidegger schreibt in seinem Buch  „Der Satz vom Grund“:

2. SPR.:
Wird Gott als die letzte Ursache der Schöpfung gedacht, ist er immer noch Bestandteil unserer Welt. Mit diesem Gott kann man rechnen, von ihm kann man Wesensbeschreibungen liefern. Aber zu diesem so welthaften Gott kann der Mensch weder beten noch ihm opfern, vor diesem so irdischen Gott kann der Mensch weder musizieren noch tanzen. Wir sollten den göttlichen Gott, das absolute Geheimnis, suchen.

1. SPR.:
Ein  aktuelles Thema, darin sind sich die Freunde Heideggers einig. Denn an die traditionellen Gottesbilder können immer weniger aufgeklärte Menschen heute glauben, das bestätigen alle Umfragen. Viele sehen in dem „vermenschlichten2  Gott eher einen Abgott oder einen Götzen, betont Bruder Johannes:

19. O TON, 0 12“
Diese Neigung zum Dogmatismus, zur Ideologie, zur Anhaftung an bestimmte Systeme und Strukturen, das sind alles Abhängigkeiten, die mich sozusagen unfrei machen.

1. SPR.:
Während des Spaziergangs hat ein Philosoph bisher nur zugehört. Aber wenn es um eine grundlegend neue philosophische Gotteserfahrung geht, will Professor Günter Figal doch etwas beisteuern:

20. O TON 1 27“
Heidegger hat versucht, den Erfahrungsgehalt von Religion in eine philosophische Sprache zu bringen, nämlich hinter die dogmatischen Theologien zurückzugehen, also hinter die Theologien, die eine bestimmte Lehre verkünden zurückzugehen. Und das Geschehnis von Gottespräsenz als eine für sich bestehende Möglichkeit zu denken. Also er hat nicht weniger versucht, als sich vorzustellen, wie das Göttliche oder ein Gott jenseits religiöser Dogmen als geschehend erfahren werden kann. Es ist das Wesen des Göttlichen, befreit von religiösen Erscheinungsformen. Und sein Gewährsmann in dem Zusammenhang ist Hölderlin.  Heidegger hat Hölderlin als den Dichter der Moderne par excellence verstanden, deswegen, weil er Hölderlin als den Dichter der Götterferne verstanden hat. Hölderlins Dichtung ist eine Dichtung eines entgötterten Zeitalters. Und  Heideggers  Überlegung im Anschluss an Hölderlin ist nun die, dass nun gerade in der Erfahrung der Abwesenheit eines bestimmten Gottes sich die Erfahrung des Göttlichen einstellen kann.

1.SPR.:
Der Dichter Hölderlin hat schon vor 200 Jahren erfahren, wie die traditionellen Gottesbilder zerbrechen. Aber er hat in der Abwesenheit der alten Vorstellungen die ersten Anzeichen für die Ankunft eines „göttlichen Gottes“ gesehen. Das verbindet ihn mit Heidegger, der in dem Buch „Über den Humanismus“  schreibt:

2. SPR.:
Wenn wir die Gelassenheit üben, gelangen wir denkend in die Nähe zum Sein, also dem alles Umgreifend – Unsichtbaren. In dieser Seinserfahrung erleben wir, ob das Heilige erscheint und Gott sich wieder zeigt. Wir können als Menschen in der gelassenen Lebenshaltung und im besinnlichen Denken einen Bezug Gottes zu den Menschen erleben.

22. O TON, Glocke,

1.SPR.:
Der philosophische Spaziergang führt wieder durch das schmale Hofgartentor hin zum Kirchplatz. Bruder Johannes will schon hier seinen Gesamteindruck mitteilen:

21. O TON , 0 19“
Es entsteht im Gespräch, im Zusammensein, eine Fülle, eine Zufriedenheit, eine Glückseligkeit, dass Sie gemeinsam genau spüren, was der andere jetzt spürt, was der andere jetzt denkt, da ist sofort eine ganz tiefe Übereinstimmung.

25. O TON Cafe Atmo,
1.SPR.:
Heidegger will das philosophische „Feldweg Gespräch“ ausklingen lassen, wie es begonnen hat: bei einem Glas Tee. Für eine Weile sammelt sich die Gruppe in Schweigen.

15. Musikal. Zusp. Noch einmal ca. 0 05“ freistehend, dann leise als Hintergrund:

1.SPR.:
Die Teilnehmer haben erlebt, wie sich im besinnlichen Nachdenken, inmitten der Natur, Spuren der Transzendenz zeigen. Dafür ist der Philosoph (! Ja,) Holger Zaborowski dem Gastgeber Martin Heidegger besonders dankbar:  (hier ist 15. Musik weg)

23.  O TON, 0 28“
Er hat zum einen versucht, eine neue Sprache zu finden, d.h eine Sprache, von der er sagt, dass sie nicht mehr theoretisch etwas begreift und über etwas redet, so wie z.B. die theologische Sprache auch über Gott redet oder wie wir auch im Alltag über Gott reden, als sei  Gott ein Gegenstand neben anderen. Sondern er versucht eine Sprache zu finden, die fast wie eine poetische Sprache eher hinweist auf etwas, sozusagen in eine Richtung weist, in der man dann selbst auch eine Erfahrung machen muss.

1.SPR.:
Zum Schluss ergreift der Gastgeber noch einmal das Wort: Es ist eine Ermahnung, die philosophische Gelassenheit im besinnlichen Denken regelmäßig zu üben, und zwar um ihrer selbst willen! Erst wenn die Menschen sich vom dauernden Rechnen und Herrschen, Verwerten und Verwenden gelöst haben, leben sie frei, betont Martin Heidegger. Seine eigene Erfahrung hat ihn gelehrt: Gelassenheit ist der Weg, über alle   Zwänge der Welt hinauszukommen:

24. O TON, 0 40“.
Dann wächst die eigentliche Leidenschaft des Denkens, nämlich die Leidenschaft zum „Nutzlosen“. Dann wächst die Einsicht, dass ein Gedanke erst echter Gedanke ist, wenn er keinen Nutzen braucht und keinen Vergleich mit der Nutzbarkeit. Dann kann es einem vielleicht zeitweise glücken, das zu werden, was man einen Vorgänger nennt, den,  der vorausgeht, ohne dass man es merkt.

15. Musikal. Zusp. Noch einmal ca. 0 08“ freistehend