Für einen modernen Katholizismus

Katholizismus und Moderne verbinden.
Perspektiven von Jacques Gaillot.

Auszüge aus einem Buchbeitrag von Christian Modehn

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Jacques Gaillot hatte als Bischof von Evreux (1982 bis 1995) zahlreiche Kontakte mit jungen Menschen, auch mit Atheisten, mit Menschen, die durch ihn wieder Interesse an der Kirche fanden. Aber „dieser Hoffnungsträger“ wurde 1995 von Rom abgesetzt. Unverschämt geradezu der Vorwurf seiner vatikanischen Richter: „Gaillot hat sich als Bischof als unfähig erwiesen“. Im Rückblick muss man die Absetzung Bischof Gaillots als Beispiel für die „Selbstzerstörung des Katholizismus“ durch die Kirchenführung selbst interpretieren. Indem sie sich in den alten Mauern einschließt, gibt sie dem lebendigen Leben keine Chance. Ausdruck für den versteinerten Geist und die versteinerte Institution ist das Bemühen Benedikt XVI., die besonders Versteinerten, die in das Uralte verliebt sind und den Antisemitismus verteidigten, die Pius-Brüder, wieder in die römische Kirche „zurückzuholen“. Psychologen sprechen in dem Zusammenhang von der Lust am Morbiden…
Gleichermaßen politisch wie theologisch konservative bzw. reaktionäre Kräfte haben Jacques Gaillot zu Fall gebracht. „10 Jahre wurde Gaillot vom Vatikan beobachtet“, also praktisch seine ganze Zeit als Bischof von Evreux, betonte ganz freimütig einer seiner Richter im Vatikan, Msgr. J. Tauran im Januar 1995 in einem Zeitungsinterview. Danke für die Offenheit! Zu Gaillots heftigsten Widersachern gehörte, um nur ein Beispiel von vielen anderen Beispielen zu nennen, Abt Gérard Calvet vom traditionalistischen Benediktiner Kloster Le Barroux bei Avignon. Ursprünglich eng mit den Lefèbvre Leuten (den „Piusbrüdern“) verbunden sowie den Ideen des rechtsextremen Front National (Le Pen), war es Kardinal Ratzinger gelungen, diese Mönche mit ihrem Abt Calvet wieder an den Papst zu binden…Auf ihn hörte der Vatikan, als man Gaillot zu Fall brachte. Der „Fall Gaillot“ war also immer auch ein „politischer Fall“, wobei sich der Vatikan stets auf der sehr rechten Seite präsentierte…
Die Absetzung Jacques Gaillots als Bischof wurde zu recht schon damals als das symbolische Ende eines um Freiheit und Evangelium bemühten Flügels innerhalb der römischen Kirche wahrgenommen. Historiker werden bei noch größerem zeitlichen Abstand feststellen: Jacques Gaillot war als Bischof eine für katholische Verhältnisse „einmalige Gestalt“ im Europa des 20. Jahrhunderts, eine Verbindung von Moderne und Evangelium, wie sie sonst kaum möglich erschien, vergleichbar vielleicht den von Rom ebenso ungeliebten Bischöfen Pedro Casaldaliga oder Dom Helder Camara, beide Brasilien…Dass auch Jacques Gaillot (wie alle anderen Bischöfe auch) einmal sozusagen im Dauerstress übereilt reagierte oder dabei Fehler machte, versteht sich von selbst. Aber seine theologische Linie, Moderne und Katholizismus zu verbinden, blieb und bleibt zweifelsfrei vorbildlich und, sagen wir es ruhig, einmalig.
Auch wenn jetzt noch einige „Reformkatholiken“ die ewig selben Reformvorschläge wiederholen und wiederholen: Der „Fall Gaillot“ hat meines Erachtens klargemacht: Reformen grundlegender, radikaler Art haben im römischen System keine Chance. Einzig eine neue Reformation hätte Sinn, dann bliebe aber zumindest ein Teil der römischen Kirche nicht mehr „der selbe“ wie vorher…(siehe Martin Luther). Jacques Gaillot hat sich entschieden, nicht zum Reformator zu werden, er wollte kein französischer Luther sein. Das ist seine Entscheidung, die es zu respektieren gilt, auch wenn niemals wenigstens gedanklich durchgespielt wurde und auch heute nicht durchgespielt wird, was denn eine neue Reformation bedeutet hätte und immer noch bedeuten würde, gerade angesichts der tiefen Krise und des absoluten Vertrauensverlustes des Katholizismus etwa jetzt im Frühjahr 2010.
Im Rückblick bleibt auch das Bedauern, dass Jacques Gaillot nie deutlich spürbare Unterstützung von prominenten Theologen gefunden hat: Die Namen der „großen“ Theologen z.B. in Tübingen oder Münster brauchen hier nicht genannt zu werden, sie haben meines Wissens diesem bescheidenen Mann des Evangeliums niemals öffentlich und deutlich zur Seite gestanden. Waren sie sich – von der Solidarität Eugen Drewermann einmal abgesehen – zu fein, waren sie sogar so unbescheiden, dass sie meinten, dieser Bischof aus Evreux und später in Partenia „biete theologisch zu wenig“? So viel Arroganz wäre schlechthin unverständlich.
Eine andere entscheidende Frage lautet: Wird Jacques Gaillot noch zu Lebzeiten rehabilitiert werden? Wird sich Rom bei ihm für die Absetzung entschuldigen und sich dann bedanken für die zahlreichen Impulse, die er den Menschen von heute gegeben hat? Wird sich die französische Bischofskonferenz entschuldigen, dass sie ihn seit 1995 weitestgehend ignoriert hat und praktisch niemals mehr zu ihren Versammlungen eingeladen hat? Wird sie diesem Bischof mit der einfachen und deswegen so befremdlich wirkenden Botschaft die Hand reichen? Gibt es noch Menschen, die glauben, der römische Katholizismus könne sich wie durch ein Wunder reformieren und dem Geist des Evangeliums entsprechen? Was bleibt für die anderen? „Um das Licht zu sehen, müssen wir aus den Mauern heraustreten“, so Bischof Jacques Gaillot zu Ostern 1983.

Den vollständigen Text und viele andere interessante Beiträge zu Jacques Gaillot finden Sie in dem neu erschienen Buch:

„Die Freiheit wird euch wahr machen“, herausgegeben von Roland Breitenbach, Reimund-Maier-Verlag Schweinfurt: ISBN 978-3-926300-64-5, Preis: 18,80 Euro
Direktbestellung des Buches: info@reimund-maier-verlag.de

Erasmus kontra Luther

Erasmus kontra Luther

Im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon wird immer wieder auf entscheidende Diskussionen zwischen Theologen und Philosophen hingewiesen. Eine für die „lutherische Welt“ alles Weitere prägende Debatte fand im 16. Jahrhundert statt zwischen Luther und Erasmus. Religionspolitisch hat sich Luther gegen über dem mehr philosophisch argumentierenden Erasmus durchgesetzt; der Hinweis auf diese Debatte ist deswegen von besonderer Dringlichkeit: Denn sie berührt den Kern lutherischen Denkens, von besonderer Aktualität angesichts der bevorstehenden bzw. längst begonnenen Feierlichkeiten und „Gedenkveranstaltungen“ zum großen Luther Jubiläum 1517 (500 Jahre „The­sen­an­schlag“) in Wittenberg und anderswo.

Luther wurde zu recht als Befreier begrüßt im Hinblick auf die persönliche Glaubensentwicklung des einzelnen, die Bibelübersetzung und die Überwindung der Bindung ans Papsttum. Aber in einem zentralen Aspekt ist die theologische Überzeugung Luthers höchst und äußerst problematisch: Darauf weist der Philosoph Kurt Flasch in seinem äußerst lesenswerten Buch „Kampfplätze der Philosophie“ (2008) hin (S. 248 ff):

„Erasmus brach mit Luther, denn er hielt (im Gegensatz zu Luther) die Willensfreiheit für die Voraussetzung aller Moralität und aller Religion. Als Philologe und Kenner des Neuen Testaments stellte Erasmus klar, dass der Wortlaut der Schrift die radikal – antihumanistische Interpretation Luthers nicht erzwinge…Angesichts der Erbsündenlehre Luthers verweist Erasmus darauf: Ein Gott, der so wahllos straft und grundlos vernichtet, verliert alle ethischen Prädikate, er wird zum Ungeheuer… Genau genommen sprach Luther nicht einfach von der „Schwäche“ unserer Vernunft, er sah sie im Besitz des Satans“, soweit Kurt Flasch.

Wir sind gespannt, wie sehr es den Jubiläumsfeierlichkeiten zu 2017 gelingt, die kritische Distanz zu Luther auszubauen. Bezeichnend und sympathisch und äußerst bedenkenswert für eine tiefere und menschliche Spiritualität finden wir einen Hinweis von Kurt Flasch (S. 251): „Nach Egon Friedell war Luthers Reformation Mönchsgezänk im Vergleich mit der intellektuellen Revolution Meister Eckharts“. Mit anderen Worten: Wie hätte sich der christliche Glaube, wie hätten sich die christlichen Kirchen entwickelt, hätte sich Meister Eckhart im 13. Jahrhundert durchgesetzt mit seiner Überzeugung: Der unbegreifliche Gott als Geheimnis zeigt sich in Geist und Seele eines JEDEN Menschen ohne die Notwendigkeit einer „Vermittlung“ durch kirchliche Institutionen. Die Frage „Was wäre wenn“ ist natürlich müßig, aber sie verweist erneut auf die absolute Zeitgebundenheit (und deswegen wohl auch Überwindbarkeit) des Denkens Luthers an dieser Stelle…

Vielleicht hat Gott heute “neue Kleider” an. Ein freisinniger Katechismus

Ein spirituelles Buch, es nennt sich – mit etwas Ironie – Katechismus. Denn dieses Buch will nicht belehren, es will zu denken geben. Ein neues Buch freisinniger Protestanten…

Gottes „neue Kleider“?

Ein neuer Katechismus – eine Einladung, selber zu denken und den eigenen Glauben zu entwickeln

Alle 150 Abgeordneten des Niederländischen Parlaments (Tweede Kamer) erhalten dieser Tage einen Katechismus geschenkt. Ungewöhnlich, in einem säkularisierten Land wie Holland. Dabei handelt es sich nicht um den Versuch, klerikale Machtansprüche in der Politik durchzusetzen, das liegt den Autoren des ungewöhnlichen Katechismus auch völlig fern. Denn sie treten als “freisinnige, liberale Christen” entschieden für die Trennung von Kirche und Staat ein. Aber ihnen liegt daran, mit allen Menschen, auch mit Politikern, in einen partnerschaftlichen Dialog einzutreten, nicht über Dogmen, wohl aber auch ethische Orientierungs – Vorschläge!

Es ist schon komisch: Ausgerechnet in Holland erscheint dieser Tage ein neuer Katechismus. Ist das Wort „Katechismus“ nicht völlig out, völlig verbraucht, gerade in den Niederlanden, wo nur noch etwa 35 Prozent der Bevölkerung Mitglieder einer christlichen Kirche sind und die wenigsten Menschen von dogmatischen Lehren unterwiesen werden wollen? In dieser Situation muss man schon etwas Außergewöhnliches vorweisen: Der neue holländische Katechismus konnte entstehen, weil die vier freisinnigen christlichen Kirchen Hollands angesichts des zunehmenden Einflusses konservativer und reaktionärer Kirchen deutlich ihre eigene Stimme erheben, die Stimme der Freiheit, die dem Nachdenken allen Raum lässt und eben keine fertigen „ewigen“ Wahrheiten präsentiert. Es sind keine Leitungsgremien, keine Bischöfe und keine Päpste, die diesen Katechismus verfasst haben, sondern zwei Pfarrer, die im ständigen Austausch mit der Kultur der Gegenwart stehen: Christiane Berckvens – Stevelinck, Theologin der Remonstranten Kirche, und Ad Ablass, Theologe der freisinnigen Strömung innerhalb der Protestantischen Kirche (PKN) legen ein Buch vor, das in 12 Kapiteln Grundworte der menschlichen Kultur erläutert, Grundworte, die ihre Wurzeln in den biblischen Traditionen haben. Am Anfang steht die „Compassie“, das Mitleid, am Ende die dem Mitgefühl und der Empathie verwandte Liebe. Andere Themen sind Gleichheit, Verbundenheit, Versöhnung, Gerechtigkeit, Friede, Wahrheit, Freiheit, Berufung, Glaube und Gott. Das neue Buch nennt sich ausdrücklich „Katechismus des Mitleids“, ein zweifellos ungewöhnlicher, wenn nicht gar provozierender Titel. Aber er deutet das Ziel an: Die LeserInnen werden eingeladen, angesichts der humanen, ökologischen und politischen Katastrophen der Gegenwart das Mitleiden zu entwickeln, nicht nur als spirituelle Haltung, sondern vor allem als aufgeklärtes Handeln zugunsten der Leidenden. Aber dieser Appell zum Handeln ist nicht dick aufgetragen, vielmehr bieten die einzelnen Kapitel Informationen und meditative Impulse zu diesen Grundworten humaner Existenz. So ist ein Buch entstanden, das sich wohl am besten in einer eher „meditativen und behutsamen Lektüre“ erschließt. Nebenbei: Das Buch verdankt wesentliche Anregungen der britischen Philosophin und ehemaligen katholischen Nonne Karen Armstrong, die sich ausdrücklich für eine „Charta des Mitgefühls“ einsetzt. So gehört dieses Buch zu dem weltweit entstehenden Netwerk „Compassion“! Alle Kapitel des Katechismus werden „eingeleitet“ mit schönen Nachdrucken von Gemälden, Chagall ist genauso vertreten wie Rembrandt, Claudio Taddei genauso wie Caravaggio oder Ferdinand Hodler. Die eigens für das Buch gefertigten Gemälde der Künstlerin Brigida Almeida aus Utrecht beschließen jedes Kapitel. Im Text werden die Leser mit einer Fülle an Informationen aus der Literatur, dem Film, dem Theater konfrontiert, Informationen, die gleichermaßen die Schwierigkeiten wie die Chancen einer Lebenshaltung vorstellen, die sich von den 12 „Katechismus – Grundworten“ inspirieren lassen will, biblische Perspektiven sind jeweils ein Kapitel unter den anderen. Das ist der typische freisinnige Geist, dass keinem „Bibel – Fanatismus“ gehuldigt wird, sondern spirituelle Inspirationen auch im „weiten Feld“ der Religionen und Kulturen präsentiert werden. Sympathisch werden es Berliner finden, dass zum Thema Freiheit schon im Titel auf den berühmten Ausspruch John F. Kennedys verwiesen wird: „Ich bin ein Berliner“, ein Ausspruch, der heute als Bekenntnis gegen alle Formen des Totalitarismus verstanden wird. Äußerst sympathisch ist auch, dass das Kapitel über die Liebe mit einem Bild von Julius Schnorr von Carolsfeld eröffnet wird, das die beiden Liebhaber David und Jonathan zeigt., sicher ist auch die Entscheidung für dieses Bild typisch für Freisinnige in Holland: Die Remonstranten waren ja die erste Kirche weltweit, die schon 1986 homosexuelle Paare –gleich welcher Konfession- in ihren Kirchen segnete. Sympathisch ist auch, dass der ungewöhnliche, progressive katholische Theologe Karl Rahner als Verteidiger der Mystik erwähnt wird.

Dies ist wohl der entscheidende Eindruck: Dieser auch vom Layout so schöne und freundliche Katechismus der freisinnigen Christen plädiert für die Mystik, sicher für eine moderne, eine durch die Aufklärung „hindurchgegangene” Mystik: Aber doch wird aller Nachdruck gelegt auf das innere Erleben des Göttlichen, das sich im Handeln ausdrückt. In der Mystik sehen die Autoren ohnehin die Zukunft des Religiösen. Interessant könnte es sein, wie sich die freisinnigen Kirchen selbst zu Orten (multi-religiöser) Mystik entwickeln. Vielleicht ist diese Mystik das neue Profil der Freisinnigen und ihrer Gemeinden? Vielleicht können sie mit diesem Profil weitere undogmatische, aber mystisch Interessierte einladen? Die niederländischen Autoren sind jedenfalls überzeugt: Gott ist nicht tot, er zeigt heute nur neue, ungewöhnliche „Gesichter“. Er hat vielleicht neue Kleider angelegt, wie die Autoren schreiben.

“Catechismus van de compassie”. Erschienen im Verlag Skandalon, in Vught, Holland. ISBN 978-90-76564-94-4.compas

Ewiges Leiden? Zum 150. Todestag von Arthur Schopenhauer

Das philosophische Wort zur Woche:
Ohne Illusionen leben
Anlässlich des 150. Todestages von Arthur Schopenhauer am 21. Sept. 2010.

Philosophie ist (zumeist) wahrhaftig, sie kann schönen Schein und leere Verströstungen nicht ertragen. Sie sagt oft Verstörendes, manchmal Verwirrendes, vielleicht kann gerade in der Erschütterung ein anderes, ein „reiferes“ Leben möglich werden. Der Philosoph Arthur Schopenhauer kann mit seinen Erkenntnissen erschüttern.

„Schopenhauer zielt aufs Prinzipielle, auf einen gänzlich dunklen Seinsgrund. Im Widerspruch zur abendländischen Tradition erklärt er: =Das Sein ist nicht das Gute, wie es seit Platon die Metaphysik will. Das Wahre ein ist vielmehr das Leiden=. Glück gibt es, jedoch nur episodisch. Das Leiden aber, so lautet Schopenhauers negative Ontologie, bleibt fatal unnachgiebig, der Schmerz penetrant. =Denn alles, was besteht, ist wert, dass es zugrunde geht. Darum wäre es besser, dass nichts entstünde“, wie Schopenhauer mit Goethes Mephistopheles sagt. Konsequent wird der alte Gott, dem selbst die Theodizee der Leibnizschen Aufklärung nicht mehr aufhelfen konnte, als der angebliche Schöpfer aller guten Dinge aus der verpfuschten Welt verjagt…..
Soweit ein Text von Lüdger Lütkehaus. „Die Zeit“, vom 26. August 2010, S. 18.

Schopenhauer gehört zu den Philosophen, die aus dem eigenen Erleben ihre eigene Philosophie entwickelten, diese Grundlagen des Selbst Erlebten wird man nicht mit allgemeinen und abstrakten Erkenntnissen und Prinzipien kritisieren können. Dennoch bleibt die Frage: Ist der Lebenselan nicht doch größer als die Einsicht ins Negative, ins Leiden? Offenbart nicht Leiden immer auch diese die Dimension: So sollte es eigentlich nicht sein? Verhüllt diese Sehnsucht nur das andere, das „glückliche“ Leben? Welche prägende Bedeutung haben denn die „episodischen“ Glücksmomente? Sie sind doch offenbar keine Illusion? Sollten diese Glücksmomente nicht „eigentlich“ sein? Gibt es das Göttlich Gute und Göttlich Schöne nur in der Weise der Sehnsucht?

Die Beziehung zum Geheimnis – das ist Religiosität. Albert Einstein

Das philosophische Wort zur Woche am 12. 9. 2010

Albert Einstein. Über das Geheimnisvolle im Leben

„Das Schönste und Tiefste, was der Mensch erleben kann, ist das Gefühl des Geheimnisvollen. Es liegt der Religion sowie allem tieferem Streben, Kunst und Wissenschaft zugrunde. Wer dies nicht erlebt hat, erscheint mir nicht wie ein Toter, so doch wie ein Blinder. Zu empfinden, dass hinter dem Erlebbaren ein für unseren Geist Unerreichbares verborgen sei, dessen Schönheit und Erhabenheit uns nur mittelbar und in schwachem Widerschein erscheint, da ist Religiosität. In diesem Sinne bin ich religiös. Es ist mir genug, dies Geheimnisse staunend zu ahnen und zu versuchen, von der erhabenen Struktur des Seienden in Demut ein mattes Abbild geistig zu erfassen“.

Albert Einstein sprach diese Sätze eines längeren Textes für die Deutsche Liga der Menschenrechte im September 1932. Der Text trägt den Titel: „Mein Glaubensbekenntnis“.
Philosophisch interessant ist vielleicht der Hinweis, dass diese Äußerungen diskussionswürdig erscheinen, weil sie Albert Einstein formuliert hart. Sie sind aber von tausenden Ungenannten und Unbekannten in ähnlicher Form immer wieder formuliert worden. Aber sie finden Beachtung, weil sie „von Einstein stammen“. C.M.

Jacques Gaillot. Wesentliches über einen ungewöhnlichen Bischof.

Die Freiheit zuerst
Jacques Gaillot wird 75 Jahre alt.
Ein katholischer Bischof, der für eine moderne und evangelische Kirche eintritt

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Auch ein katholischer Bischof kann sich im „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon“ wohl fühlen, weil er mit den Philosophen die Hochschätzung der Freiheit (von keiner Institution antastbare Freiheit zu denken, zu sprechen, als Freiheit eines jeden Menschen) teilt:
Bischof Jacques Gaillot (Paris) wird am 11. September 2010 75 Jahre alt. Er ist zweifellos eine der bedeutenden religiösen Gestalten der Gegenwart, weil er innerhalb des Katholizismus über viele Jahre ausdauernd und unermüdlich für demokratische Reformen, für grundlegende Veränderungen (z.B. Aufhebung des Zwangzölibates, für das Priestertum der Frauen usw.) eingetreten ist. Dabei ist sein Hauptanliegen die einfache, möglichst dogmenfreie „praktische“ Spiritualität im Sinne Jesu von Nazareth: Nächstenliebe, Solidarität, Gewaltfreiheit. Seit seiner Absetzung als Bischof von Evreux, Normandie, durch den Papst im Januar 1995 ist er Bischof des imaginären Wüstenbistums Partenia. Der Vatikan glaubte, den Reformer kalt zu stellen, aber das Gegenteil war der Fall: Über das Internet, meisterhaft betreut durch die Verlegerin Katharina Haller (Küsnacht, Zürich), haben sich weltweit Glaubende und „Nichtglaubende“ zusammengefunden. Partenia.org wird auch nach seinem 75. Geburtstag noch als Archiv fortbestehen. Gaillot war als Bischof von Partenia vielfach zu Gast in Deutschland. Kardinal Meisner hat ihm noch im Jahr 2004 einen Auftritt in Bonn verboten. Reisefreiheit und Redefreiheit gibt es offenbar nicht im Katholizismus….

Aus philosophischer Sicht ist bemerkenswert:

-Bischof Gaillot hat als einziger katholischer Bischof an den Feierlichkeiten zu Ehren des republikanischen Priesters Abbé Grégoire (1750 – 1831) teilgenommen, dessen Gebeine zum 200. Gedenken an die Französische Revolution im Panthéon 1989 in Paris einen Ehrenplatz erhielten. Abbé Gregoire wollte im 18. Jahrhundert als Förderer der Republik eine demokratische katholische Kirche in Frankreich aufbauen, er ist angesichts der Machtverhältnisse gescheitert. Michelet schreibt über Abbé Grégoire: “Er glaubte an zwei göttliche Wesen: Christus und die Demokratie. Beide waren eng für ihn verbunden, denn es ist das dasselbe Ideal: Gleichheit und Brüderlichkeit”. Abbé Grégoire war übrigens alles andere als ein leidenschaftlicher (gewaltbereiter) Jacobiner. Bischof Gaillot aber wollte die Erinnerung an diese ungewöhnliche Gestalt fördern und seinerseits Demokratie und Katholizismus verbinden. Auch er ist in diesem Punkt gescheitert, aber in ca. 500 Jahren werden sich dann vollends demokratische Katholiken an Gaillot als „Vorläufer“ erinnern.

-Es kommt äußerst selten vor, dass ein katholischer Bischof ausdrücklich den Religionskritiker und Philosophen VOLTAIRE lobt, Bischof Gaillot hat dies getan. In seinem Buch „Ma liberté dans l Eglise“, Albin Michel, 1989, S. 189 f. verteidigt er sogar ausdrücklich das „Recht auf Gotteslästerung“, auf „Blasphemie“. Dieses Recht verteidigt er im Blick auf den damals in katholischen Kreisen äußerst umstrittenen Film von Scorsese „Die letzte Versuchung Christi“. Gaillot hat den Film als Ausdruck der Freiheit der Kunst ausdrücklich unterstützt. Er schreibt in dem genannten Buch: „Ich bezog mich damals ausdrücklich auf Voltaire, im Moment, als die Affäre des Chevalier de la Barre 1766 die Gemüter bewegte. Der Chevalier wurde angeklagt, ein Kreuz beschädigt zu haben. Er gestand auch ein, dass er antireligiöse Lieder singe und das Philosophische Wörterbuch von Voltaire lese. Er musste öffentlich Abbitte leisten, dann schnitt ihm der Henker die Zunge aus dem Mund, dann köpfte er den Chevalier. Danach wurde sein Körper verbrannt. Der Philosoph Voltaire versuchte ohne Erfolg, ihn zu rehabilitieren. Der Nationalkonvent (der Revolution von 1789) tat es dann später. Voltaire sagte damals: Es gibt ein Recht auf Blasphemie, sonst gibt es keine wahre Freiheit“.
Ich habe dieses Wort aktuell aufgegriffen, weil ich eine wesentliche Frage nach der Dimenison der Freiheit stellen wollte. Indem die Kirche mit Verboten um sich schlägt, entfernt sie sich von allen Menschen, die die Freiheit lieben. Die Kirche wird dadurch sektiererisch und sie pflegt die Jagd auf Hexen. Voltaire meinte: Wenn man die Freiheit garantieren will, dann akzeptieren wir wenigstens auch das Recht auf Gotteslästerung. Verdient denn ein Filmemacher den Tod, wenn er einen „unfrommen“ Film dreht? Oder wenn ein Schriftsteller ein Buch über den Propheten schreibt, verdient er dann den Tod? Unser wesentliches Ziel muss darin bestehen: Bewahren wir die Freiheit, und sicherlich, auch die Freiheit des kreativen Ausdrucks. Um diese Freiheit zu verteidigen, muss man bis zur Gotteslästerung gehen”. In einem späteren Interview hat Bischof Gaillot betont, dass die so verstandene Gotteslästerung natürlich dem von Menschen gemachten, dem von Herrschern konstrierten “ideologischen” Gott glt, wahrscheinlich sollte man da eher von Göttern sprechen. Der wahre, der transzendente, ewige Gott ist in der Gotteslästerung nicht gemeint. Gotteslästerung kann also einen reinigenden, kritischen Aspekt haben…

-Philosophisch bedeutsam ist auch, dass Bischof Gaillot den Einladungen von Freimaurern zum Dialog folgte. In dem Buch „Eine Kirche, die nicht dient, dient zu nichts“, Herder Verlag (!) 1990, S. 127, schreibt Gaillot: „ Kürzlich haben die Freimaurer mich zu einer „Sitzung in Weiß“ eingeladen, d.h. zu einem Vortrag mit anschließender Diskussion ausschließlich für Initiierte in der Loge des “Großen Orient” in Paris. Eine wirkliche Überraschung! Mit 400 Teilnehmern. Ich spreche vom Evangelium, von der Freiheit. Ein Funke springt über. Ein Teilnehmer fragt mich: „Können Sie mir einmal ganz offen sagen, ob ein Priester Freimaurer werden kann? Ohne Zögern antworte ich: „Heute abend haben Sie in Ihrer Versammlung einen Priester“. …Die Freimaurer haben Vertrauen in den Geist der Wissenschaft, ihre Bindung an die Vernunft ist eine Errungenschaft der Französischen Revolution“…

Ein neues Buch:
Am 10. September 2010 erscheint das Buch (mit verschiedenen Beiträgen seiner Freunde) über Jacques Gaillot: Der ihm gemäße Titel heißt: “Die Freiheit wird euch wahr machen“. Hg. von Roland Breitenbach. ISBN: 978-3-926300-64-5.
PS:
Ich habe zahlreiche Ra­dio­sen­dungen über J. Gaillot verfaßt und über ihn auch seit 1984 Beiträge in PUBLIK FORUM geschrieben. Hinzu kommen zwei Halbstundenfilme über diesen außergewöhnlichen Bischof:
-Im Oktober 1989 im Saarländischen Rundfunk für die ARD 1. Programm mit dem Titel:”Machtlos und frei”. Red. Norbert Sommer
-im Februar 1995 im Westdeutschen Rundfunk für die ARD 1. Programm mit dem Titel „In die Wüste geschickt“. Red. Friedhelm Lange.

Aus der Gemeinde des Herausgebers des neuen Buches über Jacques Gaillot, Pfarrer Roland Breitenbach in Schweinfurt:

„Eine Kirche, die nicht dient, dient zu nichts“

Bewegende Geburtstagsfeier für Bischof Jacques Gaillot in St. Michael am12. 9. 2010:

SCHWEINFURT · Außergewöhnlich ist es schon, wenn eine deutsche Gemeinde den 75. Geburtstag eines französischen Bischofs, noch dazu in dessen Abwesenheit, feiert. Seit 15 Jahren ist St. Michael mit Jacques Gaillot, diesem außergewöhnlichen Kirchenmann durch Besuche, gemeinsame Tagungen und dessen Texte, zum Beispiel seinem „Katechismus, der Freiheit atmet“, verbunden.

Von einigen deutschen Bischöfen, so auch vom Würzburger Oberhirten, ist der liberale Bischof, der sich ganz im Geist des Evangeliums für die Außenseiter und Randständigen der Kirche wie der Gesellschaft einsetzt und deswegen auch Konflikte mit dem Staat und seiner Kirche nicht scheute, zur „unerwünschten Person“ erklärt worden.

Der festliche Gottesdienst in St. Michael, musikalisch eindrucksvoll vom Chor Cantate Vocalis (Leitung und Orgel Bernd Pawellek) aus Lage in Nordrhein-Westfalen gestaltet, lebte vor allem aus den Texten Jacques Gaillots: „Wer gegen die Ausgrenzung von Menschen kämpfen will, muss ihnen zunächst auf die Beine helfen“. Oder: „Christen freuen sich darüber, dass Gott sich auf der Straße zeigt.“ Und: „Wenn er echt ist, kann der Ungehorsam zum Gehorsam werden.“ Aber auch: „Eine Kirche, die nicht dient, dient zu nichts.“

Besonders geprägt wurde der Jubiläumsgottesdienst durch Christof Bretscher, der statt einer Predigt, unter lang anhaltendem Beifall seinen Beitrag aus dem Buch „Die Freiheit wird euch wahr machen“, der Geburtstagsgabe von St. Michael an Jacques Gaillot, las. Er verglich die Absetzung des Bischofs vor 15 Jahren durch den Vatikan und seine Verbannung in das untergegangene Wüstenbistum Partenia in Algerien mit dem Absurdum, als Chefarzt durch die Würzburger Generaloberin an das Krankenhaus von Pompeji, das vor 1900 Jahren durch den Vesuv zerstört wurde, ausgesetzt zu werden. „Dieser Bischof“, so Bretscher in der Lesung, „vermittelt mir das Gefühl einer freien Gottsuche und der Ahnung einer Kirche, die nicht von ihren eigenen Systemen und Strukturen erstickt wird. Jacques Gaillot hat mir gezeigt, wie einfach und fruchtbar Gespräch und Kommunikation in der Kirche sein können, wenn man es will und ohne Hintergedanken tut.“

Nach dem Gottesdienst, der von Roland Breitenbach und Diakon Stefan Philipps liturgisch gestaltet wurde, trafen sich die zahlreichen Gottesdienstbesucher zu einem Frühschoppen und nutzten die Gelegenheit, das neue Buch zu erwerben, das ab sofort auch im Buchhandel zu haben ist.

© (ola)
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Quelle: Schweinfurter Volkszeitung