Jesus der Hund: War Jesus ein Zyniker?

War Jesus ein Zyniker?

Um die Antwort – für möglicherweise beunruhigte Leser – gleich vorwegzunehmen: Jesus war wohl kein Zyniker, sondern ein Kyniker. Aller Wahrscheinlichkeit nach. Aber, wie in der neuen “Enzyklopädie Philosophie” (Meiner Verlag 2010, S.3137) betont wird, gibt es durchaus einen sachlichen und nicht nur sprachlichen Zusammenhang zwischen Kynismus und Zynismus.
Worum geht es?
In vielen unterschiedlichen Bildern und Begriffen wird von Jesus von Nazareth gesprochen. Gerd Theißen, der „Neutestamentler“, nennt ihn z.B. einen „Wandercharismatiker“. Jetzt legt der bekannte Paderborner „Alttestamentler“ Bernhard Lang in einer Art Zuspitzung dieser These eine neue, sehr ernsthafte Diskussionsebene vor: Jesus war ein Kyniker, also ein Weiser, der nach Art der damaligen „Kyniker“ Schule lebte, und das Lebensprinzip war die Bedürfnislosigkeit, die Feindesliebe, die Unruhe, in dieser Welt keinen Platz zu haben, was man gern „Unbehaustheit“ nennt. Bernhard Lang ist also als Historiker der Meinung, dass diese philosophische Orientierung, wenn nicht die „Schule“ der Kyniker, durchaus präsent und prägend war im damaligen Israel; der Kulturaustausch war damals – nebenbei gesagt – sehr viel größer, als sich heutige Menschen vorstellen, die meinen, die Globalisierung sei ihre Erfindung des 20. Jahrhunderts…Griechenland und Israel, oft gegeneinander als unvermittelbare Konzepte ausgespielt, scheinen doch einander gar nicht so fern zu sein…“Jesus und die griechischen Kyniker haben vieles gemeinsam: Sie verzichten auf Besitz, Ehe und Lebensvorsorge, sie verstehen Gott als Vater aller Menschen, ….sie lehnen Vergeltung ab, und sind bereit zum Leiden. Mit traditionellen religiösen Geboten gehen sie unbefangen um“, schreibt Bernhard Lang.
Im Rahmen unseres religionsphilosophischen Salons ist es äußerst interessant zu sehen, dass Jesus offenbar nicht nur in Johannes dem Täufer einen „Vorläufer“ hat, sondern wahrscheinlich eine Art (mythischen) Vorläufer in der Gestalt des Diogenes von Sinope (400 – 328), er wurde wegen seines sehr alternativen Lebensstils von der Öffentlichkeit verächtlich „Kyon“ auf Griechisch, also Hund, also Kyniker, genannt. Später wurde Antisthenes, dein Schüler des Sokrates, zum Inspirator der kynischen Bewegung erklärt. Kyniker haben sich vom Staat und der bürgerlichen Ordnung abgewandt, sie wollten als Bettler das Ideal der völligen Unabhängigkeit verkörpern. „Um die Zeitenwende erfährt der Kynismus ein Wiederaufleben in Rom und hält sich dort bis ins 5. Jahrhundert“, schreibt Josef Fellsches in dem überaus empfehlenswerten Buch „Enzyklopädie Philosophie“ (Meiner Verlag 2010) auf Seite 3137. Jesus als Kyniker – das könnte eine heiße theologische und philosophische Debatte von 2011 werden. In dem modernen Begriff “zynisch”, von “Kynisch” abgeleitet, wird nur noch eine Seite des Kynismus festgehalten, die Moralverachtung, alles Spöttische und Schamlose wurde in der späteren kirchlichen Entwicklung erst “cynisch”, dann “zynisch” genannt, darauf hat der Philosoph H. Niehues – Pröbsting hingewiesen. Interessant wäre die Frage: Wie könnten sich Kirchenführer, Päpste und Bischöfe z.B., neu orientieren, wenn sie sich auf Jesus den Kyniker einließen? Diese Frage ist nicht zynisch, sondern kynisch gemeint. Trotzdem: Würde Jesus von Nazareth als Kyniker heute vielleicht auf die real existierenden Kirchen in ihrer z.T. barocken Macht und ihrem Reichtum doch ein bißchen zynisch reagieren? Wer weiß.

Bernhard Lang, Jesus der Hund. Leben und Lehre eines jüdischen Kynikers. C H Beck Verlag, 2010.

Moderne Texte für alte religiöse Lieder

„Licht“ – alte religiöse Lieder mit neuen Texten
Die Zeit der frommen Floskeln ist vorbei
Von Christian Modehn

Die in den Niederlanden hoch geschätzte Dichterin, Autorin und Übersetzerin Coot van Doesburgh hat sich auf Einladung der Remonstranten Kirche auf ein nicht nur für Holland wegweisendes Projekt eingelassen: Sie hat zu alten, auch vertrauten religiösen Liedern („Kirchenliedern“) neue, zeitgemäße und poetische Texte geschrieben. So können die alten, noch immer beliebten Melodien weiterhin voller Begeisterung gesungen werden, in Gruppen und Gemeinden, ohne dass jemand wegen der uralten, sprachlich auch kaum noch zumutbaren und „vergangenen“ Floskeln und Bilder doch lieber den Mund hält.
Ende November 2010 wurde das Liedbuch mit dem Titel LICHT in Holland vorgestellt. Die Autorin hat für 100 Lieder neue Texte geschrieben, die das Lebensgefühl des modernen Menschen treffen. Warum soll man sich denn auch sprachlich und gedanklich ans 17. Jahrhundert binden, wenn man alte und schöne Melodien singen will?
Ein entscheidender Schritt ist getan, ein Schritt der Verständigung zwischen musikalischer Tradition und moderner Lebenswelt. Selbstverständlich will die Remonstranten Kirche einige Lieder auch in ihren Gottesdiensten singen. Der Name des Buches LICHT ist ja bezeichnend für diese freisinnige Kirche. Man könnte LICHT geradezu als ein entscheidendes Symbol dieser Kirche bezeichnen, geht es ihr auch um „Lumières“, um Licht im Sinne der Aufklärung, um die selbstverständliche Geltung der Vernunft auch in der Kirche, auch in den Liedern. Natürlich wird bei diesem Projekt die Poesie gerade nicht abgeschafft, aber sie wird mit dem Erleben der heutigen Menschen verbunden. „Coot van Doesburgh hat mit ihren neuen Texten ein Wunder vollbracht, alte Gesänge haben durch ihre Worte ein neues Leben erhalten, zeitlose menschliche Gefühle hat sie in die Sprache von heute übertragen. Ich fühle das Verlangen, diese Lieder mit voller Brust gern mitzusingen, denn sie sind schön geworden, so klar, sie anrührend in ihrer Einfachheit“, schreibt der landesweit bekannte und (königlich) geehrte Schauspieler und Kabarettist Paul van Vliet.
Die Remonstranten Kirche hat sicher einen weiteren Beitrag geleistet, „modern“ und „christlich“ zusammenzuführen. Das beachtliche Medienecho in Holland zeigt, dass das „LICHT“ in dieser Weise sozusagen „fällig“ war. Dem Buch ist auch eine CD beigelegt. Das Projekt „LICHT“ wurde inszeniert von Tom Mikkers, dem Allgemeinen Sekretär der Remonstranten Kirche. Man darf gespannt sein, ob LICHT auch in Deutschland zu ähnlichen Projekten inspiriert, um schöne alte Melodien vom uralten Staub der uralten Texte zu befreien. Warum gibt es eigentlich so wenige Übersetzungen wichtiger niederländischer Bücher aus den Bereichen Religionen ins Deutsche, eine Frage, die wir schon vor kurzem bei der Veröffentlichung des großartigen „Catechismus van de compassie“ stellten. Wir haben das Buch auf der Website www.remonstranten-berlin.de vorgestellt.

LICHT. C. van Doesburgh
Uitgerverij Boekencentrum 2010
ISBN: 9789023967361
Paperback
126 Seiten.
€ 12,50

Die unbekannte Dimension der Vernunft

Philosophisches Wort zur Woche ....
durchaus passend zur philosophischen Gestaltung der Weihnachtszeit, die ja als Zeit der Kindheit, der Nostalgie, der „verlorenen Heimat“, der Naivität beschrieben wird.

Eine unbekannte Dimension der Vernunft: die Naivität erkennen und annehmen.

„Die Vernunft kann nicht anders als ergründen, erklären, interpretieren, d.h. in die Vielfalt Einheit, ins Disparate Zusammenhang, Ordnung, Sinn bringen. Das tut die Vernunft selbst dann noch, wenn sie behauptet, dass alles sinnlos sei. Ihr Tun dementiert dann ihren Inhalt. Ihr Bedürfnis nach Konsistenz, nach Auflösung von Ungereimtheiten, nach Überwindung von Widersprüchen ist von Metaphysik nicht keimfrei sauber zu bekommen.
Metaphysik ragt ins alltägliche Tun der menschlichen Vernunft hinein. Metaphysik hat eine Naturbasis, die Kreatur weiß nichts davon. Der Zusammenhang zwischen Triebleben und Ewigkeit ist ihr verborgen, aber das Seufzen der Kreatur stellt den Zusammenhang her. Vernunft, die diesen Zusammenhang ignoriert, statt ihm Sprache zu verleihen, ist weder über die Natur noch über sich selbst genügend aufgeklärt.

Das Bedürfnis nach Konsistenz, nach Stimmigkeit, ist insgeheim das Bedürfnis nach einer heilen Welt. Ohne dieses Bedürfnis zu haben, kann Vernunft nicht rückhaltlos aufklären: über die Welt wie über sich selbst.

Ohne die blauäugige, durch nichts verbürgte Hoffnung, dass noch nicht aller Tage Abend sei, kann die Vernunft den gegenwärtigen Weltzustand nicht auf den Begriff bringen.

…Den religiösen Kinderwunsch noch in seinen verstohlensten Formen als unausrottbares Moment des Denkens aufzuspüren und in Vernunft zu übersetzen: das ist Aufklärung. Der Versuch, der Vernunft alle Naivität ohne Rest auszutreiben, treibt die Vernunft selbst aus“.

Der Philosoph Christoph Türcke, in seinem sehr empfehlenswerten Buch „Kassensturz. Zur Lage der Theologie“. Fischer Taschenbuch, 1992, S 139 f.. Der Beitrag hat den Titel: „Naivität“.