Der Kampf um Befreiung – und die Theologie

Neue Herausforderungen und Perspektiven für die Befreiungstheologie

Von Alfons Vietmeier, Mexiko – Stadt, Mitte Oktober 2011

Alfons Vietmeier lebt seit vielen Jahren in Mexiko, er beobachtet als Theologe die religiöse, soziale und polische Entwicklung in Mexiko und Lateinamerika. Als Gastautor schreibt er in der Rubrik “Der andere Blick” über Themen, die sich im Zusammenhang von Befreiung und Unterdrückung stellen. Der religionsphilosophische Salon ist der philosophischen Aufklärung – und der Kritik der Religionen – verplichtet, deswegen haben Alfons Vietmeiers kritische Berichte zur Gegenwart Lateinamerikas ihren wichtigen Platz.

“Befreiende Hoffnung und Theologie”, so stand es groß auf der Leinwand im Versammlungszelt der Veranstaltung  “Theologische Tage” in Mexiko. Über 200 engagierte Christinnen und Christen waren Anfang Oktober dreieinhalb Tage zusammengekommen, um – endlich, so sagte eine ältere Teilnehmerin – die Impulse der lateinamerikaischen Befreiungstheologie im heutigen Kontext noch einmal grundlegend neu zu buchstabieren und zu “dynamisieren”, wie es hieß.

Es war kein akademischer Kongress. Natürlich haben auch einige akademisch in Sozialwissenschaften und Religionswissenschaft Arbeitende teilgenommen, aber Mexiko hat fast keine universitäre Theologie, wegen der historisch gewachsenen scharfen Trennung von Kirche und Staat. Einstiegsreferate als persönliches Zeugnis haben eingebracht Enrique Dussel, seit vielen Jahren in Mexiko  lebender Historiker und Philosoph, und María Pilar Aquino, in den USA lehrende mexikanische Theologin. Es war auch kein Dialogforum mit Representanten  aus Kirche, Gesellschaft und Politik. Wohl gab es ein öffentliches Forum im überfüllten Auditorium der Menschrechtskommision über “Menschrechte und Friedensarbeit”, mit Zeugnissen des Koordinierungsteam der neuen mexikanischen Friedensbewegung, alle sind  engagierte Christinnen und Christen.  Das hatte Resonanz in den Medien, wobei man sehen muss: Das öffentliche, “mediale”  Kirchenbild ist fixiert auf amtskirchliche Äußerungen!

Es war ein seit Jahren immer erneut gefordertes und endlich gelungenes (Wieder-) Treffen der befreiungsttheologisch Motivierten im gesellschaflichen und kirchlichen Feld: sicher eine Minderheit, die sich jedoch bewegt. Wichtig war ein kreatives Miteinander dreier Generationen. Es brachten sich viele ältere “AktivistInnen” ein, insbesondere Ordensschwestern und Priester progressiver Provenienz, erfahren in ungezählten Auseinandersetzungen innerkirchlicher und außerkirchlicher Art, wenn sie sich bemühten die “Option für die Armen” und für eine gerechte Gesellschaft konkret, “vor Ort”, zu gestalten. Dann war dabei die Generation der 30- bis 50 Jährigen. Viele haben in den letzten 20 Jahren sogenannte “Zivilorganisationen” geschaffen, haben dort ihr Christsein gestaltet, weil das innerkirchliche Milieu zu erstickend für sie wurde. Und – das ist besonders erfreulich – war eine erstaunlich grosse Gruppe junger Leute unter 30 Jahren dabei, die  sich “frisch und munter”, möchte man sagen, in die Diskussionen einbrachten. Für Mexiko absolut neu war eine ökumenische Orientierung und zugleich ihre organisative Vernetzung mit einem progressiven Spektrum freikirchlicher Organisationen, insbesondere baptistischer, methodistischer und presbyterianischer Herkunft. Diese und andere prostestanische Kirchen haben in Mexiko – Stadt ein gemeinsames Aus- und Fortbildungsseminar; dort war auch der Tagungsort. Prägend war insbesondere die Teilnahme von Schlüsselleuten der mittlerer Führungsebene in Kirchen und Zivilgesellschaft, d.h. Multiplikadoren mit der Fähigkeit, sozialwissenschaflich und zugleich theologisch zu denken und zudem mit realem Einfluss in Prozessen vor Ort. Das brachte immer wieder frische Luft in den Erfahrungsaustausch und deren Vertiefung.

Das vitale, vieles umgreifende Thema war: “Gewalt und Spiritualität für den Frieden”. Befreiung geschieht immer im konkreten Kontext und dieser ist derzeit in Mexiko die schreckliche Realität von wachsender Gewalt und gleichzeitig ist der Schrei nach Gewaltlosigkeit, nach Frieden – Schalom, immer deutlicher zu vernehmen. Das Thema wurde vertieft in sechs Arbeitsforen: Ökonomie, Ökologie, Migration, Menschenrechte, Bürgerbeteiligung und kirchliche Praxis. Schon diese Auffächerung zeigt, wo es derzeit brennt und wo man sich bemüht um eine christlich befreiende Praxis und eine entsprechende theologische Vertiefung.

Die lateinamerikanische Befreiungstheologie hat ihre 40 – jährige Geschichte: Katholischerseits formulierte sie 1971 der Peruaner Gustavo Gutiérrez in seinem Buch “Theologie der Befreiung” , so wurde der Titel dieser neuen weltweiten theologischen Orientierung verbreitet. Seitens des Protestantismus hatte der Brasilianer Rubem Alves schon 1968 theologisch am Thema gearbeitet über “Theologie der menschlichen Hoffnung als Befreiung”.

Damals waren  autoritäre Regime, fast ausnahmslos von Militärdiktaturen, der gesellschaftliche Kontext in Lateinamerka. Davon galt es sich zu befreien. Das beinhaltete den Sturz der Diktaturen und das kostete auch ungezählte Opfer, Christen ließen ihr Leben, sie werden als Martyrer verehrt. Der kirchlich wohl bekannteste Martyrer ist Oscar Romero, Erzbischof von San Salvador in Zentralamerika.

Aber leben wir seit dem Ende dieser grausigen Miilitärdiktaturen etwa im “gelobten Land” der formalen Demokratien und deshalb in Gerechtigkeit und Frieden?

Im bewährten befreiungstheologisch  – methodischen Dreischritt “Sehen – Urteilen – Handeln” ging es zuerst um eine kritische Bestandsaufnahme und Analyse der derzeitigen und zu erwartenden und zu befürchtenden gesellschaftlichen Grundprobleme. Es gibt mehr Verarmte als vor 10 Jahren (siehe den neuen Welthungerbericht der UNO), diese Verarmten, arm gemachten Menschen, haben konkrete Gesichter und Leidensgeschichten. Das Ökosystem geht kaputt (grossflächige Abholzungen, zerstörerische Ausbeutung der Bodenschätze etc.). Die ländliche Räume bluten bevölkerungsmäßig weiter aus (Mais-, Kaffee- und andere Agrarrohstoffe werden an den Börsen hochspekuliert; die Gewinne bleiben im Agrobusiness). Das ist ein zentraler Grund für die Migration in die Megastädte (die chaotisch wachsen, sich mit Konsumtempeln füllen, wo alles mit immer mehr Pump finanziert wird und damit neue Elendsformen sich ergeben). Es gibt die Migration in den “Norden”, in die USA, dort sind die Latinos ohne Papiere wehrlos der Diskriminierung ausgesetzt. Aber auch dort ist Krise, z.B. in der Bauwirtschaft oder in der Hotelbranche: also Handlanger, Zimmermädchen und Kellner “raus”, heißt dort das Motto. Also zurück nach Mexiko! Und dort? Kanonenfutter der Drogenkartelle?! “Menschenrechte” verkommen dabei zu frommen Sprüchen und “Demokratie” wird zu einer leeren Worthülse, denn die wahre Macht haben einige Wenige , die minutenschnell mit Billionen “Wertpapiere” weltweit spekulieren, verzocken und vor allem ruinieren. Ein Teufelskreis wird sichtbar, zuerst einmal in konkreten Geschichten von Angehörigen und Bekannten in den eigenen Regionen.

Eine Systemkrise des “neoliberaler Spätkapitalismus” wird immer deutlicher: Ein sich immer schneller um Gewinnmaximierung drehendes Teufelsrad schmeisst immer mehr aus dem halbwegs menschlichen Leben “raus”: Riesige Bevölkerungsmehrheiten und nun auch ganze Länder. “Wir stecken im Sumpf.  Alle milliardenschwere Umschuldungen und Rettungsschirme sind wie der Versuch von Münchhausen, sich an den eigenen Haaren  aus dem Sumpf herauszuziehen!” merkte ein Teilnehmer an. Eine Teilnehmerin zitierte daraufhin Einstein: “Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind!” Und unter viel Zustimmung sagte sie energisch:  “Hier sind wir als Cristen eingefordert, Bekehrung voranzubringen in Gedanken, Worten und Werken! Schon Paulus ermahnte: Gleicht Euch nicht dieser Welt an, sondern wandelt Euch!” Die Reflexion konzentrierte sich auf das, was “Wandel” konkret beinhaltet: er beginnt im eigenen Leben und in den Nahbeziehungen (= In Basisgemeinden und solidarischen Kollektiven schon praktizieren, was wir “nach aussen” als Gesellschaftsveränderung fordern.)  Zudem und zugleich beinhaltet der Wandel auch Vernetzung mit gesellschaftsverändernden Initiativen und deren Agenda.

Christsein ist befreiende Botschaft und befreiende Praxis. Diese ist natürlich verwoben mit Ökologie und Ökonomie, mit Migration, Menschenrechte und Bürgerbeteiligung. Gott ist nicht ausserhalb der realen Lebens mit ihrer Nöten und Hoffnungen. Dies ist keine Kopfgeburt einiger Theologen, sondern vitale Notwendigkeit der unter Sklaverei, Ausbeutung und Willkürherrschaft Leidenden. Diese Menschen sind weiterhin in vielen Teilen der Welt die absolute Bevölkerungsmehrheit.

Deshalb ist es auch für alle Religionen notwendig, klar zu sagen,wo konkret ihr Gott beheimatet ist: bei den Mächtigen oder bei den Ohnmächtigen? Gott verkörpert im ägyptischen Pharao? Nein! Jahwe hörte den Schrei der Sklaven und begleitete sie auf dem Weg der Befreiung! Gott verkörpert im römischen Kaiser? Nein, sagten die Christinnen und Christen, auch wenn es ungezählte Martyrer kostete. Macht darf nicht vergöttlicht werden. Gott selbst ist ein armer Machtloser geworden In Jesus von Nazareth. Wegen seiner Parteilichkeit (vgl. die Bergpredigt und sein Durchbrechen von Systemregeln) ist er selbst Opfer geworden. Ostern ist das neue Leben, trotz allem…  Von unten, von und mit den Verarmten und Opfern, wächst die andere Art von Sinn und Zukunft als Gerechtigkeit für alle!

Das seit etwa 20 Jahren sich immer mehr verschärfende “Gesetz der totalen Gewinnmaximierung” als Systemregel und Grundstruktur wirtschaftlichen Handeln ist Götzendienst. “En god we truth” steht auf der Dollarnote: “Nein, an diesen Götzen glauben wir nicht, davon müssen wir uns befreien!”, war einhellige Meinung. Christsein ist in seiner Essenz antikapitalistisch: “Ihr könnt nicht zwei Herren dienen, Gott und dem Geld!”, sagte Jesus und praktizierte einen anderen, den solidarischen Weg. “Alle teilten untereinander was sie hatten und alle wurden satt”, so bei der Brotvermehrung., einer Geschichte aus dem Leben Jesu von Nazareth.

Die bei den “Theologische Tagen” Versammelten sahen genau hier die neuen Herausforderungen für “die befreiende Hoffnung und Theologie”. Ähnliche Treffen fanden in den letzten Monaten in anderen Regionen Lateinamerikas statt oder werden noch stattfinden. Das mündet im Oktober 2012 in einen lateinamerikanischen Kongress in Brasilien. “Die Befreiungstheologie ist nicht tot!”, unterstrich die Sprechergruppe  der Begegnungstage. “Die Herausforderungen sind heutzutage anders als vor 40 Jahren. Viele der damaligen Theologen sind alt geworden oder leben nicht mehr. Wir haben eine neue Generation, die befreiungstheologisch denkt und kämpft. Sie ist aktiv im solidarischen Teil unserer Kirchen, in Basisgemeinden und auch in  Bürgerinitiativen zugunsten der Zivillgeschaft, es gibt neue Vernetzungen, daraus erwächst eine neue Spiritualítät mit einer neuern  Agenda. Wir finden sie in fast allen Regionen Mexikos und über die Grenzen hinaus.”

Worum geht es in der neuen Agenda? Da ist zuerst und vor allem eine neue “Öko – Theologie”, die Ökologie, Ökonomie und Ökosysteme als integrales Ganze und göttliche Gabe begreift, daraus werden ökumenische Projekte: Befreiung von Ausbeutung der Natur und der Menschen, einfach Leben und gesund Leben und das in solidarischer Vernetzung (solidarische Wirtschaft). Das schließt ein, mit der Logik zu brechen von “Alles auf Pump” mittels Kreditkarten und dann mit lebenslanger Verschuldung. Deshalb gilt es, vor allem ein kritisches Konsumbewußstsein zu entwickeln, das sich emanzipert vom manipulierenden Marketing. So wie Drogenabhängige nicht mit gut gemeinten Ratschlägen, sondern nur einen Entziehungtherapie (“Entgiftung”) sich von dieser Abhängigkeit befreien können, benötigt auch ist unsere Konsum – (Kredit-, IPod-, Tabletten- etc.) Sucht viele Selbsterfahrungsgruppen, die diese “Entziehungskuren” einüben (“anders besser Leben”), wir brauchen therapeutische Begleitung. So wachsen und vernetzen sich immer mehr “Alternativ – Zellen”, die sich wiederum einsetzen für eine psycho – sozial gesundere Gesellschaft, die ihre plurikulturelle Vielfalt als Bereicherung annimmt und deshalb jegliche Diskriminierung  (aus sexuellen, rassischen, kulturellen, religiösen u.a. Gründen) überwindet. Das benötigt neue Sprach-, Aktions- und Organisationsformen, insbesondere in Vernetzung mit und inmitten der Vielfalt der Zivilgesellschaft.

Perspektiven und motivierte Leute sind da. Nun gilt es weiter machen.

 

 

Für eine neue “Männlichkeit” in Lateinamerika

Für eine neue Männlichkeit
Respekt für homosexuelle Männer. Erfahrungen im zentralamerikanischen El Salvador

Der religionsphilosophische Salon ist den bleibenden Werten der philosophischen Aufklärung verpflichtet. Dazu gehört immer das Eintreten für die Rechte von Minderheiten. Insofern ist der religionsphilosophische Salon immer politisch im Sinne der Befreiung.
Anlässlich des Welttages zugunsten des „COMING OUT“ am 11. Oktober (dieser Coming Out Welttag wurde von dem us – amerikanischen Psychologen Robert Eichberg 1988 ins Leben gerufen) freuen wir uns, einen Bericht zu veröffentlichen über den mühevollen Kampf, in einer von Macho Mentalitäten geprägten lateinamerikanischen Gesellschaft für die Gleichberechtigung von Homosexuellen einzutreten.
Den Beitrag verdanken wir der Christlichen Initaitive Romero in Münster (weitere Informationen siehe unten).

Trotz angeblich wachsender medialer und politischer Akzeptanz von Homosexuellen ist und bleibt Homophobie (Feindseligkeit oder Hass gegenüber Schwulen und Lesben) in El Salvador und ganz Mittelamerika ein alltägliches Problem und nimmt in gezielten Ermordungen Homosexueller oder Transvestiten auch immer wieder bestialische Züge an. Eine Ursachenforschung und Zustandsbeschreibung

In den meisten Ländern der westlichen Welt erinnert man mit dem Christopher Street Day an die öffentliche Revolte einer Gruppe Homosexueller und einiger Lesben am 27. Juni 1969, die sich im New Yorker Viertel Greenwich Village Gewalt und Razzien der Polizei widersetzten. Dieses Ereignis wird als Grundstein der Homosexuellen Bewegung im Westen angesehen. Als Teilnehmer diverser Märsche in Chile, Argentinien, Brasilien und El Salvador, als Fernsehzuschauer und Internetnutzer habe ich den Eindruck, dass die Forderungen der lateinamerikanischen Homosexuellen Bewegung seit ihren Anfängen immer mehr an Kraft verlieren. Mittlerweile gleichen ihre Forderungen oft denen der Feministinnen und der indigenen Minderheiten, den Forderungen nach mehr Gerechtigkeit in den kapitalistischen Wirtschaftsmodellen und ihrer neoliberalen Ausrichtung und den Forderungen der gesamten LGBTI*-Bewegung. Sie schlagen sich in oberflächlichen Sprüchen wie „Eine andere Welt ist möglich“ und „Wir wollen Gleichheit“ nieder.

El Salvador: Ziel für die Einen, Fluchtgrund für Andere
Meine Gespräche mit Schwulen, lesbischen Freundinnen und Transfrauen in El Salvador und Region haben mir geholfen, zu erkennen, dass die Homophobie untereinander einen starken Einfluss auf die gesamte mittelamerikanische LGBTI-Bewegung hat. Die Abgrenzung von Schwulen gegenüber Lesben und Transpersonen** wurde durch die Dominanz der Schwulen und durch die Frauenfeindlichkeit innerhalb der schwulen Gemeinschaften verursacht. Dies betrachte ich als sehr problematischen Aspekt.
Zudem fällt auf, dass es in den meisten größeren Städten der westlichen Welt so genannte Schwulenviertel gibt, geographisch und wirtschaftlich abgegrenzte Bereiche für Nicht-Heterosexuelle. Diese Viertel finden sich eins-zu-eins in den Ländern Mittelamerikas wieder. Marktwirtschaftliche Strategie ist es, wesentlich mehr Vergnügungsorte, wie Bars, Diskotheken, Saunas, Bekleidungsgeschäfte, Parfümerien und Themen-Cafés, für den schwulen Mann als für die lesbische Frau oder für Transpersonen anzubieten. Dies entspricht der typisch patriarchalischen Sichtweise, die den Mann mehr dem öffentlichen und die Frau mehr dem privaten Bereich zuordnet.

Der Handel mit den Identitäten

In El Salvador besteht zunehmend die Möglichkeit, seine schwule Identität über Angebote des Marktes sichtbar zu machen, sich eine bestimmte Ästhetik und eine entpolitisierte Ethik anzueignen. Diese Entwicklung macht es den Politikern und den Medien leichter, Toleranz gegenüber Homosexuellen zu propagieren. In den sexuellen Identitäten eine Geschäftschance zu sehen, hat zweifellos zu einem Handel mit den Identitäten und deren Strukturierung geführt, basierend auf den finanziellen Möglichkeiten des Einzelnen – ganz nach dem Motto „Wenn Du schwul sein willst, brauchst Du Geld, um so zu sein und so zu erscheinen“. Nur mit dem nötigen Kleingeld kann man die Orte aufsuchen, wo man Erfahrungen in Bezug auf Zusammenleben, Liebe und Paarbeziehungen mit Gleichgesinnten austauschen kann. Dieser Handel mit sexuellen Identitäten stellt für mich eine weitere problematische Entwicklung dar.

Die Logik des weltweiten Kapitalismus hat dazu gedient, die politischen Forderungen der Homosexuellen abzuschwächen und einen gewissen schwulen Lebensstil, ein politisches und marktwirtschaftliches Funktionieren der schwulen Identität zu fördern. Sie hat dazu geführt, dass die Kritik der Homosexuellen an der vorherrschenden Heteronormativität (gesellschaftliches System, in dem die Sexualität zwischen Mann und Frau als soziale Norm gilt) immer leiser wird. Zudem hat sie eine Randgruppe aus Personen geschaffen, die aus ethisch-politischen oder finanziellen Gründen von dieser exklusiven Szene ausgeschlossen sind. Die Ausgeschlossenen erfahren die stärkste Benachteiligung und sind Opfer der sichtbarsten Diskriminierung, der gewaltsamsten Homophobie und der brutalsten Ermordungen. Besonders Transvestiten haben immer wieder unter der geballten Raserei der salvadorianischen machistisch-motivierten Gewalt zu leiden.

Homophobie (inkl. Lesbophobie und Transphobie) in El Salvador richtet sich nicht gegen schwule Weiße oder schwule Mestizen aus der Mittel- oder Oberschicht, die studiert haben und die vor allem die von der Gesellschaft als männlich klassifizierten äußeren Merkmale zeigen, sondern immer gegen Minderheiten wie weibische Homosexuelle aus der Unterschicht ohne Zugang zu Bildung, Kultur und sozialer Mobilität. Je größer die Verletzbarkeit der Diskriminierten, desto stärker der Grad der Homophobie. Die Frauenfeindlichkeit und der Hass auf etwas Weibliches im männlichen Körper sind der Grund für die schrecklichen Misshandlungen, die viele Transpersonen und Homosexuelle in El Salvadors Städten das Leben gekostet haben.

Es ist von größter Notwendigkeit, die aktuelle salvadorianische „Politik der (angeblichen) Toleranz“ und die von ihr festgelegte Ordnung und Rolleneinteilung der Geschlechter kritisch zu hinterfragen und zu durchbrechen. Die Politik, die mittlerweile eine bestimmte homosexuelle Identität in separaten Schwulenvierteln toleriert, ändert nichts an der mangelhaften Sexualkunde an Schulen und Universitäten, am Fehlen eines Antidiskriminierungsgesetzes oder an der Praxis, Leute zu entlassen, deren Aussehen nicht den Heteronormen entspricht. Sowohl das vorherrschende patriarchalische Gesellschaftsbild als auch die politisch-strategische Struktur El Salvadors, welche sexuelle Unterschiede immer noch bewusst als exotische Ausnahme einordnet und somit wahre Toleranz verhindert, muss verändert werden.■

* LGBTI ist eine englische Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual, Trans und Intersex (dt. Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transpersonen und Intersexuelle).
** Der Ausdruck Transpersonen fasst im Text unterschiedliche Geschlechteridentitäten zusammen, so Transsexuelle, Transgender und Transvestiten.

Dieser Artikel erschien unter dem Titel „Die Abscheu vor dem Weiblichen im Mann“ in dem empfehlenswerten Heft 3 / 2011 „presente“ der „Christlichen Initiative Romero“ in Münster.

Zum Autor:
Héctor Guillermo Núñez, geboren in Chile, ist homosexuell, lebt seit 2008 in El Salvador und arbeitet bei der CIR-Partnerorganisation Centro Bartolomé de las Casas (CBC) im Bereich der Männerarbeit zur Vorbeugung geschlechtsspezifischer Gewalt.

Übersetzung: Joana Eink (CIR)

Wer das Projekt für eine neue Männlichkeit des “Centro Bartolomé de las Casas” (=CBC) unterstützen will: Spenden sind willkommen und werden über die “Christliche Initiative Romero (CIR)” in Münster nach El Salvador weiter geleitet unter dem Stichwort „CBC“

Spendenkonto:
Konto 3 11 22 00
DKM Darlehnskasse Münster
BLZ 400 602 65
IBAN DE67 4006 0265 0003 1122 00

Der Religionsphilosophische Salon Berlin dankt herzlich der Christlichen Initiative Oscar Romero in Münster für die Möglichkeit der “Weitergabe” des Beitrags auf dieser website.

Die Christliche Initiative Romero hat diese empfehlenswerte website:
http://www.ci-romero.de

Island: Faszinierend, befremdlich, inspirierend. Interview mit der Island Spezialistin Marie Krüger, Berlin

Island – faszinierend, befremdlich, inspirierend
Christian Modehn im Interview mit der Islandexpertin Marie Krüger, Berlin- Reykjavik

In der Zeitschrift PUBLIK FORUM erschien am 23. 9. 2011 ein Interview mit der Island Spezialistin Marie Krüger. Sie hat jetzt ihr empfehlenswertes Buch veröffentlicht: „Island“ – Ein Länderporträt”, Christoph Links Verlag, Berlin. Wer in Island das Land und die Menschen hinter der Landschaft sucht, sollte mit Marie Krüger auf diese literarische Entdeckungsreise gehen. Das Buch kostet 16.90 EURO. |
in PUBLIK Forum konnte (aus Platzgründen) nur eine Kurzfassung des Interviews erscheinen, hier die ausführliche Fassung.

Wie sind Sie mit Island in Kontakt gekommen?
Ich wurde in (Ost-) Berlin geboren und habe hier auch Abitur gemacht. Außerdem habe ich als Schülerin ein Stockholmer Gymnasium besucht und mit dem schwedischen Abitur verlassen. Ich studiere Skandinavistik, Deutsch als Fremdsprache und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und war auch an der Universität Islands als Stipendiatin des DAAD. Derzeit arbeite ich als Schwedischlehrerin, Fremdenführerin, Übersetzerin und Kellnerin in Berlin und Reykjavík. In meinen Stadtspaziergängen mit vor allem nordeuropäischen Touristen spielt die deutsche Teilung eine große Rolle. Dieses Thema ist für mich mindestens genauso bedeutend wie Island.

Sie fühlen sich mit Island verbunden?
Ich habe in meinem Studium von Anfang an den Schwerpunkt auf Island gelegt, einfach weil ich es aus einer wissenschaftlichen Perspektive von den fünf nordischen Ländern am interessantesten finde. Seine Geschichte ist einzigartig genauso wie seine Natur. Außerdem glaube ich, dass man aufgrund der Insellage und der Übersichtlichkeit der Bevölkerung hier Entwicklungen eher und genauer nachvollziehen kann als anderswo. Ich bin also kein klassischer „Islandfreund“, weil ich nicht über Urlaubsreisen oder die Islandpferde zu Island gefunden habe. Als ich im Jahr 2000 das erste Mal dorthin kam, war das zum Zwecke eines Praktikums. Ich habe mich von Anfang an dem isländischen Alltag ausgesetzt und das Land erst dann nach und nach durch Reisen entdeckt. Ich hatte nie diesen Moment, den viele Touristen erleben, wenn sie von Island vollkommen überwältigt sind. Vielmehr hatte ich von Anfang an ein sehr ambivalentes Verhältnis zum Land – eben zwischen meinem „wissenschaftlichen“ Interesse, mit dem eine ständige Kritikbereitschaft einhergeht, und meinen persönlichen Begegnungen mit „Land und Leuten“. Meine Neugier ist bis heute nicht gestillt und ich habe eben viele Freunde dort, weshalb ich noch immer so oft nach Island fahre.

Was fasziniert Sie an Island?
Ich habe die Sprache – streng genommen – vor allem an der Uni in Berlin gelernt. Ich hatte einfach exzellente Lehrer und konnte außerdem von Anfang an ausschließlich Isländisch lernen, da ich mit Schwedisch bereits eine festlandskandinavische Sprache beherrschte. Deshalb hatte ich nicht die „Doppelbelastung“, die Skandinavistikstudenten sonst haben, wenn sie Isländisch nur parallel zu Dänisch, Norwegisch oder Schwedisch, von denen eins Pflicht ist, studieren können. All das und die Tatsache, dass ich schon nach meinem ersten Studienjahr zu einem längeren Islandaufenthalt aufgebrochen bin, haben dazu beigetragen, dass ich die Sprache relativ schnell gelernt habe. Außerdem habe ich immer bei oder mit Isländern gewohnt und viel Zeitung gelesen.

Ab Herbst werden die Tage immer kürzer. Muss man auch die Dunkelheit lieben, um Island zu lieben?

Nicht zwangsläufig, denn die Meisten kommen als Touristen während des Sommers ins Land, wenn die Dunkelheit gerade keine Rolle spielt. Nur Wenige kommen im Winter oder für längere Zeit. Ich komme häufig gerade dann, wenn es besonders dunkel ist, einfach weil ich gern über den Jahreswechsel in Island bin, jedoch nicht, weil ich die Dunkelheit liebe. Ganz im Gegenteil, sie macht Einem das Leben schon schwer. Ich habe irgendwie gelernt, mit ihr umzugehen, einfach weil ich das während meines Studienjahres musste. Damals achtete ich darauf, in den Stunden des Tageslichts möglichst keine Lehrveranstaltung besuchen zu müssen, um diese Zeit draußen zu verbringen. Oft ging ich mittags ins Schwimmbad oder eine Runde um den Stadtteich spazieren, um möglichst viel Tageslicht abzukriegen. Nichtsdestotrotz brauchte ich von November bis März mindestens neun Stunden Schlaf pro Nacht. Ich hatte einfach deutlich weniger Energie, und das ist auch heute so.
Viele meiner isländischen Freunde schwören darauf, gleich nach dem Aufstehen an die frische Luft zu gehen, um in Gang zu kommen. Andere schlafen im Winter fast gar nicht, weil sie den Unterschied zwischen Tag und Nacht kaum spüren. Ich kenne eine Deutsche, die vor vielen Jahren nach Island ausgewandert ist und sich in ihrem dritten Jahr einen Zusatzjob als Zeitungszustellerin gesucht hat, um morgens zeitig rauszumüssen. Ihr hat das gut getan.
Als mich deutsche Freunde über Weihnachten in Reykjavík besuchten, musste ich sie jeden Morgen wecken und schaute immer in verdutzte Gesichter, wenn ich versicherte, dass es bereits zehn Uhr sei, während draußen noch stockfinstere Nacht herrschte… Es gibt also viele Arten, mit der Dunkelheit umzugehen, und jeder muss seinen persönlichen Weg finden. Im Gegensatz zu Deutschland aber muss man sich eben mit diesem Thema auseinandersetzen und schauen, wie man sich arrangiert.

Haben Sie eine „innere Beziehung“ zur Dunkelheit?

Ich ziehe die hellen Sommer klar vor und habe mit der permanenten Helligkeit – wiederum auch im Gegensatz zu einigen meiner isländischen Freunde – kein Problem. Allerdings wäre es auch falsch, die Dunkelheit völlig zu verteufeln. Man wird sich im Herbst, Winter und Frühjahr des Lichtes und seiner Wichtigkeit stärker bewusst, betrachtet es als Schatz, den man für sich nutzen muss. Man gerät weniger unter gesellschaftlichen Druck, der einem ja gern suggeriert, dass Schlafen Zeitverschwendung ist, denn in Island muss man sich nicht rechtfertigen, wenn man eben neun/zehn Stunden pro „Nacht“ braucht. Und dann sind der späte April und der Mai wunderbare Monate, wenn es immer, immer heller wird und irgendwann auch die Natur wieder anfängt, sichtbar zu werden. Wie gesagt: In Island ist das Licht einfach das ganze Jahr über Thema.

Haben Sie mal im Winter in entlegenen Dörfern verbracht? Wie haben Sie Einsamkeit dort erlebt?

Ich habe einmal ein Frühjahr auf Heimaey (Westmännerinseln) verbracht und dort Deutsch unterrichtet, wo allerdings etwa 4100 Menschen leben… Von einem Dorf kann also nicht die Rede sein. Dennoch habe ich dort eine Isolation erlebt, die ich aus Reykjavík nicht kannte. Sie entstand allerdings, weil es oft unglaublich windig war und es mir deshalb sehr schwerfiel, mich zu Aktivitäten aufzuraffen. Schon der Weg zur Schule war an solchen Tagen so anstrengend, dass mir für mehr die Kraft fehlte. In jenem Frühjahr habe ich sehr viel gelesen, war aber gleichzeitig auch genervt von meiner eingeschränkten Mobilität.

Dunkelheit, Ruhe, Schreiben: Gibt es da eine Verbindung zur Tatsache, dass so viele Isländer Schriftsteller sind?

Wenn ich das wüsste… Das geschriebene Wort hat einfach in Island generell eine viel größere Bedeutung als in Deutschland. Das hat zum Einen damit zu tun, dass die mittelalterliche Überlieferung sehr umfangreich ist. Wir haben aufgrund vieler Umstände einfach heute Zugriff auf eine enorme Anzahl mittelalterlicher Quellen, die außerdem in sich ganz verschieden sind. Wenn man sich, seine Geschichte, ja seine Kultur so weit zurückverfolgen kann, wie es die Isländer können, wird die Schrift an sich zum identitätsstiftenden Moment. Schreiben ist Isländischsein. Hinzu kommt, dass die Gesellschaft durch alle Jahrhunderte hindurch insgesamt egalitärer organisiert war als viele andere in Europa. Dadurch entsteht vielleicht ein Gefühl, dass Literatur immer alle betraf und nicht – wie zum Beispiel im deutschsprachigen Raum – lange Zeit nur eine Elite.
Das Bildungslevel ist in Island erst seit Kurzem so hoch. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Bildung ein Privileg, weshalb ich nicht glaube, dass hier die hauptsächlichen Gründe für die Bibliophilie der Isländer zu suchen ist.
Dahingegen gibt es tatsächlich einige Mediävisten, die in den langen Wintern, in denen die Landwirtschaft brach lag, mit einen Grund für das emsige Schreiben der mittelalterlichen Isländer sehen. Inwieweit das stimmt, vermag ich nicht zu beurteilen.
Ich habe ausgerechnet, dass in Island im Jahr 2010 durchschnittlich 1,5 Romane pro Woche erschienen – ohne Kinder- und Jugendliteratur. Wie auch immer die Qualität des einzelnen Werks zu bewerten ist, zeigt diese Zahl zumindest, wieviel Raum und Geld den Texten eingeräumt wird.

In den vielen dunklen Stunden ist das Leben in Reykjavik natürlich lebendig, quirlig?

Das Leben in Reykjavík ist jeden Freitag und Samstagabend quirlig – allerdings nur in der unmittelbaren Innenstadt. Isländer und Touristen feiern dort das ganze Jahr über an jenen Abenden auf einem Gebiet von etwa einem Quadratkilometer in unzähligen Bars, Kneipen und Klubs. Da sind die Lichtverhältnisse völlig egal. Die Theater machen natürlich auch in Reykjavík Sommerpause, so dass in dieser Hinsicht auf jeden Fall mehr im Winter los ist.

Nur 320 000 Einwohner zählt Island. Trotz der Größe des Landes: Die meisten leben in der Stadt, da kennt man sich, man weiß von einander, ist das ein Vorteil?

Das kann man so einfach nicht beantworten. Ich denke, dass eine übersichtliche Gesellschaft viele Vorteile birgt. So funktioniert zum Beispiel die Kommunikation zwischen Volksvertretern und Volk direkter und die Familien übernehmen aufgrund der räumlichen Nähe und ihrer Größe oft Betreuungsaufgaben, die meine Berliner Freunde auf Personal abwälzen müssen.
Auch wenn man erwarten sollte, dass die Isländer vielleicht gerade deshalb eher sorgsam mit ihrer Privatsphäre umgehen, ist das Gegenteil der Fall. Sie nutzen Facebook exzessiv, weisen sich mit einer Kennzahl aus, die das Geburtsdatum enthält, und haben Datenbanken, die relativ sensible Daten einem großen – aber nicht unbeschränkten – Personenkreis zugänglich machen.

Ist es schwer für Sie als „Ausländerin“ in Island Freunde zu finden?

Natürlich bin ich nach wie vor Ausländerin in Island, auch wenn ich Isländisch spreche, zumal ich ja nicht das ganze Jahr dort lebe. Freunde zu finden, war hier für mich nicht einfacher oder schwerer als zum Beispiel in Schweden. Eine gute Freundschaft braucht ihre Zeit und entwickelt sich nicht von heute auf morgen. Ich habe aber zum Beispiel noch Kontakt zu Menschen, die ich schon während meines ersten Islandaufenthaltes kennengelernt habe. Außerdem habe ich die Isländer grundsätzlich als sehr gastfreundlich erlebt. Auf der anderen Seite konnte ich im Umgang mit Fremden große Unterschiede von Mensch zu Mensch beobachten, aber das ist ja wohl auch in Deutschland so. Ich würde also nicht sagen, dass die Isländer generell verschlossener als die Deutschen sind.

Was sind die Sagas, noch heute gelesen, sind sie für die Leute relevant?
Die Sagas kannte ich schon, bevor ich das erste Mal nach Island kam, weil ich mich bereits als Schülerin für sie interessierte. Deshalb hatte ich viele von ihnen bereits gelesen, bevor ich sie im Rahmen meines Studiums genauer kennen lernte.
Erstmal muss man wissen, dass die Sagaliteratur ein Genre ist, das es so nur im mittelalterlichen Island gab. Sie gehört zu den so genannten genuin-autochthonen Gattungen. Es handelt sich dabei um Texte, die in ungebundener Sprache verfasst wurden und ganz unterschiedliche Themen behandeln können. So gibt es Sagas, die die Lebensgeschichten von Königen oder Geistlichen behandeln. Andere berichten von Begebenheiten, die sich vor der Besiedlung Islands ereigneten. Die Isländer meinen jedoch meistens die so genannten Isländersagas, wenn sie von den Sagas sprechen. Das sind auch die Texte, die jetzt gerade aufwändig neu übersetzt wurden. In ihnen spielen eben Isländer die Hauptrolle – „normale“ Männer und Frauen. Es geht immer um Konflikte, verletzte Ehre, Rache und Blutfehde. Dabei entscheiden die damals geltenden Gesetze und eben ein strenger Ehrenkodex, aber auch das Schicksal als unausweichliche Kraft. Sie spielen in Island und Norwegen und an konkreten Orten, weshalb sie lange Zeit als Texte aufgefasst wurden, die die Wahrheit berichten. Heute weiß man, dass es sich um literarische Texte handelt, denen eventuell reale Begebenheiten und Personen zugrunde liegen. Wo die Grenze zwischen Ereignisgeschichte und Mythos verläuft, können wir heute nicht mehr nachvollziehen.
Die (Isländer)Sagas sind schon die mittelalterlichen Texte, die für die modernen Isländer die größte Rolle spielen. Es geht eben um Menschen, die man auch heute noch irgendwie verstehen kann, und um Orte, die man kennt. Es gibt eigentlich für alle Gegenden Islands Sagas, weshalb sie eine wichtige Rolle für die lokale Identität spielen. Im Osten ist man stolz auf Hrafnkell, der die Hauptrolle in der Hrafnkels saga spielt, während man auf der Halbinsel Snæfelsnes besonders die Saga von Erik dem Roten erzählt.
Für die Isländer ist die Sagaliteratur so wichtig, weil sie im Kontext der gesamteuropäischen mittelalterlichen Literatur einzigartig und besonders ist. Sie ist also ein geeignetes Mittel, um sich von „Anderen“ abzuheben. Deshalb haben sie den Status von Nationalepen. Und dann sind sie ja auch noch ziemlich spannend und vermitteln aufgrund ihrer eher nüchternen Sprache einen Eindruck von Authentizität.
Es stimmt schon, dass sich Isländisch über die etwa 800 Jahre, die es die Sprache jetzt ungefähr gibt, relativ wenig verändert hat. Dennoch müssen die alten Texte schon ediert und zum Beispiel in der Orthografie aufbereitet werden, damit der heutige isländische Leser sie versteht. Und natürlich gibt es Worte und Formulierungen, die heute unverständlich sind. Die Veränderungen sind aber keinesfalls mit denen zu vergleichen, die zum Beispiel das Deutsche durchlaufen hat.

Lesen auch Sie selbst auch die Sagas?
Ich bin neugierig auf die Neuübersetzungen, unter denen sich auch Texte finden, die ich noch nicht kenne. Ich denke aber ehrlich, dass sich die Texte nur für sehr interessierte Leser eignen. Meine deutschen Freunde, die keine Verbindung zu Island haben, finden die Texte krude, unverständlich und deshalb letztlich langweilig, was ich nachvollziehen kann. Mich interessiert eben Island und deshalb auch die Sagaliteratur und vor allem der Umgang der Isländer mit ihnen. Für sie sind die Sagas zweifelsohne ein sehr konkreter Schatz, dessen Bedeutung sich eben aus der Einzigartigkeit und der Islandspezifik speist. Der Bezug zur Gegenwart besteht durchaus, eben weil die Schauplätze so konkret sind.

Es gibt in Island die so genannten „heidnischen Kulte“. Ist das echt? Ist das etwas sehr „Rechtslastiges“?

Erstmal: Über Kulte wissen wir fast nichts. Die mittelalterlichen Quellen überliefern Mythen und eine Kosmogenie, allerdings kaum liturgische Handlungen. Insofern ist eine Rekonstruktion der heidnischen Religion und ihrer Ausübung nicht möglich.
Darum geht es der „Gemeinde der Asengläubigen“ (ásatrúarfélag) aber auch gar nicht. Diese Gemeinde ist zwar in Island die größte nicht-christliche Glaubensgemeinschaft, allerdings stehen hier die Pflege von Traditionen sowie der Eintritt für heidnische Wertevorstellungen wie Toleranz, Ehrlichkeit, Anständigkeit, Eigenverantwortung und Respekt vor Erde und Natur im Mittelpunkt. Man kann dieser Gemeinde beitreten, ohne ein Glaubensbekenntnis oder dergleichen abzulegen. Es ist jedem selbst überlassen, ob und an wen oder was er glaubt. Bezugsgrößen können vielleicht Thor und Odin sein, genauso aber auch das Schicksal, maßvolle Lebensweise, Schutzgeister oder Elfen. Dabei konzentriert sich der Glaube nicht unbedingt auf Götter oder Elfen an sich, sondern auf das, was sie verkörpern und auf die Werte, für die sie stehen.
Aufgrund ihres Status’ als staatlich anerkannte Glaubensgemeinschaft kann man in Island nach heidnischem Brauch heiraten und beerdigt werden. Diese und andere Zeremonien, zum Beispiel Namensfeste für Neugeborene, nehmen so genannte Goden vor. Das Wort goði ist überliefert und bezeichnete interessanterweise auch im Mittelalter ein Amt, das sowohl religiöse als auch weltliche Dimensionen hatte. Die Goden des ásatrúarfélag schwören bei ihrer Amtseinführung einen Eid, der ebenfalls mittelalterlichen Texten entstammt.
Auf den Treffen der Gemeinde steht das Studium der mythologischen Quellen im Mittelpunkt. Auch die konkreten Aktivitäten der Gemeinde sind Traditionspflege. Sie konzentrieren sich neben einem wöchentlichen Gesprächskreis vor allem auf die Opferfeste zur Tag-und-Nacht-Gleiche im Herbst, zur Winter- und Sommersonnenwende sowie zum ersten Sommertag. Auf diesen Zusammenkünften werden die entsprechenden Quellen zitiert, bevor überlieferte rituelle Handlungen, wie zum Beispiel das Segnen der Erde mit Met, vorgenommen werden. Danach wird gemeinsam gegessen und getrunken. Außerdem gehen Mitglieder der Gemeinde auch in Schulen, wo sie über heidnische Sitten und Religion berichten.
Ich habe niemals an solchen Treffen teilgenommen.

Und der Glaube an die Feen: Ist das Folklore?

Ich kenne niemanden, der an Elfen, Feen, Trolle oder Zwerge glaubt. Dass in Island Straßen mit Rücksicht auf mögliche Wohnstätten von Elfen gebaut wurden, hat wieder etwas mit Texten zu tun. Es gibt nämlich auch Märchen und Sagen, die in etwa in der Zeit aufgezeichnet wurden, in der die Gebrüder Grimm die Hausmärchen sammelten. In den isländischen Märchen geht es viel um Elfen, Trollweiber und andere Fabelwesen, die wiederum auch oft regional verankert sind. Kommt jetzt ein bestimmtes Gebiet in einem solchen Märchen vor, wird eben beim Bau der Straße auf diesen Ort Rücksicht genommen. Ehrlich gesagt, wurden viele Isländer, die ich nach ihrem Verhältnis zu Elfen befragt habe, richtig sauer, weil sie meinten, dieser Elfenglaube sei ein nerviges Vorurteil, das viele Deutsche von den Isländern haben. Insofern muss diese „Religion“ eher als Folklore und Rücksicht auf lokale Mythen verstanden werden. In Deutschland baut man ja auch keine Schnellstraße über den Hexentanzplatz.

Welchen Stand haben die Kirchen? Ist die lutherische Kirche progressiv?

In Island gibt es eine Volkskirche, deren Stand in der Verfassung festgeschrieben ist. Derzeit sind 247 000 Isländer in der Volkskirche, also etwa drei Viertel der Bevölkerung. Das Verhältnis zur Kirche ist insgesamt jedoch weniger ein meditatives, als vielmehr ein traditionelles, kulturelles. Wenn ich Isländer nach ihrer Einstellung zur Kirche befrage und warum sie ihre Kinder taufen und konfirmieren lassen, verweisen viele darauf, dass das eben so Usus sei. Gleichzeitig bekennen sie sich freimütig dazu, nicht an Gott zu glauben. Irgendwie hat also die Institution die Inhalte abgelöst und geleitet die Isländer nun durch ihr Leben. Ich kenne nur einen Jungen, der eine bürgerliche Konfirmation bei einem Humanistenverband gewählt hat, alle anderen mir bekannten Jugendlichen sind konfirmiert. Auf der anderen Seite geht man nicht mal an Heiligabend in die Kirche, zu der man sich offiziell bekennt. Wie ambivalent die Bedeutung der Kirche ist, zeigt sich auch daran, dass es meines Wissens nur einen einzigen Friedhof in Reykjavík gibt, wo man in nicht-geweihter Erde beerdigt werden kann. Die letzte Ruhe ist also unglaublich eng mit der Kirche verbunden.
Ob und wie progressiv die lutherische Kirche ist, kann ich nicht beurteilen. In jedem Falle können auch homosexuelle Paare in der Kirche heiraten, sofern sie einen Pfarrer finden, der sie traut. Es steht den Geistlichen nämlich frei, ob sie eine Trauung vornehmen würden, oder nicht. Die Mehrheit der Pfarrer hat jedoch bekundet, dass sie gegen eine solche nichts einzuwenden hätte.
Quelle: http://einhjuskaparlog.tumblr.com/page/2

Vielleicht ein Wort: Die ersten „Missionare“ kamen ja recht spät nach Island. Und die Reformation war politisch erzwungen.
Sowohl die Christianisierung als auch die Reformation geschahen unter besonderen Umständen.
Zum Einen ist das Datum der Christianisierung markant, denn die Isländer nahmen im Jahr 1000 durch einen Beschluss des Althings offiziell den christlichen Glauben an. Vorher waren bereits einige Missionare, darunter auch ein „Deutscher“, im Land gewesen und der norwegische König war sehr erpicht darauf, dass Island bekehrt würde. Unter diesem Druck und weil auch schon einige wichtige Thingmänner freiwillig Christen geworden waren, entschied der Vorsteher der Versammlung, dass sich alle taufen lassen sollten. Allerdings legte er auch fest, dass man mit alten Sitten und Bräuchen tolerant verfahren sollte. Die Geistlichen waren fast alle Isländer und in den ersten Jahrhunderten waren die mächtigsten Familien sozusagen im Besitz von Kirchen, die sie bauen ließen. Insofern gab es durch die Christianisierung keinen Bruch in den herkömmlichen Strukturen, sondern einen sanften Übergang. Das wird mit dazu beigetragen haben, dass auch nicht-christliche Inhalte aufgeschrieben wurden, als schließlich mit der Kirche Pergament und Letter nach Island kamen. Es waren de facto Christen, die die Texte aufgeschrieben haben, die heute viele als „heidnisch“ empfinden.
Die Reformation geschah vor allem gegen den Widerstand des einen der zwei Bischöfe. Jón Arason, der letzte katholische Bischof, widersetzte sich den Boten des „neuen“ Glaubens stur – und damit dem dänischen König. Das führte dazu, dass er schließlich zusammen mit seinen Söhnen (!) geköpft wurde. Nach einem running gag der Isländer stammen sie alle von Jón Arason ab. Da Jón der Vater von mindestens sechs Kindern war, die wiederum ebenfalls viele Kinder bekamen, ist es ein leichtes Spiel, mit den Methoden der Kombinatorik die Wahrscheinlichkeit auszurechnen, dass jeder Isländer ein mehr oder weniger direkter Nachkomme Jóns sei, ja sein muss.
Was die Reformation „angerichtet“ hat, vermag ich nicht zu sagen. Deshalb kann ich mich auch zu Sjóns Urteil über die Heiligenlegenden nicht positionieren. Allerdings haben die Isländer immerhin einen eigenen Schutzheiligen, nämlich den heiligen Þorlákur. Nach ihm ist der Abend vor Heiligabend benannt.

Mit welchen SchriftstellerInnen fühlen Sie sich besonders verbunden?
Ich finde sehr viele isländische Schriftsteller wirklich interessant und toll. Natürlich habe ich Halldór Laxness gelesen und die Bücher von Einar Kárason und Einar Már Guðmundsson, die auch auf Deutsch erschienen sind und sich mit dem Island der 1940er Jahre bis heute beschäftigen. In dieser Zeit hat Island seine rasante Entwicklung zu einer der reichsten Nationen der Erde durchlebt, was beide Herren gut zu erzählen wissen.
Ich liebe die Bücher von Vigdís Grímsdóttir, von denen es nur wenige auf Deutsch gibt, und in denen sehr starke Männer und Frauen vorkommen. Ihr Erzählstil erinnert in vielerlei Hinsicht an lateinamerikanische Erzähler und ihre Figuren berühren einen sehr, und manchmal verstören sie den Leser auch.
Zu einiger Berühmtheit in Deutschland hat es Hallgrímur Helgason gebracht, von dem zahlreiche bitterböse Romane auch bei uns erschienen sind. Sein Humor und Zynismus macht auch vor Vielem, das den Isländern heilig ist, nicht Halt.
Etwas subtiler geht Sjón vor, der vor einiger Zeit die Samuel-Fischer-Gastprofessur am Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft der FU Berlin innehatte und eine wunderbar zarte, zu Recht preisgekrönte Prosa schreibt.

Wie erleben ihre isländischen Freunde Deutschland, vor allem Berlin?
Es gibt in mehreren deutschen Städten sehr aktive Isländervereine und in Berlin zum Beispiel einen regelmäßigen Stammtisch, zu dem auch deutsche Islandfreunde gehen können. Ich bin da eher selten, habe aber ein paar gute isländische Freunde in Berlin. Sie mögen die Stadt aufgrund ihrer geringen Lebenshaltungskosten und vielen Möglichkeiten, haben aber auch fast alle irgendwie Heimweh nach Island. Eigentlich alle sagen, dass sie früher oder später dorthin zurückkehren möchten. So gesehen lässt Island einen nicht mehr los.

Copyright: Marie Krüger, Berlin.

Welttag der Philosophie

18. November, 19 Uhr, ein besonderer Salonabend anläßlich des Welttages der Philosophie. Cafe “Antikflair” in Schöneberg. Thema: “Geben wir der Vernunft noch eine Chance ?”

An diesem Abend wird die Philosophin Prof. Petra von Morstein bei uns sein, das freut uns besonders. Sie wird ein einleitendes Statement halten: “Und wozu Denken in dürftiger Zeit: Wie kann Vernunft in der gegenwärtigen Welt wirksam werden?”.

Wir bitten um Anmeldung: christian.modehn@berlin.de   Diesmal bitten wir um einen Beitrag von 5 Euro.

Eine Liste der Veranstaltungen zum Welttag der Philosophie in Deutschland siehe:

http://www.unesco.de/tag_der_philosophie_2011.html

 

 

 

 

 

Die Rede des Papstes im Bundestag: Benedikt XVI. folgt einem Traditionalisten

Die Rede des Papstes im Bundestag:
Benedikt XVI. lässt sich von einem Traditionalisten inspirieren.

In seiner Rede im Deutschen Bundestag (22.9.2011) bezieht sich Papst Benedikt XVI. dreimal (von insgesamt 5 Literaturhinweisen !) auf das Buch des Rechtshistorikers Wolfgang Waldstein “Ins Herz geschrieben. Das Naturrecht als Fundament einer menschlichen Gesellschaft“, St. Ulrich Verlag, Augsburg 2010. Wir haben im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon unmittelbar nach der Papstrede am Tag selbst einen kritischen Kommentar publiziert unter dem Thema: „Gegen die Räuberbanden“ sowie gleich danach einen weiteren Hinweis „Papst im Bundestag“. Mit dem Untertitel: „Er beruft sich auf einen Historiker, dessen Bücher auch im Verlag der Piusbrüder verkauft werden“.
Diese beiden Kommentare der
website „religionsphilosophischer-salon. de
haben viel Aufmerksamkeit gefunden, offenbar, weil sie davor warnen, zu schnell die Rede des Papstes unbesehen „toll“ oder gar „orientierend“ zu finden, bloß wegen des Lobes der ökologischen Bewegung und der Grünen. Wir hatten damals schon den Verdacht geäußert, dass allein diese leicht nachvollziehbare Passage der Papstrede hoch gelobt wurde, weil die anderen und weitaus gewichtigeren Passagen zu schwer verständlich seien, „zu philosophisch“, wie es oft in Kommentaren hieß.
Darüber hinaus haben wir in diesen beiden Beiträgen schon gezeigt, in welchen theologischen Kreisen sich der vom Papst mehrfach zitierte Wolfgang Waldstein bewegt, dazu gehören Opus Dei Beziehungen gleichermaßen wie die traditionalistischen Verteidiger der alten lateinischen Messe aus dem 16. Jahrhundert, eine merkwürdige Mischung.
Wer das Buch von Waldstein liest, ist überrascht, dass der Autor in dieser rechtshistorischen Studie ganz offen seine theologischen Interessen und Vorlieben darstellt: Er bezieht sich lobend auf das ultra konservative „Forum deutscher Katholiken“, sozusagen die Gegeninstanz zu den Katholikentagen (S. 71), er findet Unterstützung bei der sehr konservativen Psychologin Christa Meves, (S. 119), weil sie, so wörtlich, gegen die „materialistische Sexualkunde“ kämpft. Er zitiert die sich katholisch nennende sehr konservative Zeitung „Deutsche Tagespost“, selbstverständlich auch den „Osservatore Romano“.
Theologen, die der Meinung Waldsteins nicht entsprechen, nennt er Irrlehrer (S. 27), wie den verdienten deutschen Moraltheologen Prof. Josef Fuchs aus dem Jesuitenorden (S. 27). Wie Waldstein als Rechtshistoriker (!) dazu kommt, Pater Fuchs „Irrlehrer“ zu nennen, bleibt sein Geheimnis, offenbar sind in solchen Äußerungen auch die Motive zu sehen, dass die traditionalistischen Piusbrüder dieses Buch in ihrem Verlagshaus verkaufen. Die Piusbrüder, daran gibt es keinen Zweifel, verkaufen ausschließlich Bücher, die der eigenen Ideologie entsprechen. Es ist also „logisch“, auch gegenüber diesem Begriff hat der Autor (S. 17) seine Bedenken, wenn man Waldsteins Denken traditionalistisch nennt…
Wenn er den modernen Moraltheologen Josef Fuchs zitiert, setzt Waldstein das Wort „leider“ voran, sozusagen als Entschuldigung dafür, dass er einen Bösewicht zu Wort kommen lässt, eine Haltung zeigt sich da, die in einem sich wissenschaftlich nennenden Buch nichts zu suchen hat.
Merkwürdig, wenn nicht skurril, mag es Theologen erscheinen, wenn Waldstein ausdrücklich betont, die Ablehnung von praktizierter Homosexualität durch die Glaubenskongregation sei im Sinne des antiken – römischen Philosophen Cicero geschehen (S. 112). Dabei wird der entscheidende Punkt berührt: Für Waldstein ist das nicht hinterfragbare Non Plus Ultra die römische (=antike, manche sagen: „heidnische“) Rechtsauffassung von der Natur „des“ Menschen. Waldstein versteigt sich zu der Auffassung, „dass es wahr ist, was Cicero über Gott sagt“. Seit wann ist für die Kirche, das Naturrecht verteidigend, Cicero und nicht die Bibel orientierender Maßstab? Jedenfalls ist der vom Papst hochgeschätzte und zitierte Waldstein der Meinung: Nur diese antike römische Auffassung vom Naturrecht hat in der Kirche ihre Gültigkeit. Wer diese Überzeugung Waldsteins kritisiert, folgt bereits einer „totalitären Ideologie“ (S. 112). Waldstein geniert sich nicht, die Verteidiger der Gleichberechtigung homosexuellen Lebens des „Kommunismus“ zu verdächtigen. Diese polemischen Argumente erinnern an Zeiten des „Kalten Krieges“…
Für Waldstein kann es kein geschichtlich sich wandelndes Naturrecht geben, für ihn gibt es nur das fix und fertige, sozusagen versteinerte Naturrecht der Antike. So ist in diesem versteinerten Denken kein Platz für die Möglichkeit, dass Frauen tatsächlich das Recht haben abzutreiben. So kann es für ihn „die“ Ehe auch nur zwischen Mann und Frau geben, weil sie „eine in ihrem Wesen naturrechtlich (!) vorgegebene Verbindung von Mann und Frau ist“. Für Waldstein ist das Naturrecht eine ewige, in den Formulierungen auch unwandelbare „Wirklichkeit“ (S. 7). Immer wieder insistiert er auf dem Naturrecht als einer äußeren, unwandelbaren „Wirklichkeit“, die man sozusagen in der Natur bloß ablesen muss. In diesem abstrakten, antiken Naturrecht sieht Waldstein das, „was allen Menschen wesensgemäß ist“ (S. 13). Von Kulturanthropologie, von Geschichtlichkeit jeder Wahrheit, von Hermeutik usw. hat Waldstein schlicht nichts gehört. Wenn Normen aus der vernünftigen Reflexion aktuell entwickelt werden, dann meint er: „Damit wird stillschweigend vorausgesetzt, dass Normen als solche nicht existieren“ (S. 15), eben weil sie nicht „der (äußeren) Natur abgelesen werden. Das Hauptproblem ist: Waldstein verteidigt die philosophische Unmöglichkeit, aus einem Ist – zustand zu einem Sollen zu kommen, aus einem Tatsachenbefund also zu der ethischen Einsicht: So soll es sein. Dabei übersieht er z.B.: In der Gesellschaft Ciceros gab es de facto Sklaverei: Wer da einfach von diesem „ist“ zum Sollen fortschreitet, kommt schnell zur Verteidigung der Sklaverei als einem Sollen, also als einer ethischen, „guten“ Möglichkeit. Der Papst setzt sich in seiner Rede im Bundestag für den Übergang vom Sein zum Sollen ein, und er folgt dabei einem inzwischen unhaltbaren philosophischen Standpunkt. Dabei ist es die historische Vernunft, die prüft, ob ein Faktum (etwa die überlieferte Ehe von Mann und Frau) tatsächlich die einzige ethische Form des Miteinanders der Menschen ist. Nur wer von der biologischen Differenz von Mann und Frau ausgeht und deswegen zur “natürlichen” und ausschließlichen Verwiesenheit von Mann und Frau gelangt, kann die Ehe von Mann und Frau als einzige Form der Partnerschaft verteidigen. Uns haben Briefe erreicht, die zu recht fragen:Benedikt XVI. selbst schließt sich in seinem Vortrag im Bundestag offenbar in seiner Bevorzugung der Überlegungen Waldsteins selbst in einem geradezu engen Denken ein…
Dass der Papst als Interpret dieses alten römischen Naturrechts à la Cicero auch das Recht hat, in die aktuellen Debatten der Demokratien einzugreifen, steht für Waldstein außer Frage: „Gelegentlich setzt der Papst das Naturrecht mit dem Gesetz Gottes gleich“ (S. 78). Und weiter: „Der Papst ist verpflichtet zu sagen, dass ein Gesetz, das dem Naturrecht widerspricht, kein gültiges Gesetz ist“ (s. 79). Mit anderen Worten: Der Papst kann in Demokratien Katholiken zum Widerstand gegen solche (demokratisch verhandelten) Gesetze auffordern. Davon sprach auch Benedikt in Berlin mit Verweis auf Origenes. Man erinnere sich außerdem: In den USA sollte katholischen Politikern die Kommunion verweigert werden, wenn sie für die Gesetze der Abtreibung stimmen.
Das Buch „Ins Herz geschrieben“ würde keine weiteren Analysen und Debatten verdienen, wenn es nicht Papst Benedikt XVI. so sehr schätzen würde. Warum sonst verweist er von 5 Fußnoten insgesamt gleich dreimal auf das Opus von Herrn Waldstein? Ist die Vermutung so falsch, dass dieses Buch dem Papst gut gefällt? Ist die Vermutung falsch, dass der Papst weiß, dass Herr Waldstein zu den traditionalistischen Katholiken gehört, dass sein Buch bei den Piusbrüdern offenbar gut angesehen ist? Waldstein und Benedikt XVI. kennen sich persönlich gut, das belegen Berichte und Fotos von Treffen und Begegnungen im Vatikan; schon als Chef der Glaubenskongregation kannten die beiden Herren sich recht gut, darauf weist Waldstein hin. Die entscheidende Frage, auch im Blick auf die bevorstehende Versöhnung des Papstes mit den Piusbrüdern ist: Ist das Denken Benedikt XVI. selbst schon traditionalistisch geprägt? Waldstein steht für ein Denken, das ausdrücklich die Autonomie, also die Selbstbestimmung des Menschen, ablehnt. Er steht für eine rigorose Ablehnung der Moderne.
copyright: religionsphilosophischer salon berlin.