Liberale Theologie als Befreiungstheologie? Aus dem Grundvertrauen handeln

Liberale Theologie als Befreiungstheologie: Aus dem Grundvertrauen handeln

Fragen an Prof. Wilhem Gräb, Theologe an der Humboldt Universität zu Berlin

Die Fragen stellte Christian Modehn.    Publiziert am 29. Oktober 2012

In Ihrem Interview im September 2012 haben Sie sehr deutlich herausgestellt, dass das Grundvertrauen die Basis ist für sinnvolles und dann auch gelingendes, sagen wir „glückliches“ Leben. Welche Rolle spielt das Grundvertrauen, wenn es darum geht, wirksam und mit sehr großer Frustrationstoleranz für eine gerechtere Welt bei uns und in der „Ferne“, etwa für die Menschen südlich der Sahelzone, einzutreten?

Ich spreche davon, dass der christlich Glaube dort, wo er in einem Menschen wirksam ist, zu einem Lebensvollzug wird. Was den Lebensvollzug des Glaubens ausmacht, beschreibe ich mit der aus der Psychologie (Erik H. Erikson) stammenden Rede vom „Grundvertrauen“. Damit will ich zum Ausdruck bringen, dass der christliche Glaube eine verwegene Lebenszuversicht schafft. Er gibt den „Mut zum Sein“ (Paul Tillich). Er treibt also auch dazu an, sich für das als richtig Erkannte und Notwendige zu engagieren, auch dann, wenn alles unendlich mühsam erscheint. Ich würde fast sagen, jeder der, so wie die Dinge liegen, für eine gerechtere Welt eintritt, braucht die verwegene Zuversicht des Glaubens. Weiterlesen ⇘

150. Geburtstag von Gerhart Hauptmann: Ein spiritueller Dichter

Der selbstlose Jesus und der griechische Eros

Hinweise zur Spiritualität Gerhart Hauptmanns

Von Christian Modehn

Am 15. November 2012 wird der 150. Geburtstag des Dichters Gerhart Hauptmann gefeiert (15.11. 1862 – 6.6.1946). Zweifellos, er ist heute nicht vergessen, seine Stücke werden noch gespielt, seine Texte in den Schulen gelesen. „Naturalismus“ als künstlerisches Zeugnis sozialer Verhältnisse ist aktuell.

Wir wollen im „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin“ nicht versäumen, auf einige Aspekte der christlich geprägten Spiritualität Gerhart Hauptmanns aufmerksam zu machen, so sehr er auch lebendiges Interesse hatte an einer „dionysischen“, Eros betonten Form griechisch geprägter Religiosität. Dabei meint Spiritualität eine geistige Haltung, die prägend ist für das ganze Schaffen.

Gerhard Hauptmann verbrachte die entscheidenden Jahre, wie er selbst sagt, in unmittelbarer Nachbarschaft Berlins, in Erkner (1885 – 1888). Er hatte Kontakt mit den Literaten in dem nur wenige Kilometer entfernten Friedrichshagen am Müggelsee… Hauptmann ist sozusagen auch als ein Berliner Dichter zu verstehen. Und gerade in Erkner war er sehr befasst mit seinen „Jesus – Studien“. Sie haben sein Werk direkt oder stimmungsmäßig bestimmt, etwa auch den großen Roman „Der Narr in Christo Emanuel Quint“ (von 1910).

Diese damals viel beachtete Arbeit zeigt, wie dicht sich Hauptmann in seinen Protagonisten einfühlt, auch sprachlich voller Nuancen. Es handelt sich – so möchte man aus religionsphilosophischer Sicht sagen – um einen Roman, der, im Milieu der untersten Schichten angesiedelt, zeigt, wie religiöse Leidenschaften und Phantasien, ja religiöse Wahnvorstellungen im Elend oder wegen des Elends entstehen, wie dann „kleine Glaubensgemeinschaften“ sich um einen hoch verehrten, dann aber wieder verachteten „Propheten“ aus dem Volk bilden. „Der Narr in Christo“ ist also ein heute kaum beachtetes Stück literarischer Theologie und Religionskritik. Bisher, so scheint es, wurde dieser Text kaum einbezogen in eine Darstellung von „Volksreligion“…

Nur ein Hinweis: Es ist die Geschichte des „schlesischen Heilands aus Giersdorf“: Er ist, naiv und fromm, Sohn eines Tischlers; er fühlt sich von Gott mit besonderer Gnade ausgestattet und gerufen und gesandt. Eine Gemeinde der ganz Armen, etwa der Landstreicher, schart sich um ihn, bildet die „Gemeinde der Talbrüder“. Man verehrt „den Narren in Christo“, hält ihn für einen neuen Erlöser. In der Erniedrigung des Elends entsteht, so will Hauptmann sagen, religiöse Fantasie, wenn nicht religiöser Wahn… Ein Phänomen, das heute bekannt und sehr weit verbreitet ist: Man denke an volkstümlich – religiöse enthusiastische (charismatische) Bewegungen unter den Elenden in Afrika oder Lateinamerika… Aber die „Talbrüder“ lassen dann doch in ihrer Unbeständigkeit und ihrem Eigensinn ihren „Meister“ fallen…Hauptmann bietet in dem Roman auch kritische Hinweise zur etablierten Kirche in einem Staat, der ganz auf das Bündnis von Thron und Altar setzt. Der hoch verehrte und dann doch geschmähte Prophet bricht, so der Roman „in den Süden“ auf; nach Rom, möchte man fragen? Er scheitert: Er stirbt bei Schneesturm in den Alpen.

„Narr in Christo“ wurde auch Franz von Assisi genannt, eine Gestalt, die Gerhart Hauptmann sehr verehrte. Es ist doch  auffällig, dass er Requisiten und Gegenstände um sich sammelte und pflegte, die seine Nähe zum Christentum ausdrücken sollten, eben die (Franziskaner -)Kutte, die er – meditierend – häufig trug. In diesem Mönchsgewand wurde er schließlich auch bestattet, am 28. Juli 1946 auf der Ostsee Insel Hiddensee. Auch ein „Neues Testament“ wurde ihm – wunschgemäß – ins Grab gelegt, es war ein von ihm viel gelesenes, ja „zerlesenes“ Exemplar…

In seinen Jahren in Erkner wurde, wie gesagt,  die Gestalt Jesu für Hauptmann immer wichtiger. Das Interesse an den „rein menschlichen Zügen“ Jesu steht dabei im Mittelpunkt, die Selbstlosigkeit Jesu sowie seine Erkenntnis: „Gott ist Geist“.

1918 erschien Hauptmanns Erzählung „Der Ketzer von Soana”, sie ist trotz ihrer manchmal pathetischen Sprache durchaus aktuell. Beachtlich ist, mit welcher Freiheit schon damals Hauptmann das zentrale Problem der katholischen Kirche bzw. des katholischen Klerus thematisierte, vor allem die gesetzliche Verpflichtung, zölibatär zu leben. Erzählt wird die Geschichte des Priesters Francesco Vela, der bei einem Besuch einer Hirtenfamilie in der Welt der Berge erlebt, wie tief ihn die Natur innerlich, spirituell, berührt, viel stärker als die eher trockenen Texte der Buchreligion. In der als grandios erlebten Bergwelt spürt der Priester eine tiefe Lust am Dasein. Er verliebt sich in Agata, die Tochter des Hirtenpaares; der Priester wird förmlich überwältigt von Lebenslust, das „Dionysische“, wird immer drängender, die sexuelle Liebe bietet ihm höchste Erfüllung…

Die meisten Arbeiten Hauptmanns sind vom Geist der Solidarität, der Sympathie für die Armen und Ausgebeuteten bestimmt, obwohl Hauptmann selbst alles andere als ein „armer Dichter an der Seite der Armen“ lebte…

Es wäre zu zeigen, wie Hauptmanns „Soziale Dramen“ durchdrungen sind vom Geist Jesu und gleichzeitig von der Kritik an der etablierten Kirche. Das ließe sich schon an dem Stück „Die Weber“, Uraufführung 26. 2. 1893 im Neues Theater, erörtern. Es ist bezogen auf historische Ereignisse, den Aufstand in Kaschbach und anderen schlesischen Orten im Jahr 1844. Mit militärischer Gewalt wurde der Aufstand niedergeschlagen. Als eine Motivation, das Stück zu schreiben, nennt Hauptmann selbst „das Mitleid“ mit den Erniedrigten. Die Wilhelminischen Zensurbehörden wollten die Aufführung des Stückes unbedingt verhindern, erst nach einem Gerichtsurteil kam es in die Öffentlichkeit des Theaters. Auch in „Die Weber“ zeigt sich Hauptmann wieder als Religionskritiker: Der Pastor Kittelhaus tritt in dem Stück als Verfechter der bestehenden Bindung von Kirche und Staat auf. Auch der „alte Hilse“ ist aus religiösen Gründen gegen den Aufstand, er findet als Unbeteiligter den Tod am Ende des Stücks.

Gerhart Hauptmann hat zu seiner Zeit auch international viel Ehre und viel Ruhm erlebt, als Fünfzigjähriger erhielt er den Nobelpreis, er wurde in Skandinavien, in den USA und Frankreich hoch geschätzt.

Interessant wäre es, die mystischen Texte Hauptmanns, die schon 1922 in Portofino begonnen wurden, und im Alter von 75 Jahren abgeschlossen wurden, auch religionsphilosophisch näher zu untersuchen: Wieder geht es um die göttlichen „Kräfte und Mächte“, wobei dem Eros immer die besondere Liebe Hauptmanns gilt. Wie sich diese eher griechische Spiritualität mit der biblisch – jesuanischen vermitteln lässt, ist eine weitere Frage. Universal für alle Menschen gültig ist für Hauptmann jedenfalls der Geist. Darin zeigt sich bereits, wie „multi – spirituell“ ein Dichter zu Beginn des 20. Jahrhunderts leben wollte. Eine einzige Konfession war Hauptmann zu eng. Er lässt seinen „Narren in Christo“ Worte sagen, die auch sein eigenes Bekenntnis sein könnten: „Der Mensch wird nicht eigentlich geboren außer im Geist. Er wächst nur im Geist, und was er von Wahrheit weiß oder nicht weiß, ist ganz und gar beschlossen im Geist“. Aber: Auch den bösen Geist gibt es für Hauptmann, „und der spukt in allen Religionen“.

1912 verfasste Hauptmann einen Text (“Marginalie”) über Duldsamkeit. “Die Religion der Zukunft ist Duldsamkeit” (Toleranz). Dabei deutet Hauptmann die Kunst als den “vollkommenen Toleranzfaktor”, wobei die Dilettanten unter den Künstlern nicht Kunstwerke, sondern “Götzen” schaffen. In den Kirchen hingegen gab es “die schlimmsten Verfolgungen”, “Christen waren es, die die Christen in unzähliger Menge hinmordeten”. “Wahre Religion hat nichts mit Unterjochung zu tun”. Der TEXT: LINK

Copyright: christian modehn, berlin.

 

 

Selbstbestimmung – ein Projekt, das niemals an ein Ende kommt

Selbstbestimmung – ein Projekt, das niemals an ein Ende kommt

Von Christian Modehn

„Was wäre ein selbstbestimmtes Leben?“

Die folgenden Hinweise gelten für das Gespräch im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon am 19. 10. 2012, anlässlich der Diskussion des 1. Kapitels des Buches von Peter Bieri: „Wie wollen wir leben?“ (St. Pölten, 2011)

Philosophie reflektiert vor allem –in unterschiedlicher Sprache – das menschliche Leben. Sie zeigt die Grundstrukturen, sozusagen, um ein Bild zu verwenden: Wie das Gebäude des Lebens, auch meines Lebens, im einzelnen „gebaut“ ist, wie der Grundriss ist, die Anlage der einzelnen Räume aussieht, der Zustand der Zimmer. Philosophie macht mich sensibel für meine Sprache und meine Begriffe: Was meine ich wirklich, wenn ich Leben sage oder Wahrheit oder Selbstbestimmung.  Philosophie unterbricht mit dieser Besinnung das Gebundensein an den üblichen Lauf der Dinge. Sie erzeugt Gegenwart, lange Dauer der Gegenwärtigkeit des Denkens.

Der erste Vortrag Peter Bieris ist im Konjunktiv formuliert:
Was wäre ein selbstbestimmtes Leben? Der Konjunktiv deutet zumindest die Schwierigkeit der Selbstbestimmung an. Die Schwierigkeit liegt sicher auch in der faktischen Situation heutigen Lebens: Dieses Ausgesetztsein der Werbung und ihren „Erlösung“ versprechenden Sprüchen, die Hilflosigkeit, den alles Denken tötenden Stress zu überwinden, die dogmatischen ideologischen Zwänge, die ungefragt respektiert werden, wie: Erfolg als oberster Wert, „Quantität ist wichtiger als Qualität“, „Arbeit ist wichtiger als Muße“, „ich“ bin wichtiger als die anderen usw. Darin zeigt sich, wie unfrei wir bereits faktisch leben.

Nur einige Hinweise zum Begriff Selbstbestimmung.

Seit dem 16. Jahrhundert taucht der Begriff auf, schreibt Volker Gerhardt in der „Enzyklopädie Philosophie“, Band 2, S. 2409. Dieser Begriff  ist verbunden mit dem Entstehen des Humanismus (Pico della Mirandola, Erasmus von Rotterdam). Noch Luther war noch gegen die Selbstbestimmung in Freiheit (de servo arbitrio). Katholische Dogmatik hat bis heute wenig Vorliebe für Selbstbestimmung. Man beachte, dass noch in dem 8 Bände umfassenden „Herders Theologischen Lexikon“ von 1973, also nach dem 2. Vatikanischen Konzil, kein theologisches Stichwort zur Selbstbestimmung vorkommt; hingegen, wenn man nach einer Wortkombination mit „Selbst“ sucht, lediglich auf einen Beitrag zur „Selbstmitteilung Gottes“ findet. Dafür gibt es in dem genannten angesehenen Lexikon einen ausführlichen Artikel zum Stichwort Gehorsam… wobei allerdings darauf abgehoben wird: Der gehorsame folgsame Mensch sollte erkennen,  „dass eine Anordnung dem Wohl des Menschen nicht widerspricht“. (Band 2, S. 384).

Selbstbestimmung ist jedenfalls als Vollzug des Menschen ein moderner Begriff, obwohl die gemeinte Sache, der Vollzug der Freiheit des handelnden Menschen schon in der Antike,  etwa bei Aristoteles, reflektiert wird.

Volker Gerhardt weist darauf hin, dass sich in philosophischen Wörterbüchern des 18. Jahrhunderts der Begriff noch gar nicht findet (ebd). Aber ab Mitte des 18. Jh. wird der Begriff Selbstbestimmung dann doch „eine dominierende Denkfigur“ (Gerhardt S. 2411) der europäischen Philosophie und des europäischen Denkens insgesamt; Kant stellt die Selbstbestimmung als zentralen Begriff in die praktische Philosophie. Vorher aber hatte der englische Philosoph David Hume grundlegende Zweifel an der Selbstbestimmung geäußert: Wir Menschen, so meinte er, seien als angeblich vernünftige Wesen doch  eher Sklaven der Leidenschaften. Bei Kant kommt es dann zum Eingeständnis: Wir sind zwar heteronom vorgeprägt, können uns aber innerhalb der heteronomen Bindungen doch frei verhalten.

Hegel sah etwa, dass es Momente gibt, wo ich mich gern fremd bestimmen lasse, etwa in der Liebe.

Ich will noch kurz den aktuellen Horizont etwas ausleuchten:

Dass der Begriff und die gemeine Sache heute aktueller denn je sind, zeigen etwa auch die Diskussionen im Rahmen der Bioethik, Stichworte Patientenverfügungen, aktive Sterbehilfe, usw. Und man denke etwa noch an den populären Slogan der Befürworterinnen der Abtreibung: „Mein Bauch gehört mir“, das Motto wurde ausgelöst durch einen Beitrag im STERN im Jahr 1971, wo sich mehr als 300 Frauen dazu bekannten „Ich habe abgetrieben“…

Vor 20 Jahren wurde im Bundestag übrigens das Gesetz novelliert, wonach die Frau und nicht der Arzt entscheidet, ob eine Abtreibung vorgenommen wird…

Nur nebenbei, um noch einmal auf die katholische Szene zurückzukommen: In der Dominikanischen Republik ist aufgrund massiven bischöflichen Einflusses jegliche Abtreibung bis heute verboten. Und in Nikaragua ist aufgrund des politischen Opportunismus der herrschenden Sandinisten heute ebenfalls Abtreibung streng verboten, einfach nur, um der dortigen katholischen Kirchenführung zu gefallen (und sich dadurch katholische Stimmen zu sichern).

Peter Bieri führt uns entschieden zu Frage: Wer will ich sein, wer kann ich sein, wer bin ich…

Wir wollen Regeln selber bestimmen bzw. mit bestimmen. Und dann einsehen: Ja, das sind auch unsere Regeln, auch wenn sie von anderen formuliert wurden.

Wichtiger ist noch: Innere Selbständigkeit.

Wir wollen uns selbst kennen, uns selbst kritisch sehen, unser Selbst dabei sehen.

Wir beginnen unsere Selbstbestimmung nie am Nullpunkt. Wir sind immer schon vorgeprägt… Es gilt, den Sinn für das Mögliche zu entwickeln. Was kann ich noch wollen unter den Bedingungen, unter denen ich (gebunden) lebe. .

Ich mache mich selbst zum Thema: Ich reflektiere. Ich denke mein Denken. Ich denke mein Fühlen. Ich denke mein Tun. Ich beziehe mich auf mich. Das ist der Kern. Denn bei der Reflexion sehe ich,  dass ich auch anders denken und handeln könnte. Ich verstehe, wer ich bin, sehe eine Art Selbstbildnis von mir. Kann ich in meinem Tun meinem Selbstbildnis entsprechen?

Das erfordert: Aktivität, „Arbeit“, innerer UMBAU, gegen die innere Monotonie, gegen das Erstarrte.

Monotonie hat etwas mit der Zeit Erfahrung zu tun: Die sich stets wiederholende Zeit, der starre Rhythmus, der krank macht.

Das Hineingestelltsein in die Zeit: Können wir in der Zeit glücklich sein? Herrscht die Zeit über uns? Offenbar haben seelische Erkrankungen mit dem „einseitigen“, kankmachenden Umgang mit Zeit zu tun, etwa in der starren Bindung an (meine) Vergangenheit. Psychotiker etwa beklagen den Stillstand ihrer Lebenszeit, sie erleben diese Zeiterfahrung als Ohnmacht.

Aber müssen wir das unabwerfbare Hineingestelltsein in die Zeit immer negativ, als entfremdend, deuten? Wäre Zeit nicht auch ein eher neutrales Phänomen, ein „neutrales“ „Apriori“ (Kant)?

Die zentrale Frage bleibt: Wie kann ich die „Regie“ in meinem Leben entdecken oder wieder entdecken?

Copyright: Christian Modehn

 

 

 

 

 

 

 

 

Poesie der Selbsterkenntnis: Ein Versuch über Bittgebete

Verschiedene Freundinnen und Freunde des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons haben anläßlich einer Ra­dio­sen­dung zum Thema Bittgebet  darum gebeten, das ungekürzte Manuskript zugänglich zu machen. Die Ra­dio­sen­dung im RBB war ja “nur” 24 Minuten lang. Das Thema Beten und besonders Bittgebete berührt ja auch manchen philosophisch interessierten Leser. Geht es doch darum, in welcher Weise sich Menschen äußern und äußern können im Angesicht des Unendlichen…Eher traditionell fromme Menschen werden das Bittgebet natürlich viel präziser fassen, auch davon ist in der Ra­dio­sen­dung die Rede.  Wir bieten den Text an – in einer für Hörfunk Produktionen üblichen Gestalt. copyright: christian modehn.

RBB Kulturradio, Gott und die Welt,

Worte in Gottes Ohr

Über das Bittgebet         Sendung am 23.9.2012 Kulturradio RBB

1. SPR.: Berichterstatter

2. SPR.: Zitator

3. SPR.: Übersetzer (overvoice)

22 O TÖNE, zus. 12 00“.

5 Musikal. Zusp.

——————————————-

1. musikal. Zusp., 0 08“ freistehend, dann leise im Hintergrund  (Das Adagio aus Sonate für Klavier und Violine F Dur von Beethoven)

1. O TON,  Göpfert, 0 16“

Ich glaube, es gibt so ein magisches Missverständnis des Beters, als könnte er die Erhörung herbeizwingen, herbei- beten. Durch noch so viele Gebete, die ich aufräufele, kann ich das nicht herbeizwingen! Das wäre, denke ich, ein magisches Missverständnis von Bittgebet.

1. musikal. Zusp., noch mal kurz freistehend

2. O TON, Plattig, 0 16“

Das entscheidende Wunder für mich wäre, dass Menschen durch das Gebet zu einem Umgang mit ihrem Leid finden. Dass einfach ein Prozess in Gang kommt, mit dem Menschen mit ihrem Leid entweder leben können oder sterben können.

1. musikal. Zusp., noch mal kurz freistehend

3. O TON, Alvisi, 0 14“

Das Bittgebet ist für mich wirklich ein Gespräch mit dem Geliebten, mit dem, der mir am nächsten ist und nach dessen Nähe ich mich sehne die ganze Zeit. Gott ist für mich das Allerliebste.

Titelsprecherin:

Worte in Gottes Ohr

Über das Bittgebet

Eine Sendung von Christian Modehn 1. musikal. Zusp., noch mal 0 06“ freistehend. Dann ausgeblendet.

1. SPR.:

Beten und Lieben sind für Marina Alvisi identisch. Mit Gott ist sie so verbunden wie mit ihrem Mann, dem sie auch alles sagen darf:

4. O TON, Alvisi, 0 22“

In der Liebesbeziehung spreche ich einfach mit dem anderen Partner. Also ich sage zu meinem Geliebten auch: Du, bitte komm, hilf mir doch. Ich schaffe es nicht allein, komm her, ich brauch dich jetzt, ja. Obwohl man beieinander ist, obwohl man sich kennt. Und trotzdem, bittet man sich gegenseitig um Unterstützung, um Hilfe. Und Gott ist quasi der Geliebte.

 

1. SPR.:

Und auch ihn spricht sie unmittelbar an:

5. O TON, 0 30“, Alvisi

Zum Beispiel: „O Du“, „O Du“. Also wirklich wie so ein tiefer Seufzer, der  aus der Seele oder aus dem Herzen kommt. Also diesem Seufzer einen Ausdruck geben, einen Namen geben. Die Seele braucht ein Ventil, um jetzt nicht zu platzen sozusagen vor lauter innerer Sehnsucht. Es ist wirklich diese Sehnsucht nach Gottes Nähe. Wenn ich danach schreie, dann spüre ich oft auch diese innere Antwort wirklich als tiefe Empfindung, also als Entlastung, dass man sich gereinigt fühlt, dass man sich mehr angekommen fühlt, dass man sich selber wieder besser spürt. Du spürst es im Herzen. Die Antwort ist da, der Ruf ist erhört. In Form von einer starken Liebe, von einer starken Ruhe. Das ist einfach was Intensives.

1.SPR.:

Marina Alvisi lebt in Berlin als Lehrerin für Spiritualität. Nur weil sie selbst in enger Verbundenheit mit Gott lebt, kann sie andere Menschen das Beten und Bitten lehren. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem katholischen Theologen Anthony Lobo aus Indien, leitet sie auch eine Yoga – Schule und einen Gesprächskreis über Mystik.

6. O TON: 0 20“, Anthony Lobo
Wenn man ein Verlangen hat, dann ist es auch ein Bittgebet.

1. SPR.:

So beschreibt Anthony Lobo die Mitte seiner Spiritualität:

6. O TON Fortsetzung:

Die großen Mystiker sagen, man muss immer die Sehnsucht haben. Also man soll nicht Bittgebet eng darstellen. Also: vielleicht ist Bittgebet Sehnsucht nach diesem unaussprechlichen Leben. Denn Gott ist ein erfahrbarer Gott, nicht ein Gott, der im Himmel wohnt, er ist ein Gott, der direkt mit uns mitspielt.

1.SPR.:

„Gott spielt in unserem Leben mit“: Im hinduistisch geprägten Indien ist dieser Ausdruck sehr beliebt; er beschreibt, wie eng Gott und Mensch aufeinander bezogen sind. Auch im Alten Testament ist an vielen Stellen die Rede von einem Bund, den Gott mit den Menschen geschlossen hat, zunächst mit Noah und Abraham, später mit dem ganzen Volk Israel. Während die Menschen sich verpflichten, den göttlichen Geboten treu zu sein, können sie der Fürsorge Jahwes, ihres Gottes, vertrauen. Er wird seine Geschöpfe in ihrer Not nicht im Stich lassen: Im Psalm 94 betet das Volk Israel:

2. SPR.:

Der Herr, der das Ohr gepflanzt hat, sollte der uns nicht hören? Der das Auge gemacht hat, sollte der uns nicht sehen?

1.SPR.:

Von einer ähnlichen Gewissheit ist der Psalm 34 getragen:

2. SPR.:

Als ich den Herrn suchte, antwortete er mir.

Und er rettete mich aus all meiner Furcht.

Wenn die Gerechten schreien, so hört der Herr.

Und errettet sie aus all ihrer Not.

1. SPR.:

In den vier Evangelien des Neuen Testaments werden die Menschen von Jesus Christus selbst aufgefordert, ihre Anliegen vor Gott zu tragen. Sie sollen nicht nachlassen zu bitten und zu flehen, heißt es bei Matthäus und Lukas:

2. SPR.:

Bittet, so wird euch gegeben, suchet, so werdet ihr finden. Klopfet an, so wird euch aufgetan.

7. O TON, 0 30“, Plisch

Und das scheint tatsächlich auch der ursprüngliche Kern dieser Überlieferung zu sein.

1. SPR.:

berichtet der evangelische Theologe Uwe Karsten Plisch:

7. O TON Fortsetzung:

Ich glaube, den Sinn versteht am besten, wenn man ihn mal umdreht und negiert, ja: Also wer nicht anklopft, dem wird auch nicht aufgetan. Und wer nicht sucht, der wird auch nicht finden. Das bedeutet nicht: Wer sucht, wird immer finden und in jedem Falle. Und wer anklopft, dem wird immer aufgetan. Sondern: Man muss aktiv werden. Also auch hier wird im Grunde der mittuende Mensch eingefordert.

1. SPR.:

Die Jünger haben Jesus sogar bedrängt, sie das rechte Beten und Bitten zu lehren. So entstand einer der schönsten spirituellen Texte der Menschheit,  sagt der evangelische Theologe Wolfgang Bittner: Das  „Vater Unser“.

8. O Ton, 0 41“, Bittner,

Das Interessante ist, dass Jesus dann mit dem „Vater Unser“ ein Bittgebet formuliert hat. Das Charakteristische an diesem Bittgebet ist, dass man zunächst einmal um die Anliegen Gottes bittet: Dein Wille geschehe, dein Name werde geheiligt, Dein Reich komme…Da kommt der Mensch mit seiner Sorge zunächst nicht vor. Da tritt man zunächst einmal in das große Anliegen Gottes rein, in eine Dynamik, die Gott für diese Welt hat. Und dann kommen auch die eigenen Anliegen, das tägliche Brot, die Schuld, die um Vergebung bittet, die Versuchung, die an mich herantritt, und all die Dinge, die haben ihren Raum, um die darf man konkret bitten.

 

1. SPR.:

Nicht nur Christen, religiöse Menschen aller Zeiten haben durch das „Vater Unser“ Beten und Bitten gelernt. Manchmal begnügen sie sich damit, Gott in ihren schnell daher gesagten „Stoßgebeten“ anzusprechen. Andere nehmen sich Zeit für ausführliche  Litaneien oder Fürbittgebete. Selbst Stars der Rockmusik haben sich nicht gescheut, öffentlich Bittgebete vorzutragen.

2. musikal. Zusp., Elvis Presley, “Precious Lord, take my hand… bleibt

0 12“ freistehen, dann herunterziehen:

1.SPR:

Precious Lord, Du kostbarer Herr, nimm meine Hand, führe mich weiter“, so betet Elvis Presley in diesem Gospel Song.

Noch einmal: 2. musikal. Zusp., Precious Lord, take my hand… bleibt 0 08“ freistehen, dann Text rauflegen:

3. SPR.:

Ich bin müde, ich bin schwach,

Bin ich getragen

Durch den Sturm, durch die Nacht…

Nimm meine Hand Precious Lord

und führe mich nach Hause.1. SPR.:

Dieses Lied wurde 1932 von dem Gospel-Sänger Thomas Andrew Dorsey geschrieben, als er seine Frau und seinen neugeborenen Sohn verloren hatte. Es wurde von vielen Sängerinnen und Sängern interpretiert und berührt die Menschen noch heute. Auch Elvis Presley hatte viele Gospel-Songs in seinem Repertoire. Fred Omvlee (sprich Omfléh) z.B. kennt die meisten davon auswendig. Als protestantischer Pfarrer gestaltet er seit vielen Jahren in Amsterdam eigene Gottesdienste ausschließlich mit Elvis Songs. In seinen Predigten berichtet der Pastor,  wie er in tiefer seelischer Not wieder aufgerichtet wurde:

9. O TON, 0 24“,  Omvlee

Rund um das Sterben meines Vaters habe ich erfahren, wie großartig die Gospel von Elvis wirken. Das Lied: Precious Lord Take my hand, berührte mich damals so, dass ich mich zu gleicher Zeit sehr traurig und sehr erfreut fühlte: Wir fallen nicht aus Gottes Hand. Die Elvis Gospels von gestern sind, glaube ich, die Psalmen von morgen.

2. musikal. Zusp., Precious Lord, take my hand… bleibt noch einmal 0 08“ freistehen

1.SPR.
Keine Form des Gebetes ist so populär wie das Bittgebet; es wird in allen Religionen praktiziert. Selbst im Buddhismus, der eigentlich keinen Gottesbegriff kennt, bitten die Gläubigen:

2. SPR.:

Mögen mich zum Wohle aller Lebewesen

die Tugenden von Freigiebigkeit, Ethik, Geduld,

Fleiß, Meditation und Weisheit zur Buddhaschaft führen.

1. SPR.:

Selbst eher „weltlich- atheistisch“ gestimmte Menschen können nicht auf spontane Bittgebete verzichten, etwa wenn sie einer Freundin viel Glück bei einem Examen wünschen und dann versprechen: „Dafür drücke ich dir die Daumen“. Diese Geste wird zur stummen Bitte, dass alles gut gehen möge.

10. O TON, 0 55“, Göpfert

Ich glaube, dass man an dem Bittgebet überhaupt nicht vorbeikommt. Weil das Bittgebet streng genommen nichts anderes ist, als Ausdruck der menschlichen Existenz, wie sie in dieser Welt ist: Erlösungsbedürftig.

1. SPR.:

meint der evangelische Theologe Michael Göpfert.

2. SPR.: (Göpfert Fortsetzung)

Und so betrachtet, finde ich, ist Bittgebet nichts anderes wie der Schrei nach Erlösung. Ob man das nun so formuliert oder nicht. Das heißt, die menschliche Kreatur schreit, ob sie will oder nicht, danach, dass sie aus ihrer Angst, ihrer Not, ihrem Tod, erlöst wird. Das tut, glaube ich jeder, ob er sich nun selber als gläubig und religiös bezeichnet oder nicht. Auch einer, der nicht an Gott denkt, schreit gleichsam in den Himmel, einem unbekannten Adressaten entgegen und will befreit werden, auch wenn er weiß, dass er nicht befreit wird. Deswegen glaube, dass das Bittgebet genauso unausrottbar ist wie die Hoffnung, wie die Hoffnung des Menschen unausrottbar ist.

1. SPR.:

Wer sich der biblischen Weisheit völlig anvertraut und die Bilder der Evangelien für sein eigenes Leben absolut hilfreich findet, wird sich von Zweifeln kaum beirren lassen, glaubt der Theologe Wolfgang Bittner. Fromme Menschen beten und bitten, selbst wenn sie keine unmittelbare Antwort erhalten:

11. O TON, 0 46“. Bittner

Mit einem Gott der biblischen Texte, da weiß ich auch sehr oft nicht, warum Gott nicht erhört. Ich kann mir nur so sagen, wie das Martin Luther gesagt hat: Es gefällt Gott manchmal auf seinem Weg, sich bis in sein Gegenteil hinein zu verbergen. Was mache ich dann, wenn Gott mir so vorkommt, dass er

mir schier unheimlich wird. Luther sagt dann: Dann fliehe ich vor Gott zu Gott. Ich fliehe in das hinein, was ich aus den Evangelien weiß, dass Gott nur Liebe ist. Auch wenn ich von dieser Liebe im Moment nichts sehe. Und bis in die letzte Dunkelheit will ich nicht glauben, dass Dunkelheit das Letzte ist. Weil es im Evangelium steht!

1.SPR.:

Tatsächlich lassen viele religiöse Menschen rationale Argumente kaum gelten, wenn es ums Bittgebet geht. Sie wollen ihrem Überschwang keinen Einhalt gebieten, wenn sie ihre Wünsche und Anliegen an den Himmel richten. Dabei spielen auch magische Vorstellungen eine Rolle. So wird in den Wallfahrtsorten ganz unverblümt um Wunder gebetet, wenn nicht gebettelt: Jesus oder die Jungfrau Maria mögen doch eingreifen und die kaputte Ehe retten oder bei schweren Operationen helfen:

12. O TON, Plattig.

Ich kann natürlich verstehen, dass jemand, der leidet, der vielleicht auch unheilbar krank ist, nach jedem Strohhalm greift, und dann unter Umständen auch zu so einem Wallfahrtsort geht.

1. SPR.

Sagt der katholische Theologe Wolfgang Plattig.

12. O-Ton, Plattig  Fortsetzung.

Solange es die Bitte um Heilung ist, sehe ich darin kein Problem. Es kippt natürlich an der Stelle, wo es magisch wird, also, wo ich glaube, dass ich durch bestimmte Handlungen oder durch bestimmtes Tun oder auch durch das Gehen an einen bestimmten Ort quasi etwas erreiche. Also meine Bitte wertvoller mache vor Gott.

1. SPR.

Die Basilika der „Jungfrau von Guadeloupe“ in Mexiko – Stadt ist einer der beliebtesten Wallfahrtsorte der Welt mit mehr als 20 Millionen Pilgern jährlich. Sie bitten im Angesicht des wundertätigen Marienbildes um ein Haus, um Erfolg beim Betteln, um Schutz vor den Drogen – Bossen. Der katholische Theologe Alfons Vietmeier studiert diese Volksfrömmigkeit in seiner mexikanischen Heimat:

13. O TON, 0 50“, Vietmeier

Ich sehe schon einen wahren Kern in der religiösen Grundhaltung ganz vieler Menschen, die letztlich Lebensängste und Lebensnöte ausdrücken wollen oder müssen. Und wenn sie nicht können, was gibt es da an Ausweg? Der Alkohol, Missbrauch, Gewalt in Familien. In dem Sinne, ist, glaube ich, die religiöse Ausdrucksform ein Versuch, mit der inneren Traurigkeit, mit der inneren Besorgnis, so umzugehen, dass es nicht in Extreme schlägt, sondern dass es eine Form ist, positiv zu gestalten, dass letztlich auch mein Leben bei allen Nöten doch in Gottes Händen ist.

1.SPR.:

Das Bittgebet hat in den letzten Jahren nicht nur bei Theologen viel Aufmerksamkeit gefunden. Auch Philosophen und Soziologen befassen sich mit jenen Worten, die das Unendliche berühren und bewegen wollen. Der Soziologe Stefan Blankertz will dabei auf religionskritische Aspekte nicht verzichten

14. O TON, 0 38“, Blankertz

Die klassische Form des Bittgebetes hat ja irgendwie die Struktur des Feudalismus: Also ich als armer Knecht, so wurde ja auch gesagt, so wurden ja auch die Gläubigen genannt, ich als armer Knecht, bitte den Herrn, der mit mir machen kann, was er will. Und den muss ich bitten darum, dass er mir wohl gesonnen ist. Und das ist eben interessant, dass im 14. Jahrhundert Meister Eckart, während Feudalismus noch da ist, auch schon daran arbeitet, ihn zu überwinden und diese Form von Verhältnis zwischen Gläubigen und Gott nicht mehr als das richtige Verhältnis zu bezeichnen.

1.SPR.:

Meister Eckart, ein Dominikanermönch aus Erfurt im 13. Jahrhundert, hatte als Prediger und Theologieprofessor einen weit über Deutschland hinausreichenden Einfluss. Heute werden seine philosophisch – theologischen Meditationen weltweit gelesen:

15. O TON, 0 33“, Blankertz

Meister Eckart hat in einer Predigt auf diese Frage: Wie soll ich beten, gesagt: Man soll still werden. Also Gott spricht ein Wort in mir, und dafür muss ich zuhören, und dafür muss ich dem Raum geben. Das ist also auch meine eigene spirituelle Erfahrung und meine eigene spirituelle Praxis: Gerade nicht sprechen, nicht bedrängen. Sondern zuhören, was mir zukommt, und was ich jetzt nicht einfach produziere.

1. SPR.:

Wer Bittgebete sprechen will, sollte sich von Meister Eckart maßgeblich beeinflussen, wenn nicht provozieren lassen, betont einer seiner Übersetzer aus dem mittelalterlichen Deutsch, Professor Alois M. Haas:

2.SPR.:

Meister Eckart lehrt: Wer da um etwas anderes als nur um Gott bittet, der bittet unrecht. Wer immer um irgendetwas anderes bittet, der betet einen Abgott an. Und man könnte sagen, dieses Verhalten sei reine Ketzerei. Die wahren Beter, die beten Gott in der Wahrheit und im Geiste an, das heißt: Im Heiligen Geist.

1.SPR.:

Schon im streng kirchlich geprägten Mittelalter hat Meister Eckart davor gewarnt, Gott einfach nur als Person zu verstehen und ihm alle Attribute zuzuschreiben, die für ein menschliches Individuum gelten. Er empfahl sogar, den Begriff der „namenlosen Gottheit“ zu gebrauchen. In diese Höhen muss eine Theologie des Bittgebets tatsächlich führen: Warum sollte es nicht möglich sein, auch in den Kirchen heute von Gott als der „unergründlichen Gottheit“ zu sprechen? Viele spirituelle Menschen folgen heute längst dieser Überzeugung, sagt der Theologe Wilhelm Gräb:

16. O TON, 0 26“, GRÄB

Viele religionsempirische Untersuchungen zeigen, dass die Zahl der Menschen, die zwar durchaus mit einem Gottesgedanken sehr viel anfangen können und den auch bei sich tragen, aber mit einer Vorstellung von Gott als Person die allergrößten Schwierigkeiten haben. Und ich meine: Theologisch müssten wir einfach hingehen und sagen: Das ist auch vollkommen in Ordnung! Ihr müsst euch gar nicht Gott als Person vorstellen.

1.SPR.:

Denn Gott ist für die Menschen wesentlich das unergründliche Geheimnis. Die Geschichten und Verse der Bibel behalten ihr begrenztes Recht, wenn sie in Bildern schöner Poesie Gott als den Helfer und väterlichen Freund der Menschen darstellen. Aber es handelt sich eben um Bilder, mehr nicht. Sie dürfen nicht zu maßlosen Erwartungen verführen. Denn Gott, der Ewige, ist für die Menschen kein Gesprächspartner „auf Augenhöhe“, betont der katholische Theologe Otto Herrmann Pesch in seinem grundlegenden Buch mit dem Titel „Das Gebet“:

2. SPR.:

Der christliche Glaube hat es mit einem Unsichtbaren zu tun. Und deshalb gehört es zum Gebet, dass es einen Unsichtbaren anredet und keineswegs eine unmittelbare Antwort zu hören bekommt.

1.SPR.:

Viele Theologen führen diesen Gedanken weiter, wie der Spanier André Torres Queiruga (sprich Keirúga). Er schreibt in der internationalen theologischen Zeitschrift Concilium:

2. SPR.:

Die Bittgebete schüren Missverständnisse, wenn sie darauf bestehen, die Vergebung von Gott zu erflehen, wo er doch bereits vergeben hat und nur auf unsere Umkehr wartet. Sie erzeugen das Fantasiegebilde eines Gottes, der erst mitleidvoll wird, wenn wir ihn darum bitten und mit uns Erbarmen an ihn wenden. Gott als Vater umhegt uns aber bereits mit seiner grenzenlosen Liebe. Wenn wir auf das populäre Bittgebet verzichten, dann tun wir das nicht aus menschlicher Arroganz, sondern aus Demut, Dankbarkeit und Respekt gegenüber dem grenzenlosen Überschwang der göttlichen Großzügigkeit.

1. SPR.:

Dank dieser unendlichen Großzügigkeit kann sich der Gläubige von Gott geborgen wissen und in ihm den letzten Lebenssinn sehen: Diese Überzeugung hat einen zentralen Platz im Neuen Testament. Der Evangelist Johannes und die Autoren der „Johannesbriefe“ lehren die alles gründende Einheit der Menschen mit Gott. Im Ersten Johannesbrief heißt es:

2. SPR.:

Ihr seid als Glaubende bereits im Heiligen Geist mit Gott verbunden. Wer glaubt, der hat bereits das ewige Leben. Und nur deswegen können wir Gott um etwas nach seinem Willen bitten. Dann hört er uns.

1. SPR.:

Diese Erkenntnis sollte die Basis sein für ein neues, ein reifes Verständnis des Bittgebetes, fordert der katholische Theologe John Main aus Montréal:

2. SPR.:

Darum bemühen wir uns auch gar nicht darum, dass beim Beten und Meditieren etwas für uns geschieht! Das Grundlegende ist bereits geschehen, nämlich das Einssein mit Christus. Wer das verstanden hat, lässt sich nicht länger in die Fixierung auf sich selbst und die eigenen Wünsche einsperren. Wir sind bereits eins mit Gott.

1. SPR.:

Trotzdem bleibt das Sprechen zu Gott, das Beten und Bitten, sinnvoll. Es ist sogar heilsam, sagt der katholische Theologe Wolfgang Plattig:

17. O TON,, Plattig.

Das entscheidende Wunder für mich wäre, dass Menschen durch das Gebet zu einem Umgang mit ihrem Leid finden. Dass einfach ein Prozess in Gang kommt, mit dem Menschen mit ihrem Leid entweder leben können oder sterben können. Und jetzt nicht so sehr, dass jetzt das Leid abgeschafft wird. oder sie in dem Sinne jetzt gesund werden. Das kann schon auch sein, das ist natürlich auch der Inhalt der Bitte. Nur die Wirkung ist oft genau die andere, dass nämlich Menschen einen anderen Zugang oder ein anderes Verhältnis zu ihrer Krankheit oder ihrem Leid finden.

1.SPR.:

Das menschliche Leben ist in dieser Welt vom Tod begrenzt. Eine ständige  Bedrohung, der wir ängstlich gegenüberstehen: Diese Situation in Worte zu fassen, bedeutet für den protestantischen Theologen Wilhelm Gräb letztlich bitten und beten:

18. O TON, 0 37“, Gräb

Es ist zunächst ein Sich – Selbst – Aussprechen, ein Sich – Beziehen auf das eigene Leben, die eigene Lebenssituation.

Es ist immer auch schon dieses Gefühl dabei, dass wir uns auf einem ungeheuer brüchigen Lebensgelände bewegen.

Ich weiß genau, dass ich meines Daseins nicht mächtig bin, dass ich nicht die alles bestimmende Wirklichkeit bin. Also dieses Bewusstsein, dass alles auch ganz sein oder morgen schon werden könnte, das ist mir tief eingestiftet, und deswegen empfinde ich mich als einen religiösen Menschen.

1.SPR.:

Der Amsterdamer Theologe und Poet Huub Oosterhuis (sprich: Hühb Ohsterheus) ist da noch radikaler: Für ihn ist das Sprechen von persönlichen Bittgebeten, schon menschlich gesehen, eine elementare Notwendigkeit, um sich seiner selbst zu vergewissern:

19. O TON, 0 33“. Oosterhuis

Worte sind Lebensrettung. Ich würde mich selber verlieren, ich würde verwelken, und chaotisch werden, verschüttet unter der schweigenden Mehrheit und der wortlosen Gewalt, wenn ich nicht mehr aussagen kann, wer ich bin. Wer darauf verzichtet, sich selbst und andere auszusagen, kommt niemals mehr zu Wort, ist verloren, ist namenlos, ist selber schweigende Mehrheit.

3. Musikal. Zusp. Mendelssohn – Bartholdy, Klavier, Adagio. Bleibt ca. 0 12“ freistehen.

1.SPR.:

Als Poesie bringen Bittgebete Licht in das Leben der Menschen. Für die Dichterin Rose Ausländer ist Beten und Bitten vor allem Fragen und Suchen. „Die Auferstandenen“ heißt eines ihrer vielen Gedichte:

2. SPR.:

Wo sind

Die Auferstanden

Die ihren Tod

Überwunden haben

Das Leben liebkosen

Sich anvertrauen

Dem Wind.

Kein Engel

Verrät

Ihre Spur.

1. SPR:

Der Schriftsteller und Dominikaner Pater Jean Pierre Jossua (sprich Jossüá)  sucht in Paris das Gespräch mit Literaten, vor allem mit Lyrikern. Mit ihnen hat er entdeckt, wie Gedichte in ihrer unverbrauchten, lebendigen Sprache zu Gebeten werden können:

20. O TON, 0 33“, Jossua

3. SPR.: Overvoice

Die Poesie ist für unglaublich viele Menschen, und darunter sicher die besten, eine Form spiritueller Bewegung geworden. Sie könnte für sie gar die Religion ersetzen, die ihnen sonst wie tot vorkommt. Poesie könnte als ein Weg zu Gott, zum Absoluten, erscheinen. Tatsächlich könnte man sagen: Die Poesie hat die Funktion des Gebets angenommen. Und das Gebet kann nur gewinnen, wenn es die Form poetischer Qualität wieder findet.

1. SPR.:

Auch wenn Gott kein himmlischer Übervater ist, der seinen Kindern jeden noch so egozentrischen Wunsch erfüllt, brauchen die Glaubenden nicht zu verstummen. Auf das göttliche Geheimnis können sie sich weiter beziehen, sprechend und singend: Denn Gott ist innerster Teil ihrer eigenen Wirklichkeit. Für ein banales, oberflächliches Verständnis von Mensch und Welt ist dann kein Platz mehr, meint der niederländische Poet und Theologe Huub Oosterhuis. Seine Gebete, klagend und bittend, beziehen sich immer auf den  Zustand unserer Welt.

 

4. Musikal. Zusp., Lied Oosterhuis, „Wir, die mit eigen Augen…“ bis zu den Worten einschließlich: „dass wir es selber sind“. Dann weggeblendet.

1. SPR.:

Beten und Bitten weckt den Geist, gibt wieder Lust am Leben, inspiriert zum Handeln: Diese Erkenntnis setzt sich in der weiten Christenheit immer mehr durch, betont James Woody (sprich Wudí). Er ist Pastor der Reformierten Gemeinde „L Oratoire“ in Paris.

21. O TON, 1 01“. Woody, Auf Deutsch kürzer.

3. SPR.:Overvoice

Tatsächlich ist es doch so: Im Gebet hören wir uns wohl eher uns selbst als dass Gott uns hört. Oft sagt man, im Bitten und Beten würden wir von Gott etwas verlangen. Aber das Gegenteil ist der Fall. Wir sind aufgefordert zu hören, was Gott uns vorschlägt. Ein Beispiel: Anstatt zu sagen: Herr lass doch Frieden werden im Nahen Osten, schenke doch Versöhnung zwischen Israel und Palästina, sollten wir beim Bitten lernen, dass wir besser die Situation dort verstehen. Damit wir nicht bloß Gerüchten folgen und Sprüchen und dadurch die Menschen verletzen, die dort politisch handeln.

4. Musikal. Zusp., Lied Oosterhuis, Wieder reingehen bei: „Dass wir doch nie vergessen, woraufhin wir gemacht bis Ende: „doch nicht verloren sei“.

1.SPR.:

Wie kann es gelingen, dass unsere „liebe Erde doch nicht verloren sei“? Gibt es Hoffnung? Schauen wir doch aufs „Vater Unser“, meint der Theologe Wolfgang Bittner. Da gibt es genug Anregungen. So sei zum Beispiel die Bitte um „das tägliche Brot“ alles andere als eine naive Floskel aus alten Zeiten:

22. O TON,  0 51“, Bittner

Wer ist denn Schuld, dass die Menschen kein Brot, kein Reis, kein Maniok oder was auch immer haben. Die Not liegt doch bei uns bei uns Menschen, dass wir es sind, die eine Wirtschaft aufgebaut haben und die Länder und das Land ausbeuten und die Lebensmittel auf eine undenkbare Weise vernichten statt sie zu verteilen. Das ist Problem mit uns Menschen. Wenn Christus uns beten lehrt: Dein Reich komme, dann meint das ja, dass seine Herrschaft, seine Gerechtigkeit, hier in unseren Bezügen sich Bahn bricht. Ich glaube, wer nicht mehr ausrasten kann und nicht mehr zornig werden kann, der kann auch nicht wirklich beten. Wer das Gebet dazu benützt, dass man blind wird vor den Ungerechtigkeiten, da muss ich fragen, ob der wirklich schon gebet hat. Das Beten und das Glauben öffnet die Augen und verschließt sie nicht.

5. musikal. Zusp., Mendelssohn Bartholdy, Klavier, Andante,

Titelsprecherin:

Worte in Gottes Ohr

Über das Bittgebet

Sie hörten eine Sendung von Christian Modehn

Literaturhinweise:

1)

Otto Hermann Pesch, „Das Gebet“

Topos Taschenbuch,

124 Seiten, 1980.

2)

Theologische Reflexionen, manchmal schwierig:

„Hilft beten?“ Hg. von Magnus Striet, 2010, 133 Seiten, Herder Verlag, 2010,

3)

Anregend, inzwischen ein Standardwerk:

„Der Sprung in den Brunnen“ von Hubertus Halbfas,

Patmos Verlag, 210 Seiten

18. Auflage, 2011.

4)

Lieder und Gebete von Huub Oosterhuis (mit Noten)

„Du Atem meiner Lieder“, Herder Verlag 2009, 219 Seiten.

5) John Maine, Das Herz der Stille. Anleitung zum Meditieren. 2000, Herder Verlag, 142 Seiten.

6)

Meister Eckart. Heilende Texte. Ausgewählt und kommentiert von Stefan Blankertz. Peter Hammer Verlag 2011, 171 Seiten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mit Kant heute philosophieren

In der empfehlenswerten Zeitschrift PUBLIK FORUM erschien am 21. 9. 2012 ein Beitrag zur Aktualität Immanuel Kants, der Artikel ist ein Versuch, mit erzählerischen, fiktiven Formen das Interesse an seiner Philosophie zu beleben. Von der Form her ähnliche Beiträge habe ich zu Montaigne, Hegel, Schleiermacher und Heidegger verfasst.

Die Zitate der genannten Gäste im Haus Kants sind selbstverständlich authentisch. Christian Modehn

„Lass dich nicht bevormunden“

Tischgespräche im Hause Immanuel Kant

Von Christian Modehn

Fast ein Idyll, das Haus Immanuel Kants in Königsberg, am Prinzessinplatz, mitten in der Stadt, gelegen und doch von Gärten umgeben. Die Gäste erwarten den Hausherrn im „Besucherzimmer“. Immanuel Kant betritt den Raum, klein von Gestalt und wie immer fein gekleidet. Trotz seiner 70 Jahre ist er gesundheitlich auf der Höhe. Er begrüßt die Gäste seiner heutigen Tischrunde: die Philosophen Michael Bongardt, Jean Greisch und Herbert Schnädelbach. Mehrmals in der Woche nimmt sich Kant drei Stunden Zeit, mit einer kleinen Gesellschaft zu speisen und geistvoll zu plaudern. „Ist meine Philosophie aktuell?“, mit der Frage hatte Kant die Gäste eingeladen – zu einer Art Denk -Essen, „aber bitte, wie immer gemächlich, ich bin ein Anhänger der slow –food- Bewegung“.

„Es lohnt sich, ein Vergnügen zu kultivieren, das täglich genossen werden kann“. Mit diesen Worten bittet nun Kant seine Gäste in den Speiseraum im ersten Stock Es gibt sein Lieblingsgericht, Kabeljau in Senfsauce. Wie alle anderen Räume ist auch der Speisesaal von schlichter Einfachheit, ein großer Spiegel ist die einzige Zierde. Die Wände sind weiß gestrichen; nüchterne Klarheit schätzt Kant über alles. „Natürlich ist das Essen auch eine Pflicht. Aber auch unsere Lust der Sinne wird beim Essen angesprochen. Ich interessiere mich immer für neue Rezepte. Meinen geliebten Senf rühre ich ja bekanntlich selbst an. Mein Freund Theodor von Hippel hat kürzlich vorgeschlagen, ich sollte eine =Kritik der Koch -Kunst= schreiben, aber dazu fehlt mir die Zeit. Wichtiger ist: Philosophie kann niemals Rezepte verteilen. Sie bietet Orientierung, sie zeigt, wie mit der Anstrengung von Verstand und Vernunft ethisch wertvolles Leben möglich ist“.

Aber Philosophieren sollte nicht in Stress ausarten, entgegnet Jean Greisch, er ist eigens vom „Institut Catholique“ aus Paris angereist: „Für mich ist das Denken keine Arbeit. Es ist auch eine Lust zu denken, mehr noch: Philosophie kann Lebenslust sein“. Jean Greisch ist ein katholischer Philosoph, während ein anderer Gast, der Philosoph Herbert Schnädelbach, dem Atheismus zuneigt. Er führt den Gedanken gleich weiter: „Ich verstehe die Philosophie immer als eine Kultur der Nachdenklichkeit. Das bedeutet: Seinen Gedanken noch einmal nachzudenken, zu reflektieren. Und das können alle Menschen bei Kant wirklich lernen“.

Der Gastgeber hebt sein Glas, eine Aufforderung, den Sylvaner zu probieren. Der alt bewährte Diener Lampe, stets im Hintergrund, reicht das Gemüse. Seit vielen Jahren kümmert sich der ehemalige Soldat Martin Lampe um das Wohlbefinden des berühmten Königsberger Professors. Er weckt ihn morgens um 5 immer energisch, denn die Vorlesungen beginnen immer schon um 7 Uhr früh. Bei bester Laune kommt jetzt Kant ins Plaudern. Auf eine oft gestellte Frage will er lieber gleich selbst eingehen: „Warum bin ich Junggeselle geblieben? Als ich eine Frau habe brauchen können, habe ich als junger Mann keine Frau ernähren können. Und als ich sie später ernähren konnte, da habe ich keine Frau mehr gebraucht“. Mit leichtem Witz kann Kant über seine eigenen Begrenztheiten sprechen. Ihn habe halt die Liebe zur Philosophie völlig in Anspruch genommen, denken die Gäste und schmunzeln. Und gleich ist Kant wieder bei seiner Sache: „Ein Mensch ist erst dann erwachsen, wenn er einer Maxime, einer Art Regel fürs Leben, folgt“, sagt er, während die Gäste den Kabeljau probieren. „Diese Maxime heißt: Bemühe dich, jederzeit selbständig zu denken. Das ist der Sinn philosophischer Aufklärung. Luther und die Reformatoren haben das Selber – Lesen der Bibel propagiert. Ich sehe im Selber – Denken die Voraussetzung für menschliches Leben. Das Kriterium für gut und böse liegt in unserer Vernunft selbst. Was wahr und falsch ist, darf uns niemand einreden“.

Die Gäste haben es schon geahnt: Das gemeinsame Essen wird tatsächlich zu einer Art Arbeitssitzung. Oft verbietet sich ja Kant allerdings das Philosophieren bei Tisch, dann hört er sich lieber von Weltenbummlern die Berichte aus fernen Ländern an, will wissen, wie Menschen etwa in London oder Rom leben. Schließlich hat er ja seine Heimatstadt nie verlassen. Durch ausführliche Korrespondenz ist er bestens auf dem Laufenden, leidenschaftlich verteidigt er die Französische Revolution, Willkürherrschaft in Staat und Kirche ist ihm ein Graus. Er denkt demokratisch.

Aus einem Regal holt sich Kant sein Buch „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“. „Nur eine Zeile möchte ich vorlesen: Es soll nicht sein, dass Menschen ihre Ziele nach eigener Laune auf Kosten anderer durchsetzen. Ethische Imperative sollen unbedingt für alle Menschen gelten“.

Michael Bongardt, Professor für Ethik an der Freien Universität Berlin, findet dieses Thema gerade in der multikulturellen Gesellschaft sehr wichtig: „Im Sinne Kants kann man nicht behaupten: Diese moralische Regel hat Gott gesetzt. Denn ein göttliches Gebot können wir Menschen ohnehin nicht „als göttlich“ erkennen. Wer kann uns mit Sicherheit sagen, dass ein Gebot von Gott kommt und nicht von Menschen erfunden wurde, die dann nur behaupten: Es stamme von Gott. Aber Kant lehrt sehr selbstbewusst: Auch wenn es ein göttliches Gebot wäre, so wären wir doch immer verpflichtet, nur das zu tun, was wir selber kraft eigener Vernunft für gut halten“. Kant blickt in die Runde, seine Augen strahlen: „Treffender hätte ich es auch nicht sagen können. Jeder einzelne kann in sich selbst entdecken, was gut ist und was es bedeutet, frei zu handeln. Dabei bleibt es“.

Die Gäste gönnen sich ein Schluck Weißwein. Aus dem fernen Frankreich lässt sich Kant den Wein liefern, Königsberg liegt zwar am Rande, ist aber doch eine kleine Metropole.

Nach einer Pause sagt Herbert Schnädelbach: „Aber wie gehen Menschen mit ihrer Freiheit um? Haben sie in ihrer Vernunft selbst ein Kriterium für das, was gut oder böse ist? Ich will an die wohl berühmteste Formulierung Kants erinnern, den „Kategorischen Imperativ“, der ja in mehreren Formulierungen vorliegt. „Handle so, dass die Maxime deines Willens, also dein persönlicher Lebensentwurf, jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne. Das bedeutet auch: Niemals darf ein anderer Mensch für mich bloß ein Mittel, bloß ein Gegenstand meiner Interessen sein. Jeder Mensch ist absolut wertvoll. Er ist „Selbstzweck“. Kant fällt ihm ins Wort: „Jeder Mensch hat also immer ein Kriterium zur Verfügung, um die ethische Qualität seiner Handlungen beurteilen zu können. Kein Mensch darf wie eine Sache behandelt werden, Menschen als eine Ware zu betrachten, hat keinerlei ethische Rechtfertigung. Welche Wirtschaftsordnung ist dann noch gerechtfertigt? In meiner Philosophie steckt kritisches Potential“, betont Kant.

Dann wird der Gastgeber beinahe wütend: Die ethische Ausbildung in den Schulen sollte an erster Stelle stehen, erst dann kommt alles andere, auch die Religion. Aber wer der Vernunft in seinem Denken und Handeln folgt, muss sich auch auf rigoros erscheinende Einsichten einlassen. Er muss z.B. anerkennen: Niemals darf ein Mensch getötet werden. “Denn vernünftige Wesen wünschen sich immer, dass ihre Vernunft lebendig und aktiv ist. Wer sich und andere tötet, tötet die Vernunft. Zudem darf ich nicht über andere verfügen und sie töten. Jedes Vernunftwesen hat ein Recht darauf, zu leben“. Schwieriger ist eine andere Frage: Kann es ethisch erlaubt sein, gelegentlich zu lügen? „Ich denke: Wenn das so wäre, dann zerstört man letztlich die menschliche Gesellschaft“, sagt Kant sehr bestimmt, „niemand weiß dann noch, was grundsätzlich für alle gilt. Die Lüge vergiftet das Miteinander. Darum bin ich für das absolute Verbot zu lügen“.

„Aber kann dieses Verbot immer und überall gelten?“, wirft Herbert Schnädelbach in die Runde. „Man stelle sich die Situation vor: Ich verstecke jemanden in einer Diktatur vor der Geheimpolizei und ich werde gefragt: Ist der bei dir? Dann darf ich nach Kant nicht lügen. Sage ich die Wahrheit, gefährde ich das Leben des Oppositionellen und mein eigenes. Also es bleibt gar nichts übrig, dass ich in diesem Dilemma die Urteilskraft brauche. Ich muss dann fragen: Was ist der höhere Wert, was ist die größere Schuld. Das muss man abwägen. Und dafür gibt es keine Regeln“. Gelegentlich sollte man sich doch zugunsten des kleineren Übels entscheiden, Kant muss stillschweigend hier eine Grenze seines Denkens anerkennen.

Der Diener Lampe unterbricht die Debatte, die Gäste sollten doch bitte den nächsten Wein, einen Riesling, nicht vergessen. Aber die kleine Pause dauert nicht lange: „Liebe Gäste“, sagt nun Kant, „vergessen sie nicht: Der kategorische Imperativ hat auch eine politische Bedeutung: Meine Freiheit darf die Freiheit des anderen also nicht beschädigen, ich muss denjenigen Menschen in seiner Freiheit behindern, wenn er seine eigene Freiheit nur dazu benutzt, die Freiheit anderer einzuschränken“.

Kant hat sich erhoben. Er greift zu einem Buch, auf das er besonders stolz ist, es heißt: „Zum ewigen Frieden“. „Darin schreibe ich: In unserer politischen Arbeit sollen wir den universalen Frieden, den Weltfrieden, als Projekt anstreben. Denn was nützt es, wenn nur ein friedlicher Staat von lauter Kriegstreibern umgeben ist. Es ist ein langer Weg zum Weltfrieden, aber er ist ethisch geboten. Ich kritisiere die räuberische Außenpolitik, früher sprach man von Kolonialpolitik. Es gibt Staaten, die herrschsüchtig und für den Frieden verderblich sind. Es darf kein stehendes Heer mehr geben, denn das führt nur zum Wettrüsten“. Ob man Kant einen Friedensaktivisten nennen könne, fragen die Gäste. Kant antwortet lapidar: „Na klar“! „ Diese Vorstellung, Frieden für alle zu schaffen, wird übrigens auch von der Bibel unterstützt“, meint Michael Bongardt.

Die Gäste lassen sich gleich von dem Stichwort inspirieren und wollen ausführlicher über die Bedeutung der Religionen sprechen. Kant ist als Philosoph ein entschiedener Kirchenkritiker. Wie viele Feindseligkeiten der Rechtgläubigen musste er schon deswegen ertragen. „Aber es ist einfach falsch, wenn so viele Dummköpfe behaupten, ich sei ein „Zerstörer des Glaubens“, meint er. „Ich finde es von meiner Moralphilosophie her sogar notwendig, im Denken das Dasein Gottes anzunehmen. Gottes Existenz können wir aber nicht wissenschaftlich demonstrieren, weil ja Gott nicht als ein greifbarer Gegenstand erfahren werden kann“.

Jean Greisch will diese Aussage noch vertiefen: „Gott ist für Kant kein Erfahrungsgegenstand. Aber das bedeutet keinesfalls, dass der Gottesbegriff selbst sinnlos wäre. Man kann sagen: Das Unbedingte ist unbegreiflich. Wenn du Gott begreifen könntest, dann kannst du sicher sein, das kann nicht Gott sein, das sagt doch auch der heilige Augustinus“.

Die Runde ist von einer Stimmung erfasst, die man im Hause Kants manchmal „philosophische Begeisterung“ genannt hat. Der Gastgeber ruft dazwischen: „Wer sagt, dass Gott sicher existiere, der sagt mehr, als er wirklich weiß. Und wer das Gegenteil sagt, Gott existiere sicher nicht, der sagt ebenso mehr als er weiß. Niemand weiß genau und exakt, ob Gott existiert. Wir erreichen nur das göttliche Geheimnis“.

Herbert Schnädelbach greift diese Erkenntnis noch einmal auf: „Was die gelebte Religion betrifft, da hat Kant ja in seiner Religionsschrift gezeigt: Alles, was wir tun können, um gottgefällig zu sein, ist nur eines: Moralisch zu leben. Alles andere ist Abgötterei und Aberglaube“.

„Ist meine Überzeugung nicht modern, hilfreich im Kampf gegen den Fundamentalismus?“, fragt Kant durchaus rhetorisch. „Religiöse Praxis bedeutet für den einzelnen nichts anderes als die Anerkennung vernünftiger moralischer Pflichten. Nur dies will Gott von uns. So werden dogmatische Ansprüche begrenzt. Darum habe ich kein Verständnis für Konfessionen und Kirchen, wenn sie die Menschenrechte nicht respektieren und nur halbherzig die Demokratie unterstützen…“

Jean Greisch findet Kants Verständnis von Religion doch zu eng: „Religion ist nicht nur ethisch gutes Handeln, sie hat auch noch andere Komponenten, wie das Fest, die Feier, den Kult. Ich meine: Religion ist eine eigenständige Provinz im menschlichen Gemüt“. Dennoch bleibe Kants Religionskritik auch für Katholiken wertvoll, meint der Professor aus Paris. „Aberglaube, Fanatismus, Wundergläubigkeit: Die muss man tatsächlich unter Kontrolle halten. Ich glaube, da hat er recht. Und ich glaube, in dieser Beziehung müssen wir auch als Philosophen einen kritischen Blick für die institutionellen Organisationsformen der einzelnen Religionsgemeinschaften haben“.

Kant freut sich, dass die Grundidee seiner Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie immer noch respektiert wird. Und mit einem Seufzer fügt er hinzu: Genauso wichtig sei noch etwas ganz anderes: „Das Reich Gottes auf Erden ist die letzte Bestimmung des Menschen. Christus hat das Reich Gottes verkündet. Aber man hat ihn nicht verstanden und statt dessen das Reich der Priester und der Kirche errichtet und nicht das Reich Gottes, das in uns selbst, in Seele und Vernunft, zu finden ist“.

Von Ferne sind Stimmen zu hören, Studenten eilen zur Universität. Hier hat Kant viele Jahre bis zu 20 Vorlesungen wöchentlich gehalten, meist am Vormittag. Auch noch mit 70 Jahren, gönnt er sich täglich pünktlich um 4 Uhr seinen Spaziergang. Die Leute in Königsberg warten förmlich darauf, dass er seine „Runden zieht“.

Die Gäste müssen also aufbrechen. Herbert Schnädelbach wendet sich an Kant: „Ihre Philosophie ist ein inständiges Nachforschen mit dem Versuch, alle möglichen Argumente, die da mit im Spiel sind, zu berücksichtigen. Das ist irgendwie doch faszinierend, muss ich sagen“.

Der Gastgeber will noch ein gutes Wort mit auf den Weg geben: „Was mir am wichtigsten ist: Pflegen wir einen gesunden Verstand, bewahren wir uns ein fröhliches Herz und einen freien, selbst bestimmten Willen“. Und mit einem leichten Seufzer fügt er hinzu: „Nur mit kleinen Schritten folgt die Menschheit den Weisungen der Vernunft. Schließlich leben wir noch nicht in einer vernünftigen Welt, es gibt noch viel zu kritisieren und vernünftiger zu machen…“

…..Ganz kurz zur Person:

Immanuel Kant wurde 1724 in Königsberg geboren. Seine Hauptschriften sind „Kritik der reinen Vernunft“, Kritik der praktischen Vernunft“ und „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen vernunft“. In seinem Haus trafen sich regelmäßig Menschen aus ganz Europa. Der Meisterdenker hat seine Heimatstadt bis zu seinem Tod 1804 nur einmal – für einen kleinen Ausflug – verlassen. Darüber gibt es keine Zweifel: Kant lebt (mit seinem Denken) weiter. Die Geschichte der Philosophie lässt sich in „vor Kant“ und „nach Kant einteilen.

copyright: Christian Modehn

 

 

 

 

 

 

Das 2.Vatikanische Konzil überwinden. Kritische Perspektiven.

Das 2. Vatikanische Konzil überwinden

Warum das Konzil heute kaum noch inspiriert

Von Christian Modehn

Am 11. Oktober vor 50 Jahren begann in Rom/Vatikanstadt das 2. Vatikanische Konzil, es hatte vier “Sitzungsperioden” und endete am 8. 12. 1965. Dieses Konzil mit der Teilnahme fast aller katholischen Bischöfe damals ist auch für philosophisch interessierte LeserInnen etwas interessant, weil es einen beachtlichen Wandel des römischen Katholizismus anzeigt, vor allem den Übergang aus einer absoluten Moderne–feindlichen Haltung zu einer offeneren Annahme der modernen, aufgeklärten Welt. Mit Jubeltönen sollte man sich allerdings sehr zurückhalten, wie der folgende Beitrag von Christian Modehn zeigt, der in kürzerer Fassung in der Zeitschrift PUBLIK FORUM am 5. 10. 2012 veröffentlicht wurde.

1.

Die verriegelten Fenster wurden aufgestoßen, der stickige, morbide Geruch der Inquisition wurde vertrieben, der Staub der Jahrhunderte etwas hinweggefegt. Bilder, die heute „progressive, reformerische Katholiken“ faszinieren, wenn sie an das 2. Vatikanische Konzil denken. Die Attacken reaktionärer Kreise, vor allem der traditionalistischen „Piusbrüder“, stärken den Willen, das Konzil unbedingt als „Sprung vorwärts“ (Johannes XXIII.), als „Einschnitt und Wende“ zu bewerten. Reformkatholiken klammern sich an das Konzil, verehren es wie eine Art Heiligtum. Tatsächlich: Das Konzil hat den mittelalterlich geprägten Katholizismus unterbrochen. Die bislang verteufelte Religionsfreiheit wurde anerkannt, von Dialog war die Rede, von Öffnung der Kirche zur Welt.

2.

Aber „progressive Kreise“ sind naiv, wenn sie dieses Konzil zum wichtigsten Bezugspunkt ihrer Erneuerungsvorschläge machen. Denn die theologischen Grenzen dieses Konzils liegen deutlich vor Augen; dabei soll dieses Ereignis nicht unbedingt „klein geredet“ werden. Schon gar nicht geht es darum, ins Fahrwasser reaktionärer und dummer pauschaler Konzilskritik zu geraten. Das Konzil hatte damals tatsächlich seine Bedeutung in der Ablösung aus der offiziell – amtlichen, feudal geprägten Mentalität. Aber kann dieses Konzil noch die theologischen, religiösen, philosophischen, kulturellen und globalen Probleme und Fragen zu Beginn des 21. Jahrhunderts beantworten? Wir sind der Meinung: Sicher nicht.

Das 2. Vatikanische Konzil beantwortete für die brave katholische Welt einige Fragen des 17. und 18. und 19. Jahrhunderts, die – nebenbei gesagt – protestantische Theologen läängst beantwortet hatten. Diese Konzils – Antworten waren also nur noch für bestimmte katholische Kreise “sensationell”, weil endlich die mittelalterliche Welt des römischen Systems ein wenig „angekratzt“ wurde.

3.

Was sind einige wichtige Begrenztheiten des Konzils?

Es war eine reine Männerveranstaltung, meist greiser Herren, die noch in den Zeiten des „eingemauerten Katholizismus“ (so der Mentalitätshistoriker Jean Delumeau) denken gelernt hatten. Laien, schon damals 95 Prozent der Katholiken, hatten bei dieser drei Jahre währenden Veranstaltung absolut nichts zu sagen und auch gar nichts zu entscheiden. Einige wenige Laien, etwa zwei Frauen, waren als “ZuhörerInnen” zugelassen. „Für“ die Laien wurde vom Klerus entschieden, nicht mit ihnen, es war also eine extrem patriarchale Runde, die sich da traf. Es war alles andere als ein von demokratischem Geist bestimmtes Ereignis. Insofern war es schon damals Vergangenheit! Von „Frauen“ ist nur an 5 Stellen der offiziell verabschiedeten Konzilsdokumente die Rede. Ihnen wird die „häusliche Sorge der Mutter“ zugewiesen. Gleichzeitig wird unvermittelt die „gesellschaftliche Hebung“ ihres Statuts gefordert.

– Die offiziellen Konzils –  Dokumente sind fast immer in einer Sprache verfasst, die „klerikal – pathetisch“  genannt werden kann. So wird die Kirche etwa „Braut des fleischgewordenen Wortes“ genannt. (Dokument: Offenbarung § 23). Wer kommt da – als ein Nichtmystiker zu Beginn des 21. Jahrhunderts – nicht ins Schmunzeln? Wie viel Unsinn (Mißbrauch usw.) hat diese “Braut” inzwischen begangen? Ist  diese “mystische Überhöhung” der Kirche nicht ein radikaler Fehler? Diese “mystisch” – nebulöse Selbstdefinition der Kirche (durch den Klerus definiert!) verstellt den Blick auf reale Zustände in der römischen Kirche, etwa Korruption oder auch “Priestermangel”, bedingt durch den Mangel an zölibatären Männern, die dieser “Braut” ihre ganze (!) Hingabe geben sollen.

– Diese offiziellen, also maßgeblichen Konzils – Texte sind für sehr viele Leser von heute schon sprachlich Ausdruck einer „fremden Welt“. Sie berühren, das ist langst empirisch nachgewiesen, nur noch Insider, vielleicht nur noch Kirchenangestellte, die den Jargon einüben mussten. In jedem Fall bewegen diese Formeln  wohl wenige Menschen, die jünger als 60 Jahre sind. Man schaue in die Runden der heute debattierenden „Konzilsfreunde“ und mache einmal dort einen Altersdurchschnitt. Die viel beschworene Liebe zum Konzil ist, mit Verlaub gesagt, vielleicht eine Art katholischer Seniorenveranstaltung, besonders in Europa.  Diese Liebe zum Konzil ist sehr verständlich, weil man in einer immer reaktionärer werdenden römischen Kirche noch retten will, was zu retten ist… in dem berühmten reformerischen “Dauer – Lauf” gegen die hohen (vatikanischen) Festungsmauern. Aber diese (masochistisch?) eingefärbte “Liebe zum Konzil” könnte erkennen: Sie lebt aus der dialektischen Verklammerung mit den Feinden des Konzils, den reaktionären Piusbrüdern und anderen (!), viel einflussreicheren Kreisen im Katholizismus. Die “reformerischen Kreise” sehen aber nicht, dass auch dieses Konzil ein neuer Ausdruck einer Klerus – Herrschaft war. Ist das so wirklich so attraktiv für das “Volk Gottes”?

– Die Mehrheit der Konzilsväter war wohl „reformgesinnt“, aber es handelte sich um eine bunte, „mehrdeutige“ (so der Historiker Giuseppe  Alberigo) Reformergruppe. So verteidigten etwa die US – Bischöfe damals noch die Todesstrafe… Der Pluralismus macht die offiziellen Konzilsdokumente widersprüchlich und deswegen offen für alle möglichen Interpretationen. Es gibt nicht „das“ Reformkonzil. Der Konzilsberater P. Giulio Girardi SDB spricht deswegen von „zwei Vatikanums“ zur gleichen Zeit. „Ich erinnere mich an gemeinsame Sitzungen mit Bischof Karol Wojtyla bei der Redaktion des Dokuments =Kirche in der Welt von heute=: Da zeigte er eine kämpferische Haltung gegen die offene Position der Mehrheit“. Im ganzen gilt: „Die Konzilstexte sind Kompromisse; die Beurteilung der vom Konzil gewollten Erneuerung kann gar nicht einheitlich sein“ (so der Historiker Daniele Menozzi). Auch der Papst hat heute seine eigene Lesart, und die sei absolut gültig, sagt er. Der Papst allein bestimmt die einzig legitime Interpretation des Konzils – und kann sich dabei auf die Konzilstexte selbst berufen. Schließlich sind diese Dokumente ja geschaffen von der Hierarchie selbst. Das nennt man “Zirkel” – Argumentation…und Ideologie.

– „Niemals wurde der Widerstand reaktionärer Anti –Konzils – Bischöfe gebrochen“, betont G. Alberigo. Papst  Paul VI. ließ sich für ihre Zwecke instrumentalisieren. Von brüderlicher Kollegialität wollte er nichts wissen. Paul VI. war alles andere als eine “progressive Figur”… Kann man da allen Ernstes von einem „Konzil der Freiheit“ (Karl Rahner) sprechen? Wie viel Ideologie verbirgt sich in der modernen Konzils – Theologie? Eine unbeantwortete Frage… Giovanni Franzoni nahm als Benediktiner – Abt von St. Paul (Rom) an den beiden letzten Sitzungsperioden als „Konzilsvater“ teil. Er schreibt: „Papst Paul VI. hat alles getan, dass der Konzilsgeist zuerst gezähmt und später eingefroren wurde. Johannes Paul II. und Joseph Ratzinger setzten dieses Werk fort“.  Kollegialität wird in den Konzilstexten nur im Zusammenhang der „vorrangigen Gewalt des Papstes“ besprochen. Paul VI. als der „Herr der Kirche“ verfügte: Eine die absolute Macht des Papsttums stärkende Ausführung sollte der „Dogmatischen Konstitution über die Kirche“ noch ergänzend folgen. Später hat er gegen den ausdrücklichen Willen der Konzilsväter „Maria als Mutter der Kirche“ proklamiert: „Achtung, ihr Bischöfe“, so deutet G. Franzoni die Eigenmächtigkeit des Papstes, „ihr könnt diskutieren, was ihr wollt. Ich entscheide“. „Die Konzilsväter hatten nicht den Mut zu fordern, dass gründlich diese Frage in der Konzilsaula besprochen wird“. (D. Menozzi).

– Das Konzil war europäisch geprägt, trotz der Anwesenheit etlicher afrikanischer oder asiatischer Bischöfe. „Die Beteiligung der gesamten lateinamerikanischen Kirche am Konzil war, von Ausnahmen abgesehen, bescheiden“, so der Befreiungstheologe Gustavo Gutiérrez.

Es war eine Veranstaltung, die unkritisch an den europäisch geprägten Fortschritt glaubte: Das Dokument „Über die Kirche in der Welt von heute“ lobt etwa die „Herrschaft (!) der Menschheit über die Schöpfung“! Der Krieg wird zwar als großes Übel dargestellt. Aber: “Wer als Soldat im Dienst des Vaterlandes (sic!) steht, betrachte sich als Diener der Sicherheit und Freiheit der Völker“.

– Es war eine Veranstaltung, die das wohlhabende Europa repräsentierte und weithin in dessen Kategorien dachte: „Die Reflexion über die Kirche der Armen übte keinen gewichtigen Einfluss auf die Konzilstexte aus“, so der Konzilstheologe und Dominikaner Edward Schillebeeckx. Die Forderung von Kardinal Lercaro, Bologna, ein offizielles Bekenntnis zur Kirche der Armen zu formulieren, fand kein Gehör. Nach dem Konzil wurde Lercaro in die “Wüste geschickt”. Nur sehr halbherzig wurde an einigen Stellen der Konzilstexte von der armen Kirche gesprochen. Der Reichtum der europäisch/amerikanisch/vatikanischen Kirche mit ihren (Vatikanischen) Banken und den entsprechenden, heute öffentlichen Schiebereien, war überhaupt kein Thema des Konzils. Alles verlief gehorsam – würdevoll, wie es der Papst wünscht. Alles war irgendwie noch “Barock”, eine Aufführung des “Hofes” (Curia, Hof, ist ja der offizielle Titel des Papst – Staates).

– Es war ein Konzil, das den Dialog hochtrabend forderte, aber eigentlich nicht anstrebte. Z.B: Die Überzeugungen der Atheisten werden „verderbliche Lehren“ genannt, sie werden „mit aller Festigkeit verurteilt“. Daraus folgt, ziemlich dreist: “Für die Glaubenden verlangt die Kirche Handlungsfreiheit (in Gesellschaft und im Staat), damit sie in dieser Welt auch den Tempel Gottes errichten können. Die Atheisten aber lädt die Kirche schlicht ein, das Evangelium unbefangen zu würdigen“…Die Gruppen für den „Dialog mit den Ungläubigen“ wurden schon in den achtziger Jahren aufgelöst…Theologen in Indien, Japan, Sri Lanka, Peru usw., die den vom Konzila geforderten Dialog tatsächlich lebten, wurden ihrer Ämter entfernt…Sie erkannten dann die “große Illusion”.

– Es war ein Konzil, das die „Autonomie der Welt“ nur oberflächlich akzeptierte: Es sagt Ja zur Eigengesetzlichkeit der Welt. ABER damit sei gemeint, dass der Mensch die Autonomie „nicht ohne Bezug auf den Schöpfer“ gebrauchen darf. Wer aber lehrt den rechten Bezug zum Schöpfer? Das oberste Lehramt!

Freiheit der theologischen Wissenschaft ist ausgeschlossen. Über historisch – kritisch arbeitende Exegeten heißt es: „Sie stehen unter Aufsicht des kirchlichen Lehramtes“.

– Es werden widersprüchliche Symbole für das Selbstverständnis der Kirche beschworen: Das „Volk Gottes unterwegs“ und der „mystische Leib Christi“. Das „Volk“ kennt die Gleichheit der Mitglieder. Der Leib Christi wird beherrscht vom alles bestimmende Haupt, dem Klerus.

– Es wird eine Ökumene konzipiert, die vorausgesetzt, dass Gott selbst die katholische Kirche gestiftet hat. Die “anderen Kirchen”, vor allem die protestantischen,  sind bloß “christliche Gemeinschaften”. Was Benedikt XVI. heite sagt, ist in den Konzilstexten grundgelegt.

– „Mission“ bedeutet für das Konzil Bekehrung zur Katholischen Kirche. Von interreligiösem Dialog ist nur ganz am Rande die Rede.

– Das Konzil begnügte sich, die Texte der Messe in die jeweilige Landessprache zu übersetzen. Das führte zu lebensfern klingenden Formeln und Floskeln in den Gottesdiensten. Der gemeinte Inhalt hätte ganz neue sprachliche Gestalt finden müssen. Unter der weltfremden Sprache leiden Katholiken noch heute…Zudem wurde die Messfeier derartig als absolutes Zentrum katholischer Frömmigkeit überhöht, weil eben nur der zölibatäre Klerus, die Männer, die Messe feiern darf. So wird über die Spiritualität der sogenannten “absolut wichtigen Messfeier” nur  die absolute Bedeutung  des zölibatären Klerus verteidigt und festgeschrieben…

Das 2. Vatikanische Konzil gilt es also zu „überholen“, vor allem, weil es – wie die Konzilien zuvor – viel zu viel von Gott,  Christus, Maria, der Trinität, der Kirche, den Sakramenten und so weiter und so weiter weiß. Das Konzil gibt sich nahezu allwissend der Gottesfrage und den genannten anderen Fragen gegenüber. In einer die heutige Skepsis und vor allem die mystische Erfahrung aufgreifenden Theologie ist sehr viel mehr intellektuelle Bescheidenheit angebracht. Diese Alleswisserei damaliger Bischöfe wird nicht erst heute eher als störend denn als Inspiration empfunden. Könnte man den Kern der christlichen, auf Jesus von Nazareth bezogenen Erfahrung, nicht auch auf 10 Seiten sprachlich nachvollziehbar ohne klerikales Pathos (s.o.) mitteilen?

Kirchenreformer sollten ihren Enthusiasmus für dieses Konzil sehr bremsen und seine grundgelegten Begrenztheiten anerkennen. Sie werden dieses Konzil wohl überwinden müssen, wenn sie für einen ökumenischen Katholizismus der Zukunft eintreten, also für eine tatsächlich andere, “evangelische” und dialogische Kirche mit sehr wenig Hierarchie, aber viel mehr Mitbestimmung und Gleichberechtigung, vor allem von Frauen. Die offiziellen Konzilstexte sind theologisch ein Stück Vergangenheit. Es gibt dringendere Themen der religiösen Menschheit und der nicht – religiösen Menschheit von heute…

copyright:Christian Modehn/Religionsphilosophischer Salon Berlin.