Meinen Tod annehmen – meinen Tod sterben dürfen. Ein Interview mit Prof. Wilhelm Gräb, Humboldt Universität

Meinen Tod annehmen, meinen Tod sterben dürfen

Ein Interview mit Prof. Wilhelm Gräb, Humboldt Universität zu Berlin

Die Fragen stellte Christian Modehn. Veröffentlicht am 12. 11.2012

In unserer Gesellschaft, vor allem im Fernsehen und Kino, sind Sterben und Tod, sind Mord und Totschlag, „spielerisch“ wie real in Kriegen und Katastrophen, allgegenwärtig. Zeigt sich in dieser Überfülle von Todesbildern eine Fluchtbewegung vor der Auseinandersetzung mit meinem eigenen Tod?

Bei solchen Kulturverfallsklagen werde ich immer etwas misstrauisch. Ich bin mir nicht sicher, ob die Menschen früherer Generationen, als das Sterben in der nächsten Umgebung von Familie und Nachbarschaft noch viel häufiger vorkam als heute, sich mit dem Tod und dem eigenen Sterben intensiver auseinandergesetzt haben. Es ist zwar richtig, dass in unserer Mediengesellschaft die Begegnung mit dem Tod der anderen zu einer solchen aus zweiter Hand geworden ist. Wir erleben den Tod nicht mehr so hautnah, seltener in sozialer Nähe, sind aber durch die Medien dennoch ständig mit ihm konfrontiert. Gleichwohl wissen wir genauso, dass wir sterben müssen. Jeder und jede weiß das. Und auch heute fragen schon die Kinder, was das heißt, tot zu sein.

 

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Fritz Roth, Bestatter: Inmitten der Trauer das Leben lieben… und über Sterbehilfe nachdenken

Wir bieten hier einige wichtige  Informationen zu Fritz Roth, einem der wegweisenden und prägenden, inspirierenden Bestatter in Bergisch – Gladbach.   Mit großer Trauer hören wir, dass Fritz Roth am 13. 12. 2012 verstorben ist. Seine Ideen, seine Kreativität, seine Menschenfreundlichkeit: sie leben weiter.

Weiter unten finden Sie zum Nachlesen eine Ra­dio­sen­dung.

Zuerst aber ein Statement von Fritz Roth, das er im Oktober 2012 unter seinen regelmässigen “Denkanstößen” publizierte, zum Thema Selbstbestimmung und Sterben, “Sterbehilfe”. Dieses Thema wurde leider in der Talkshow der ARD mit Günter Jauch am 18.11.2012 um 21. 45 nicht angesprochen;  es wäre aber wichtig gewesen, Fritz Roth danach zu befragen, da er sich selbst als einen gläubigen Katholiken versteht mit zahlreichen Verbindungen zu katholischen Organisationen!

Am 30.10. 2012 in “Denkanstoß Nr. 66” schrieb Fritz Roth:

Ich möchte auch noch einmal für ein Thema streiten, das wir wie Trauer und Tod aus dem öffentlichen Bewusstsein oft genug verdrängen.

Es geht um Sterbehilfe.

Die Liebe, Aufmerksamkeit und Wertschätzung, die ich von meiner Familie, von Freunden, Bekannten und auch von Seiten der Medien bekomme, seit bekannt wurde, dass ich unheilbar an Leberkrebs erkrankt bin, berührt mich tief. Ich danke allen, die mir in den letzten Wochen zugehört, mich in ihre Sendungen eingeladen und über mich geschrieben haben. Während der Gespräche gab es immer wieder bewegende Momente.

Bisher war mein Lebensthema Trauer. Menschen kamen immer dann zu mir, wenn sie einen Trauerfall in der Familie hatten, oder sich aus anderen Gründen für das Thema interessierten. Trauernden zu helfen und Menschen mit dem Tod vertraut zu machen, hat einen Großteil meines Lebensglückes ausgemacht. Ich liebe meinen Beruf. Eine neue Trauerkultur nicht nur zu fordern, sondern sie mit zu gestalten, ist für mich eine große Erfüllung.

Meinen eigenen Tod vor Augen würde ich der gesellschaftlichen Diskussion gerne noch einmal einen Impuls geben. Die Vorstellung an Schläuchen zu hängen und von der Funktionsfähigkeit einer Maschine abhängig zu sein, ist schlimm. Natürlich möchte ich schmerzfrei sterben. Das ist heutzutage kein Problem. Aber ich möchte auch bewusst sterben.

Es wäre eine große Erleichterung, über meinen eigenen Tod selbst entscheiden zu können. Ob ich die Entscheidung fälle, steht auf einem anderen Blatt. Ich möchte es nur dürfen. Wenn es ans Sterben geht, möchte ich meine Würde und meine Mündigkeit behalten. Ich finde es bedenklich, wie wir versuchen, alles per Gesetz zu regeln, den Anfang und das Ende des Lebens. Dass meine Frau aus dem Zimmer gehen muss, um sich nicht strafbar zu machen, wenn sie mir etwas gibt, damit ich mein Leben würdevoll beenden kann – ich halte das für menschenunwürdig.

Ich möchte mir nicht selber das Leben nehmen, aber ich möchte darüber wenigstens nachdenken können, und es müsste ermöglicht werden dürfen. Und dafür möchte ich nicht in die Schweiz fahren, sondern das möchte ich zu Hause tun können, vielleicht dabei aus dem Fenster schauen oder was immer mir noch möglich ist. Meine Lebenssituation kann sich sehr schnell ändern. Im Moment fühle ich mich gut und bin voller Tatendrang. Das kann in ein paar Wochen anders sein, dann macht mir der Krebs vielleicht wirklich Angst, weil ich mich vor Schmerzen krümme. Ich werde vorbereitet sein.  Herzlichst, Ihr Fritz Roth.

Die NDR Ra­dio­sen­dung aus der Reihe Lebenswelten (2006):

Inmitten der Trauer das Leben lieben

Fritz Roth – Bestatter, Philosoph, Seelsorger

Von Christian Modehn

Einige Freunde des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons baten darum, die Sendung über den Bestatter Fritz Roth, Bergisch – Gladbach, NDR 2006,  noch einmal nachlesen zu können. Wir bieten hier die für Rundfunkproduktionen übliche Form auch mit den abgeschriebenen O Tönen zur privaten Verwendung … und zur Hochschätzung der Leistungen von Fritz Roth in der Suche nach menschlicher Trauer und Begleitung. Dieser Beitrag dokumentiert  einige wichtige Aspekte der Arbeit von Fritz Roth.

22 O TON Zuspielungen

1. O TON, 0 25″.

In meinem Mittelpunkt steht nicht mehr der Tote, sondern der, der mit dem Tod leben muss.  Mascha Kalekko sagt so treffend: Den eigenen Tod, den stirbt man nur, doch mit dem Tod der anderen, den muss man leben. Und wenn ich wieder weiß, was Tod ist, dann bekomm ich eine neue Werteinstellung zu meinem Leben und auch zum Leben der anderen.

Fritz Roth sitzt in seinem Salon, umgeben von feinen Möbel und alten Teppichen, an den Wänden Gemälde zeitgenössischer Künstler. Die Fenster geben den Blick frei in die üppige Natur: Bäume in herbstlicher Farbenpracht, in der Ferne einige Skulpturen. Befinden wir uns in einem eleganten Land-Hotel? Der Besucher möchte es glauben, wenn er in Bergisch-Gladbach das Grundstück von Fritz Roth betritt und über verschlungene Wege auf der Anhöhe die alte Villa erreicht. In diesem Landhaus möchte man verweilen und ausruhen. Und genau dazu fordert Fritz Roth auf. Denn er meint: Seine Besucher und Gäste hätten einen Anspruch darauf, sich hier “wie zu Hause zu fühlen”. Denn sie durchleben schwere Stunden: Sie müssen sich von ihren Lieben verabschieden, hier erleben sie, wie der Sarg geschlossen wird. In wohltuender Atmosphäre fällt es leichter, sich dem Unabänderlichen vertraut zu machen. Angela Kirch hat vor einigen Jahren ihren Mann verloren. Zuerst kümmerte sich ein Bestatter aus der unmittelbaren Nachbarschaft um die Leiche. Einige Freunde hatten sie aber an Fritz Roth verwiesen:

2. O TON, 1 16″

Hier hab ich dann die Möglichkeit gehabt, wirklich von ihm auch Abschied zu nehmen. Der Herr Roth war dann dabei, hat mir geholfen, und zuerst mal die Berührung mit dem toten Körper vorgemacht. Dass ich mich auch traute, dass ich einfach das Ereignis realisieren konnte, dass ich ihn auch mit angezogen habe, ihm Kleidung ausgesucht habe zu Hause und dann beim Anziehen dabei. Er war ja dadurch, dass er tot gefunden wurde von dem anderen Bestattungsunternehmen eingesagt worden. Hatte dann ein Rüschenkissen, und eine Rüschendecke, da war der Sarg mit ausgestattet. Und das war so fremd für mich. Und dann wurde das direkt aufgenommen und er hat gesagt, dann sollte ich doch von zu Hause was mit bringen, was so besser passt. Und dann haben wir das umgeändert in seine Wolldecke, die immer und überall mit hin genommen wurde in den Urlaub oder so. Konnte ich ihm dann in den Sarg legen, Kopfkissen, wo er einfach vertrauter aussah, nicht.

Im Erdgeschoss seines Hauses hat Fritz Roth gemütliche Wohnzimmer eingerichtet, mit Sesselecken und Sofas, mit Schränken und einer kleinen Kochnische. Und in der Mitte steht der offene Sarg. Hier können die Hinterbliebenen bei ihrem Verstorbenen verweilen; sie können bleiben, solange sie wollen. Und sie dürfen kommen, wann immer sie möchten, selbst nachts. Ein Mitarbeiter ist immer in Rufbereitschaft. Bei einem Verkehrsunfall im Ruhrgebiet hat Herbert Arntz seine Frau und eine seiner Töchter verloren.

3. O TON, 1 23″

Dann hab ich den Herrn Roth angerufen, obwohl mein Bestatter schon gesagt hat, die sind so schlimm zugerichtet die Toten. Gucken sie die nicht mehr an, sehen sie, dass sie das schnell über die Bühne kriegen. Und der hat gesagt, der Herr Roth, das lassen wir mal so stehen, ich fahre nach Essen ins Krankenhaus, ich gucke mir die an. Das hat der dann auch gemacht. Rief mich am selben Tag noch an und sagte, das ist kein Problem, die Toten sind nicht so entstellt. Er holt die nach Bergisch Gladbach von Essen, die werden hier aufgebahrt und ich könnte Tag und Nacht kommen, um Abschied zu nehmen, das wäre ganz wichtig. Und ich fand ganz hilfreich, mit welchem Einfühlungsvermögen der Herr Roth mit mir umgegangen ist. Als hätte er das selber erlebt, das Gefühl hatte ich, ich hatte sofort einen Verbündeten. Und dann er hat mich an die Hand genommen und runtergeführt in den Raum, wo die beiden dann lagen, und stand dann erst mal mit mir schweigend. Er hat dann auch ermutigt, die Toten anzufassen,  um zu sehen, dass sie eben nicht mehr leben, dass sie kalt sind, und auch, dass sie sich verändern werden im Laufe der Zeit, dass man das auch mit sieht und wirklich sicher ist: Die sind tot, ihre Hülle ist tot, und davon kann man sich verabschieden.

Herbert Arntz hat hier unter Tränen langsam entdeckt: Trauer ist keine Krankheit. Du musst dich deswegen nicht schämen. Du darfst weinen, brauchst dich nicht zu verstecken. Aber dann beginnt tastend und suchend eine neue Lebensphase. Für die Hinterbliebenen bietet Fritz Roth in seinem Haus Gesprächsgruppen an. Trauernde treffen sich zweimal im Monat in kleinem Kreis. Sie wollen einander stützen und gemeinsam Auswege aus der Verzweiflung suchen. Herbert Arntz:

4. O TON, 0 38″.
Als die erste Trauergruppe dann zu ihrem Ende kam, die sich auflöste, da hatte man uns gefragt, ob man nicht Betroffene, die schon eine Trauergruppe erlebt haben, auch  als authentische Figuren, als Ko- Referat so dabei sitzen. Und das haben wir dann auch gemacht, wir haben dann nachfolgende Gruppen noch begleitet. Und das war noch mal hilfreich für mich zu sehen, dass ich schon ein Stück vorangekommen bin, dass ich schon ein Stück weiter war und sagen konnte: Mensch, das kenn ich, das ändert sich, und konnte das vielleicht authentisch sagen, weil ich ja selber ein Betroffener war und nicht ein Belehrender war.

Den Trauernden wieder Mut machen, das Leben zu lieben: Fritz Roth hat sich dieses anspruchsvolle Ziel gesetzt, und er verlangt dafür bloß die üblichen Honorare. Nicht gerade selbstverständlich in einer Branche, in der Konkurrenzkampf kein Fremdwort ist und Effektivität oder Profit als oberste Werte gelten. Fritz Roth wurde 1949 in einem kleinen Dorf im Bergischen geboren:

5. O TON, 0 38″.

Dass ich mich so dem Tod widme, hätte ich eigentlich an meiner Wiege nicht gedacht. Weil, ich war ja Bauernsohn und sollte Bauer werden. War der einzige Sohn. Auf dem Bauernhof war der Umgang mit Leben und Tod ein ganz natürlicher. Und das war mir nicht so bewusst, aber das war allgemeine Lebenserfahrung. So wie wir lachten, so weinten wir auch, wir begegneten dem Tod, wir wurden ihm nicht ferngehalten. Der Tote war zu Hause, er wurde von der Familie anzogen, er wurde betrauert; die Leute kamen in das Trauerhaus, dann setzten sie sich um den Toten herum. Er wurde aus der Gemeinschaft heraus beerdigt, und danach gab es auch immer etwas Tolles zu essen.

Aber lange hielt es ihn nicht in dieser so harmonischen, beinahe idyllisch erlebten Welt. Der jugendliche Traum von fernen Welten im Dienst der Mission war mächtiger:

6. O TON, 0 21″.

Dann bin ich mit 10 Jahren in ein Kloster gegangen, weil ich Missionar werden wollte. Bin immer sehr begeisterungsfähig: Ich kam aus der Schule, und da kamen zwei Patres, und die begeisterten mich dafür ins Kloster zu gehen, also habe ich sehr zum Leidwesen meines Vaters mein Ränzlein geschnürt, bin nach Holland gegangen, war neun Jahre bei den Steyler Missionaren und da war der Umgang auch immer mit Tod ein ganz natürlicher.

…weil die Ordensleute beim Tod ihres Mitbruders dabei waren, der Verstorbene in der Kirche für ein paar Stunden aufgebahrt und mit Liedern der Zuversicht, mit einem Halleluja, bestattet wurde.

Nach dem Abitur im Kloster-Gymnasium studiert Fritz Roth Volkswirtschaft, er wird Unternehmensberater, bricht seine Karriere aber ab, weil er etwas ganz anderes vorhat: Er will den Umgang mit Sterben und Tod menschlicher gestalten. Dieser berufliche Umbruch, dieser Neubeginn, ist vielleicht mit der Dynamik einer religiösen Berufung vergleichbar. Fritz Roth will ein besonderer Bestatter werden: Bei Spezialisten für Trauerbegleitung, den Psychologen Jorgos Canacakis und Verena Kast, macht er seine Studien. Seit der Gründung vor 23 Jahren ist das “Haus der menschlichen Begleitung” größer geworden, es zählt heute mehr als 20 Mitarbeiter. Fritz Roth kümmert sich auch um die alltäglichen Aufgaben eines Bestatters, aber er will mehr, möchte Neues schaffen, Modelle bieten für eine zeitgemäße Trauerkultur. Vor wenigen Monaten hat er auf seinem weiträumigen Waldgelände Deutschlands ersten Privat-Friedhof eröffnet. Einmal pro Woche führt er Gruppen über das Friedhofsgelände:

7. O TON, 0 27″. 

Natur ist für mich auch immer einer der besten Trauerbegleiter, ich vergleiche in meiner Arbeit Trauerzeit mit Winterzeit. Sogar die Bäume, die machen mir Mut: was machen die im Winter: Die werfen alles weg, was morsch und faul ist. Sie konzentrieren sich auf das Wesentliche, man könnte fast so sagen, wie Exerzitien. Und da kann der Schnee im Bergischen und dort, wo Sie leben noch so hoch sein: Der Baum hat das Vertrauen, ich werde wieder grün werden.

Der Friedhofsgarten ist voller Symbole: Sie fallen dem Besucher förmlich vor die Füße: Eine Mauer, zum Klagen bestimmt; Berge von Wurzeln, die das Gespür für die eigenen Erdverbundenheit wachrufen. Ein kleiner Garten voller heilsamer Kräuter, sanfte Mahnungen, gesünder zu leben. Und immer folgt der Weg durch den Park-Friedhof der in sich ruhenden Form einer liegenden 8, sie wirkt wie eine Schleife der Unendlichkeit:

8. O TON, 0 38″.

Hier kommt die liegende 8 zusammen. Und geht wieder auseinander. Und deshalb ist dieser Schnittpunkt für mich auch ein spiritueller Punkt. Und wir sehen hier die Pflasterung ist auf ein mal eine andere. Und wenn sie genau auf diese Pflaster schauen, dann sehen sie am äußeren Rand, dass diese Steine Namen tragen. Eigentlich müsste jeder Stein einen Namen tragen. Denn ich möchte mit diesen Steinen zum Ausdruck bringen die Entwicklung unserer Menschheit. Und es kommt auf jeden Stein an, es kommt auf jeden an. Wenn einer von Ihnen nicht leben würde, wäre die Welt anders.

Die Besucher halten inne, schauen in die weite Landschaft. Sie ahnen nicht, dass es heute noch sehr viel Durchsetzungsvermögen kostet, einen privaten Friedhof in Nordrhein-Westfalen  zu eröffnen. Immerhin: Auf dem Privaten Friedhof sind der Kreativität fast keine Grenze gesetzt:

9. O TON, 0 26″.

Hier gibt es nur eine Bedingung: Keiner wird namenlos bestattet. Eine junge Frau, die starb und die sollte eigentlich anonym beigesetzt werden. Aber bevor sie starb, hatte sie noch von diesem Konzept gehört, und hatte ihren Mann hier hin geschickt und hat gesagt, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind, dann möchte ich nicht anonym bestattet werden. Und sie sagte: Dieser Stein aus dem Garten, die Pflanzen aus dem Garten, die müssen auf mein Grab. Und das machten wir. Und sie war die Frau, die eine Vorliebe zum Mond hatte. Wo ihr Mann sie dann  nachts um 12  Uhr in einer Mondnacht beigesetzt hat. Das ist alles möglich.

Fritz Roth hat sich den missionarischen Elan aus Jugendzeiten bewahrt: Er will eine Botschaft verbreiten. Und seine “Message” bezieht sch auf Grundsätzliches: Jeder Mensch soll die absolute Begrenztheit des Lebens anerkennen. Zur Verbreitung dieser Botschaft ist ihm beinahe jedes Mittel recht:

11. O TON,  0 41″.

Im Sommer haben wir immer ein Sommerkonzert, für alle, die traurig sind. Und für mich war das immer so eine Sache, im Sommer reden alle nur vom Wegfahren. von Urlaub, und ich sehe nicht die traurige Nachbarin, die ihr Kind verloren hat. Also habe ich seit 15 Jahren immer eingeladen zu einem Sommerkonzert: “Streicheleinheiten für die Seele”. Wo jeder hin kommen konnte, der traurig war, mittlerweile kommen auch sehr viele, die gar nicht traurig sind. Hab bekannte Musiker eingeladen, und ich konnte einen Abend die Seele baumeln lassen. Und hier haben die Bläck Fööss gesungen, Tommy Engel war hier, der bekannte Lied-Sänger von den Bläck Fööss, bei dem waren 1400 Teilnehmer.

Vor allem seine Kollegen, die Bestatter,  möchte Fritz Roth für eine neue Trauerkultur begeistern, das gelingt nicht immer. Es gibt viel Neid in der Branche, und manche sind schadenfroh, wenn “der Roth” sich in seinem Enthusiasmus förmlich überschlägt und vor vier Jahren sein eigenes, privates Krematorium einrichten wollte, ein Projekt, das an der Bürokratie scheiterte. Andererseits: Einige Kollegen haben Respekt vor seiner Leistung:

12. O TON, 0 21″,

Ich bin selbst Bestatter und kenne Herrn Roth schon seit Jahren, habe es miterlebt, wie die Anfänge waren, bin begeistert. Ich kann nur sagen, das müsste weit mehr möglich sein, es ist der richtige Weg. Bin eben mal so 10 Minuten durch den Wald gegangen und da fand ich die innere Ruhe, was jeder Mensch braucht, um zu sich zu finden.

Eine neue Bestattungskultur könnte die Lebensqualität verbessern, landauf landab verkündet Fritz Roth seine Philosophie, in Büchern und Talkshows, in der Presse und bei Vorträgen: Einige Pflegeheime für alte Menschen haben sich seinen Vorschlägen angeschlossen, berichtet Irmgard Pracht aus Wuppertal:

13. O TON, 0 41″.

Die Bewohner sterben in ihren Zimmern, in ihrem vertrauten Raum. Sie werden dort auch begleitet bis zum Ende und werden nach dem Tod auch dort verabschiedet, also mit der Familien, wenn das gewünscht wird, mit der Familie, mit dem Pflegepersonal, mit den Mitbewohnern, da wird eine kleine Aussegnungsfeier gemacht und dann kommt der Bestatter. Es erregt bei uns ein großes Aufsehen, dass der Bestatter mit dem Sarg durch den Haupteingang kommt. Die Menschen, die dort zu Besuch sind, die sehen, dass dort gestorben wird. Das ist nicht immer einfach auch für die Menschen, die dort leben, die sagen: Wir wollen das gar nicht, wir wollen gar nicht immer erinnert werden.

Den Tod in der Öffentlichkeit verdrängen, und die Toten möglichst unsichtbar machen: Noch immer ist dies traurige Wirklichkeit. Aber Fritz Roth lässt sich nicht entmutigen, er erläutert seinen Besuchern immer wieder neue, ungewöhnliche Projekte:

14. O TON,  1 08″.

Deshalb sehen sie hier die Villa Trauerbunt, das Haus des trauernden Kindes. Das ist nur für Kinder reserviert, dieses Haus, wo Kinder die einen Verlust hatten, über Malen, Spielen, Gestalten, Basteln, (mittwochs und donnerstag) ihre Gefühle ausdrücken können. Dann haben wir einen Wut?? Raum drin: Und jedes im Mai, Juni, beauftragte ich eine Theaterfrau ein Theaterspiel für Kinder über Staunen, Hinsehen, Phantasieren, aber auch über Tod zu entwickeln. Und das bieten wir allen Grundschulklassen, allen Kindergärten an, und in den letzten Jahren sind über 12.000 Kinder im Alter zwischen 5 und 9 Jahren hier gewesen. Und gleichzeitig spielen die draußen und drinnen ist vielleicht eine Trauerfeier oder eine Veranstaltung, und es passt alles unter ein Dach. Und meine Endvorstellung ist es ja, dass dieses Haus ein Geburtshaus wird, wenn hier Menschen Tränen der Freude weinen über Leben, das begonnen hat. Und daneben stehen Menschen, die Tränen der Trauer weinen über Leben, das sich vollendet hat. Aber das Geburtshaus dauert noch wahrscheinlich ein bisschen, ich will nicht noch Gynäkologe werden.

Fritz Roth will unter allen Umständen wieder den Tod mitten ins Leben stellen. Für ihn ist das eigentlich kein neuer, schon gar nicht ein revolutionärer Gedanke,  sondern eher ein konservatives Programm, voller Sehnsucht nach der alten behüteten Heimat:

10. O TON,  1 02″.

All das, was ich hier tue, das fordere ich auch für mich ein. Meine Mutter, die starb vor 5 Jahren. Und wir haben sie 8 Tage zu Hause gelassen. Und wir hatten wunderbare 8 Tage, hier war ich der Sohn, hier war ich nicht der Bestatter. Wir konnten die alten Fotoalben noch mal herausholen. Nachbarn kamen, setzten sich um den Sarg unserer Mutter, erzählten uns Geschichten. Wir hatten Zeit eine wunderbare Todesanzeige selber zu gestalten. Wir hatten Zeit, die Ansprache für die Mutter zu schreiben. Und dem Pastor haben wir gesagt, die Ansprache, die halte ich. Die Messe mit den Liedern, die suchen wir aus. Und das müssen nicht immer Kirchenlieder sein. Sondern das sollten Lieder des Lebens sein. Wir haben nach der Messe die Mutter rausgetragen aus der Kirche. Wir sind durch die Straßen wieder gezogen. (Aber) Ich möchte, dass man in einem Gemeinwesen wieder entdeckt, hier wird  nicht nur der Karnevalszug, nicht nur der Schützenzug nicht sonstige Umzüge gefeiert, hier wird auch gestorben.

Es ist die Begeisterung, die ihn leitet und wie einen Missionar in die Ferne treibt:

15. O TON, 0 23″. 

Ich hab bis zum Jahresende glaube ich noch 30, 40 Veranstaltungen laufen. /Es ändert sich/ Ich rase wie ein Rasselli durch die Lande, um überall Flächenbrände des Lebens zu entfachen. Und ich weiß, das kann ich auch. Ich kann Menschen dafür begeistern, ich kann sie zum Träumen und zum Spinnen bringen. Und ich bin sicher in 10 Jahren sieht die Welt wieder ganz anders aus.

….ob dann wirklich der Tod ins Leben integriert ist? So ganz sicher ist sich Fritz Roth manchmal doch nicht, wenn er sich zeitgenössische Trends beobachtet:

16. O TON, 0 50″.

Ich kann es eigentlich nicht verstehen, dass wir immer mehr unseren Namen aufgeben. Wir leben auf der anderen Seite in einer konsumorientierten, Marken-orientierten Welt, kaufen keine Artikel,  wenn es keine Markenartikel sind, geben aber den tollsten aller Markenartikel, und das ist mein Name, den geben wir auf. Meinen, im Tode, über den Tod hinaus namenlos zu verschwinden. Und dabei haben wir seit 2000 Jahren einen wunderbaren Gedanken mitbekommen: “Ich hab dir einen Namen gegeben, und ich werde dich bei deinem Namen rufen”. Und für mich es ist eigentlich klar, vom verkodeten Menschen, die immer mehr zur Nummer werden, kann ich nicht erwarten, dass sie die Herausforderungen unserer Zeit annehmen. Wir sind keine Massenware, wir sind jeder ein Unikat, und dafür kämpfe ich.

Aber Fritz Roth ist kein verbissener Kämpfer, kein sturer Ideologe. Eher könnte man ihn eine rheinische Frohnatur nennen, allerdings voller Charme und provozierender Ironie: Beides kann er einsetzen, selbst wenn er vor hochrangigen Politikern spricht, etwa im Landtag von Hannover: Dort wurde vor zwei Jahren ein neues Bestattungsgesetz diskutiert. Fritz Roth plädierte für menschlichere, liberalere Gesetze im Umgang mit den Verstorbenen:

17. O TON, 1 26″.

Ich habe ein großes Poster von Pietà gebracht. Und hab gesagt, wir nennt ihr das denn?  Da steht ihr bewundernd vor. Wie nennt ihr das denn nach eurem Gesetz, wenn eine Mutter in einem deutschen Krankenhaus das gleiche machen würde. da ist ihr Kind gestorben. Und sie nimmt es wie Maria aus dem Bett heraus und sagt: Schaut her, das ist mein Kind und ich möchte nicht, dass es verschwindet in die Pathologie. Wie nennt ihr das, wenn diese Mutter ihr Kind nicht in ein dichtverschlossenes Behältnis, was Flüssigkeit undurchlässig ist, das ist die juristische Definition für einen Sarg, hineintut. Und wie nennt ihr das, nach eurem Gesetz, wenn diese Mutter ihr Kind nicht in einen für Leichen Ort hineintut, sondern dort hintut, wo wir alle gesundet sind? Einen Ort, wo wir früher auf dem Sofa gelegen haben. das was ich euch gerade sage, das wäre nach eurem Gesetz gar nicht möglich, weil ihr es für pietätlos haltet. Und ich möchte euch noch einen Gedanken mitgeben: das, was ich gerade gesagt habe, habe ich nicht konstruiert für den Landtag hier in Hannover. Ich habe schon 100mal gemacht, aber ich schwöre hier in dem Landtag, dass mich kein Gesetz der Welt, auch euer Bestattungsgesetz für Hannover, davon abhält, das gleiche zu tun, wenn diese Hilfe notwendig ist.

Die Rede im Landtag hat die Abgeordneten zwar berührt, aber nicht zu weitreichenden Reformen bewegt. Mit großer Mehrheit wurde ein Gesetz beschlossen, das einen privaten Friedhof oder gar die Verwahrung einer Urne im häuslichen Rahmen untersagt. Fritz Roth tröstet sich über diese Niederlage in Hannover  hinweg. Er startet einfach weitere Aktionen in seinem Haus und lädt ungewöhnliche Gäste zu Tagungen ein:

19. O TON, 0 31″. 

Ich bin vor 30 Jahren Polizist geworden. Tod ist zum Glück nicht unser täglicher Begleiter, aber wir haben sehr oft damit zu tun. Aber uns hat nie einer ein Instrument an die Hand gegeben, wie gehen wir damit um. Wie gehen wir damit um, einem das zu sagen, wenn wir jemandem den Tod mitteilen müssen eines Angehörigen. Das ist eine sehr plötzliche Sache, da ist keine lange Krankheit vorangegangen. Aber auch: Wie gehen wir selber denn damit um? Wie werden wir damit fertig, wenn die Leute vor uns zusammenbrechen. Das war allerhöchste Zeit, dass ein solches Seminar angeboten wird.

Aber auch die Polizisten sollen nicht nur Kopfarbeit leisten, sie sollen, wie bei allen Kursen im Hause Roth, seelisch bewegt werden:

20. O TON, 0 32″.

Wir haben auch praktische Übungen gemacht, eine davon war zum Beispiel: Wir sind in einen Raum reingegangen, in dem normalerweise Tote aufbewahrt werden. Da stand ein offener Sarg als Symbol für den Toten, der normalerweise in dem Sarg liegt, da war ein Pullover, eine Kappe, eine Blume und eine leere Flasche hinterlegt. Und eine der Aufgaben war, sich vorzustellen: Da liegt der geliebte Mensch drin, den man hat. Welche Gefühle man dabei entwickelt, und das geht dann schon mal ins Eingemachte, an die Substanz, wenn man sich emotional darauf einlässt.

Die Polizisten bedauern, dass sie erst so spät zur Auseinandersetzung mit dem Tod fanden. Fritz Roth hat diese Erkenntnis gleich aufgegriffen und Jugend- Gruppen in sein Haus geladen. Für sie nimmt er sich sonders gern Zeit:

21. O TON, 0 50″.

Mit diesen Jugendlichen gehe ich natürlich nicht sofort zu einem Toten hin. Ich nehme mir erst mal Zeit, mich mit ihnen auf den Weg zu machen. Nehme mir Zeit, so nachzuspüren, wo sie ihre Ängste haben, was sie für Erfahrungen haben, was sie für Vorstellungen haben. Und wenn ich dann mit ihnen zu einem Toten hingegangen bin, dann entdecken sie, dass das nichts mit einem Horrorszenarium zu tun hat. Sondern dass die Begegnung mit Tod eine Riesenchance auch für Ehrfurcht, für ein Mysterium um das Leben herum ist. Und ich kann immer nur wieder sagen, nach den Gesprächen auch, die wir danach dann auch führen: Da bin so begeistert, wenn diese Menschen das Haus verlassen, dass ich weiß, wir brauchen vor dem Morgen keine Angst zu haben, wenn wir heute im Hier und Jetzt auf unser Ende schauen.

Das “Haus der menschlichen Begleitung” mit seinem weitläufigen Friedhof nennen viele Menschen zurecht ein spirituelles Zentrum;  manche sprechen gar von einem neuen religiösen Ort. Konfessionen und Dogmen spielen hier allerdings keine Rolle mehr. Es gibt freilich die Ökumene derer, die dem Tod ins Auge gesehen haben. Herbert Arntz:

22. O TON,

Das hat mich erst mal nicht über den Tod nachdenken lassen, sondern über das Leben. Nämlich so zu leben, als könnte jeder Tag der letzte sein. Auch in der Beziehung so zu sein, dass man sich verabschiedet und das Gute sagt und nichts aufschiebt. Dass was gut zu tun ist, das auf keinen Fall aufschiebt, sondern das ständig zu erwähnen und zu sagen. Also auch authentischer zu leben und nicht mehr etwas zu verbergen, sondern wenn man fröhlich ist, die Fröhlichkeit zu zeigen. Und wenn man aber bedrückt ist, auch zu sagen: Ich bin jetzt bedrückt. Für die Toten ist gesorgt. Da muss ich nichts mehr unternehmen. Ich denke: Entscheidend ist, das eigene Wesen zu entwickeln, zu dem als der man gedacht war. Für mich  hier und heute bist.

copyright:christian modehn und NDR

 

Zum Welttag der Philosophie 2012: Der urbane Blick

Der urbane Blick – eine (Lese -) Empfehlung

Anlässlich des Welttages der Philosophie am 15. November 2012

Von Christian Modehn

Zum 10. Mal wird der „Welttag der Philosophie“ am 15. November 2012 gefeiert.

Der „Religionsphilosophische Salon Berlin“ bietet – im Unterschied zu früheren Jahren – an dem Feiertag selbst keine eigene Veranstaltung an. Am Samstag, 1. Dezember, findet hingegen ein ausführlicher „Nachmittags – Salon“ (ab 14 Uhr) in der Galerie Fantom, Hektorstr. 9, statt.

Wir wollen vom Salon aus jedoch auf einen Lektüretipp nicht verzichten. Und zwar bezeichnenderweise aus einer „Ecke“, in der explizit philosophische Reflexionen nicht unbedingt erwartet werden.

Die sehr beachtliche und empfehlenswerte Zeitschrift „Kunstforum International“ (Red. in Ruppichteroth) bietet in ihrer Ausgabe vom Oktober 2012 elf Beiträge zum Thema „Der urbane Blick“; in den Aufsätzen geht es immer wieder auch um eine philosophisch – phänomenologische Annäherung an die Stadt. Die Veröffentlichung dieser insgesamt empfehlenswerten Beiträge zeigt einmal mehr, dass Philosophie in allen Bereichen des Lebens, der Kultur, der Kunst, des Sozialen und Politischen lebt und nur der Explikation bedarf. Das zeigt die „Attraktivität“ des philosophierenden Denkens…

Inspirierend ist der Beitrag des Humangeographen  Prof. Jürgen Hasse (Uni Frankfurt/M.) über die „Stadt als Gefühlsraum“. Hasse weist damit auf einen bislang eher vernachlässigten Aspekt der Stadt – Philosophie hin, auf das schwierige Erforschen des Atmosphärischen einer Stadt. Es geht um das ganzheitliche, leibliche Erfahren des Stadtraumes: „Atmosphären SIND in ihrer Wirklichkeit, wenn auch in anderer Weise als Dinge. Sie sind anders lokalisiert als ein Haus im Häusermeer der Stadt. Sie umweben einen Ort, hüllen ihn ein und machen ihn zu einem situativ besonderen Ort.“ (S. 134).  Diesem Erleben des Atmosphärischen begrifflich nachvollziehbar auf die Spur zu kommen, ist das Verdienst dieses Beitrags, der sich immer wieder auf den Philosophen Hermann Schmitz („Neue Phänomenologie“) bezieht. Auch in einem „praktischen Interesse“ wichtig sind die Beschreibungen von „10 sinnlich erlebbaren Atmospären der Stadt“ (Baukultur, Gerüche, Licht und Schatten  usw.). Der leider viel zu früh verstorbene Philosoph Heinz Paetzold bietet einen auch für philosophierende „Laien“ äußerst inspirierenden Beitrag zur Phänomenologie des Flanierens, eine freie, subjektive Methode der langsam – gehenden, „ziellosen“ Stadt – Erkundung, die ja bekanntlich auch der Berliner Flaneur Franz Hessel praktizierte. Flanieren, so Paetzold, ist oft auch ein Abenteuer in der Konfrontation mit dem Fremden in der Stadt, es ist ein Sich stellen der „exotischen Andersheit“. Bei der flanierenden Stadterschließung bleibt die Distanz gewahrt, es kommt zu keinen unmittelbaren Verpflichtungen zwischen Flaneur und Beobachtetem.  Auch die Arbeiten von M. de Certeau und Z. Bauman werden in dem Beitrag fruchtbar gemacht.

Hier liegen Impulse für eine längst fällige praktisch – philosophisch – phänomenologische Stadt – Erkundung/Beobachtung. Der Religionsphilosophische Salon arbeitet an dem Thema, gerade auch im Interesse der Spurensuche nach „Transzendenz“ im Gefüge der Stadt Berlin. Nach der Lektüre der Beiträge im „Kunstforum International“ fragen sich auch theologisch Interessierte, wie fern etwa kirchliches Leben, in großstädtischen Gemeinden, diesem hier eröffneten Spektrum urbaner Verhältnisse ist.

copyright: christian modehn

Die ganz Elenden werden übersehen: Fragen zu “Sandy” und anderen Ungeheuerlichkeiten

Die Elenden werden übersehen – sie sind ökonomisch irrelevant

Beobachtungen zu „Sandy“ und anderen Ungeheuerlichkeiten

Von Christian Modehn

Wann beginnt Rassismus, fragen wir uns im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon. Zeigt sich in der internationalen Aufmerksamkeit auf Naturkatastrophen eine Vorliebe für wichtige Menschen in wichtigen Nationen gegenüber wertlosen Menschen in ökonomisch wertlosen und deswegen völlig uninteressanten Ländern? Ist diese „Vorliebe“ tendenziell rassistisch?

Wer die Berichterstattung der großen Medien anlässlich des Hurrikans Sandy beobachtet hat, kommt wahrscheinlich zu der Erkenntnis: Ja, die Sandy – Opfer in den USA sind wichtiger und interessanter als die Sandy Opfer etwa in Kuba oder Haiti. Die Upper East Side von Manhattan steht uns näher als die Barackensiedlung oder die Zeltstadt „Cité Soleil“ in Port – au – Prince, Haiti. Menschlichkeit bemisst sich eindeutig nach ökonomischen Kriterien. In Manhattan leben eben wichtige, in Port au Prince höchst unwichtige Menschen. Nur ein Beispiel: Erst am 6. 11. 2012, nachdem Sandy aus den USA längst als Sturm verschwunden war und Tage zuvor voller Details seitenlang über die Katastrophe in  den USA berichtet wurde, also erst am 6. 11. 2012 berichtete etwa „Der Tagesspiegel“  ausführlicher über Haiti mit dem Titel: „Land ohne Hoffnung“. Zuvor wurden nur äußere, sozusagen metereologische  Fakten publiziert. Haiti ist also „ohne Hoffnung“. Um es paradox zu formulieren: Die immer noch spürbaren Verwüstungen des Erdbebens (Januar 2010) wurden jetzt noch einmal durch Sandy weiter verwüstet. Denn von Aufbau nach der Katastrophe von 2010 kann wohl nur sehr bedingt die Rede sein. Erwähnt wurde im „Tagesspiegel“ nebenbei, dass in der Großstadt Santiago de Cuba mehr als 200.000 Unterkünfte zerstört worden seien. Berichtet wurde auch, dass die angeblich „böse“ Regierung unter Hugo Chavez in Venezuela die erste war, die 240 Tonnen Hilfsgüter nach Haiti schickte….

In Haiti werden nach dem Hurrikan noch einmal hunderte Menschen krepieren, zumal die Hauptverbindungsstraße in die Dominikanische Republik (von dort wurden viele Hilfsgüter angeliefert) offenbar völlig zerstört ist.

Man verstehe uns nicht falsch: Wir haben gar nichts gegen eine umfassende Berichterstattung über die USA. Wir meinen nur, dass wir aufmerksam sein sollten, wo uns durch die Medien suggeriert wird: Es gibt wichtige und unwichtige Opfer. Dass in Haiti, dem vergessenen Land mit den vergessenen Menschen, das blanke Elend herrscht, weiß allmählich jeder. Und fast alle haben sich damit abgefunden. Darf man das „indirekt zugelassenen Völkermord“ nennen? Dass für Haiti, der ehemaligen französischen Kolonie, „Rettungsschirme“ aufgespannt werden – etwa von der Europäischen Gemeinschaft – ist bisher nicht zu uns gedrungen. Vielleicht gibt es in Haiti noch nicht einmal funktionsfähige Banken, denen Frau Merkel zu Hilfe kommen könnte.

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