Esoterische Unvernunft. Anläßlich eines neuen Buches von Bernd Kramer

Wenn die Vernunft nichts mehr gilt
Ein Hinweis auf ein Buch von Bernd Kramer
Von Christian Modehn

Die spirituellen Angebote unter dem weiten Dach der Esoterik sind kaum noch zu überblicken: Wer von „Fremdenergien, etwa von astralen Wesen besetzt“ ist,findet genauso Hilfe wie jemand, der das Hula – Training sucht „nach alten Prinzipien aus Hawaii“. Das „Kartenlegen mit Zukunftsdeutung“ wirkt da schon wie ein leicht angestaubter Klassiker. Die Esoterik – Szene boomt weltweit: 25 Milliarden Euro, so der Trendforscher Eike Wenzel, bezahlen viele tausend Menschen jährlich allein in Deutschland, um geheimes Wissen zu erlangen. Sie wollen in ihre eigene Zukunft schauen oder ihr vorgeburtliches Leben vor etlichen Jahrhunderten erkunden. Diese befremdlich wirkenden, von vielen irrational genannte Welt der Esoterik ist heute selbstverständlicher Teil des Alltags, meint der Journalist Bernd Kramer. Die Welt ist offenbar so so öde, so hoffnungslos, dass man sich in abstruse Sonderwelten flüchtet. Um so dringender sei es, genauer hinzuschauen und sich in diese Welt zu begeben, um sozusagen den Blick von Innen zu gewinnen. Deswegen hat sich Bernd Kramer “under cover”, wie ein Spion, in die Welt der Aura -Vitalisierung und Hellseherei begeben. Seine Erfahrungen hat er jetzt unter dem Titel „Erleuchtung gefällig?“ publiziert.

Mit künstlichen Tannenzapfen, diesem preiswerten Weihnachtsschmuck, wolle er die Energie bündeln und weitervermitteln, so redete er seinen erstaunten Klienten ein, während er sie auch mit einem schlichten Kamm von negativen Kräften befreite. Bernd Kramer hat sich als Heiler in die bunte Welt der Esoterik –Helfer und Berater begeben: Bei einer so genannten Fachmesse bot er an seinem Stand die von ihm erfundene “Aura – Revitalisierung” an. Die Veranstalter hatten bei der Anmeldung gar nicht genau wissen wollen, was damit eigentlich gemeint sei, Gott sei Dank: Er selbst wußte es auch nicht. Die Klienten waren froh, neben all den Schamanen und Reinkarnationstherapeuten auch noch dieses Angebot im Programm zu haben. Und die Leute kamen tatsächlich, suchten Hilfe von Stress und seelischer Qual und erzählten einem fremden Mann ihr Leid. Als Teilnehmer einer Aura – Revitalisierung glaubten sie, sich selbst aufzuwerten und dadurch zur himmlischen Welt des Wunderbaren zu gehören. Es war so toll für sie, dass jemand sie ansprach und ernst nahm. Wie auf sich allein gestellt sind diese Menschen, die da einfach bei deiner „Esoterik – Messe” ernstgenommen werden und der Wirkkraft von umgewidmeten Tannenzapfen glauben.
Bernd Kramer ist es gelungen, mit allerhand Tricks für ein paar Monate angesehenes Mitglied der Esoterik – Szene zu werden. Er hat sich sogar als hell sehender Telefonberater angeboten, über das Internet fanden die Hilfesuchenden ihren Meister. Sie hielten die sanften Worte Bernd Kramers, der nun als „Osiris“ auftrat, geradewegs “vortrefflich”, obwohl er nur standardisierte Floskeln von sich gab und letztlich immer nur mahnte, bei aller Sehnsucht nach himmlischen Antworten doch bitte Geduld zu bewahren. Mit diesen Worten schützen sich alle Esoterikberater vor ausbleibenden Erfolgen: Die Klienten sind schuld, wenn „es nicht klappt“. 19 Frauen, nur Frauen, keine Männer, suchten bei Kramer während eines Monats Hilfe und Beratung. Sie wollten genau wissen, welche Prognosen die Himmlischen bereithalten hinsichtlich neuer Liebesbeziehungen oder der dringend gesuchten Arbeitsstelle.
In seinem „Erleuchtung gefällig?“ beschreibt Bernd Kramer sein Erstaunen, wie schnell er ohne jegliche Kenntnis in der esoterischer Sonderwelt mit ihren eigenen Begriffen und Symbolen Fuß fassen konnte. Vor allem, wie tief verunsichert und hilflos seine Kundschaft war, die offenbar noch die mysteriösesten Sprüche wie Heilslehren und Alltags – Tipps aufnahm. So werden Abhängigkeiten zwischen Guru und Hilfesuchenden gestiftet, und diese bezahlen zum Schluss etliche tausend Euro bloß dafür, dass ihnen jemand zuhört und außerirdische, also in der Sicht der Klienten „richtige, geltende“ Tipps für den Alltag gibt. Diese Menschen, so Kramer, kommen offenbar nicht auf den Gedanken, kompetente Hilfe etwa bei Sozialberatungen oder Psychotherapeuten zu suchen. Sie erwarten letztlich Wunder von einem diffusen Himmel aus Göttern, Elfen und Feen.
Bernd Kramers Buch „Erleuchtung gefällig?“ könnte eine breite Diskussion auslösen, vor allem bei denen, die in den Geheimlehren der Esoterik tatsächlich Orientierung und Hilfe empfangen. Bei Menschen etwa, die sich nach ihrem Kirchenaustritt individuell ihre eigene Spiritualität zusammenbastelten.
Der Autor will bewusst provozieren, wenn er, so wörtlich, die esoterischen Lehren ausdrücklich unecht und lügnerisch nennt oder wenn er behauptet, Esoteriker würden seelischen Wunden wie „mit Watte aus Eisenspänen“ heilen. Bernd Kramer schreibt: „Vor dieser esoterischen Welt graut mir“. Er hält sich hingegen an die viel besprochene Säkularisierung, also die grundlegende Verweltlichung des Bewusstseins. Wie der Philosoph Kant will er gültige wissenschaftliche Erkenntnisse nur für die irdische Wirklichkeit gelten lassen. Überirdisches, esoterisches Wissen kann es deswegen gar nicht geben. Ausdrücklich betont er im Blick auf den „Esoterik – Wahn“: „Lieber glaube ich dann an gar nichts“.
Die Kirchen können sich angesichts dieser journalistisch sozusagen „flott“ und philosophisch und religionswissenschaftlich durchaus noch “ausbaufähigen” Esoterik Kritik nicht voller Gewissheiten und Freude zurücklehnen. Sie müssen vielmehr erkennen: Auch ihre kirchlichen Lehren und viele christliche Riten und Gottesdienste sind esoterisch: Die Hostie als Leib Christi, der Wein als Blut Christi, die Hostie in der Monstranz, die Wunder, die in Lourdes und Fatima geschehen, die Heilkraft eines Pater Pio, der Papst als Nachfolger Christi usw… Das sind, bei Lichte und von außen (= eben exoterisch) besehen, tatsächlich nun einmal esoterische Lehren. Auch sie verstehen heute viele Menschen nicht mehr, siehe die Statistiken der Kirchenaustritte. Der Unterschied zu vielen heute expliziten esoterischen Praktiken, wie Wünschelruten, Rückführungen, Astrologie usw. ist vielleicht nur der, und dies zu sagen ist für viele sicher eine (heilsame) Provokation: Diese esoterischen Riten und esoterischen Glaubensformen haben sich nicht wie das Christentum als herrschende Mehrheitsreligion durchgesetzt.
Es tut dem Christentum und den Kirchen gut, angesichts des Buches von Bernd Kramer die eigene, tief verwurzelte Esoterik anzuerkennen und, wenn möglich, zu erklären: Welche Rolle die Vernunft im Christentum spielt. Andererseits: Ist unser Alltagsleben nicht immer schon esoterisch geprägt, etwa in den Liebensbeziehungen und der Bewältigung des Alltags.Kommt es vielleicht nur auf das vernünftige, also Vernunft gesteuerte Maß der Esoterik an?

Literaturhinweis:
Bernd Kramer, Erleuchtung gefällig? Ein esoterischer Selbstversuch. Christian Links Verlag Berlin, Mai 2013, 208 Seiten; 16,90 Euro.

Die Theophilanthropen in Frankreich: Eine humanistische Religion.

Eine humanistische Religion: Die “Theophilanthropen” in Frankeich  –  Vorläufer liberalen Christentums?

Ein Hinweis auf ein Forschungsprojekt
Von Christian Modehn, veröffentlicht am 27.5.2013.

Ergänzung am 14.2.2024:

Das Kant – Gedenken 2024 führt uns erneut zu Kants “Religionsschrift” (1793 ) und zu Kants Einschätzung der Kirchen und Religionen insgesamt. Dabei werden  auch die zeitlich ersten Leser der Kant – Publikationen in Deutschland wieder neu entdeckt: So etwa der katholische Theologe, Philosoph und Priester Felix Anton BLAU (1754-1798),  er setzte sich nicht nur entschieden und leidenschaftlich für die Demokratie in Deutschland (vor allem in Mainz) ein, er war auch einer der ersten Leser von Kants “Religionsschrift” … vor allem: Er schätzte die Ideen der Französischen Revolution über alles. Er lernte in Paris (1795 – 1797) auch die neu gegründete humanistische Religionsgemeinschaft der Theophilanthropen kennen, die doch der Vorstellung Kants von “unsichtbarer Kirche” entspricht. Davon berichtet der Historiker Jörg Schweigart in seinem Buch “Felix Anton Blau”, Logo – Verlag, 2007, dort S. 177. In dieser leider viel zu wenig bekannten Studie über den deutschen Jacobiner Blau steht also der Hinweis: Den Theophilanthropen gilt auch im 18. Jahrhundert in Deutschland viel Sympathie, etwa von dem Demokraten Felix Anton Blau.

1.

Warum ist es interessant, heute an einen Kultus, eine Religion, zu erinnern, die, wie alle Religionen, von Menschen „geschaffen“ wurde, aber nur 5 Jahre in Frankreich offiziell als solche öffentlich existierte, von 1796 bis 1801? Diese Religion, dieser Kultus, war unter der direkten Zielsetzung verbreitet worden, am Ende der gewalttätigen Revolution für eine ethische Erneuerung unter der Bevölkerung zu sorgen. Es gab also einmal den Versuch, von unten, von der Basis aus, also von Nicht – Theologen und aufgeklärten Bürgern her, eine neue Religion zu stiften, die sich ausdrücklich als eine humanistische Religion verstand. Sie wollte „elementare Tugendlehre“ pflegen und verbreiten sowie den Respekt für die Menschenrechte mit der Verehrung Gottes verbinden, „ohne Priester und Dogmen“, wie die Initiatoren ausdrücklich sagten. Die beiden Elemente, Gott und Mensch, im Namen der Theophilanthropie werden in der „Philia“, der Freundschaft, verbunden. Es geht um die elementare Freundschaft Gott wie den Menschen gegenüber. So kompliziert und künstlich der Name „Theophilanthropie“ auch klingen mag: Es sollte eine einfache, überschaubare, von der Lehre her nicht komplizierte Religion gestaltet werden, durchaus tauglich und hilfreich für den bürgerlichen Alltag, an den sich die Menschen nach den blutigen Wirren unter Robespierre wieder gewöhnen sollten. Darum wurde auch besonders die tägliche Gewissenserforschung empfohlen als zentrale Verpflichtung der Mitglieder. Das Bewusstsein, dass ohne Moral kein staatliches wie privates Leben gelingen kann, sollte gepflegt werden, in einer Zeit, die gerade den Terror und das maßlose Abschlachten von Verdächtigen und „Feinden“ erlebt hatte; dabei war ja nicht immer klar, wer heute Herrscher und morgen schon Feind sein werde. Diese ethische Erneuerung wurde offenbar nicht mehr der von der Mehrheit unterstützten katholischen Kirche zugetraut. Sie war ohnehin gespalten in republikanische Geistliche und „widerspenstige“ Feinde der Revolution; viele Kirchengebäude waren zerstört, viele Klöster vernichtet.
2.

Das Interesse an der theophilanthropischen Religion ist also heute von der Frage geleitet: Kann es gelingen, eine humanistische Religion zu „etablieren“ und als Orientierung zu empfehlen? Vielleicht kann diese Religion auch als bescheidene Vorläuferin gelten für ein liberales, humanistisches Christentum? Darüber müsste noch weiter geforscht werden. Michel Baron gibt einen Hinweis: Er bezeichnet in seinem Buch „Les Unitariens“ (L Harmattan, Paris 2004, Seite 70) die „Theophilanthropen als Liberale (Christen)“, diese Liberalität gehe soweit, schreibt er, dass sie damals auch Atheisten in ihren Reihen aufnahmen. Die Originalität dieser neuen Religion liegt auch in der absoluten Toleranz: Die Theophilanthropen verurteilen keine andere Religion noch attackieren sie eine Konfession. Sie betrachten alle Religionen als eine „Parzelle“ der Wahrheit“.

Zum historischen Hintergrund:

3.

Es gab jedenfalls seit 1795 verschiedene Versuche, über neue religiöse Organisationen auch Alternativen zum Katholizismus (bzw. auch zu dem in Frankreich minoritären Protestantismus) aufzuzeigen. Félix Le Pelletier etwa schlägt einen neuen „sozialen Kult“ vor, durchaus verbunden mit dem Verehrung eines Höchsten Wesens, die Robespierre so wichtig war – als Kritik an dem „heidnischen Spektakel“ des Kultes der Göttin Vernunft. Daubermesnil schlägt andererseits einen „Kult der Anbeter“ vor: Die Frommen sollten sich schlicht und dankbar dem Schöpfer gegenüber verhalten. Im Département Yonne (Burgund) möchte Benoist – Lamothe einen Kult entwickeln, der die Basis verschiedener Religionen vereint, im Zentrum sollte die Anerkennung Gottes und die Pflege der bürgerlichen Tugenden (bei großer Hilfsbereitschaft für Notleidende) stehen. In der Stadt Sens nennt er diese neue Religion den „Kult französischer Christen“.
Die hier genannten Versuche fanden eine gewisse Bündelung und dann auch überregionale Verbreitung in der Theophilanthropie: Sie geht vor allem auf Jean – Baptiste Chemin – Dupontès zurück und auf Valentin Haüy (der sich für den Unterricht von Blinden einsetzte). Chemin (geboren um 1760) hatte wohl einige Zeit Theologie studiert, bevor er sich zum Beruf des Buchhändlers entschloss. Während der Revolution stand er in Verbindung mit Abbé Fauchet, der später republikanischer Bischof in Calvados wurde und den Aufbau einer national – katholischen Kirche verteidigte. Chemin publizierte 1796 sein Buch, das „Manuel“, das den ersten wichtigen Impuls gab, die religiöse Gesellschaft der Theophilanthropen zu gründen.
In dem Institut für die Blinden in Paris, geleitet von Valentin Haüy, fand denn auch der erste Gottesdienst im Januar 1797 statt. Besondere Unterstützung erfuhren die Theophilanthropen durch ein führendes Mitglied de Direktoriums, Louis Marie de La Révellière – Lépeaux. Er hat diesen Kult gefördert, um auf diese Weise auch die katholische Kirche zu bekämpfen; er wollte ihn sogar zur neuen Staatsreligion erheben. Aber seine Kollegen im Direktorium wollten mit einer neuen Staatsreligion nicht die Atheisten vor den Kopf stoßen…
Ein zweites Handbuch, „Manuel“ der Theophilanthropie, hatte noch mehr Erfolg in Paris und einigen Departements. Darin wurde für eine vernünftige Religion („sie ist dem Menschen innerlich und angeboren“), für eine vernünftige (deistische) Verehrung Gottes plädiert, immer in Verbindung mit der Ausbildung einer humanistischen Moral. Es gibt nur zwei Dogmen für die Theophilanthropen: Die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele.

Zur Praxis:

4.

Der Kult wurde an den Feiertagen und freien Tagen (es waren ja die Sonntage abgeschafft, jeder zehnte Tag galt als Feier Tag) meist in katholischen Kirchen gestaltet. Da musste man sich einigen: Der eine Teil des Gotteshauses diente der katholischen Liturgie, der andere der theophilanthropischen Versammlung. Allein in Paris wurden 18 Kirchen sozusagen doppel – konfessionell genutzt, wie St. Roch, St. Merri usw. 1797 wurde berichtet, es gebe nur 12 Kantone im Département Seine ohne eine theophilanthopische Gesellschaft. Andere Départements, wie Yonne, hatten viele entsprechende Zentren. In der Stadt Sens soll es mehr Theophilanthropen als Katholiken gegeben haben. In vielen anderen Städten sind sie präsent: In Poitiers, Angers, Blois, Troyes, Dijon, Nimes usw.
In den Gottesdiensten wird zuerst der „göttliche Vater der Natur“ angerufen, dann folgt ein Moment der Stille für die Gewissenserforschung, dann wird ein Vortrag geboten, auch schlichte Hymnen – moralischer Erbauung – werden gesungen. Die Prediger, allesamt „Laien“, tragen einen blauen Anzug und einen Gürtel in der Farbe rosa.
Die verantwortlichen Leiter der religiösen Versammlungen stammen aus unterschiedlichen sozialen Schichten, es sind keineswegs nur Intellektuelle oder Schriftsteller, die sich da engagieren. Zu den Anhängern zählten ehemalige (jetzt verheiratete) Priester, aber auch radikale Religionskritiker sowie Bauern oder Handwerker. Die Gestaltung der Liturgien ist sehr schlicht. Nur einige Blumen schmücken den Raum, etwas Obst wird auf einen Tisch, einen „Altar“, gestellt als „Dank an den Schöpfer“; es gibt in den Liturgien keine Bilder, keine Statuen usw. Francois Furet und Denis Richet schreiben in ihrer Studie „Die Französische Revolution“ (Fischer – Taschenbuch 1987, Seite 598): „Am Dekadi (also dem 10., dem freien Tag in der neuen Zeitstruktur CM) kann der katholische Pfarrer in der oft von Theophilanthropen beanspruchten Kirche nur noch die Frühmesse lesen, und er ist noch dazu verpflichtet, alle katholischen Embleme zu entfernen und zu verhüllen, bevor er den Priestern der Republik, also den Verantwortlichen der Theophilanthropen, das Feld räumt“.
Die Theophilanthropen bildeten keine Massenbewegung, aber es waren doch einige tausend Familien, die sich auf diesen Versuch einer neuen Frömmigkeit mit strengen ethischen Verpflichtungen einließen. Es wurden auch schlichte rituelle Handlungen anlässlich von Geburt, Eheschließung oder Bestattung angeboten. Dabei galt das Dogma: „Der Tod ist der Beginn der Unsterblichkeit“.
Für die Zeremonien in den Kirchen wurden „moralisch erbauende“ Texte ausgewählt, wobei neben die Bibel gleichberechtigt Texte von Philosophen, etwa von Sokrates oder Cicero und Seneca gestellt wurden; sogar Verse aus dem Koran wurden verlesen. Historiker wie Francois Furet haben darauf hingewiesen, dass die Grundsätze der Theophilanthropen weithin den Grundsätzen der Freimaurer – Logen entsprachen. Allerdings hatte der Kult dieser neuen Religion nichts Esoterisch – Abgeschlossenes, Geheimnisvolles wie der interne Kult der Logen. Nur in der Überzeugung von dem deistisch gedachten Gott der Aufklärungsphilosophie kamen beide, Logen und Theophilanthropen, überein.

5.

Aber, wie gesagt, eine Massenbewegung wurden die Theophilanthropen nicht– intellektuell waren sie zu anspruchsvoll und in ihren schlichten Riten und moralischen Erbauungen nichts für barocke Gemüter. Ein prominenter Besucher aus Deutschland, Wilhelm von Humboldt, lernte im Jahr 1799 die Theophilanthopen in Paris kennen, so berichtet die Berliner Salonnière Henriette Herz, nachzulesen in dem Buch “Henriette Herz. Berliner Salon” (Ullstein Taschenbuch, 1086, S. 123). Wilhelm von Humboldt, so schreibt Henriette Herz, fand den Kult um seinen berühmten Bruder Alexander von Humboldt sogar besser als den Kultus , den er damals in den Kirchen von Paris sah: “In diesen Kirchen mit ihren moralischen Inschriften, ihren gipsernen Statuen der Freiheit und den paar Theophilanthropen, welche sich an jeder Dekade (Wochendende) darin versammeln, um Gebote vorlesen zu hören, die nicht befolgt werden”. So schrieb Wilhelm von Humboldt an Henritte Herz, der im ganzen von Paris nicht “entzückt” war und sich lieber nach Madrid anschließend wandte!

6.

Zurück zur Theophilanthrophie bei den Franzosen: Viele Franzosen waren trotz der revolutionären Wirren eben doch, wenn auch eher diffus, katholisch geblieben und liebten weiterhin ihre Heiligen, die Prozessionen, die Mysterien der Messe mehr als die aufgeklärten moralischen Ansprachen der Theophilanthropen. „Die örtlichen Gewalttaten der von Sansculotten betriebenen Entchristianisierung haben die herkömmlichen Formen des Glaubenslebens nicht ausrotten können“ (so Furet/Richet, a.a.O., s 594.) Hinzukam, dass die Abschaffung des alten Kalenders mit dem Sonntag als dem freien Feiertag überaus künstlich und willkürlich wirkte und deswegen auf breite Ablehnung stieß. Die Verbindung der Theophilanthropie mit dem neuen Kalender war für diese Initiative alles andere als hilfreich. Es gab unter den führenden Mitgliedern des politisch entscheidenden „Direktoriums“ eine breite antiklerikale Tendenz, sie bediente sich für diese politischen Zwecke der Theophilanthropie. Hinzukam noch, dass der verfassungstreue Teil des Klerus, der sich also zur Republik offen bekannte, „den Augenblick gekommen sah, eine neue (demokratisch gestaltete französische) Kirche für die Dauer zu organisieren“ (Furet / Richet, a.a.O., S. 594). Besonders aktiv war hier Bischof Henri Grégoire, der schon als einfacher Pfarrer „unermüdlich sich um ein Miteinander von Revolution und Christentum bemüht hatte“ /Furet / Richet). Diese „mit der Republik“ versöhnten Priester und Bischöfe sahen in den Theophilanthropen eine Konkurrenz. Abbé Gregoire wandte sich noch im Jahr 1800 an die Diözesansynode in Bourges und wies dort darauf hin, dass die theophilanthropische Religion –in seiner Sicht – doch weit verbreitet sei, sogar in den Niederlanden oder Italien. Sie „bedrohe“ als „alternative Spiritualität“ durchaus den Katholizismus, also auch den mit der Republik versöhnten.

Das Ende ?

7.

Letztlich hat sich dann – von Napoléon so gewollt – doch die alte, romtreue, undemokratische und antirepublikanische und selbstverständlich antirevolutionäre Kirche durchgesetzt… Schon im Jahr 1800 wandte sich Papst Pius VI. gegen den „neuen Kult“, vor allem verdammte er die Nutzung katholischer Kirchen, er nannte die Aktivitäten der Theophilanthropen eine schändliche Profanierung.
Mit der neuen Religionspolitik unter Napoleon wurden die Theophilanthropen 1801 verboten, sie passten als „freie Association“ nicht mehr in eine politische Landschaft, die Pluralität der Religionen nur sehr begrenzt zulassen wollte. 1801 drangen Gegner der Theophilanthropen z.B. in die Kirche St. Gervais in Paris ein und verhinderten so weitere Feiern dieser Religion (so Michel Baron, a.a.O:, S 75).
Mit dem Verbot dieser „vernünftigen Religion“ der Theophilanthropen ist dann auch eine Alternative verschwunden, eine aufs Wesentliche begrenzte und ethisch orientierte Religion gegenüber den konservativ – dogmatischen Strömungen zu etablieren. Es setzte sich mit aller Macht der konservative Katholizismus durch: Joseph de Maistre, der reaktionäre Vordenker, ist da eine Schlüsselfigur. Er meinte, das Religiöse im streng katholischen Sinne und das theokratische Element lassen sich aus den Nationalideen des französischen Volkes nicht beseitigen. Schon ab 1801wurden die katholischen „congrégations“ wieder – belebt, die sich nicht nur um caritative Hilfe, sondern vor allem um klassisch – katholische Belehrung und Mission bemühten. „Die Militanz der dann genesenden Kirche vergiftete die französische Nation“, bemerkt der Soziologe Wolf Lepenies in seinem umfangreichen Buch „Saint- Beuve“, „man musste devot sein, um einen Posten zu bekommen, und ein Kirchgänger, wenn man seine Stellung behalten wollte. Jeder Ehrgeizige musste sich im katholischen Gottesdienst sehen lassen…Die große Zeit der Heuchelei brach an“.(S. 325). Später wurden die Reformvorschläge des liberal – katholischen Priesters Félicité de Lamennais verfolgt und unterbunden; Lamennais hatte in seinem Buch „Paroles d un croyant“ für den liberalen Katholizismus plädiert, das Buch wurde von Papst Gregor XVI. im Jahr 1834 verurteilt. 1854 verstarb Lamennais als exkommunizierter Priester, er wurde ohne jede religiöse Zeremonie in einem Massengrab auf dem Friedhof Père Lachaise schnell unter die Erde gebracht. So wurden liberale Katholiken behandelt und ausradiert.
An diese hier nur angedeutete weitere Entwicklung der katholischen Kirche in Frankreich muss erinnert werden, will man überhaupt die Bedeutung der Theophilantropie, verstehen: Sie war der kurze Versuch, auf der Höhe der philosophischen Erkenntnisse eine elementare und damit durchaus immer entwicklungsfähige Form der Spiritualität zu praktizieren, von Menschen, die eben nicht der Heuchelei verpflichtet sein wollten, sondern versuchten, ihrem eigenen Gewissen zu folgen.

8.

Es gab Versuche, die Ideen der Theophilanthropie wieder aufleben zu lassen. Henri Carle etwa gründete 1829 die „Alliance religieuse universelle“, aber sie konnte sich nicht mehr durchsetzen. Dass einige Ideen der Theophilanthropen heute in den wenigen liberalen und freisinnigen christlichen Gemeinden fortleben, darauf weist Michel Baron in seinem schon genannten Buch „Les Unitariens“ hin. Sind sie sich dieser Vorläufer bewusst?

Wir finden es bedeutsam, dass der politische Publizist Ernst Moritz Arndt in seinem Tagebuch “Pariser Sommer 1799” (es liegt in einer Ausgabe der Büchergilde Gutenberg vor) auf 5 Seiten von den Theophilanthropen berichtet, das Buch erschien 1802. In seinem Bericht über die von ihm besuchten Gottesdienste der Theophilanthropen (er nennt sie die “Freunde Gottes und der Menschen”) betont Ernst Moritz, dass man von dieser neuen religiösen Gruppe “viel im Ausland hört” (S. 113), aber “nur wenige wissen, was es ist”. Er sieht genau, dass die Theophilanthropie von Männern gestaltet wurde, “die sich nach ihren eigenen Begriffen selbst eine Religion machten, die auf den Grundsäzen des Deismus nach dem bloßen Vernunftglauben beruhte”. Neben der Erweckung der Sittlichkeit und Menschlichkeit sieht Arndt “die Achtung für alles Heilige fremder Religionen” als den Zweck der Theolophilanthropie. Er erwähnt zudem, dass jedem (männlichen) Mitglied der Gemeinschaft die Kompetenz zugetraut wird, “an Tagen der öffentlichen Zusammenkünfte aufzutreten und entweder zu predigen oder etwas vorzulesen, das in das Gebiet der Pflichten und Hoffnungen der Menschen einschlägt” (S. 115). Arndt weist darauf hin, dass in den Versammlungen auch Kollekten “zum Besten der Armen” veranstaltet werden. (S.116). Dass in dieser religiös – deistischen, “Basis – Bewegung” durchaus merkwürdige, irritierende Dinge passieren, verschweigt Arndt nicht, wenn er etwa nach einem Besuch des theophilanthropischen Gottesdienstes in der schönen Kirche Saint Sulpice (heute im 6. Arrondisssement) schreibt: Da hingen Gobelins, die den Gott Baccchus und andere mythische Gestalten zeigten, darunter “lüsterne Satyrn”. “Doch ungeachtet dieser Gobelins hörte ich hier eine treffliche Rede, die ein Mann in schlichtem braunen Rocke und dem Ansehen eines Dreißigjährigen hielt. Er sprach von der Ehe und der Kinderzucht”.

Literatur:
Neben dem schon erwähnten Werk von Furet /Richet:

Wolf Lepenies, Sainte – Beuve. Auf der Schwelle zur Moderne. DTV 2006.

Jean – Pierre Chantin hat sich in einer Studie von 2003 (http://rives.revues.org/410 auf die umfangreiche Arbeit von Albert Mathiez bezogen, dessen Buch „La Théophilanthropie et le culte décadaire“ 1904 bei Félix Alcan erschienen ist.

In dem umfangreichen Band „Dictionnaire critique de la Revolution Francaise“, hg. von Francois Furet und Mona Ozouf, (Paris 1988) gibt es eine umfassende Studie (von Mona Ozouf) über „religion revolutionnaire“, Seite 603 ff.

COPYRIGHT: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Für weitere historische Studien empfehlen wir die Originaltexte:

http://books.google.de/books?id=hdMaAAAAYAAJ&printsec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false

http://books.google.de/books?id=E6sqitE9MrcC&printsec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false

http://books.google.de/books?id=jOOCXhFCHvYC&printsec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false

Welcher Geist regiert den Staat? Über die Laizität.

Welcher Geist regiert den Staat?
Die Laizität: Plädoyer für ein tolerantes Miteinander
Von Christian Modehn

Etliche LeserInnen dieser website wollten noch einmal einen Text über die „Laizität“ nachlesen, der sich auf eine Ra­dio­sen­dung in NDR – Kultur am 12. 8. 2102 bezieht. Im Folgenden wird die ausführliche, ungekürzte Fassung zur Lektüre angeboten.

Der Pressetext:
Politische Macht darf die Kirche nicht ausüben, „geistlich“ und „weltlich“ müssen im Staat getrennt sein. Diese Überzeugung prägt das europäische Denken seit der Französischen Revolution. „Laizität“, also religiöse Neutralität des Staates, bietet Raum für die freie Entfaltung unterschiedlicher Religionen. Aber wie sollen Staat und Gesellschaft reagieren, wenn Fundamentalisten religiöse Gebote als allgemeine Gesetze durchsetzen? Warum darf die Kirche widersprechen, wenn die Menschenwürde verletzt wird? Braucht der laizistische Staat eine eigene Philosophie oder eine überkonfessionelle „civil religion“, wenn er das friedliche Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen garantieren soll? Der Bibelspruch „Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gebührt und Gott, was Gott gebührt“, muss immer wieder neu interpretiert werden.

……………..

Haben die unterschiedlichen Staaten und Gesellschaften in Europa und Amerika ein gemeinsames Kennzeichen? Soziologen, Politologen und Religionswissenschaftler sind sich in diesem Falle einig: Es ist die Vielfalt der Religionen und Weltanschauungen auf dem Territorium eines Landes. Heute wohnen Buddhisten neben Muslimen, Atheisten arbeiten mit Christen als Kollegen freundschaftlich zusammen. Aber oft ist die religiöse und weltanschauliche Pluralität noch von einem Gegeneinander und nicht vom Miteinander geprägt. Religiös und weltanschaulich gebundene Menschen haben Mühe anzuerkennen, dass ihre Gemeinschaft nur eine von vielen auf der politischen Bühne ist.

Besonderes Erstaunen weckte kürzlich die Äußerung des populären Fernsehpredigers John Hagee in den USA. Er forderte die Atheisten unter seinen amerikanischen Mitbürgern auf, das Land zu verlassen. „Wir wollen euch nicht und werden euch nicht vermissen, sagte er zu den Menschen, die glauben, dass es keinen Gott gibt.

In weiten Teilen der Welt bleibt es nicht bei Polemik und verbalem Schlagabtausch. In Indien kommt es immer wieder zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Muslimen. Im Norden Nigerias töten radikale muslimische Gruppen Mitglieder christlicher Gemeinden. Der Krieg in Syrien beruht auch auf tief sitzenden Feindbildern unter den verschiedenen muslimischen Traditionen.

Immer wenn sich einzelne Religionen absolut wichtig nehmen und ihre Wahrheit unbedingt für alle auch politisch durchsetzen wollen, fließt Blut: Diese Erkenntnis haben Philosophen der Aufklärung vor 300 Jahren verbreitet. Sie betonten schon damals: Nur in republikanischen Staatsformen, in Demokratien, gibt es den angemessenen Rahmen, die Auseinandersetzungen unter den Religionen und Konfessionen friedlich und für alle konstruktiv zu gestalten. Denn nur eine Staatsform, die grundsätzlich das Volk, und nicht einen Diktator, zum Souverän hat, entwickelt ein hohes Ethos in der Gesetzgebung. Nur eine Demokratie will die unantastbare Würde eines jeden Menschen auch politisch durchsetzen.

Zu den Grundrechten gehört auch die Religionsfreiheit: Jeder Bürger soll frei seinen Glauben auch öffentlich bekennen dürfen. Aber dieser Glaube darf wiederum nicht in Widerspruch stehen zu den Menschenrechten, die der Staat zu verteidigen hat. Die jüngsten Diskussionen über die Rechtmäßigkeit der Beschneidung von Jungen sind nur ein Beispiel dafür, dass in Demokratien immer darum gerungen werden muss, ob ein Menschenrecht, etwa die körperliche Unversehrtheit, Vorrang hat vor der Religionsfreiheit, etwa der Gültigkeit uralter religiöser Traditionen. Dieser Streit, so mühsam er ist, gehört zum Wesen der Demokratie. Sie duldet niemals den Stillstand und drängt auf Weiterentwicklung ihrer Gesetze. Nur so kann der Staat Rücksicht nehmen auf die ständigen Wandlungen unterschiedlicher Wertvorstellungen in der Gesellschaft. Gegenüber der Beschneidungsdebatte gibt es noch viel tiefer greifende Probleme:

In Deutschland fordern einige Parteien, vor allem aber Organisationen von Lesben und Schwulen, die Anerkennung der homosexuellen Partnerschaft als einer gleichberechtigten Form von Ehe mit der Möglichkeit der Adoption von Kindern. Während andere Parteien vereint mit der Katholischen Kirche und evangelikalen Protestanten die Ehe ausschließlich zwischen Mann und Frau gelten lassen wollen. Bisher konnte sich diese Position auch in der Gesetzgebung durchsetzen. In Holland und Spanien fand die so genannte Homo – Ehe hingegen die Mehrheit im Parlament, selbst im katholischen Argentinien ist das der Fall. Auch in Deutschland treten Gruppen aus der Zivilgesellschaft für die rechtlich begrenzte Freigabe der aktiven Sterbehilfe ein; während einzelne Verbände von Ärzten und auch Kirchenführer ausschließlich auf palliative Hilfe am Ende des Lebens setzen. Diese Überzeugungen bestimmen bisher die Gesetzgebung in Deutschland. In Holland und Belgien ist hingegen ein Gesetz zur aktiven Sterbehilfe nach langen Debatten im Parlament von der Mehrheit beschlossen worden.

Mit diesen Mehrheitsentscheidungen können sich viele religiös gebundene Menschen oft nicht abfinden. Im Vatikan lehren die päpstlichen Glaubensbehörden, Mehrheitsentscheidungen können nicht nur falsch, sondern ethisch auch verwerflich sein. Darin äußert sich ein tiefes Misstrauen des Vatikans gegenüber der liberalen Demokratie mit ihrer selbstverständlichen Überzeugung, Mehrheitsentscheidungen zu respektieren.

Voller Begeisterung hat Papst Johannes Paul II. den Zusammenbruch kommunistischer Regime gewürdigt. Schließlich hatte er selbst die oppositionelle Bewegung Solidarnosc unterstützt. Aber gleichzeitig klagte der polnische Papst, so wörtlich, über die jetzt herein brechende Diktatur der liberalen Demokratien mit ihrem angeblichen Relativismus. Sie seien darum genauso gefährlich wie der Kommunismus.

Deswegen ermahnen Papst und Bischöfe auch heute immer wieder katholische Politiker, sich für die katholische Moral einzusetzen und gegen Gesetzesvorlagen zu stimmen, die etwa eine Liberalisierung der Abtreibung vorsehen. Im Falle einer Zustimmung wurde den katholischen Abgeordneten in den Vereinigten Staaten von Amerika mit der Exkommunikation gedroht. Diese Auseinandersetzungen erzeugen bei den Politikern eine gewisse Form psychischen Drucks; es wird der Zweifel genährt, ob demokratische Mehrheitsentscheidungen vielleicht doch nur ein versteckter Ausdruck für ein Unrechtssystem sind.

Die kirchlich motivierte Kritik an der Volkssouveränität, also der Demokratie, bleibt im Vergleich zu etlichen Staaten der arabischen Welt eher auf der Ebene der Theorie, vor allem: Sie bleibt gewaltfrei. In einigen muslimisch geprägten Regimen werden die rechtlichen Bestimmungen des Korans aus dem 7. Jahrhundert als oberste politische Norm angesehen. Die Scharia schließt es aus, Ungläubigen die gleichen Rechte zu gewähren wie den Muslimen. In manchen Ländern werden Menschen mit dem Tode bestraft, wenn sie sich als Konvertiten anderen Religionen zuwenden. Demgegenüber erscheint das Verbot, etwa in Saudi – Arabien christliche Gotteshäuser zu bauen, als eine eher geringere Form der Ausgrenzung.

Diese aktuellen Probleme erinnern an die großen Debatten, die seit Mitte des 18. Jahrhunderts das intellektuelle Leben in ganz Europa bestimmten: Wie stark dürfen Religionen den Staat prägen, fragten Schriftsteller und Philosophen. Sie wehrten sich gegen die Behauptung, es sei ein Verbrechen, das Königtum von Gottes Gnaden in Zweifel zu ziehen. Sie lehrten öffentlich: Eine vernünftige politische Ordnung bedarf keiner religiösen Legitimation. Wer dem zustimmte, wurde von den Despoten verfolgt und verbannt. Juden und Protestanten hatten in Frankreich keine Rechte, Atheisten landeten im Gefängnis. Eine einzige Religion, der Katholizismus, herrschte allmächtig im Bündnis mit dem Feudalsystem.

Die Revolution von 1789 beendete dieses Regime. Diesen Moment hatten die Unterdrückten und Rechtlosen in vielen Jahrhunderten ersehnt. Von nun an konnten sich religiöse Minderheiten frei entwickeln, die Erklärung der Menschenrechte fand schließlich weltweit Aufsehen. Die katholische Kirche galt nur noch als eine Religion neben anderen. Die tief sitzende Empörung über die frühere Allmacht der Kirche äußerte das katholisch getaufte Volk sehr zum Erstaunen der Bischöfe gewaltsam: Zentren kirchlichen Lebens, reiche Klöster und üppige Kathedralen wurden in blinder Wut geplündert und demoliert. Schließlich wollte sich die Republik auch spirituell stärken durch neue, kurzfristig erfundene Religionen, etwa den atheistischen Kult der Vernunft.

Der Kampf gegen die Republik wurde sofort zu einem festen Bestandteil katholischer Identität. Historiker betonen, „zwei Frankreich“ stehen sich seit der Revolution feindlich gegenüber: Die republikanisch gesinnten Bürger wollten keiner Konfession irgendein Privileg gestatten. Auf der anderen Seite kämpften die mit Rom verbundenen Katholiken um einen Staat, der kirchliche Vorschriften an die erste Stelle setzt. Nach heftigen Auseinandersetzungen wurde im Jahr 1905 vom Parlament in Paris die Trennung aller Religionen vom Staat beschlossen. Seit der Zeit herrscht in Frankreich die laicité; ein Wort, das schwer zu übersetzen ist. Deutlich ist die Verbindung von laicité mit dem griechischen Wort laós, es bedeutet das normale Volk. Und dieses Volk hat sich nach langen parlamentarischen Debatten durchgesetzt – in der laizistischen Demokratie. Ein Spezialist für diese Fragen ist der Philosoph Charles Taylor, er betont: „Der Staat im Sinne der laicité hat auf Weisung des Volkes zu handeln, vermittelt durch dessen gewählte Repräsentanten. Der Staat hat nicht auf Weisung religiöser Gemeinschaften zu handeln“.

Der demokratische Rechtstaat hat das Gewaltmonopol, als Gegenleistung garantiert er den Religionsgemeinschaften freie Entfaltung. Viele unterschiedliche Religionsgemeinschaften können sich in einem Staat aber nur dann friedlich entfalten, wenn vor dem recht gleichwertig sind und keine Konfession den Anspruch auf Herrschaft erhebt.

Dagegen hat sich die katholische Kirche in Frankreich – im Unterschied zum Protestantismus und dem Judentum – lange Zeit gewehrt. Es war für Katholiken unvorstellbar, dass der Klerus ausschließlich von den Spenden der Gläubigen leben musste. Immerhin setzten sich eher liberale Laizisten in der weiteren Gesetzgebung durch. Sie hatten erkannt: Die Bürger können davon profitieren, wenn sich auch gesellschaftliche Gruppen, wie die Kirchen, um Erziehung und Sozialfürsorge kümmern. Deswegen gibt es im laizistischen Frankreich heute viele katholische Schulen oder Altersheime, sie erhalten beträchtliche staatliche Zuschüsse. Auch am Erhalt der Kirchengebäude beteiligt sich der Staat: Für die Innenausstattung sind die Bistümer zuständig, für die äußeren Mauerwerke die Kommunen.

Die Laizität in Frankreich ist heute zu einem friedlichen Gegenüber von Kirchen und Staat geworden. Die katholische Kirche kann – wie alle anderen Glaubensgemeinschaften auch – öffentlich wirken, etwa durch katholische Rundfunksender und zahlreiche große, angesehene Verlagshäuser.

Aber die französische Republik will unter allen Umständen den Einfluss extremer religiöser Gruppen auf den Staat verhindern. So gab es gerichtliche Auseinandersetzungen mit der so genannten Scientology Church. Sie wurde im Oktober 2009 wegen betrügerischer Aktivitäten zu einer Strafe von 600.000 Euro verurteilt. Ihr so genannter Direktor wurde zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Die „Sekte“ selbst aber wurde in Frankreich nicht verboten.

1996 gründete der Staat ein Forschungszentrum, um die Aktivitäten der zahlreichen neuen religiösen Gemeinschaften, Sekten genannt, hinsichtlich ihrer sozialen Praxis und politischen Orientierung kritisch zu beobachten. Das Institut steht auch Menschen zur Seite, die sich gegen die totale Kontrolle des persönlichen Lebens in diesen Gruppen wehren und „aussteigen“ wollen.

Der Gesetzgeber meint die laicité zu schützen, wenn er bestimmte religiöse Symbole in der Öffentlichkeit verbietet. Kreuze haben z.B. in den Räumen des Bürgermeisters nichts zu suchen, unvorstellbar wären sie in Gerichtssälen. Selbst den bayerischen „Herrgottswinkel“, gut platziert in einer Gastwirtschaft, sucht man in den Bistrots vergeblich.

Seit einigen Jahren bemühen sich französische Politiker, die öffentliche Rolle des Islam neu zu bestimmen. Mindestens 3 Millionen Muslime leben in Frankreich. Seit dem 11. September 2001 herrscht – ziemlich pauschal – ein tiefes Misstrauen gegenüber islamischen Gruppen. Inzwischen wurde es muslimischen Frauen verboten, die typischen Kopftücher in den staatlichen Schulen zu tragen. Burkas, „Vollschleier“, sind in der Öffentlichkeit nicht gestattet. Mit diesen Kleidungsvorschriften wollte der Staat jegliche Form muslimischer Werbung im staatlichen Raum ausschließen.

Dabei ist es völlig offen, ob Kopftücher tatsächlich missionarische Wirkungen erzielen können und überhaupt wollen. Aber der französische Staat will nur machtvoll demonstrieren, dass sich Muslime den Gepflogenheiten der französischen Republik auch äußerlich anpassen müssen. Er besteht darauf, dass auch Muslime in Frankreich die Werte der laicité erkennen und verteidigen. Viele Imame haben dem zugestimmt, aber längst nicht alle. Deswegen hat sich der Staat entschlossen, sich selbst um die Gestaltung eines repräsentativen islamischen Dachverbandes zu kümmern, er soll als zentraler Ansprechpartner in Staat und Gesellschaft dienen. Diese Initiative ist für eine Republik schon erstaunlich, die sich eigentlich per Gesetz gar nicht um religiöse Belange kümmern darf.

Um den islamischen Gemeinschaften entgegen zu kommen, will die Regierung unter Francois Hollande Grund und Boden zu erschwinglichen Preisen für den Bau von Moscheen zur Verfügung stellen. Bisher mussten sich viele Gemeinden mit bescheidenen Fabrikhallen für ihre Gottesdienste begnügen. Innenminister Manuel Valls sagte Ende Juni 2012: „Es gilt, das Gesetz über die Laicité aufzuräumen, um so die staatliche Finanzierung neuer Kultstätten vor allem für Muslime zu ermöglichen. So könnte es auch zu einem Ende des Einflusses von fundamentalistischen Gruppen und ausländischen Regierungen zu kommen. Denn diese finanzieren bisher stark den Bau von Moscheen“.

Tatsächlich haben viele Franzosen Angst vor „dem Islam“; rechtsextreme Parteien, wie der Front National, schüren bewusst diese Stimmungen. Ein offener Umgang mit dieser vielschichtigen, keineswegs nur fundamentalistischen Religion kann anders aussehen, etwa in der kanadischen Provinz Québec. Dort verhält sich die Regierung differenzierter gegenüber dem Islam, nach langen und umfassenden Debatten wurde dort den religiösen Minderheiten, etwa auch den Sikhs, Hindus und Buddhisten, Sonderrechte gewährt, das Tragen von Kopftüchern und religiösen Symbolen ist auch in staatlichen Räumen gestattet. Hingegen wurden im Bundesstaat Ontario Versuche zurückgewiesen, einige Gesetze der muslimischen Scharia, etwa im familiären Rechtsstreit, neben der kanadischen Gesetzgebung zuzulassen.

Damit sich die zukünftigen Bürger im Geist des Respekts vor allen Religionen bilden, hat sich der Philosoph Charles Taylor mit Erfolg dafür eingesetzt, dass in allen Schulen der Provinz Québec allgemeine Religionskunde als Pflichtfach unterrichtet wird. Dadurch wurde der bisher übliche konfessionelle Religionsunterricht aufgehoben, er bezog sich auf den stets kleiner werdenden Kreis katholischer Schüler. In Québec wurde diese Entscheidung zugunsten der Religionskunde begrüßt. Dort sind die Bürger überzeugt: Der heutige Staat mit seiner Vielfalt der Religionen braucht einen neuen laizistischen Geist, eine offene laizistische Spiritualität.

Gilt das auch für Deutschland? Können hier die Kirchen noch das Ethos in Gesellschaft und Staat prägen? Sollte dafür nicht die biblische Botschaft herangezogen werden, etwa die Weisung Jesu von Nazareth: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist. Und gebt Gott, was Gottes ist“.

Jesus beantwortet damit die Frage, ob der römische Kaiser Steuern auch von den jüdischen Bewohnern in Judäa verlangen dürfe. Später wurde dieses Wort Jesu als Aufforderung verstanden, die weltliche Macht mit der gleichen Bedeutung zu respektieren wie Gott. Aber sind Kaiser und Gott tatsächlich von gleicher Bedeutung? Dazu der Theologe Wolfgang Huber, der viele Jahre Ratsvorsitzender der EKD war: „Mit diesem Satz Jesu ist nicht eine Gleichrangigkeit der beiden angesprochenen Sphären Weltlich und Geistlich gemeint und erst recht nicht eine beziehungslose Trennung. Vielmehr ist die Unterscheidung dieser beiden Sphären durch einen klaren Vorrang des Göttlichen geprägt“.

Regierungen können die Menschenwürde verachten und mit den Füßen treten, etwa im Faschismus und Kommunismus. Deswegen darf ein Staat niemals als oberster Wert gelten. Alle Bürger müssen sich an „etwas Höheres“ binden: Wer aber Gott als ein Symbol absoluter Menschlichkeit über alles stellt, will damit gerade nicht die Vorherrschaft der Kirchen fördern. Vielmehr soll das Göttliche im Menschen ausschlaggebend sein, und dies ist die göttliche Stimme im Gewissen, sie gilt absolut. Das Gewissen erschließt, was unbedingt in Staat und Gesellschaft zu gelten hat, Wahrheit und Gerechtigkeit.

Von dieser Basis aus kann eine laizistische Spiritualität entwickelt werden. Sie stellt heraus, dass jeder Mensch an sein Gewissen gebunden ist. Darin zeigt sich die vernünftige Autonomie eines jeden Menschen, seine Fähigkeit, selber frei zu entscheiden. Die Menschenrechte haben keinen anderen Sinn, als diesen absoluten Wert zu erklären und zu schützen. Diese von vielen Philosophen geteilte Erkenntnis wird jetzt vertieft durch eine Studie des weltweit geschätzten Sozialphilosophen Hans Joas. Sein neuestes Buch hat den durchaus provozierenden Titel „Die Sakralität der Person“. Alle Staaten und Gesellschaften, so Hans Joas, sollten sich an die Menschenrechte wie an etwas Heiliges gebunden wissen. Jeder Bürger sollte den Menschenrechten mit tiefer Hochachtung und emotional geprägtem Respekt begegnen. Denn in den Menschenrechten wird die absolute Unantastbarkeit aller Menschen unterstrichen, es wird für den absoluten Wert eines jeden plädiert, also für die Sakralität der Person.

Diese ungewöhnliche Qualifizierung der Person befreit die Bedeutung des Sakralen aus den exklusiv religiösen Zusammenhängen. Sakral, heilig, ist der absolut zu respektierende Wert der Menschseins.

Damit hat die laizistische Spiritualität eine innere Mitte gefunden. Sie kann die gemeinsame Basis sein für Glaubende aller Religionen wie auch für Skeptiker und Atheisten. Aber diese Spiritualität muss alle Bemühungen stärken, auf politischer und vor allem rechtlicher Ebene voran zu kommen.

Diese Aufgabe kann heute in Europa nicht mehr allein auf nationaler Ebene gelöst werden. Darauf hat der Europarat in Straßburg mehrfach hingewiesen. Vor vier Jahren hat er ein Dokument zur religiösen Vielfalt Europas publiziert.
Die Laizität, so wird im Europarat betont, hat zwar französische Wurzeln, aber sie ist und bleibt von weltweiter Bedeutung. Der französische Soziologe und protestantische Theologe Jean – Paul Willaime hat an dem wichtigen Dokument des Europarates mitgearbeitet, er betont: „Über alle nationalen Besonderheiten hinaus ist diese Laizität auf europäischer Ebene weder antireligiös noch proreligiös. Sie erlaubt vielmehr den Mitgliedern aller Religionen und Weltanschauungen, sich ohne exklusive Ansprüche am öffentlichen Leben zu beteiligen. Unverzichtbar sind Gewissensfreiheit, moralische Gleichheit aller Bürger und Trennung von Kirche und Staat“.

Nur der demokratische Rechtsstaat kann den Respekt vor der Würde jedes Menschen garantiert. Er garantiert auch die freie Ausübung jeglicher Religion – unter der Voraussetzung, dass jede einzelne Religion aus Überzeugung und nicht bloß aus Taktik den demokratischen Staat als einzigen Gesetzgeber hochschätzt. So einfach also ist die Laizität im 21. Jahrhundert zu beschreiben. Mühsam ist der Weg, sie auch weltweit durchzusetzen.

COPYRIGHT: christian modehn

Literaturhinweise:
Jean Baubérot, Laicité 1905- 2005. Entre passion et raison. Editions du Seuil, Paris, 2004, 281 Seiten.

Jean Baubérot, La laicité à l épreuve. Religions et lobertés dans le monde. Universalis edition, Paris, 2004, 188 Seiten.

Jean Paul Willaime Le retour du religieux dans la sphère publique. Editions Olivétan, Lyon, 2008. 110 Seiten.

Jocelyn Maclure und Charles Taylor, Laizität und Gewissensfreiheit, Suhrkamp Verlag 2011, 146 Seiten.

Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine Genealogie der Menschenrechte. Suhrkamp Verlag, 2011, 303 Seiten.

Wolfgang Huber, Staat und Religion. Vortrag im Berliner Kammergericht am 16. 9.2010. erreichbar unter: 100916.Staat-Religion.Kammergericht.doc

Lob der “Salonchristen”. Eine Korrektur.

Lob der „Salonchristen“
Eine Korrektur
Von Christian Modehn

In der Beilage zur Wochenzeitung „Die Zeit“ mit dem Titel „Christ & Welt“ berichtet Christiane Florin auf Seite 3 der Ausgabe vom 23. Mai 2013, dass Papst Franziskus sich ein „gesundes Maß an Verrücktheit“ für die katholische Kirche wünsche. Sie schreibt, immer jüngste Äußerungen von Papst Franziskus zitierend oder paraphrasierend: „Die Kirche brauche Menschen, die unbequeme Dinge sagten und sich nicht scheuten, die wohlsituierten Verhältnisse zu stören. Die Unverrückten (hingegen) stempelte er, also Papst Franziskus, zu = Salon-Christen = (ab)”.
Nun kann ich mich nur auf die in der Zeitung mitgeteilten Informationen über die päpstliche Kritik an den angeblich wohlsituierten „Salon – Christen“ beziehen. Ich finde allerdings die offenbar hier päpstlich unterstellte logische Verbindung von „Wohlsituiertheit“ und „Salon“ völlig unzutreffend. Richtig wäre es, von einer unheilvollen Verbindung von bürokratischer Struktur bzw. dem Vorrang für finanzielle Interessen innerhalb der Kirche(n) zu sprechen, wenn man denn eine freie Kirche will, die „unbequeme, also verrückte Dinge sagt“. Das muss aber noch einmal festgehalten werden: Verrückte Dinge wünscht sich nun zum ersten Mal, seit Jahrhunderten (?), ein Papst ausdrücklich und erstaunlicherweise. Aber: Wir wollen daran erinnern, dass gerade Salons verrückte Dinge -seit dem 18. Jahrhundert – sagten und auch heute sagen, also solche Dinge, die im Alltagsverstand, als gewagt betrachtet werden, zumal von den Herrschern, die sich bekanntlich Verrücktheiten verbieten im Namen von Ruhe und Ordnung. Verrückte Dinge waren in den Salons Demokratie, Menschenrechte, Religionsfreiheit, Religionskritik usw. Noch einmal: Gerade die „Salons“ waren und sind immer Orte für diese Verrücktheiten im Denken, selbstverständlich auch, wenn es sich um religiöse Fragen handelt. Ein so genanntes „Salon – Christentum“ lebt gerade von der lebendigen und Diskussion gleich berechtiger PartnerInnen. Und wir fragen uns, ob heute etwa katholische Akademien in Deutschland Orte sind, wo die hier skizzierten Verrücktheiten auch in der Theologie diskutiert werden, etwa: Nutzen und Grenzen des Papsttums, Prieterweihe für Frauen als Chance, Homoehe als Bereicherung für die Gesellschaft, ökumenisches Abendmahl praktisch erprobt, liberale Theologie als Chance usw. In unserem Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon können wir nach 5 Jahren Erfahrung bestätigen, dass gerade in einer solchen bescheidenen philosophischen Basisinitiative ungewöhnliche, in der Sicht der Hierarchie auch verrückte Dinge diskutiert wurden, etwa im Blick auf die dogmatisch erstarrten Gottesbilder oder die Kirchenbürokratie, die den Geist tötet, wie der Theologe und Jesuit Karl Rahner so treffend sagte. Wir verteidigen also das Salon – Christentum und die Salon – Christen und dort, selbstverständlich gleichberechtigt willkommen, die „Nicht christen“ oder Atheisten, Menschen, die den freien und unzensierten Disput schätzen. Also: Außerhalb der Gemeinden und in neuen, freien Zusammenschlüssen werden gerade in Salons jene Themen angesprochen, die den Hierarchen als Verrücktheiten erscheinen müssen. Und dabei wird es bleiben, zumal sich immer weniger Menschen an die dogmatischen Vorgaben ihrer Religion halten können und halten wollen. Sie können sich dann also ganz im Sinne des Papstes – endlich einmal – als die so heiß geliebten „Verrückten“ fühlen – und die Verrücktheiten im Salon formulieren. Dabei sind sie dann eigentlich die „Normalen“ und Vernünftigen, wenn man das Feld religiöser dogmatischer Erstarrungen betrachtet.
PS: In einem unserer Salons haben wir uns kürzlich mit der Frage befasst: Können Philosophen Revolutionen auslösen? Zur Lektüre eines kleinen inspirierenden Textes klicken Sie hier.

Copyright: christian modehn

Religionsphilosophischer Salon nun auch in Bremen

Religionsphilosophischer Salon in Bremen gegründet.

Wie uns Prof.Wilhelm Gräb, Humboldt Universität, mitteilt, wurde vor kurzem auch in Bremen ein philosophischer Club gegründet, der auch den in Berlin nun schon seit 7 Jahren bekannten Titel “Religionsphilosophischer Salon” trägt. Wir haben in Berlin ca. 70 Salonabende bisher gestaltet.
Prof. Gräb schreibt uns, dass unser Saon in Berlin dabei für die Bremer inspirierend gewirkt hat. Das freut uns natürlich, dass es da eine gewisse Anregung gibt. Der neue religionsphilosophische Salon ist in der protestantischen Gemeinde Remberti in Bremen zuhause; diese Gemeinde folgt als eine der wenigen Gemeinden ausdrücklich der theologisch – liberalen Position. Wir haben in Berlin immer wert darauf gelegt, einen philosophischen Salon außerhalb kirchlicher oder religiöser Gebäude zu plazieren. Philosophie ist nicht nur öffentlich und “für alle”, sie ist auch als Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie an “weltlichen Orten” am besten plaziert. Wir verweisen im link auf einen Beitrag des Weser Kurier zur Gründung des Salons in Bremen.

Läßt sich Gott beleidigen? Sinn und Unsinn der Blasphemie. Eine Ra­dio­sen­dung NDR Kultur

NDR Kultur am Sonntag, Reihe Glaubenssachen, am 9. Juni 2013 um 8.40 Uhr:

Glaubenssachen

Lässt sich Gott beleidigen?

Sinn und Unsinn der Blasphemie, bitte lesen Sie den ausführlichen Beitrag auf diesem link auf dieser website. klicken Sie hier.

Von Christian Modehn

Fromme Menschen wollen Künstlern, Schriftstellern oder Filmemachern den Prozess machen, wenn die Unantastbarkeit Gottes in Frage gestellt wird. Ist Religionsfreiheit also wichtiger als Meinungsfreiheit? Aber können Menschen den Absoluten und Ewigen in seinem Wesen überhaupt beleidigen und erzürnen? Oder wird nur der oberste Garant einer politischen und kulturellen Ordnung kritisiert und lächerlich gemacht? Im deutschen Strafrecht ist Blasphemie nur noch strafbar, wenn sie den öffentlichen Frieden stört. Und das kommt eher selten vor. Viele Theologen sind heute sogar dankbar, dass Blasphemie Raum schafft für die Frage: Welchen Gott verehre ich wirklich?

Pfingsten – Fest des Geistes. Interview mit Prof. Wilhelm Gräb

Pfingsten – das Fest des Geistes
Interview mit Prof. Wilhelm Gräb

Die Fragen stellte Christian Modehn

Hat das Pfingstfest eine Bedeutung für die heutige moderne Lebenserfahrung, die so oft sagt: Wir leben in geistlosen Zeiten?

Bereits der Gregorianische Hymnus aus dem 9. Jahrhundert ruft nach der schöpferischen Kraft des Geistes. „Veni Creator Spiritus“ – „Komm Schöpfer Geist“. Offensichtlich war der Eindruck schon immer der, dass es an Geist mangelt oder jedenfalls, dass wir um den Geist bitten müssen. Nach dem Geist verlangen, um den Geist bitten wir, weil wir nicht über ihn verfügen, weil wir ihn nicht machen können, aber doch von diesem Geist leben! In uns selbst aufkommend, aber eben unverfügbar aufkommend: ‚Da hatte ich eine Idee!‘ ‚ Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen!‘ Jetzt wird mir die Sache klar!‘ Wir wissen, wie sehr alle menschliche Kreativität vom gelungenen Einfall lebt!

Geistlose Zeiten? Ich weiß nicht, ob man das so sagen kann. Ich bin immer wieder erstaunt, was Menschen alles können, auf den Gebieten von Wissenschaft und Technik, von Kunst und Kultur. Großartiges mit zuvor ungeahnten Möglichkeiten finden wir auch in unserer Zeit, denken wir nur an den Computer und das Internet. Wozu der Mensch fähig ist, das freilich ist auch an Grausamkeit nicht zu überbieten. Der menschliche Geist ist wirklich zu allem fähig!

Ich sehe im Geist die göttliche Kraft in uns Menschen, das Schöpferische und Kreative. Ich sehe in ihm den göttlichen Grund der menschlichen Freiheit. Deshalb, so meine ich, verlangt und ermöglicht zugleich der Geist aber auch, dass wir uns bewusst und d.h. letztlich immer auf verantwortliche, kritische Weise zu ihm verhalten. Wir verfügen nicht über den Geist. Er ist vielmehr die schöpferische Energie aus der wir leben. Genau dies können wir uns jedoch bewusst klar machen. Dann sehen wir darauf, dass wir verantwortlich mit unseren schöpferischen Fähigkeiten umgehen müssen.

Der schöpferische Geist von uns Menschen kann sich in eine teuflische Kraft verwandeln, ins Zerstörerische und Mörderische. Auch deshalb braucht er die kulturelle und ethische Formung. Er muss sich ausrichten können an dem, was dem Leben dient. Er braucht die Einsicht in das, was gut ist für alle Menschen.

Der menschliche Geist ermöglicht aber selbst auch die Selbstthematisierung, in ethischer und in religiöser Hinsicht, die Ausrichtung am Guten, die Vergewisserung dessen, dass der Mensch in Gott gründet – einem Gott, der nichts als Liebe ist. In dieser Selbstbesinnung auf die Kraft des Geistes liegt die Bedeutung des Pfingstfestes.

Wenn der Geist geehrt und gefeiert wird zu Pfingsten: Ist denn der “heilige Geist” in jedem Menschen lebendig?
Der „heilige“ Geist ist keine Größe, die wir uns in gegenständlicher Gegebenheit vorzustellen hätten. Die biblisch fundierte Bildwelt des Christentums hat zwar für solche Vorstellungen gesorgt – Feuerzungen auf den Häuptern; die Taube, die vom  Himmel herabfährt – aber das sind symbolische Zeichen, die dafür stehen, dass der Geist uns Menschen ergreift, dass er über uns kommt, uns erfüllt. Wir spüren seine Kraft, aber wir können dieses Spüren nicht selbst hervorrufen. Wenn wir aber diese uns erfüllende Kraft spüren, dann können wir uns bewusst zu ihr verhalten, ihr eine Form geben und sie zu lebensdienlicher Wirkung bringen.

So verstanden ist der „heilige Geist“ in jedem Menschen lebendig als diese unwahrscheinliche Lebenskraft. Allerdings achten wir zumeist gar nicht darauf, dass wir von Voraussetzungen leben, die wir selbst nicht hervorgebracht haben und hervorzubringen nicht in der Lage sind. Deshalb, wenn wir an Pfingsten den Geist feiern, dann feiern wir im Grunde das Wunder des Lebens, dann zelebrieren wir die Energie, die in uns Menschen steckt, unseren Einfallsreichtum, die elementare Kraft zur Bewältigung dieses oft so komplizierten Lebens.

Alle Menschen haben Geist, haben Vernunft: Haben sie dadurch Göttliches in sich selbst, das sich vielfältig ausdrückt?

Die Kraft des Geistes ist in allen. Insofern kann man auch sagen, alle Menschen haben Göttliches in sich, so wie der Theologe Friedrich Schleiermacher der Meinung war, alle Menschen seien Künstler, ein Dictum, das ebenso von dem Aktionskünstler Joseph Beuys überliefert ist. Gemeint ist das kreative Potential, das in uns Menschen steckt, von dem aber ebenso gilt, dass es in Form gebracht, bewusst gestaltet, mit vernünftiger Einsicht vermittelt werden will.

Wenn der göttliche Geist so allgemein ist: Sind dann die vielen nichtchristlichen Religionen auch von dem einen göttlichen Geist beeinflusst?

Da muss ich die Bibel zitieren: „Der Wind weht, wo er will, und du hörst sein Sausen; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist jeder, der aus dem Geist geboren ist.“ (Joh 3, 8) Der Geist kennt keine Grenzen. Er richtet sich nicht nach den sozialen, kulturellen und religiösen Zugehörigkeiten, in die wir die Menschen und Menschgruppen einteilen. Er ist unverfügbar, in seinem Woher und Wohin nicht manipulierbar. Dadurch ist er der Grund der menschlichen Freiheit, selbstverständlich der Freiheit aller Menschen.

Der heilige Geist ist kein Christ. Die verschiedenen Religionen sind vielmehr verschiedene Formungen des menschlichen Geistes, sofern dieser sich seines göttlichen Grundes bewusst wird. Wo Menschen nicht nur aus der Kraft des ihnen innewohnenden göttlichen Geistes leben, sondern sich dieser Kraft bewusst werden, als einer solchen, die von außen, von Gott her, über sie kommt, dort ist gelebte Religion – in welcher Form auch immer. Jede Religion ist als Religion umso lebendiger, je klarer sie die bewegende Kraft des Geistes feiert, dann aber ihr auch eine lebensdienliche, in der Liebe eifrige Form gibt.

Wir identifizieren oft Geist mit der Fähigkeit zur Kritik. Ist der heilige Geist also auch skeptisch, auch kritisch, aber wem oder was gegenüber?
Das genau gehört entscheidend zur Formung, zu der die Bewusstheit des Geistes diesem selbst verhilft, die Fähigkeit zur Kritik. „Gott ist Geist und die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.“ (Joh 4, 24) Wo wir der Lebendigkeit des Geistes in uns selbst bewusst werden, ihn gar religiös feiern, ihm begeistert unsere Lieder singen und unser Herz schenken, da tun wir dies nur dann auf rechte Weise, wenn wir uns zu seiner Wirkung in uns selbst und in anderen kritisch verhalten. Wir müssen prüfen, ob das, was wir in der Kraft des Geistes, der unsere Lebendigkeit ausmacht, tun, auch wirklich dem Leben dient, uns selbst förderlich ist und denen, für die wir da sind und Verantwortung tragen, für diese Welt und ihre Zukunft.

Die sich ihrer bewusst werdende Lebendigkeit des Geistes ist immer kritisch, kritisch sich selbst gegenüber. Sie weiß, dass der Geist  zu allem fähig ist, auch zu teuflischem Tun. Deshalb können wir den Geist nicht feiern, ohne ihn zu prüfen. Das Kriterium der lebendigen Kraft des Geistes liegt aber bereits in ihr selbst. Zu prüfen ist, ob sie dem Leben dient.

copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon