Jenseits des Wachstums. Barbara Muraca bietet Perspektiven für ein „gutes Leben“. Eine Buchempfehlung

Jenseits des Wachstums. Barbara Muraca bietet grundlegende Informationen und Perspektiven für ein „gutes Leben“

Hinweise auf ein wichtiges Buch von Christian Modehn

Es geht um die Befreiung von einer krankhaften Abhängigkeit und lebensfeindlichen Bindung: „Wie bei einer Sucht, die tief in unsere kollektive Vorstellungswelt eingedrungen ist und alle Aspekte des Lebens durchdringt, müssen wir von der durchdringenden Wachstumslogik mühsam befreien“.

Mit diesen Worten beschreibt sehr treffend die Philosophin Barbara Muraca (Universität Jena, ab 2015 Oregon State University) in ihrem neuen Buch „Gut leben. Eine Gesellschaft jenseits des Wachstums“ (Wagenbach Verlag 2014) die große Herausforderung von heute und für die nächsten Jahre. Der von der kapitalistischen „Ordnung“ heftig verbreitete Glaube an das ständig fortschreitende und immer währende ökonomische Wachstum der Wirtschaft ist ein Wahn. Das “Immer mehr haben wollen“ erreicht nur eine Minderheit der Weltbevölkerung, der große Rest bleibt im Elend, die Natur wird total zerstört. Wer es noch nicht wahrhaben will: Klar ist und evident: Der Glaube an das Wachstum hat katastrophale Auswirkungen auf die Umwelt, auf die Menschen; auch die Seele leidet unter dieser von den Herren dieser Wirtschaft heilig gesprochenen Gier; es leiden die Gesellschaften, es leidet das friedliche Miteinander in der einen Welt der einen Menschheit. Wachstum in Permanenz erzeugt Krieg. Das wussten schon die weisen Lehrer des Zen-Buddhismus.

Debatten über „Wege aus dem Wachstumswahn“ werden etwa bei den verschiedenen internationalen „Degrowth-Konferenzen“ ausgetauscht, die sich der Überwindung der Wachstumsideologie widmen, wie jetzt im September 2014 in Leipzig. Diese Tagung mit mehr als 2000 TeilnehmerInnen hat Barbara Muraca mit-organisiert.

Das neue Buch von Barbara Muraca bietet eine konzentrierte und klare Übersicht zum Thema. Neue Informationen und neue Literaturhinweise werden den „Aktivisten“ in den verschiedenen wachstumskritischen Bewegungen geboten; vor allem aber sind die Informationen bestens geeignet, sehr viele Menschen für die Überwindung der Wachstumsgesellschaft „wach zu machen“. Insofern gehört das Buch in weiteste Kreise! Es gilt, sich von einem „stillschweigenden Grundkonsens“ unserer Gesellschaften zu befreien, der sich in den Köpfen festsetzen will als unumgängliche „Alternativlosigkeit“.

Barbara Muraca betont, dass die Suche nach einer politischen und ökonomischen Gestaltung ohne Wachstum durchaus mit dem Begriff Utopie zu denken ist. Dabei versteht sie Utopie als „Öffnung von Denk- und Handlungsräumen“, die aus der technokratischen Welt des „immer mehr Habens“ herausführen. „Das Reale ist kein unveränderlicher Block von immer gleichen vorgegebenen Strukturen, sondern offen und in stetigem Wandel“ (S. 16). Utopie ist also alles andere als ein traumhafter, illusorischer Begriff; er enthält die Kraft, das Gespür für das „Real – Mögliche“ zu entwickeln. Und „real möglich“ ist eine Gesellschaft ohne (tödliches) Wachstum. „Utopie bedeutet, dass Wandel durch menschliches Tun hervorgebracht werden kann“ (S. 21).

Für viele Leser in Deutschland wird es hoch interessant sein zu erfahren, dass die ersten Impulse für eine Welt – Gesellschaft ohne Wachstums, im Sinne der Abnahme oder Reduzierung von Wachstum, in Frankreich zu finden sind, in der „Dé-Croissance-Bewegung“, seit 1973 durch André Amar zur Diskussion gestellt. Dazu bietet das Buch hilfreiche Informationen, auch zu dem wegweisenden Philosophen Serge Latouche. Das Thema ist klar: Es geht um eine „gut durchdachte Schrumpfung (Décroissance) in den westlichen Industrieländern“. Inzwischen wird über dieses Konzept mit unterschiedlichen politischen Zielvorstellungen debattiert. Die äußerst rechtslastige Nouvelle Droite in Frankreich hat sich – etwa über ihren Meisterdenker Alain de Benoist – formal dieser Begrifflichkeit bemächtigt, sie preist nun die klassischen Werte des Verzichts, der Bescheidenheit, der altvertrauten Familie, der Bodenständigkeit, der nationalen Kultur, der westlichen Welt im Anschluß an eine Kritik der (globalen) Wachstumgesellschaft. So kann eine demokratische Bewegung auch noch missbraucht werden.  Auch die Kritik an der Wachstumsideologie durch den konservativen Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel (etwa sein Buch „Exit“) wird von Barbara Muraca einer Kritik unterzogen. Miegel setzt eindeutig nur auf Wertewandel „statt auf Umverteilung und gesellschaftlicher Transformation“ (S. 61).

Die demokratische und politische Bewegung gegen das Dogma des permanenten ökonomischen Wachstums ist inzwischen in Spanien, Italien und vielen anderen Ländern in vielen Basisinitiativen lebendig. Wichtig ist auch, dass die indianischen Völker etwa Ecuadors das (uralte) Konzept des Buen Vivir (gutes Leben) in den Mittelpunkt stellen und sogar für eine Verankerung dieses Konzepts in der Verfassung sorgen konnten (s.S. 46ff). Leider hat sich die ökonomische Macht des Nordens (USA, Europa) als stärker erwiesen: Ecuador hat jetzt große Flächen des Regenwaldes für Erdölbohrungen freigegeben. „Buen vivir“ ist in Lateinamerika leider noch mehr Projekt als Realität.

In Deutschland, so Muraca, hat vor allem der Ökonom Nico Paech „dafür georgt, dass der Begriff Postwachstum breit bekannt wurde“ (S. 35). Auch über sein Konzept wird in dem Buch debattiert.

Das Buch zeigt eindringlich: Die Suche nach einer praktischen Überwindung der Wachstumsgesellschaft ist nicht eine aktuelle Aufgabe neben vielen anderen. Die Überwindung des „Götzen Wachstum“ (S. 51) geht ins Grundlegende, „sie fordert eine radikale Veränderung der Machtstrukturen und wird nicht ohne heftige Auseinandersetzungen zu realisieren sein“ (s. 87). Das andere Leben ist bereits unter uns, wie es die Occupy – Bewegung, die „Indignados“ in Spanien und anderswo zeigen: Es gibt überall die Kooperativen, Tauschbörsen, Reparaturwerkstätten, gemeinsam verwaltete (Stadt-) Gärten usw.. „Solche Experimente sind Laboratorien für gesellschaftliche Veränderungen, durch die viele Menschen motiviert werden, für Demokratie zu kämpfen“ (S. 89).

Zum “Welttag der Philosophie” am 20. November 2014 wird Barbara Muraca über “Gut leben” im Kulturzentrum “Afrika-Haus” in Berlin, Bochumer Str. 25 sprechen. Beginn um 19 Uhr. Eine Veranstaltung zusammen mit dem Wagenbach Verlag. Weitere Hinweise folgen.In jedem Fall schon jetzt: Dazu herzliche Einladung!

Barbara Muraca, „Gut leben. Eine Gesellschaft jenseits des Wachstums“. Wagenbach Verlag Berlin, August 2014, 94 Seiten. 9.90 Euro.

Shlomo Sand: “Warum ich aufhöre, Jude zu sein”. Ein Buchhinweis in PUBLIK-Forum

Kürzlich veröffentlichte die christliche und ökumenische Zeitschrift PUBLIK FORUM (Heft 13/2014, Seite 55) eine kurze Besprechung des wichtigen Buches von Shlomo Sand: “Warum ich aufhöre, Jude zu sein”. Wir bieten hier den Text noch einmal für jene, die PUBLIK FORUM nicht lesen.

Shlomo Sand: “Warum ich aufhöre, Jude zu sein”.

Shlomo Sand, weltweit bekannter und geschätzter Professor für Geschichte in Tel Aviv, bietet mehr als ein persönliches Bekenntnis. Er kann aus objektiven Gründen nicht länger Jude sein, weil er den heutigen Staat Israel ablehnt. Dabei gibt es für ihn keinen Zweifel, als polnischer Jude, 1942 in Österreich geboren, für das Existenzrecht Israels einzutreten. In dem „jüdischen Staat“ lebt er seit 1949. Aber gerade diese Definition findet er unerträglich. Denn Israel bevorzugt die Bewohner, die dem jüdischen Volk zugehören. Dabei ist es ein Mythos, so wörtlich, über die jüdische Rasse den Staat Israel zu definieren. Die „Rasse“ der Hebräer gibt es nicht. Jude, meint Sand, sei man einzig durch sein religiöses Bekenntnis. Als Atheist möchte er aufhören, als Jude zu gelten, kann es aber nicht, weil er vom Staat unaufhebbar dem „Volk“ zugerechnet wird. In dieser „Volksideologie“ sieht Sand zudem die Wurzel der verhängnisvollen Besatzungspolitik. Er plädiert für eine „republikanische Identität“ Israels mit dem absoluten Respekt der Menschenrechte und einer Zweistaatenlösung mit Palästina. Das wichtige Buch verdient intensive Diskussionen.

Shlomo Sand: Warum ich aufhöre, Jude zu sein.  Propyläen Verlag, 2013. 156 Seiten. 18 €

Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

PS: „Shlomo Sand hat Intelligenz und Humor. Er schreibt, wie Professoren meist nicht schreiben können“, schreibt der Publizist Rupert Neudeck in Kölner-Stadt-Anzeiger, am 06.12.2013.

Leere Kirchen – lebendige Spiritualität. Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb

Leere Kirchen – Lebendige Spiritualität?

Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb

Von Christian Modehn

Besonders im Sommer, im Urlaub, besuchen viele Menschen während der Woche Kirchen, leere Kirchen, in denen im Augenblick kein Gottesdienst stattfindet. Viele laufen bloß neugierig herum, etliche, so meine Beobachtung, ruhen sich aus, verweilen, sammeln sich, beten vielleicht auch.

Was macht aus Ihrer Sicht den Charme leerer Kirchen aus? Fördern Sie irgendwie die individuelle Spiritualität, das stille Suchen nach dem eigenen Weg?

Leere Kirchen reduzieren die Nebengeräusche. Es gibt weniger Störungen von außen. Man muss sich vor allem nicht auf ein Geschehen einlassen, das, wie es bei jedem Gottesdienst der Fall ist, besondere Verpflichtungen einschließt. Wird in einer Kirche Gottesdienst gefeiert, dann werde ich konfrontiert, mit liturgischen Formeln, Chorälen, Predigten, gar sakramentalen Handlungen wie dem Abendmahl, der Eucharistie oder der Taufe. Sofort bin ich gezwungen, mich irgendwie zu dem zu verhalten, was da geschieht. Das kann aufregend und anregend sein. Das kann ärgerlich oder langweilig sein. Wie auch immer, ich bin dazu gezwungen, mich mit Zumutungen von außen auseinanderzusetzen. Aber vielleicht wollte ich genau dies nicht, sondern einfach nur die Kirche besichtigen, weil sie kunsthistorisch wertvoll ist, weil sie ein ästhetisch beeindruckendes Raumerlebnis verspricht, vielleicht auch nur, weil es in ihr an heißen Sommertagen so schön kühl ist.

Etwas anderes kommt hinzu, in der Regel ist es eine Gemeinde, die Gottesdienst feiert. Wenn ich zu dieser Gemeinde nicht gehöre, fühle ich mich fremd, vielleicht sogar als Eindringling in eine vertraute Gemeinschaft. Da will ich nicht stören. In einer leeren Kirche bin ich willkommen, sofern ich mich still und rücksichtsvoll verhalte.

Das Wichtigste scheint mir zu sein: Leere Kirchen lassen sich zum privaten Meditationsraum machen. Wenn es ästhetische ansprechende Räume sind, verbreiten sie eine sakrale Aura. Sie schaffen eine Atmosphäre, die zur Andacht einlädt. Sie öffnen unser Herz, weiten unseren Verstand, ergreifen uns mit allen unseren Sinnen. Dadurch stimulieren sie unser religiöses Gefühl. Das ist das Gefühl jener Selbstvertrautheit, die all unseren Anstrengungen der Selbstreflexion und Selbstfindung immer schon vorausliegt. In ihm werde ich des Sinnes gewiss, der mein Leben trägt, kann mir die Nähe Gottes aufgehen, bin ich ohne Anstrengung zugleich ganz bei mir. Ich finde mich gleichsam passiv in mich selbst und den mich tragenden göttlichen Grund eingesetzt.

Leere Kirchen aktivieren das religiöse Gefühl. Sie laden ebenso zu dessen reflexiver religiöser Deutung ein. Dann sagen Menschen, dass sie an diesem heiligen Ort sich selbst und Gott gefunden haben. So kann sich gerade in leeren Kirchen ereignen, was schon Augustin in den Confessiones als das Motiv wie als das Ziel der Selbst- und Sinnsuche beschrieb: “Mein Herz ist unruhig, bis dass es Ruhe findet, o Gott, in Dir“.

Viele leere Kirchen, gerade hier in der Mark Brandenburg oder Mecklenburg, sind nur als begehbare Ruinen erhalten, etwa das ehemalige Kloster Chorin. Diese Orte und auch bloß notdürftige reparierte Dorfkirchen finden viel Interesse bei Besuchern. Spüren diese Menschen vielleicht, dass diese Kirchenruinen Symbole sind für untergegangene alte und veraltete Glaubenformen? Sind diese Kirchenruinen ein stiller Hinweis auf den eigenen, zerbrochenen Glauben, der vielleicht nach Neuem Ausschau hält?

Schon der Romantiker Caspar David Friedrich hat am liebsten zerfallende Kirchen gemalt. Heute erst recht sind Kirchen für viele Menschen Denkmäler. Sie steht für die Kultur der Erinnerung an Zentren geistlichen Lebens oder symbolisieren das ideelle Zentrum eines Dorfes. Deshalb kümmern sich in Brandenburgs oder Mecklenburgs Dörfern die Kirchbau- und Kulturvereine um den Erhalt der Kirchen. Sie wollen dort nicht wieder Gottesdienst feiern. Aber das Gebäude ist ihnen wichtig, weil es für den verlorenen Mittelpunkt des Dorfes steht.

Dieses erstaunlich breite Interesse an der Erhaltung alter Dorfkirchen wollen jedoch, ebenso wie die touristische Aufmerksamkeit, die Kirchenruinen finden, das soll noch tiefer verstanden sein. Es geht den Menschen, die diese Kirchen besichtigen und erst recht denen, die sie erhalten, nie nur um das kulturelle Gedächtnis. Für sie spielt, auch wenn sie ansonsten ganz unkirchlich sein mögen, eine enorme Rolle, dass es Kirchen sind, Orte des Glaubens. Diese lassen eine fromme Erinnerung lebendig werden werden: Da muss doch einmal ein Glaube gewesen sein, der den Menschen viel bedeutete, ihnen Halt gab und sie über das Geschäftliche hinaus in einer geistigen Tiefe miteinander verbunden hat!

So wecken die Kirchen, selbst wenn nur noch die Grundmauern stehen, eine heilige Wehmut: Es könnte vielleicht doch sein, dass uns Heutigen etwas fehlt. Das wäre das Zugeständnis einer Sehnsucht nach Religion, nach einem unbedingt verlässlichen Lebensunterhalt, nach einer bergenden Gemeinschaft, nach einem Gott, der die Liebe ist.

In vielen großen Kirchen finden gerade in den Sommermonaten Konzerte statt. Sind diese oft gut besuchten Veranstaltungen „nur“ Kulturveranstaltungen oder haben sie – gerade in diesen Räumen – auch eine spirituelle oder religiöse Dimension? Sind Musikveranstaltungen oder Lesungen oder Ballett in den Kirchengebäuden nicht eigentlich Gottesdienst?

Je deutlicher wir darauf aufmerksam werden, welch enorme Bedeutung das Gefühl in der Religion spielt, desto besser verstehen wir auch die religiöse Tiefendimension, die die Ästhetik der Kirchenbauten und Kirchenräume öffnet. Wir können uns dabei die innere Nähe von ästhetischer und religiöser Erfahrung klar machen. Ästhetische Erfahrung, wie wir sie im Hören von Musik oder in der Begegnung mit Werken bildender Kunst machen, ist sinnlich vermittelte Sinnerfahrung. Sinnliche Sinnerfahrung, in der uns die Welt ebenso beglückend wie verstörend entgegenkommt. So macht die Kunst uns auf die Ambivalenz von Sinn aufmerksam. Sie fordert unsere Sinndeutung heraus. Dabei kommt den kirchlichen Räumen eine wichtige Rolle zu. Sie motivieren die religiöse Deutung der ästhetischen Erfahrung und ermöglichen den Umgang mit ihren Ambivalenzen.

Die in Kirchenräumen zur Aufführung kommende Kunst schließt das kulturelle Gedächtnis an die religiösen Deutungswelten biblischer Sprache an wie auch an die Ikonographie der christlichen Überlieferungen. Selbst wenn die Kunst den alten Glauben nicht erneuern kann, macht sie doch den spirituellen Sinn für Tiefenschichten bewusst, an dem teilzuhaben die kirchlichen Räume einst Gelegenheit boten.

So halten die alten Kirchen, gerade dann, wenn geistliche Musik in ihnen zur Aufführung kommt, die Ahnung lebendig, dass im Ganzen der Welt ein Sinn ist, auch wenn wir ihn nicht verstehen. Käme diese Musik im Konzertsaal zur Aufführung, so würden wir sie dort nicht in der gleichen Weise erleben. Kirchengebäude öffnen Menschen, so säkular sie auch eingestellt sein mögen, für die spirituelle Tiefendimension ihrer Existenz. Besonders wenn die Werke Johann Sebastian Bachs in den alten Kirchen aufgeführt werden, stellt sich das Empfinden ein: Auch wenn wir unser eigenes Leben und schon gar die Welt, zu der wir gehören, nie ganz verstehen, wir können doch nicht in ihr verloren gehen.

Copyright: Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin, veröffentlicht am 17.August 2014

Max Horkheimer ist online

Die Schriften und Briefe des Philosophen Max Horkheimer sind nun online allgemein zugänglich

Von Christian Modehn

Manchmal ist der materielle Zerfall von Papier und damit auch von Büchern und Briefen von Vorteil: Weil der Zustand der Schriften und Briefe des Philosophen und Mitbegründers der „Frankfurter Schule“ Max Horkheimer (1895 – 1973) äußerst prekär wurde und das Papier “zerbröselte”, gehen nun ab 20. August 2014 die (allermeisten) Schriften des großen Philosophen online. Es handelt sich um 250.000 Dokumentseiten, das teilte die Goethe-Universität in Franfurt am Main mit. Der Leiter des dortigen Archivs, Dr. Mathias Jehn, betonte, dass nun auch viele bislang unveröffentlichte Briefe Horkheimers allgemein zugänglich werden. Die online Publikation umfasst die Jahre seit der Studentenzeit bis zu späten Vorträgen und Interviews.

Gerade religionsphilosophisch Interessierte freuen sich enorm, nun gerade diese späten Schriften studieren zu können, werden doch darin Vorschläge für religionsphilosophisch relevante Themen ausgebreitet. Bisher wurden diese Stellungnahmen Horkheimer eher als „Ausrutscher“ und „Nebenthemen“ abgewertet. Man wird sehen, ob es bei diesem (Fehl) Urteil bleiben wird.

Der Religionsphilosophische Salon Berlin wird sich alsbald mit diesen Fragen beschäftigen.

Die Internetadresse:   http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/horkheimer.

Dr. Mathias Jehn äußert sich im Pressedienst der Frankfurter Uni:
„Unter den mehrere tausend Briefen Horkheimers sind auch viele, die bislang noch nie veröffentlicht wurden – so Korrespondenzen mit anderen bedeutenden Vertretern der Kritischen Theorie während der Emigration“, erläutert Jehn. Das internationale Interesse an der Frankfurter Schule und ihren Hauptprotagonisten ist seit Jahren ungebrochen, insbesondere für diese Wissenschaftler ist die Nutzung des digitalen Archivs ein enormer Gewinn.“

Heidegger: Ein esoterischer Philosoph. Hinweise auf ein Buch von Peter Trawny

Heidegger – ein esoterischer Philosoph

Hinweise auf ein Buch von Peter Trawny

Von Christian Modehn

(Die in Klammern gesetzten Seitenzahlen beziehen sich auf das Buch von Peter Trawny “Adyton“ )

Eine interessante Deutung des (Spät-) Werkes Martin Heideggers liegt seit 4 Jahren vor: Der Heidegger Spezialist Prof. Peter Trawny (Wuppertal, auch Herausgeber der „Schwarzen Hefte“ Heideggers) hat eine (leider sehr knapp gefasste) Studie publiziert. „Adyton. Heideggers Esoterische Philosophie“ ist der Titel.

Martin Heideggers Denken und Publizieren ist seit Mitte der neunzehnhundertdreißiger Jahre esoterisch geprägt. Diese Einsicht erläutert Peter Trawny in dem Buch „Adyton. Heideggers Esoterische Philosophie“. Erschienen ist die 114 Seiten umfassende Broschüre bei Matthes und Seitz in Berlin im Jahr 2010.

Unter dem eher befremdlich wirkenden Begriff „Adyton“ aus dem Altgriechischen versteht Trawny das Unzugängliche und Unbetretbare, aber auch den „Ort des Orakels“, wo der Gott spricht, der für sein Sprechen den hörenden Menschen braucht. Wer im Adyton oder wenigstens beim Adyton weilt, hat das Unermessliche erreicht, nämlich „den Ursprung von Leben und Wort“ (8). Trawny schreibt weiter: „Heideggers Philosophie ist der Gang zu diesem Adyton“ (8). Es bedeutet Stille, der Ort des Zuspruchs, auch „Seyn“, worin sich der Gott zeigen könnte. Dort empfängt Heidegger „einen ungeheuren Exzess von Sinn“ (9).

Trawny bezieht sich in seiner Heidegger Deutung vor allem auf das Buch „Beiträge zur Philosophie. Vom Ereignis“, das 1989, wie die Schwarzen Hefte jetzt, ebenfalls post mortem erschien (bzw. wohl auf Wunsch Heideggers erscheinen durfte). In diesem Buch, 1936 – 38 geschrieben, kommt, nach Trawny sicher zu recht, die ganze Dimension des Esoterischen bei Heidegger zum Ausdruck. Heidegger Leser wissen, dass seit „Sein und Zeit“ ,1927 erschienen, das Denken Heideggers ganz neue Weg ging; angefangen vom „Vom Wesen der Wahrheit“ (1931, erschienen 1943) bis zu dem von Heidegger selbst kaum noch verständlich genannten Text „Zeit und Sein“ (1962).

Die zentrale These Trawnys also: Heideggers so genannte Spät- Philosophie ist esoterisch, also nicht für die Öffentlichkeit, sondern, wie Trawny schreibt, für den „Zirkel“, also den kleinen Kreis Berufener, bestimmt. Er nennt Heideggers Werk sogar „essentiell esoterisch“ (13). Dass die Spätphilosophie Heideggers (höchst) ungewöhnlich ist, in der sprachlichen Gestalt und damit zugleich in der Sache, war den meisten ja immer schon klar. Neu ist diese Zuspitzung in der Qualifizierung „esoterisch“.

Dabei muss darauf hingewiesen werden, was Trawny selbst nicht vertieft, was denn in der reflektierten „Alltagssprache“ esoterisch bedeutet; „esoterisch“ ist heute ein inhaltlich weit gebrauchtes Wort, bis hin zur Qualifizierung der “new age” Szene oder für religiöse „Sondergruppen“ wie die Rosenkreuzer oder die Swedenborg-Gemeinschaft. Ob diese Qualifizierung der Spätphilosophie Heideggers als „esoterisch“ tatsächlich in diesem sprachlichen Umfeld weiterführt, ist eine andere Frage. .

Trawny meint also zenral: Esoterisch ist das Werk Heideggers vor allem wegen der entschiedenen Zurückweisung der Öffentlichkeit, was im Sinne Heideggers bedeuten soll: Diese hier präsentierte Philosophie/dieses Denken, darf nicht von außen, nicht von den vielen, dem „Feuilleton“ und wem auch immer in der Öffentlichkeit der Gesellschaft beurteilt werden. Denn diese vielen, auch die vielen der Aufklärung verpflichteten Philosophen, können gar nicht das von Heidegger Gesagte verstehen. Trawy selbst schreibt, dass sich die vielen von dieser Philosophie „abgestoßen“ fühlen könnten (11). Komisch hingegen, dass Heidegger diese Philosophie nicht in kleinster Auflage für den Zirkel, sondern in öffentlich zugänglichen Verlagen publizierte mit den entsprechenden Übersetzungen. Der Esoteriker Heidegger wollte also doch in der Öffentlichkeit Beachtung finden, wenn nicht Aufsehen erregen.

Tatsächlich haben viele wegweisende Philosophen schwierig geschrieben, man denke an Kant, Fichte, Hegel usw. Aber schwierig ist eben nicht identisch mit esoterisch. Diese Philosophen sagten Neues. Aber sie haben den Anspruch, doch mit einiger Mühe für alle gebildeten Leser verständlich sein zu können. Die Publikation etlicher Beiträge von Kant in Zeitschriften spricht ja dafür. Diese Philosophen schreiben also von Erkenntnissen, die sie in allgemeiner Sprache begründen. Im Unterschied dazu schreibt der späte Heidegger von Gehörten, von Empfangenen, vom Geschenkten. Aber von wem denn nun empfangen? Vom Seyn (sic), wie er dauernd und immer im Spätwerk betont oder vom „Ereignis“, dem zu lauschen ihm und einigen Erwählten vorbehalten und geschenkt ist. Dies dort Gehörte gibt Heidegger weiter, in einer neuen, man möchte sagen, fast privaten und neu geschaffenen („ereigneten“) Sprache, die die gelauschte Sache selbst auszusagen wagt, so behauptet er.

Dies ist der Kern der esoterischen Philosophie Heideggers. Sie ist verschieden von den Erkenntnissen, die etwa Kant in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ machte. Erkenntnisse sind für Kant kein Geschenk, keine Gnade. Kant hat nichts (mysteriös?) gehört etwa von dem transzendentalen Apriori, sondern es erkannt und in einer (zwar schwer) nachvollziehbaren Sprache für alle dargestellt.

So wird das besondere Profil der esoterischen Philosophie Heideggers deutlich. Er ist – wie ein Prophet – der Berufene, dessen Worten man letztlich nur glauben kann. Auch das ist nicht weiter problematisch, wenn man denn diese Philosophie als Privatphilosophie eines Berufenen definiert oder als Poesie und Lyrik eines besonders Begabten.

Noch einmal: Heideggers späte Philosophie will explizit nur Eingeweihten des Zirkels (109) zugänglich sein; solchen Menschen also, die den Mut haben, viele neue Wortschöpfungen Heideggers (und gehörte Botschaften vom „Ereignis“ her) stundenlang hin und her zu wälzen, bis vielleicht der „Funke“ (Geschenk, Gnade?) auch auf sie überspringt. Jedenfalls, so Trawny, haben sie den Mut, ihre „Neutralität“ ( 24), also Distanz und vielleicht sogar Skepsis, aufzugeben.

Heidegger – ein philosophisches Doppelleben

Wer Neutralität aufgibt, ergreift folgerichtig Partei, ist Partei und parteiisch. Der späte Heidegger wünscht sich also Anhänger, Gläubige, „Parteigänger“. Das kann man ja fordern. Die Frage ist nur, wie sich solch ein Denken noch Philosophie nennen kann. Aber das Schwierige ist: Das wollte Heidegger ja auch gar nicht, er trat zwar bei Kongressen als „Philosoph“ auf, war aber im Innersten seines Erfahrens und Denkens eben ein esoterischer Denker. In seinen Vorträgen etwa nach 1945 bis zu seinem Tod 1976, die oft noch nachvollziehbar sind auf weite Strecken, wie etwa zur Technik, hat er sich also in seinem wahren, dem esoterischen Wesen versteckt. Es wäre eine interessante Frage, einmal einen Aufsatz zu schreiben über „Heidegger und sein geliebtes Versteckspiel“ nicht nur im Blick auf seine Liebschaften und Lieben, sondern auch auf seine tatsächliche, innere und eigene politische Haltung, die in den „Schwarzen Heften“ zum Ausdruck kommt. Versteckspiel ist es auch, dass Heidegger die ehrlichen Worte (der Schwarzen Hefte) zur (Nazi-) Politik eben erst post mortem veröffentlichen ließ. Jedenfalls hat sich der hoch dotierte und von etlichen Kreisen hoch verehrte Philosoph zu Lebzeiten versteckt. Damit passt er gut in diese Zeit: Viele Politiker, Richter usw. der Bundesrepublik haben sich als ehemalige NSDAP Mitglieder versteckt/opportunistisch verstecken müssen….

Mit anderen Worten: Es ist klar nach den Ausführungen Trawnys: Heidegger führte auch ein philosophisches Doppelleben. Das wäre ein hübsches Thema, das ich leider jetzt hier nicht weiter bearbeiten kann. Trawny erwähnt selbst mit einem Satz, dass Heidegger „in Vorlesungen, Vorträgen und Aufsätzen (die esoterische Dimension seines Denkens) verschwieg“ (46).

Ich kann hier das komplexe Thema des dicht geschriebenen Buches von Trawnys in aller Ausführlichkeit nicht wiedergeben.

Nur einige uns wesentlich erscheinenden Hinweise:

Spätestens ab 1933 sucht Heidegger in seinem Denken und Publizieren das normalerweise Unzugängliche, mit ihm will er inniglich verbunden sein. Er will nun etwas ganz Besonderes und Unerhörtes sagen, zumal er in seinem groß angelegten Projekt „Sein und Zeit“ (1927) gescheitert war und dies auch wusste. Nebenbei: Das viel gerühmte Werk „Sein und Zeit“ ist letztlich ein zweifelsfrei wichtiges, denkwürdiges Fragment, aber eben nur der erste Teil für ein weiteres Vorhaben, das nicht realisiert wurde bzw. realisiert werden konnte. Es ist aber, wie Trawny schreibt (31), ein „exoterisches Buch“, ein solches also, das viele lesen und in vernünftiger Sprache und ebenso in vernünftigem Denken verstehen können und in allgemeiner Sprache debattieren. Weil eben exoterisch bedeutet: In der nun einmal allen verständlichen und gebräuchlichen Umgangssprache, die zu bestreiten ja unmöglich ist, geschrieben, selbst wenn da neue Wortschöpfungen durch Heidegger häufig schon vorkommen.

 

Nach dem gescheiterten „Sein und Zeit“ sucht Heidegger das “äußerst Besondere”, nämlich die intime Nähe zum Unzugänglichen. Diese Innigkeit, Inniglichkeit, betont Trawny in seiner Broschüre sehr. „Weil dieser Empfang (im Adyton , CM) ein Bewohnen dieses Bezugs (zum Adyton CM) voraussetzt, ist Heideggers Philosophie esoterisch“ (9), esoterisch von Trawny kursiv gesetzt!

Trawny selbst ist sich der wichtigen, um nicht zu sagen globalen Dimension seiner Studie bewusst, nämlich dass diese Interpretation „womöglich zu einer neuen Heidegger-Interpretation“ (wenigstens des Spätwerkes) führt! (12).

Trawny verwendet anstelle von „esoterisch“ sehr häufig das Wort „esoterische Initiative“ (ab Seite 11 ständig). Dabei will er das Esoterische nicht als Irrationale verstanden wissen (46), es wird also die Möglichkeit offengehalten, das Esoterische ins Exoterische zu übersetzen, was man ja vom „Irrationalen“ so nicht sagen kann.

Wenn Trawny in seiner Studie sehr oft von einer „esoterischer Initiative“ (Heideggers) spricht, dann darf man das wohl übersetzen in eine exoterische, also allgemein verständliche Vernunft- Sprache: Heidegger hat sich entschlossen, also die Initiative ergriffen, also (frei?) gehandelt, um seine „Spätphilosophie“ ab 1933 eben „esoterisch“ darzustellen.

Leider versäumt es Trawny zu erläutern, warum gerade zu Beginn der Nazi Herrschaft (und der NSDAP Mitgliedschaft Martin Heideggers) es zu dieser esoterischen Wende bzw. „Initiative“ kam. Wie sind da die Verklammerungen und Wechselbeziehungen zu verstehen: Flüchtete sich Heidegger ins Esoterische, um sich zur Zeit der Nazis und dann später, nach 1945, unangreifbar zu machen, weil er ja eben Esoterisches (also nicht allgemein Zugängliches!) vom Seyn (!) her hörte und vernahm und „Winke (aus dem Adyton) empfing“, die eben die (offenbar dumme exoterische) Masse gar nicht wahrnehmen konnte? Ist da der Gedanke der Abgehobenheit (und später dann der Straflosigkeit und mutmaßlichen Unschuld) zu berücksichtigen? Vielleicht war die Mitgliedschaft Heideggers in der NSDAP selbst sogar ein „Wink“ des Adyton? Wer könnte dem so Hörenden und Gehorsamen dann noch böse sein, wenn er doch bloß dem Seyn (!) traute? Aber hinzu kommt: Heidegger war in den dreißiger Jahren geradezu angewidert von dem System der Universitäten und sicher auch von der Gestalt der Weimarer Republik. Im Zusammenhang des Aufstiegs der NSDAP wünschte er sich noch 1936 dringend explizit eine „Revolution“, einen Umsturz. Er wünschte sich tatsächlich: Der „Nationalsozialismus wäre schön als barbarisches Prinzip“, aber leider waren ihm dann die Nazis doch, so wörtlich Heidegger, „zu bürgerlich“ (so Trawny S. 33).

„Öffentlichkeit ist der Selbstmord der Philosophie!“

Es zeigt sich in unserem Zusammenhang immer wieder die polemische Abgrenzung Heideggers von der „Öffentlichkeit“ (10), der „public sphere“. „Dagegen begehrt sie, die Philosophie, Initimität“, meint der Meisterdenker. Gesucht ist von Heidegger ein Leser, der ebenso wie er bereit ist, das Adyton, das Unbetretbare, zu begehen. Heidegger wendet sich also, noch einmal, an die wenigen, die Mutigen, die vom Adyton „Gerufenen“, die eben anders denken wollen und können als die Mehrheit. Peter Trawny stellt im Zusammenhang der von Heidegger esoterisch bevorzugten Intimität sogar das „erotische Ereignis“ daneben. „War Heidegger nicht auch ein gewaltiger (sic !) Erotiker?“. Vor allem am Ende der Studie wird auch von Frauen gesprochen, u.a. auch von den, so wörtlich, „braunen Frauen“, von denen Hölderlin in einer Hymne spricht (103). Auf Seite 108 erinnert Trawny erneut an das Hauptanliegen des esoterischen Philosophen Heidegger, nämlich an „seine ununterbrochene Verdammung der Öffentlichkeit“.

Deutlicher kann man diese Zurückweisung von Öffentlichkeit, also rechtlicher Kontrolle, Disput, Gesetzen, Demokratie usw. kaum sagen. Heidegger ein Anti-Demokrat? Nach dem Gesagten ist das sehr wahrscheinlich. Das können nur diejenigen richtig finden, die selbst der Demokratie mißtrauen und sie insgeheim verachten. Weil sie arrogant sind zu meinen, es gebe viel Besseres, offenbar die Oligarchie?

Mit dieser Zurückweisung, Philosophie als öffentliche Sache zu betreiben, also für die meisten Gebildeten in einer allgemeinen Umgangssprache der Vernunft zu sprechen, liegt eine weitere polemische Zuspitzung. Trawny zitiert Heideggers geradezu erschütternde Wort: „Das Sichverständlichmachen ist der Selbstmord der Philosophie“ (14, bezogen auf Band 65, Seite 435). Das heißt in eine exoterische Sprache übersetzt: Die Philosophie (Heideggers) kann sich und darf sich und soll sich NICHT (allgemein, öffentlich) verständlich machen, wenn sie denn leben und überleben will. Zur Rolle der Philosophie in der und für die Gesellschaft könnte man wohl kaum Schlimmeres sagen, in unserer Sicht. Eigentlich gehört in dieser Sicht Heideggers Philosophie in die Hütte im Schwarzwald und nur dorthin, nicht aber in den Disput dieser (angeblich) so „schrecklichen“ Universität. Die „Öffentlichkeit“ kann man und muss man kritisieren, aber pauschal verdammen kann man sie im 20. Jahrhundert wohl ernsthaft nicht. Gäbe es keine Öffentlichkeit, wäre etwa schon diese Heidegger Kritik nicht möglich, sondern müsste erst einmal einer Zensur vorgelegt werden. War sich Heidegger der Dimensionen seiner antidemokratischen Haltung bewusst? Vieles spricht dafür, auch im Zusammenhang der „Schwarzen Hefte“.

Wenige Jahre vor der Veröffentlichung der „Schwarzen Hefte“ (ab Frühjahr 2014) zeigt uns Trawny schon hier, sagen wir es ruhig, ein höchst unsympathisches Gesicht Heideggers. Denn Heidegger wendet sich gegen die philosophische Tradition als einer „Sache aller“, wie sie seit der Aufklärung eigentlich selbstverständlich galt. Die Agora als öffentlicher Platz der Philosophen wäre eigens zu debattieren. Hegel wehrte sich etwa gegen die Vorstellung, „die Philosophie könne ein esoterisches Besitztum einiger Einzelner“ sein, er förderte und forderte „die allgemeine Verständlichkeit“ (ob Hegel das immer gelang, ist eine andere Frage), so in der „Phänomenologie des Geistes“.

Die „Beiträge“ (Band 65) sollten „ein Geheimbuch“ sein und bleiben, das nur „zu bestimmten Adressaten sprach“ (41). Inzwischen liegt es in 3. Auflage vor. Warum wurde es erst nach dem Tod Heideggers publiziert? Wollte sich der immer noch als Philosoph hoch beachtete und bestaunte Heidegger nicht die „Blöße“ geben, nun als esoterischer Denker des Adyton (in der fruchtbaren Öffentlichkeit) zu gelten? Darauf gibt die Broschüre Trawnys leider keine Antwort.

Ein Intermezzo „Zur Übersetzung“: Die „Beiträge“ (Band 65) wenden sich also ausdrücklich nur an wenige und einzelne, d.h. an jene, die die Stimme des Seyns (sic!) hören können.

Trawny nennt die Texte dieses Buches, von 1936- 1938 geschrieben, „sehr sperrig“. Die Sprache Heideggers „orientiert sich (in Band 65) keineswegs an der Sprache des Alltags“ (42). In seinen Vorlesungen und sonstigen Publikation seit 1933 hingegen hat Heidegger diese nun für ihn grundlegende neue, esoterische Dimension seines Denkens eher verschwiegen, wie sie in Band 65 offensichtlich wird, meint Trawny (46). Dabei verschweigt Trawny, dass eigentlich alle Werke seit 1933 insgesamt von einer esoterischen Sondersprache geprägt sind! Man lese bitte nur einmal „Zeit und Sein“. Da warnt Heidegger selbst vor beinahe vollständiger „Unverständlichkeit“ für Exoteriker.

Die ganze Kunst des Verstehens besteht nun wohl darin, dass Philosophen diese sperrigen Texte nicht ihrerseits in der esoterischen Sprache nachsprechen und esoterisch wiederholen, sondern wie üblich beim Verstehen esoterischer Texte diese eben in die allen gemeinsame, d.h. die allgemeine, d.h. in die von Vernunftbegriffen bestimmte Sprache ÜBERSETZEN. So, wie man ein (esoterisches) Gedicht von Paul Celan nicht dadurch erläutert, dass man hundertmal Paul Celans Worte wiederum repetiert und zitiert, sondern das Celan-Gedicht eben in die allen gemeinsame, also allgemeine Sprache überträgt, so geht es wohl auch mit den esoterischen Äußerungen im Spätwerk Heideggers. Nehmen wir den Satz Heideggers aus diesen Jahren „Es göttert“. Den Satz kann man als verstehender Philosoph eben nur in der allgemeinen, also der öffentlichen Sprache übersetzen, will man denn nicht ein weiteres esoterisches Werk für wenige und einzelne schreiben.

Manchmal hat man den Eindruck, dass Peter Trawny in seiner Broschüre selbst ins esoterische Fahrwasser gerät, also im „Milieu“ Heideggers sich aufhält, ziemlich abstandslos, etwa wenn man den Satz liest: “In der Philosohie ist niemals Alles gleich möglich, selbst wenn ihr beinahe nichts unmöglich ist“ (108). Oder auf Seite 61steht der Satz: „Letztlich steht Alles und noch mehr als Alles auf dem Spiel“. Was ist „mehr als Alles“? Die Frage wird nicht beantwortet….

Nebenbei: Warum bedauert Trawny die, so wörtlich „zähe Aufweichung des Nationalstaates“ (78)? Offenbar, weil die „Nation und das „Volk“ abgeschafft wurden, wie er scheibt, mit dem Aufweichen des Nationalstaates… Hat man denn nichts davon gehört, dass die Kriege des 20. Jahrhunderts und davor Kriege von Nationalstaaten und Völkern waren, von Menschen und Herrschern, die sich als etwas „Besonderes“ fühlten und eben nicht schlicht als Menschen unter anderen gleichberechtigten Menschen. Das Plädoyer Trawnys für den Nationalstaat und das Volk ist seltsam und traurig zugleich in dem heutigen Europa der neuen Kriege der Völker und Nationen. In diesen Worten des Leiters des Heidegger Instituts glaubt man den Meister Heidegger selbst noch zuhören.

Einerseits lehnte es Heidegger ab, dass die Öffentlichkeit seine Philosophie beurteilen kann (also auch die damals von ihm anfänglich hoch umjubelten Nazi Herrscher), „so hielt er daran fest, dass die Philosophie ein herrschaftliches Wissen sei“ (35). Das kann bedeuten: Auch wenn Heideggers Philosophie nur einigen wenigen einleuchtete oder gar verständlich war, sollte sie doch als ein „herrschaftliches Wissen“ dann für alle in Staat und Gesellschaft „irgendwie“ gelten. Denn Heidegger, der Erwählte, hat Dinge gehört und gesehen im Adyton, die nur er und einige wenige gesehen haben. Deswegen sollten ja diese Menschen, die „zukünftigen Menschen“, herrschen, zusammen, wie er sagt, mit zahlreichen, so wörtlich „Bündischen“ und vielen, ebenfalls wörtlich Heidegger, „Zueinanderverwiesenen“. Wie diese drei Gruppen eine politische Legitimität erlangen können, interessierte Heidegger nicht, wie Trawny in der Beschreibung von Heideggers politischen Ideen betont (81).

Viele weitere Aspekte zur esoterischen Philosophie Heideggers können hier nicht ausgebreitet werden. Etliche Themen berührt Trawny in seiner Broschüre, etwa die Gottesfrage oder die Bedeutung Hölderlins, den Heidegger in einer merkwürdigen (nicht mehr logischen, aber vielleicht esoterischen) Steigerung „den Deutschesten der Deutschen“ (83) nennt.

Zusammenfassend sagt Trawny: „Heideggers esoterische Philosophie ist demnach eine Antwort auf die sich vor jenem Zusammenbruch befindende Moderne, der ein paar Jahre später in Auschwitz, Dresden und Hiroshima (um das jeweils Unvergleichbare zu nennen) Realität geworden ist“ (98 f.) Offenbar bemerkt Trawny, dass man Auschwitz (Symbol für die Vernichtung von 6 Millionen Juden) kaum in einer direkten Aufzählung so ohne weiteres neben Dresden (Bombardements der Alliierten auf eine Stadt in Nazi-Deutschland) und Hiroshima (Atombomben der Amerikaner auf Japan) stellen sollte und stellen darf. Alle ethischen Fragen der fundamentalen Schuld der Nazis und ihrer Freunde werden damit ignoriert, so sehr einem die Toten in Dresden und Hirsohima natürlich leid tun.

Direkt anschließend gehen die Probleme weiter: Wie soll man das Wort Trawnys in seine letztlich doch voller Verständnis für Heidegger geschriebenen Studie, verstehen: „Dass diese Antwort (Heideggers auf den Zusammenbruch der Moderne, CM) sich nicht an die Öffentlichkeit dieser Moderne wenden konnte, wird inzwischen ein wenig deutlicher geworden sein“ (99). „Ein wenig“ gewiss, wenn man denn mitmacht und hinzunehmen bereit ist, dass da ein Philosoph existiert mit dem Anspruch, auf das „Seyn“ hören zu können und dort seine Botschaften für den „Zirkel“ vernimmt.

Es gehören jetzt “starke Nerven” dazu, diese Philosophie Heideggers (ist es Denken, Poesie, Stammeln?) weiterhin im ganzen mitzuvollziehen. Wie viel Energie wurde ins Studium Heideggers gesetzt? War man blind? War man fasziniert? Dürfen Philosophen fasziniert sein vom Mysteriösen? Und jetzt also dieser sich immer deutlicher zeigende „Misston“ in seinem Denken, seiner Person, seinem Versteckspiel. Hätte man rechtzeitig auf Habermas gehört oder auf Karl Jaspers und andere…

Sicherlich bleiben einige Aspekte in Heideggers Philosophie noch interessant, inspirierend und denkwürdig. Wir haben viele Denkhaltungen Heideggers wohl längst „internalisiert“, ohne es noch thematisch zu wissen, etwa die ontologische Differenz, die Frage nach dem göttlichen Gott, die Achtsamkeit auf die Sprache usw… Aber kann man einige „Aspekte“ aus einem Gesamtwerk herausbrechen, wenn das Gesamtwerk einen eher problematisch unangenehmen, philosophisch politischen Geruch des Esoterischen hat? Können Fragmente stimmig oder gar wahr sein, wenn das Ganze einen, wie von Trawny zeigt, dann doch irritierenden esoterischen Charakter hat? Wenn Heidegger für den esoterischen Zirkel schrieb und explizit schreiben wollte, welches Recht haben dann Exoteriker, diese esoterischen Einsichten und „Winke“ ins Exoterische zu ziehen? Tun die Heidegger-Forscher und Heidegger-Interpreten dem Denker, der das Adyton hörte, mit ihren Arbeiten also einen Gefallen? Wenn ja, welchen?

COPYRIGHT auf diesem Text. Christian Modehn, Berlin. Religionsphilosophischer Salon Berlin. 10.August 2014. Jeglicher Nachdruck, selbst in Auszügen und wo auch immer, ist untersagt.