Was ist wesentlich im Christentum? Eine Ra­dio­sen­dung am 4. Januar 2015 um 9.04 Uhr

Der Glaube auf den Punkt gebracht. Über das Wesen des Christentums

Eine Ra­dio­sen­dung im Saarländischen Rundfunk 2. Programm um 9.04 Uhr   Von Christian Modehn

Wenn die Kirchen an der Seite der Armen und Ausgegrenzten stehen wollen, dann wirkt ein umfassendes und „kluges“ System von Dogmen und komplizierten Moralprinzipien eher unpassend. Diese Überzeugung vertritt Papst Franziskus. Dabei wiederholt er die alte theologische Weisheit: Der christliche Glaube ist einfach, was nicht heißt, er sei „schlicht“. Aber: „Man muss nicht Theologie studieren, um glauben zu können“, betont auch der protestantische Theologe Christoph Markschies von der Humboldt Universität, „das Wesen des Glaubens lässt sich auch in wenigen Worten aussagen“. Dadurch werden auch die berühmten „Kurzformeln des Glaubens“ wieder aktuell, die der katholische Theologe Karl Rahner vorgeschlagen hat. Sie sind keineswegs kurze Sprüche, sondern Reflexionen in vernünftiger Sprache, die das Wesen des Glaubens aussagen. So werden Menschen ermuntert, auch persönliche „Glaubensformeln“ zu formulieren, die das aussprechen, worauf es im Leben wirklich ankommt. Ein Beitrag, der anregt, weiter über das “alte Thema” Wesen des Christentums zu diskutieren.

 

Die erlösende Kraft von Weihnachten. Ein Interview mit Prof. Wilhelm Gräb

Weiter Denken: Drei Fragen an Wilhelm Gräb:

Die erlösende Kraft von Weihnachten

Die Fragen stellte Christian Modehn

1. Jesus Christus wird zu Weihnachten in vielen Liedern und Gebeten als der Erlöser gepriesen. Was bedeutet das, Jesus Christus Erlöser zu nennen?

Ich muss gestehen, dass ich mir die ungeheure, weit über die Kirche und die Gemeinde der Frommen hinausreichende Leuchtkraft von Weihnachten gar nicht anders als aus seiner erlösenden Wirksamkeit verständlich machen kann.

Die Botschaft des Engels an die Hirten, die auf den Feldern rings um Bethlehem ihre Herden hüteten, wollte und konnte eine große Freude auslösen: „Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird, denn euch ist heute der Retter (griechisch: Sotèr, von Luther mit „Heiland“ übersetzt) geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.“ (Lukas 2, 10f.) Darauf geht zurück, dass an Weihnachten Jesus Christus als der Erlöser „gepriesen“ wird, wie Sie sagen. Und es ist doch auch so, mir jedenfalls geht es so, wenn ich im Gottesdienst an Heilig Abend diese Engelsbotschaft höre, dann spüre ich tatsächliche eine Freude in mir aufkommen. So ganz erklären kann ich mir das nicht, aber eine unwahrscheinliche Wärme breitet sich aus und umhüllt mich.

Allerdings, Sie haben dennoch recht, ich habe die allergrößten Schwierigkeiten, zu verstehen, was damit eigentlich gemeint sein könnte, dass Jesus Christus unser Erlöser ist. Dann jedenfalls, wenn mit dem Erlösungsgeschehen dieses heilsgeschichtliche Drama gemeint sein sollte, die Intervention eines Gottes, der, durch die Sendung seines geliebten Sohnes, die in ihrem verkehrten Wesen gefangene Menschheit vor den ewigen Sündenstrafen errettet.

Mit diesen messianischen Vorstellungen und dem ganzen mythologischen Szenarium, die hinter dieser Vorstellung von Christus als dem Erlöser stecken, komme ich nicht zurecht. Und eben auch nicht mit der Behauptung einer exklusiven, mit Geburt und Tod Jesu Christi verbundenen Heilstatsache. Was geht mich diese an? Warum sollte dieses Ereignis, wenn es denn eines war, für mich geschehen sein? Das verstehe ich nicht. Auch, weil ich mit der Vorstellung einer Heilsgeschichte überhaupt, einer Geschichte, die der wirklichen Geschichte parallel laufen, aber nur dem gläubigen Auge sichtbar sein soll, nichts anfangen kann. Für mich gibt es nur die eine wirkliche Geschichte, mit ihren vielen großen und kleinen, schönen und schrecklichen Geschichten, mit der Geschichte auch, in der damals, so erinnert sie das Lukas-Evangelium, die Hirten jene Engelsstimme hörten, die ihnen das Zeichen von der Geburt des Erlösers gab.

Diese schöne Geschichte erzählt der Evangelist Lukas. Aber Lukas erzählt diese Geschichte so, dass sie von jeder Gegenwart gehört werden kann als würde sie gerade jetzt geschehen: „Euch ist heute der Heiland geboren!“ Euch – Heute! Nicht damals, nicht nur der Maria und dem Joseph, nicht nur den Hirten und schon gar nicht allein vor 2000 Jahren. Nein, Euch, also mir und dir, heute, gerade jetzt, jetzt da ihr von der großen Freude über die Geburt des göttlichen Kindes hört.

Klug, wie der Engel war, fährt er fort: „Und das habt zum Zeichen, ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.“ Ein Zeichen ist die Geburt dieses göttlichen Kindes. Ein Zeichen für die göttliche Lebenskraft in euch allen. Seht selbst, ihr erlebt es doch, mit jedem Atemzug, das Wunder des Lebens. Ihr seht, was euer Leben reich macht. Es ist die Liebe, die ihr erfahrt und anderen geben könnt. Es ist die Fürsorge, mit der ihr einander helfen könnt. Es ist der Sinn, der euch in eurem Handeln trägt. Es sind der Mut und die Hoffnung, mit denen ihr, täglich neu, an eure kleinen und großen Aufgaben geht.

In allem, was euer Leben reich macht, ist Gottes Liebe wirksam, heute und alle Tage. Dass das so ist, dafür ist dieses göttliche Kind das Zeichen, für die unscheinbare und doch so überwältigende, uns ins Lebens bringende und im Leben erhaltende Gegenwart Gottes.

Das Kind in der Krippe ist dafür ein Zeichen bloß, aber was heißt schon, ein Zeichen bloß – dann vor allem, wenn zugleich wir die Botschaft des Engels von der großen Freude hören, die, folgen wir nur diesem Zeichen, unser Herz erfüllen wird. Denn dann kommen wir zur Krippe und stehen vor dem Kind, das der Welt ihren Glanz zurückgibt. Von dem göttlichen Kind strahlt die Weihnachtsfreude aus, alle Jahre wieder. Denn es ist das Zeichen für die Unendlichkeit der göttlichen Liebe. Weil von ihr im Anblick des göttlichen Kindes – ja, vielleicht müssen wir sogar sagen, jedes neugeborenen Kindes – eine Ahnung aufkommt, deshalb können sich alle, auch die, die mühselig und beladen sind, im Anblick des neugeborenen Kindes frischen Lebensmut gewinnen, an allen Tagen des Jahres, und seien sie noch so dunkel

2. Jesus Christus wird zu Weihnachten der Retter genannt. Wie kann eine ferne Gestalt, gestorben vor 2000 Jahren, Retter sein? Sollten wir nicht Neues sagen und betonen: Wir Menschen heute sollen einander zu Rettern werden?

Wirklich und wirksam wird die Gegenwart Gottes immer nur in der eigenen Seele. Ein vergangenes Heilsgeschehen hilft mir in der Tat gar nichts. Die religiöse Bedeutung der Weihnachtsbotschaft erschließt sich in unserem Innern. Eine jede Zeit und jeder Mensch können mit ihr gleichzeitig werden. Dann, wenn wir die tiefe Kluft zwischen Jesus und uns überwinden. Dann bringt uns die Erzählung von der Geburt des Retters eine Wahrheit nahe, die im Grunde allen Menschen gilt. „Frieden auf Erden und allen Menschen ein Wohlgefallen“, so endet die Botschaft des Engels an die Hirten. (Lk 2,14)

Das Zeichen, das auf das göttliche Kind im Stall von Bethlehem zeigt, verweist auf etwas, das für alle Menschen ein Grund zur Freude ist. Nicht nur das Jesuskind ist aus Gott geboren. Alle Menschen können und sollen erkennen, dass sie aus Gott geboren, göttlichen Ursprungs sind, mit göttlicher Lebenskraft begabt, zur Gestaltung einer Welt berufen wie Gott sie schon mit dem ersten Schöpfungstage gemeint hat: Eine Welt, die für alle die Fülle des Lebens bereit hält, in der alle als Gottes Kinder in der einen Menschheitsfamilie friedlich zusammenleben.

Das erscheint uns als eine allzu verwegene Hoffnung. Sie aber hatte der Engel über den Fluren Bethlehems im Sinn, als er das Versprechen des Friedens auf Erden und eines Wohlgefallens für alle Menschen gab. In der universellen Bedeutung des Zeichens, das auf das Kind in der Krippe zeigt, liegt dessen rettende und erlösende Kraft. Kein anderer hat das so gut zum Ausdruck gebracht wie Paul Gerhardt in seinem Lied, das uns, indem wir es mitsingen, selbst vor die Krippe treten lässt. Dabei geschieht die mystische Verschmelzung zwischen uns und dem göttlichen Kind, gipfelnd darin, dass ich selbst zur Krippe werde, in der Gott rettend, d.h. uns Menschen mit der Welt und untereinander, ja, mit allen Kreaturen in Frieden verbindend, zur Welt kommt: „So lass mich doch dein Kripplein sein, komm, komm und lege bei mir ein dich und all deine Freuden.“

Weihnachten lebt nicht aus der Erinnerung an ein vermeintliches Heilsgeschehen, das sich vor 2000 Jahren ereignet haben soll. Solche Zeitrechnungen kennt die Religion gar nicht. Die Religion lebt von mythischen Bildern und deutungskräftigen Zeichen, die, wenn sie wahr sind, uns ganz gegenwärtig zur tieferen Verständigung über unser merkwürdiges Dasein führen. Wenn sie wahr sind, d.h. die Wirklichkeit erschließen, dann sind sie in jedem Heute wahr. Das Kind in der Krippe, auf das der Weihnachtsengel zeigt, ist ein solches deutungskräftiges Zeichen für Gottes unendliche Liebe zu seiner Schöpfung. Es zeigt darauf, dass alle Menschen Geschwister in der einen großen Menschheitsfamilie sind, geliebte Gotteskinder – aufeinander angewiesen, trotz aller Gegensätze und tödlichen Streits, zutiefst doch miteinander verbunden – in dem Gott, der die Welt und uns mit ihr in seinen Händen hält.

3. Jesus von Nazareth wurde, so der Mythos, offenbar in einem armen Stall geboren. Wenn man an diesem Bild festhält: Ist da nicht ein Wink, ein Hinweis, der ersten Christen: Nicht in der Idylle ist der Gottmensch zu suchen, sondern in der Armut? Ist das nicht ein Fingerzeig, dass der –engagierte- Blick der religiösen Menschen auch in die Hässlichkeit, in den Stall, die Obdachlosigkeit, ja auch zu den Tieren, gehen sollte? Ist in diesem Milieu nicht das Göttliche auch zu suchen?

Das Kind in der Krippe ist uns das unübersehbare Zeichen, dass Gott, der Grund und Sinn alles Seins, nicht droben über den Wolken und schon gar nicht jenseits der Welt zu finden ist, sondern mitten in ihr, ganz unten zudem, bei denen, die mühselig und beladen sind. Zu den Mühseligen und Beladenen gehören die Flüchtlinge aus unseren Tagen, die Menschen, die wegen Krieg, Naturkatastrophen und Hunger ihre Heimat verlassen müssen. Zu den Mühseligen und Beladenen gehören die Obdachlosen und Armen, jede bedrängte, leidende, gequälte Kreatur. Zu den Mühseligen und Beladenen gehören letztlich wir alle, die wir sterben müssen.

Doch nun ist über allen das Zeichen aufgerichtet, das auf das göttliche Kind zeigt: Dass alle Menschen, dem Augenschein und der Erfahrung zum Trotz, Gottes geliebte Kinder sind, dazu bestimmt, an der Fülle teilzuhaben. Alle sollen im Anblick dieses Kindes das Gefühl bekommen können, mit Wohlwollen beachtet, in ihrem Lebensrecht anerkannt, geliebt zu sein.

Damit das geschieht, und die Freude am Leben nicht erlischt, wird gerade in der Weihnachtszeit viel unternommen, nicht zuletzt mit Suppenküchen und Spendenaktionen. Zudem, in schönen Weihnachtsgottesdiensten kann es geschehen, dass wir spüren, wie der Glanz zurückkehrt in die Welt. Die meisten Weihnachtslieder sind Freudenlieder. Sie können uns mitreißen, Mut machen und neue Kraft zum Leben geben.

Copyright: Professor Wilhelm Gräb, Humboldt Universität Berlin und Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Film über Hannah Arendt im Ersten: Am 7.12. 2014

Im Ersten wird am Sonntag, den 7. 12. 2014, der sehenswerte Film über Hannah Arendt gezeigt, Beginn ist 21.45. Schon im Kino war der Spielfilm (Premiere am 11. 9. 2012, Regie: Margarethe von Trotta mit Barbara Sukowa in der Hauptrolle) ein großer Erfolg; er macht vor allem mit einem Aspekt im Leben der Philosophin vertraut: Ihrer Auseinandersetzung mit dem Eichmannprozess in Jerusalem. Zu dem Thema hat der Religionsphilosophische Salon einige Hinweise veröffentlicht, auf die wir im Zusammenhang des Films noch einmal aumerksam machen. Zur Lektüre klicken Sie bitte hier.

Gut leben in einer Gesellschaft jenseits des Wachstums

Gut leben – in einer Gesellschaft „jenseits des Wachstums“

Hinweise zum Salon-Gespräch am 20. November 2014 im „Afrika Haus Berlin“.

Von Christian Modehn

Der „Religionsphilosophische Salon Berlin“ lädt am „Welttag der Philosophie“ regelmäßig zu einer besonderen Veranstaltung ein. Diesmal war die Philosophin Dr. Barbara Muraca (Uni Jena, ab 2015 an der „Oregon State University“) bei uns, um über die Perspektiven ihres neuen Buches „Gut leben. Eine Gesellschaft jenseits des Wachstums“ (Wagenbach Verlag, 2014, 9.90 Euro) zu diskutieren.

Wir empfehlen dringend die Lektüre dieser komprimierten Studie, die verschiedene Aspekte ausleuchtet und ermuntert, weiter am Thema „dranzubleiben“.

Muss man (in gebildeten Kreisen) immer noch die vielen, allseits bekannten Fakten aufzählen, dass die Wachstumsgesellschaft ganz offensichtlich an ihr Ende gekommen ist?

Muss man an die heutige globale Klimaveränderung erinnern, die durch den unsäglich hohen und stetig steigenden (China, USA usw.) CO2 Ausstoß mit verursacht ist?

Muss man an die schlimmen Folgen der Massentierproduktion, nicht nur für die betroffenen, gequälten Tiere, erinnern? Diese Massenproduktion vernichtet riesige Flächen guten Bodens, der nun – wie in Brasilien, Argentinien und anderswo – nicht mehr zur Ernährung hungernder Menschen, sondern für die Viehfutter – Herstellung der Fleisch genießenden Leute im Norden zur Verfügung steht?

Muss man an die immer bedrohlicher werdende Situation der Trinkwasserversorgung erinnern?

Muss man daran erinnern, dass etwa 2.000 Fässer mit Atommüll, die in deutschen AKWs untergebracht sind, verrosten und beschädigt sind, deswegen tritt Radioaktivität aus (TAZ 22. Nov. 2014, Seite 2). Die AKWs sind bester Ausdruck für einen Staat, der an die Vorteile der permanenten Wachstumsgesellschaft glaubte.

Muss man daran erinnern, wie allen Menschen eingeredet wird, sie seien nicht in erster Linie autonome, freie Personen, sondern zuerst Konsumenten, Wesen also, die alles dran setzen müssen, das wenige verfügbare Einkommen auszugeben für Produkte, die morgen schon wieder entzwei gehen und zu neuen Einkäufen der Produkte multinationalen Firmen führen.

Diese Reduzierung des Menschen auf den Konsumenten, heute so selbstverständlich allerorten daher geredet, ist wohl das Schlimmste, philosophisch (und ethisch) gesehen, was die Wachstumsgesellschaft uns allen heute und seit langem schon antut. Da werden Menschen wesentlich zerstört. Mir ist nicht bekannt, dass die Kirchen sich mit dieser unheilvollen Definition des Menschen als Konsumenten auch nur entfernt auseinander setzen. Die Herren der Kirche diskutieren in Rom, in teuren Unterkünften nach teuren Trans-Atlantikflügen, viel lieber über die Wieder-Verheiratet-Geschiedenen…

Gibt es einen Ausbruch aus diesem Gefängnis der Rollenfestlegung Mensch=Konsument? Den gibt es, und die Wege dort hin, im Plural, weisen in Richtung „Überwindung der Wachstumsgesellschaft“.

Möge übrigens jede Leserin, jeder Leser, die legitimen und richtigen Litanei der Schädigungen der Wachstumsgesellschaft auf seine Art fortsetzen und ergänzen. Diese Litanei wird lang. Sie wird um so dringlicher, wenn man bedenkt, dass die Staatschefs der führenden Nationen (G20) bei ihrem Treffen in Brisbane, Australien, im November 2014, erneut das Ziel formuliert haben: Die Ökononien der reichen Länder sollen bis 2018 noch einmal um 2,1% wachsen, die anderen, die armen, bitte schön um 0,5%. Dieses Vorhaben wurde von der Chefin des Internationalen Währungsfonds, Christine Lagarde, als „Lichtblick“ bezeichnet. Wachstum ist ein Gott, wenn er wächst, gibt es Lichtblicke (für die internationalen Konzerne. Dass die Natur dann sozusagen schwarz sieht, wird bei so viel angeblichem Licht übersehen).

Wir brechen hier diese Gedankenreihe ab und erinnern an unseren Salon am 20. November 2014, erinnern an das Buch von Barbara Muraca. Sie hat in Leipzig beim 4. Degrowth/Décroissance Kongress im September 2014 einen der wichtigen Vorträge gehalten. Sie ist eine der wenigen, die Philosophie mit Kritik der herrschenden Ökonomie verbinden, sie betritt philosophisches Neuland.

Sie bezieht sich auf viele tausend Gruppen, die weltweit bereits jetzt aus der Wachstumsgesellschaft aussteigen, ein gemeinschaftlicher Prozess, ein langer Weg, aber voller Verheißung, weil er auch neue Gemeinschaftsformen stiftet unter den bislang eher individualistisch nebeneinander lebenden Menschen. Man lese als Konkretisierung etwa meinen Beitrag zur internationalen Transition-Bewegung.

Barbara Muraca hat in unserem Salon betont: Wir sollten uns eher an die lebendigen, mutigen Gruppen halten, die die Wachstumsgesellschaft in kleinen Schritten überwinden, als in der Ecke der Jammernden und Klagenden zu verharren, die alles so furchtbar finden in dieser Wachstumswelt. Klaus Töpfer hat darauf hingewiesen, dass das Jammern oft nur eine Entschuldigung fürs Nichtstun ist.

Ich meine: Es gilt auch hier, den eigenen Weg zu gehen, um dann mit anderen die Kraft zu entwickeln, Alternativen zu leben. Die Kraft wächst im Moment des Vollzugs, sie ist nicht vorher schon als solche da, etwa am Schreibtisch des einzelnen.

Barbara Muraca hat das erste Kapitel ihres Buches dem Thema „Postwachstum und die Kraft der Utopie“ gewidmet. Die Philosophin legt allen Wert darauf, Utopie bitte nicht schlicht (vulgär) als Spinnerei und Phantasterei zu verstehen, sondern als konkrete Utopie, also als Versuch, in der Gegenwart jene Tendenzen aufzuspüren, die über den gegenwärtigen Zustand bereits hinausweisen. In der Gegenwart ist sozusagen immer schon Zukunft angelegt, ist latent dabei, ist verborgen anwesend. Ob in der Freilegung dieser latenten neuen Welten eine bessere Zukunft realisiert wird, hängt von der Entschiedenheit der Akteure ab. Die Gegenkräfte sind natürlich heftig. Die multinationalen Firmen suchen ja auch fieberhaft, die alte Welt zu erhalten. Für diese Leute heißt Zukunft unserer Gegenwart nur eine Variante der Gegenwart, nichts Neues also, nur die Aufforderung, dass wir uns den neuesten Schrei an Klamotten, Geräten, Autos usw. kaufen.

Deutlich wurde: Postwachstum ist weder ein Weg zum Verzicht und Askese noch eine bloße Frage der individuellen Entrümpelung oder der voluntary simplicity. Es geht nicht an, Menschen, die heute schon darben, bedingt durch die Strukturen der Wachstumsgesellschaft, nun auch noch Askese zu verordnen. Es sind die Strukturen, die verändert werden müssen. Das schließt nicht aus, dass dabei sozusagen auch religiöse oder spirituelle Ressourcen wachgerufen werden.

Philosophie wird sich noch stärker mit der Verantwortungsethik (Hans Jonas) befassen. Sind wir gesinnungsethisch verpflichtet, Verantwortungstethik in den Mittelpunkt zu stellen?

Barbara Muraca weist in ihrem Buch darauf hin, dass die Wachstumsgesellschaft so tiefe Spuren (Verletzungen?) in unserem Geist und unserer Seele hinterlassen hat, dass so viele Wachstum wie einen Gott betrachten. Diesen Gott gilt es zu entthronen. Genauso spricht Barbara Muraca treffend von einer Sucht, wenn sie von der Bindung so vieler an die Wachstumsgesellschaft spricht. Die Befreiung ist also immer auch eine psychotherapeutische Aufgabe. Welche Psychotherapeuten befreien uns von dieser Wachstums-Sucht? Ist das überhaupt schon ein Thema?

Für alle, die sich mit dem Ende der Wachstumsgesellschaft auseinandersetzen, gibt es ein besonders dringendes Thema: Wenn die Ökonomie weltweit in einem Zustand extrem niedriger Zinsen verharrt, und das ist heute der Fall, „dann könnte es für Investoren langfristig sehr schwierig werden, alle vorhandenen Ersparnisse aufzunehmen“, so Larry Summers, u.a. Wirtschaftsberater Barack Obamas (zit. nach „Die Zeit“, 13. Nov. 2014, Seite 15). Es könnte also zu einer Stagnation kommen, zu einem selbst gemachten Ende der Wachstumsgesellschaft. Dieses Ende würde dann aber von den Politikern usw. gedeutet werden als die große Katastrophe, weil nur wenige die Wachtsumsgesellschaft als ohnehin zu überwindendes System voraus denken und voraus planen. Und keine Perspektiven haben für eine Welt ohne permanentes Wirtschafts-Wachstum.

Es gibt einfach jetzt schon viel zu viel erspartes Geld, die Banken sind sozusagen voll gestopft mit Geld, das fast niemand für Investitionszwecke (Wachstum) leihen will. Alle sparen, das ist auch und vor allem der Deutschen größte „Tugend“. Der Hintergrund: Viele Regierungen, auch in Deutschland, vor allem seit Kanzler Schröder, haben die staatlichen Sozialsysteme (Rentenversorgung usw.) reduziert und den Bürgern empfohlen, doch bitte schön privat fürs Alter zu sorgen. Das war zu einer Zeit, als es noch Zinsen gab und sich das Sparen noch etwas lohnte. Was tun die Bürger aber auch jetzt auf diese neoliberalen Zumutungen? Sie sparen weiter wie verrückt, so verrückt, dass sie jetzt keine Zinsen mehr auf ihren Sparbüchern erhalten. D.h. Ihr gespartes Geld wird Jahr für Jahr geringer, angesichts der Inflationsraten. Die Sparer verarmen. Wer denkt da grundsätzlich nach über das Ende DIESES Wirtschaftssystems? Es ist der blinde Glaube an dieses Wirtschaftssystem, der da wirksam ist und kritisches Nachdenken verhindert.

Wer profitiert von der Wachstumsgesellschaft: 0,004 Prozent der Weltbevölkerung besitzen jetzt 30 Billionen US Dollar, also etwa 24 Billionen Euro. Sie kontrollieren damit 13 Prozent des gesamten Vermögens der Welt. 211.275 Menschen gelten als “ultrareich”, das heißt sie haben ein Vermögen von mehr als 30 Millionen Dollar, von ihnen haben 2325 Menschen mehr als eine Milliarde Dollar als ihr Privateigentum, das selbstverständlich als Wert geschützt und verteidigt werden muss, sagen die Herrschenden. Die Zahl der Milliardäre steigt ständig! (Quelle: “Tagesspiegel”, 22. Nov. 2014, Seite 34).

Wer die Wachstumsgesellschaft heute überwinden will, muss Antwort geben auf die Frage: Wie können die vorhandenen Milliarden ersparter Euros sinnvoll eingesetzt werden, so dass zum Beispiel die vielen Millionen hungernder Menschen oder die vielen Millionen Analphabeten weltweit zu einem Leben finden, das menschenwürdig heißt. Die 25 größten an der Börse notierten deutschen Industrieunternehmen haben inzwischen ein Geldvermögen von insgesamt 77 Milliarden Euro angehäuft, bei Volkswagen sind es etwa 16 Milliarden Euro, bei Siemens 8,2 Milliarden Euro us. (vgl. Die Zeit, 13. Nov. 2104, Seite 14). „Die großen Konzerne verhalten sich auf einmal wie der kleine Sparer. Sie packen ihr Geld aufs Sparbuch“, so “Die ZEIT”. Und die Konzerne lassen es da schmoren, d.h. auf Dauer werden selbst deren Milliarden von selbst schrumpfen. Warum wird nicht an Alternativen gedacht? In humanitäre Projekte investiert? Gibt es keine Verantwortung der Konzerne für das Wohl der Menschheit? Leben wir tatschlich schon in einer Menschenwelt ohne menschliche Verantwortung? Haben die Religionen also total versagt, die ja doch von ihrer Ethik immer irgendwie ein bißchen das Teilen und das Solidarischsein gepredigt haben. Man könnte meinen, dass im christlichen Bereich, um nur bei diesem zu bleiben, tatsächlich eine ziemlich umfassende Wirkungslosigkeit der religiösen Lehren in der Gestaltung der Ökonomie festzustellen ist. Eine schreckliche Bilanz zur Wirkkraft des Religiösen. Natürlich auch zur Bedeutung der aufklärerischen Vernunft. Vielleicht wurde auch seit Jahren in den Kirchen viel zu viel von Ökumene geredet und viel zu wenig von Ökonomie…Aber immerhin, noch gibt es ja kritische Gruppen!

Wie konnte es soweit kommen, dass der Gedanke des Privateigentums und des Gewinns zur obersten Tugend und Haltung verkommen konnte? Wer ist schuld daran noch heute, dass unvorstellbare Dimensionen des Privateigentums, etwa die Milliarden der Milliardäre, als selbstverständlich und zu schützend hingenommen werden? Diese Herrschaften zahlen zudem oft sehr geringe Steuern. Welche Politiker haben diese Gesetze beschlossen, die derartige Privilegien gesetztlich, „demokratisch“, geschaffen haben? Diese Fragen gehören ins Zentrum einer kritischen Bildungsarbeit und Aufklärung, die den Namen noch verdient.

Der Salonabend hat den TeilnehmerInnen gezeigt, angesichts der weltweiten Bewegung derer, die eine andere Welt für möglich halten: Dieser dumme, leider populäre Spruch, von Madame Thatcher propagiert: „There is no alternative“, abgekürzt TINA) ist falsch, ihm gilt es theoretiosch wie praktisch zu widersprechen. Von der „unsichtbaren Hand“ (Adam Smith), die die gesamte Wirtschaft angeblich lenkt, haben wir uns befreit. Jetzt müssen wir uns definitiv von TINA verabschieden. Vielleicht könnte die Kurzformel TAMA heißen: There are many alternatives. In dem TAMA steckt das Wort amare = Lieben.

Also halten wir uns TAMA! In den Alternativen zeigen sich dann Spuren eines guten Lebens, im Sinne eines besseren Lebens als jenes, das uns die Fixierung auf Wachstum und Konsumentendasein zumutet.

Es könnte inspirierend sein an Joshua Wong (Hongkong) zu erinnern, er ist als Student aktiv in der Protestbewegung jetzt in Hongkong. Von ihm stammt das Wort: „Die Zukunft wird nicht von Erwachsenen entschieden werden“. Das Philosophie-Magazin (Ausgabe Dezember 2014, Seite 14) kommentiert diesen zentralen Satz: Der 18 jährige Student der Politikwissenschaften sieht das größte Problem der Gegenwart „in der Welt politisch träger, unmündig gewordener Erwachsener“.

Ein Problem der Sprachregelung bleibt noch: Im englischen und französischen Sprachraum haben sich degrowth oder décroissance längst eingebürgert in der Umgangssprache. Im Deutschen fehlt noch ein entsprechendes Wort, der eine treffende Begriff. Natürlich kann alles umschreiben, ob das Wort „Post-wachstum“ Chancen hat, weite Verbreitung zu finden, wage ich zu bezweifeln.

Wir empfehlen allen Französisch Lesenden die Monatszeitschrift „La Décroissance“. „Le Journal de la joie de vivre“. (Der Titel sagt es: Jenseits des Wachstum entesteht die Lebensfreude). Eine Zeitschrift, die schon über 100 Ausgaben zählt und eine Auflage hat von ca. 25000 Exemplaren, auch an vielen französischen Kiosken erhältlich ist. Die Adresse: 52, Rue Crillon, BP 36003, F 69411 LYON.

www.ladecroissance.net oder www.casseursdepub.org

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

 

 

 

 

Der Übergang ist möglich: Die Transition-Bewegung führt in eine Gesellschaft jenseits des Wachstums

„Einfach. Jetzt. Machen“

Die ökologische Basis – Bewegung „Transition“

Ein Buchhinweis von Christian Modehn für den NDR, Blickpunkt Diesseits. Juli 2014

Der hier vorliegende Text entspricht weithin dem Sendebeitrag.

„Die eigentliche Katastrophe besteht darin, dass es immer so weiter geht wie jetzt“. Mit diesen Worten hat der Philosoph Walter Benjamin schon vor mehr als 70 Jahren eine sich weithin ausbreitende Untergangsstimmung beschrieben. Eine Fortsetzung von Üblichkeiten und Gewohnheiten in der Ökologie, dem Klimaschutz, dem Sozialstaat, auf den Finanzmärkten usw. erleben heute viele Menschen als eine schleichende Katastrophe. Sie führt zu einem Punkt, wo „alles umkippt“ und „aus dem Ruder läuft“. Aber noch ist es zu früh, sich ins bloße Klagen und Jammern zu flüchten, meint eine internationale Basisbewegung: Sie nennt sich Transition, Übergang, Wechsel. Den Aufbuch in eine bessere und gerechtere Welt hält sie noch für möglich. Jetzt hat der Initiator von Transition, der Engländer Rob Hopkins, zusammen mit seinem deutschen Mitstreiter Gerd Wessling, ein neues Buch vorgelegt. Christian Modehn berichtet über eine Publikation die Mut macht, sie hat den Titel „Einfach. Jetzt. Machen!“

1. O TON, Gerd Wessling: Es gibt die Aufforderung: Tu was, engagiere dich, finde Lösungen für das, was dich vor Ort beschäftigt; finde die Leute um dich herum.

Gerd Wessling aus Bielefeld musste nicht lange warten, bis sich Menschen fanden, die ein besseres, ein nachhaltiges Leben in ihrer Stadt schaffen wollen: Einige gründen Lokale, in denen in gemütlicher Atmosphäre gratis Fahrräder repariert werden; andere kümmern sich um Verbesserungen im öffentlichen Nahverkehr, wieder andere pflegen Gemeinschaftsgärten. Oder sie lassen sich von den Gratis – Läden begeistern, in denen im Austausch der Waren gebrauchte Kleider, Bücher, Spielzeug verschenkt werden. Diese Bielefelder Gruppen wissen sich mit der Transition – Bewegung verbunden: Sie tritt in 40 Ländern weltweit gegen die Verschwendung von Ressourcen ein. In mehr als 1000 Städten vertreten, haben sich die „Transition Leute“ verpflichtet, nicht nur weniger CO2 Gifte zu erzeugen, sondern insgesamt einen nachhaltigen Lebensstil zu entwickeln. Das Buch „Einfach.Jetzt.Machen!“ beschreibt auch die Mentalität der Menschen, die in diesen Projekten aktiv sind, berichtet Gerd Wessling.

2. O TON, Gerd Wessling. Es gibt niemand in der Transitionwelt, der dir sagen wird, wie genau die Lösung auszusehen hat bei dir zu Hause. Also das hat ganz viel Selbstermächtigungsaspekt auch zu tun wieder zu sagen: Ja wir können jetzt alle weiter warten, bis irgendjemand für uns irgendwas entscheidet und uns zwingt oder vorschlägt, das umzusetzen. Oder wir fangen einfach mal an, das selber zu tun.

Die Transition Bewegung hat der britische Umweltaktivist Rob Hopkins gegründet. 1968 geboren, hatte er als Ökologe zahlreiche Lehraufträge an Universitäten inne; seine früheren Bücher fanden weltweit schon viel Beachtung. Nun hat er eine Sammlung von Reportagen vorgelegt, sie berichten, wie in England, Spanien, Argentinien, Japan und Deutschland und anderswo eine Welt im Übergang entsteht, von der Verschwendung zur Nachhaltigkeit, von der Profitgier zum Teilen. Viele tausend Menschen haben in diesen Transition – Projekten wieder Mut zum Leben gefunden, also durchaus eine hilfreiche Spiritualität entdeckt, berichtet Tom Hopkins, der selbst viele Sympathien für den Buddhismus hat.

3. O TON, Rob Hopkins: „Viele Menschen, die bei Transition mitmachen, erleben, wie sie wieder neue Hoffnung finden. Denn sie sehen: Das Wesentliche sind nicht irgendwelche Ideen, sondern man erlebt: Die Welt um uns herum beginnt sich schon zu verändern, weil die Gruppen aktiv sind. Das ist hoffnungsvoll. Man kann etwas verändern, diese Überzeugung hat so viel Kraft!“

Die Lektüre des Buches „Einfach. Jetzt. Machen!“ kann die Leserinnen und Leser tatsächlich begeistern. Denn deutlich wird: Alternativen zur bestehenden Konsumgesellschaft mit ihrer Ressourcenverschwendung und Umweltbelastung sind mehr als ein schöner Traum. Aber es sind nicht etwa nur leistungsorientierte Arbeitsgruppen, die sich für die Transition, den Wandel, einsetzen, sondern vor allem auch Gemeinschaften, in denen das Leben förmlich „Spaß macht“, berichtet Gerd Wessling:

4. O TON, Gerd Wessling: Letztendlich ist der Hauptfocus von Transition, würde ich sagen aus meiner Praxis, tatsächlich Kontakt unter Menschen, guter Kontakt unter Menschen, wertschätzender Kontakt unter Menschen, und auch Kontakt unter Menschen, die sich sonst nicht begegnen würden. Das allein, nach unseren Beobachtungen, löst oft schon mal viele Probleme auf, vermeidet so ein Lagerdenken, lässt Lagerdenken gar nicht entstehen und macht Spaß. Also: In jedem Projekt sollte man eigentlich mindestens ein Viertel bis ein Drittel der Zeit auf das Feiern und Würdigen verwenden des Projektes. Diese Energie versuchen eben auch in die Transitionwelt zu bringen.

Zum Buch: „Einfach. Jetzt. Machen! Wie wir unsere Zukunft selbst in die Hand nehmen“. Von Rob Hopkins. Oekom Verlag München 2014. 189 Seiten. 12,95 €.

 

 

Für einen Glauben in der Alltagssprache. Zur Debatte um eine esoterische oder exoterische Religiosität und Theologie

Für einen Glauben, der sich in der Alltagssprache, argumentierend, ausspricht

Ein Beitrag von Christian Modehn

Veröffentlicht in der empfehlenswerten Zeitschrift PUBLIK FORUM, Heft 21, 2014. (Probeexemplare etc.: http://www.publik-forum.de/ )

Vielen Menschen erscheint der christliche Glaube als mysteriöse Geheimlehre. Doch um »verborgene«, also esoterische Wahrheiten geht es dabei nicht. Nötig sind verständliche Argumente – sonst verspielen die Kirchen ihre Zukunf.t

Gott lässt sich nicht definieren. Er ist wesentlich Geheimnis. Darin sind sich Christen einig. Aber bei diesem kleinsten gemeinsamen Nenner halten sich die besonders Frommen nicht lange auf: Wer meint, nicht nur berufen, sondern auserwählt zu sein, glaubt dennoch, in die Tiefen der geheimnisvollen Gottheit schauen zu können. Andere empfangen Privatoffenbarungen und veröffentlichen Schriften für Eingeweihte. Auch Mystiker suchen, wie ihr Name sagt, die »verborgene«, die »innere« Wahrheit. Die Mystik hat privat ihr gutes Recht. Aber kann sie Sache aller sein? Schon seit der frühen Kirche gibt es Einzelne und Gruppen, die sich für besonders erleuchtet halten und von den anderen Christen abgrenzen. Sie werden in der Religionswissenschaft »Esoteriker« genannt oder Freunde des Okkulten, des Verborgenen. Sie »stoßen durch zum Kern des Wesentlichen«, wie sie gerne sagen. Wouter J. Hanegraaff, Professor für »hermetische, esoterische Philosophien« an der Universität von Amsterdam, erinnert daran, dass ältere esoterische, christlich inspirierte Gruppen bis heute neben den großen Konfessionen existieren, etwa die Rosenkreuzer oder die Kirche des Sehers Emanuel Swedenborg. Auch in den großen Kirchen sind Gruppen, die sich im Besitz esoterischer Weisheiten wähnen, bis heute vertreten, wie etwa das Engelwerk innerhalb des Katholizismus. Den Wissenden und Eingeweihten stehen die anderen, die »Exoteriker«, gegenüber. Sie bilden die große Masse der Glaubenden. Diese »normalen Frommen« halten sich an die vorgegebenen Riten und Gebote. Sie sprechen treu die kirchlichen Glaubensformeln nach, ohne dabei »verzückt« zu werden. Sie leben also in der Sicht der Esoteriker eine veräußerlichte, »flache« Frömmigkeit. Bewusste Exoteriker geben dem Verstand Raum in ihrem Glauben, respektieren die historisch-kritische Bibelforschung und fragen manchmal auch skeptisch nach, was denn genau ein Esoteriker in der »Tiefe« erlebe oder erlebt habe. Im Streit zwischen Esoterikern und Exoterikern geht es im Kern um die Frage, welche Bedeutung der Vernunft im Christentum zukommt: Lässt sich der christliche Glaube über Argumente erschließen, oder ist er eine mysteriöse Geheimlehre? Die Antwort wäre: Wer dem Christentum eine Zukunft wünscht, muss seinen exoterischen Charakter unterstützen. Denn ohne den Gebrauch der allen gemeinsamen Alltagssprache, verbunden mit theologischem Nachdenken, bleibt alles im Subjektiven und wird dann möglicherweise schnell suspekt

Das Problem ist nur: Exoteriker fühlten sich ihrer eigenen Sache nie ganz sicher. Sonst hätte die machtvolle kirchliche Hierarchie die Esoteriker nicht immer wieder ausgegrenzt oder gar ausgelöscht. So hat sich die frühe Kirche intensiv mit den von Geheimnissen »Wissenden«, den Gnostikern, auseinandergesetzt und sie als nicht authentisch jesuanisch abgelehnt. Seitdem eine populäre Esoterikwelle – auch »New Age« genannt – das kulturelle Klima mit bestimmt, sind die Kirchen verunsichert: Sie versuchen als Konkurrenz zu New Age aufzutreten und entdecken dabei etwa die »Strahlkraft der Engel«. Um den Anschluss an die spirituellen Wellness-Wellen nicht zu verpassen, bieten Klöster für teures Geld esoterische Aromatherapien oder Genesungsweisen nach Hildegard von Bingen an. Ganz selbstverständlich pflegen sie nun zuweilen die spirituellen Wurzeln der Astrologie und entdecken in den Tarot-Karten »spirituell inspirierende« Weisungen. Schnell wird man zum Irrlehrer Bei dieser eher taktischen und ökonomisch interessierten Übernahme gängiger esoterischer Praktiken verdrängen die exoterischen Christen und ihre Theologinnen und Theologen allerdings die Erkenntnis, dass ihre eigene klassisch-christliche Frömmigkeit ebenfalls immer schon esoterisch geprägt war und ist. Nur zwei von tausend Beispielen: »Im Kreuz Jesu Christi ist Heil«, heißt es. Oder: »Am dritten Tage geschah die Auferstehung Christi.« Das sind esoterische Aussagen, Aussagen über innere Erfahrungen also. Die Frage ist: Kann man diese existenziellen Erfahrungen auch exoterisch, also allgemein verständlich formulieren? Es könnte doch auch ein Christentum geben, das die überkommene esoterische Lehre nach den Grundsätzen der Vernunft reinigt und sich nur an wesentliche Einsichten hält, zum Beispiel: Gott ist Liebe; Gott ist Geheimnis; Jesus ist ein vorbildlicher Mensch … Aber wer solches sagt, gerät schnell in den Verdacht, ein Häretiker zu sein, ein Irrlehrer also. Eine moderne »liberale Theologie«, die an diesen Themen arbeitet, bleibt deswegen leider randständig. Und so sind die Kirchen hin- und hergerissen zwischen einer eher unverständlichen, esoterischen Lehre und der Aufgabe, sie vernünftig, in allgemein nachvollziehbarer Sprache auszusagen. Ein ungelöstes Problem! Es besteht seit den Anfängen der Christenheit: Zu den Erinnerungsfeiern an das letzte Abendmahl Jesu waren in der Urkirche nur Getaufte zugelassen; die anderen, die »Interessierten«, durften Bibellesung und Predigt hören, mussten dann aber den Raum verlassen. Eucharistiefeiern waren esoterische Veranstaltungen wie in einem Geheimbund. Erst als die Kirche als Staatsreligion für alle machtvoll auftrat, wurden die Eucharistiefeiern allgemein zugänglich. Die esoterische Sprache aber blieb. Auch frühchristliche Theologen bevorzugten die Zuwendung zu den »Eingeweihten«. Der Kirchenvater Cyrill von Jerusalem (313-386) schärfte seinen Gemeinden ein, nicht über alle Themen offen, also exoterisch, zu sprechen. Über die Dreifaltigkeit des einen Gottes sollte keine öffentliche Debatte stattfinden, »damit die unwissenden Heiden nicht darüber lachen«, wie der Theologe Athanasius von Alexandrien (295-373) betonte. Das Thema erschien zu anstößig. So viel Angst kannte Jesus von Nazareth nicht: In seinen sehr wahrscheinlich authentischen Gleichnisreden fällt die exoterische, die allgemein verständliche Sprache auf. Esoterisches Geheimwissen teilt er selten mit, meist nur dann, wenn er vom bevorstehenden Kommen des Reiches Gottes sprach. Jesus wollte die eigene Gotteserfahrung unter den Juden allgemein verständlich leben und aussagen – mit all den auch individuell und politisch unbequemen Konsequenzen. Sein Tod am Kreuz ist Beweis dessen, dass er sich sehr gut verständlich machte und damit den Hass der Traditionalisten und Mächtigen auf sich zog! Die schlichte, allgemein zugängliche und deswegen politisch wirksame Sprache Jesu lebt bis heute bei jenen Christen etwa in Lateinamerika fort, die das Evangelium als eine Botschaft der auch von Gott gutgeheißenen Menschenrechte verteidigen. Bischöfe wie Oscar Romero, Helder Camara oder Erwin Kräutler verkündeten und verkünden keine esoterische Geheimbotschaft, sondern ein allgemein-menschliches, ein argumentierendes Evangelium.

Aber bestimmend sind im Frömmigkeitsleben der Kirchen nach wie vor esoterische Inhalte und Praktiken. Nur so ist die offizielle Unterstützung für jene »heiligen Orte« zu verstehen, an denen Maria, die Mutter Gottes, erschienen sein soll; oder der Kult um uralte Gebeine, Reliquien genannt. In den (öffentlichen) Gottesdiensten werden noch heute Lieder gesungen, deren Inhalt sich nur eingefleischten Esoterikern erschließt, wie etwa ein Passionslied von Paul Gerhardt, in dem es in der ersten Strophe heißt: »Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld der Welt und ihrer Kinder.« Der esoterische Glaube einer frommen protestantischen Seele aus dem Jahre 1647 kann in der privaten Frömmigkeit durchaus einen Platz haben, nicht aber in der Öffentlichkeit eines Gottesdienstes, an dem vielleicht auch Skeptiker oder Atheisten teilnehmen. Innige Gefühle in verständlicher Sprache Insgesamt dominiert in den christlichen Gottesdiensten bis heute die esoterische Geheimsprache. Wer versteht im offiziellen Glaubensbekenntnis die Worte über Jesus von Nazareth, Logos genannt, er sei »vom Vater gezeugt, aber nicht geschaffen«? Wer versteht im Moment des Sprechens, dass der gestorbene Jesus »in das Reich des Todes hinabgestiegen« sei? Die offizielle Theologie, die sich im Römischen Katechismus ausdrückt, ist voller esoterischer Überzeugungen, die einer historisch-kritischen Prüfung oft nicht standhalten. Die Zurückweisung des Priestertums für Frauen (»der Herr hat nur Männer zu Aposteln berufen«) ist bester Ausdruck für eine esoterische Bibeldeutung, die für den Machterhalt instrumentalisiert wird. Geheimnisvolle esoterische Lehren können als die besten Stützen der Macht gelten. Darum grenzt die Kirchenführung vielfach auch Theologinnen und Theologen aus, die den Versuch machen, die christliche Botschaft in eine exoterische Sprache, also in allgemein verständliche Begriffe und nachvollziehbare Bilder zu übersetzen. So ist zum Beispiel das umfangreiche Werk des Theologen Hans Küng zwar von seinem persönlichen Glauben getragen, aber es ist doch weitgehend exoterisch, das heißt allgemein zugänglich formuliert. Küngs Werk aber gilt in Rom weithin als suspekt, immer noch. Eine zentrale Frage lautet: Wie kann man in einer allgemein verständlichen Sprache dennoch durchaus innige, also »esoterische« Gefühle wachrufen? An dieser Aufgabe wird theologisch viel zu wenig gearbeitet. Dem niederländischen Poeten und Theologen Huub Oosterhuis ist diese Verknüpfung gelungen. Er pflegt in seinen vielen schönen Liedern die Alltagssprache, vermag aber gerade so bei modernen Menschen eine durchaus tiefe religiöse Innerlichkeit zu wecken. Man meditiere nur einmal das Lied »Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr.«

Auch der Exoteriker also kann mit seiner Spiritualität suchende, fragende, verzweifelte Menschen erreichen und in ein offenes, argumentierendes Gespräch ziehen. Nur dieser Mut, das Christliche allgemein nachvollziehbar und deswegen auch kritisierbar zu sagen, befreit die Kirchen aus der Nische der Ewiggestrigen und dem Eingeschlossensein in eine enge »unverständliche« Welt.

PS.: Dieser Beitrag in PUBIK FORUM ist ein weiterer Schritt des “Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin“, die Zusammenhänge zwischen esoterischer UND exoterischer Religiosität zu studieren und zu diskutieren.

Dass wir in unserem Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon entschieden für eine exoterische Gestalt des Christlichen und der Kirchen plädieren, hat der vorliegende Beitrag klar gemacht.

Christian Modehn.

A-theistisch an Gott glauben. 3 Fragen an Wilhelm Gräb

A-theistisch an Gott glauben

3 Fragen an Wilhelm Gräb

Die Fragen stellte Christian Modehn

So sehr auch die Freude bestimmend ist über den Fall der Mauer vor 25 Jahren: Kritische Fragen bleiben, wenn man nur die religiöse „Szene“ in Ost- und West-Berlin sowie in den alten und neuen Bundesländern anschaut. D.h.: Es gibt nach wie vor eine „Mauer“, die die Kommunikation stark einschränkt: Es gibt zu wenig Austausch zwischen religiösen und nichtreligiösen Menschen. Was behindert die Suche nach Gemeinsamen, Verbindenden, zwischen so genannten Atheisten und Menschen, die sich christlich bzw. kirchlich nennen?

Der Fall der Mauer vor 25 Jahren hat ohne Zweifel zu einer starken Polarisierung zwischen „Religiösen“ und „Nicht-Religiösen“, „Gläubigen“ und „Ungläubigen“ geführt. Das wiedervereinigte Deutschland sah sich plötzlich mit einem konfessorischen, also „bekenntnismäßigen“ Atheismus und einer weltanschaulich programmatischen Abgrenzung von der Religion konfrontiert. Das führte zur Stärkung fundamentalistischer Kräfte auf beiden Seiten, bei den „Kirchenverbundenen“ wie den „Konfessionslosen“. Dogmatische Verhärtungen sowohl im Verständnis des Glaubens wie des Atheismus bestimmten in den letzten 25 Jahren mehr und mehr das kirchliche und gesellschaftliche Klima. Abgrenzungsbestrebungen sind auf beiden Seiten sehr viel stärker geworden als Versuche, ins Gespräch darüber zu kommen, ob es nicht auch viel Verbindendes und Gemeinsames gibt. Solange der „konfessorische Dogmatismus“ der Glaubensgrundsätze, sei es, dass sie sich für oder gegen Gott aussprechen, nicht überwunden wird, dürfte die Verständigung zwischen den beiden Lagern auch nicht vorankommen. Eine Annäherung kann m.E. nur dann erfolgen, wenn wir es lernen, kritisch-reflexiv uns zu unseren religiös oder a-religiös formulierten Weltanschauungspositionen zu verhalten. Und dabei zu fragen: Worum geht es eigentlich? Welche Werte sind uns wichtig? Was ist unsere Antwort, wenn es um mehr Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden in unserer Gesellschaft und in der zerrissenen Welt geht. Möglicherweise kommt, sobald wir über diese Fragen ins Gespräch kommen, heraus, dass es Grenzen gibt, die quer zu den Lagern von Religiösen und Nicht-Religiösen, Frommen und Atheisten verlaufen. Vielleicht breitet sich dann die Einsicht aus, dass es mit dem, woran wir glauben, sei dies ein Gott oder irgendetwas anderes, letztlich immer um unsere je eigene Antwort auf diese beiden Existenzfragen geht: Was hält uns am Leben und wie wollen wir leben?

Vielleicht wäre die Geburt eines neuen Christentums erforderlich mit weniger Macht und weniger dogmatischer Rechthaberei („kenosis“ sagt Paulus). Vielleicht sollte ein „Christentum ohne Mauern“ entstehen, in dem der Mensch mehr zählt als die Lehre. Wenn das so ist, was wären die Bedingungen der Möglichkeit für ein solches Christentum ohne Mauern?

Dieses Christentum, das ein Christentum wahrer Menschlichkeit wäre, ist hier in Berlin schon während der Aufklärung entwickelt worden. Noch vor Schleiermachers berühmten „Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ (1799), war es der einflussreiche Prediger an St. Nikolai, Johann Joachim Spalding (1714-1804), der das Christentum als eine Religion der Humanität verständlich machen wollte. (Wir feiern in diesen Tagen seinen 300-jährigen Geburtstag)

Spalding entwickelte, ganz im Geist der Aufklärung, eine anthropologische Begründung der Religion. Seine 1797 veröffentliche Religionsschrift trug den – für meinen Geschmack – bis heute attraktiven Titel: „Religion, eine Angelegenheit des Menschen”. Darin wies Spalding darauf hin, dass die Religion etwas jeden Menschen Angehendes ist. Wenn von Religion die Rede ist, so Spalding, sollten wir nicht gleich an die Nötigung denken, die Existenz eines Gottes glauben zu müssen. Wir sollten uns vielmehr auf das angesprochen finden, „was uns angeht, wobey wir etwas zu gewinnen oder zu verlieren glauben, wodurch folglich auch unser Wille, unsere Neigung, unser Herz in Bewegung gesetzt und angezogen wird.” In der Religion, so wäre heute im Anschluss an Spalding zu sagen, geht es um den Sinn, der unser Leben trägt, um die Klarheit hinsichtlich dessen, was wir zu wissen glauben und warum wir uns unser Engagement für das allgemeine Wohl angelegentlich sein lassen.

Fast noch interessanter ist allein schon wiederum der Titel der Erstlingsschrift Spaldings, 1748 erschienen, danach unzählige Auflagen erreichend: „Betrachtung über die Bestimmung des Menschen”. Das war damals für einen Prediger der Kirche geradezu revolutionär und ist dies eigentlich bis heute. Nicht die biblischen und kirchlichen Sätze des christlichen Glaubens legte der junge Theologe Spalding in seiner Dissertation aus. Ihm ging es darum, wie sich einem Menschen die Bestimmung seines Lebens klärt: Wozu bin ich auf dieser Welt? Was verschafft mir das Gefühl, nicht vergeblich zu leben? Diese Fragen wurden ihm zu den zentralen Fragen der Religion. Von daher wollte er den Glauben an Gott als etwas aufgefasst wissen, wozu eigentlich jeder finden kann, der nur genügend Achtung vor dem Wert des Lebens entwickelt.

Spaldings Schrift über „die Bestimmung des Menschen“ kann man als das eigentliche Gründungsdokument der theologischen Aufklärung bezeichnen. Mit ihr hat der dennoch bis zum Ende seines Lebens im kirchlichen Amt stehende Spalding nicht nur die anthropologische Wende in der Theologie eingeleitet, er hat zugleich diejenigen Gesichtspunkte artikuliert, mit denen das aufgeklärte Christentum sich endlich für die Anerkenntnis der unantastbare Würde jedes Menschen und dessen unveräußerlichen Rechte stark zu machen bestrebt sein sollte. Die Frage des Menschen nach sich selbst, nach dem, was ihn seines unendlichen Wertes gewiss macht, wollte er zur wichtigsten Frage für Theologie und Kirche machen.

Das aufgeklärte Humanitätspathos, so Spaldings bis heute beachtliches Statement, führt allererst zu einem angemessenen Verständnis von der christlichen Religion und von dem Gott, zu dem die christliche Religion die Beziehung herstellt.

An den Berliner Theologen Spalding und seinen Schüler Schleiermacher, den Mitbegründer der Berliner Universität und ersten Dekan ihrer Theologischen Fakultät, könnten wir heute wieder anschließen, wenn es uns ernst ist damit, ein „Christentum ohne Mauern“ zu leben. Es wäre dies ein undogmatisches Christentum, das, von dem Jesus der Feindes- und Nächstenliebe herkommend, dem Menschen zu seiner Menschlichkeit verhilft – dadurch, dass es ihn seinen letzten Halt und gewissen Grund in dem Gott, der die Liebe ist, finden lässt, dann auch das ermutigende und hoffnungsstarke Gefühl der Bedeutung eines tätigen Lebens für diese Welt weckt und erhält.

Sollten explizit liberal-theologisch Interessierte in Modellen zeigen, wie ein Christentum ohne Mauern Gestalt wird, etwa in offenen Foren einer Art Agora, in der alle, auch Atheisten, Skeptiker, Agnostiker und Mitglieder anderer Religionen willkommen sind. Um nichts anderes zu tun, als gemeinsam Leben zu lernen? In London ist ja sehr erfolgreich die eher atheistisch orientierte „School of Life“. Wäre School of Life nicht auch der treffende Titel für eine „moderne“ Gemeinde heute?

Darauf käme es in der Tat an, dass wir zeigen, wie es zu einem fruchtbaren Religionsgespräch kommen könnte. Gerade nicht so, wie es jetzt auch hier in Berlin-Mitte mit diesem „Haus der Religionen“, in dem Juden, Christen und Muslime zusammenfinden sollen, unternommen wird. Da geht man von den Mauern aus, die die Religionen zwischen sich und manchmal noch stärker zur sog. säkularen Welt errichtet haben. Man wird diese Mauern, insbesondere zu den Atheisten, Skeptikern und Agnostikern durch solche Unternehmung wie es ein „Haus der Religionen“ darstellt, nur noch unüberwindlicher werden lassen.  Was man braucht, ist ein „Haus des Lebens“ oder eben eine „Schule des Lebens“. Das wären Orte, an denen eine Verständigung darüber gesucht wird, ob es nicht Werte gibt und ob es nicht einen Sinn gibt, an die Menschen, die guten Willen sind, „glauben“, an denen sie sich orientieren, auf die sie sich verlassen, und zwar ganz unabhängig davon, ob sie sich zu einer der großen Religionen bekennen oder allen vorgegebenen Glaubenspostionen skeptisch bis ablehnend gegenüber stehen.

Roland Dworkin (1931-2013), der amerikanische Rechtsphilosoph hat kurz vor seinem Tod ein Buch veröffentlich, das den Titel trägt „Religion ohne Gott“. Es zielt in die auch hier vorgeschlagene Richtung. Das Motto seines Buches, in der er zeigen möchte, dass die geläufige Unterscheidung zwischen religiösen und nicht-religiösen Menschen viel zu grob ist, lautet: „Weil wir sterblich sind, glauben wir, dass es einen Unterscheid macht, wie wir leben.“

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin.