Attar und Hiob: Wenn die Frommen Gott anklagen. Zu einem Salonabend am 27.3.2015

ATTAR und Hiob: GOTT anklagen angesichts des Leidens

Einige Hinweise für das Gespräch im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon am 27.3.2015

Von Christian Modehn

Wir wollen in gewisser Weise unser Gespräch vom Februar 2015 fortsetzen, darum zuerst einige Hinweise zum islamischen Mystiker Attar aus Nischapur, Persien (1145-1220) und sein Werk „Das Buch der Leiden“. Dabei beziehen wir uns auf die Ausführungen von Navid Kermani „Der Schrecken Gottes“, Becksche Reihe, München 2011. Die Seitenzahlen beziehen sich auf dieses Buch. —-Zu einer systematischen Reflexion “Über das Böse” klicken Sie hier

Attar war Apotheker, also „Heiler“, in einem Persien, das von den Mongolen bedroht und dann brutal überrannt wurde. In seiner persönlichen wie auch gesellschaftlichen Verzweiflung wendet sich Attar an Gott. Er ist in der damaligen Kultur sozusagen die oberste „Beschwerdestelle“. Aber die islamischen Herrscher dulden die Anklage Gottes nur für einen ganz kleinen Kreis, für die Narren und Weisen. Das normale Volk darf nicht Gott anklagen. In jedem Fall sagt „Das Buch der Leiden“ etwas, was der islamischen Elite nicht gefällt! Sie kennen die Hiob-Gestalt, die im Hintergrund zu Attars Aussagen steht, wohl eher aus dem Koran, dort wird an nur 4 Stellen recht kurz und knapp von dem geduldigen Hiob gesprochen (Sure 38, 41-44; Sure 6, 84; Sure 21,83-84; Sure 4, 16). Attar ist ein Autor (ein Sufi) mit einem umfangreichen Werk, bekannt sind hier auch „Die Vogelgespräche“, die sogar in der Schaubühne (Berlin) aufgeführt wurden. Zur Form von „Das Buch der Leiden“ nur so viel: Es ist eine Seelenreise von 40 Tagen durch den Kosmos auf der Suche nach einem barmherzigen Gott…Der Text liegt in deutscher Sprache in der Übersetzer des berühmten Orientalisten Hellmut Ritter (zu teurem Preis) vor.

„Das Buch der Leiden“

Navid Kermani schreibt: Dies ist ein „Furcht erregendes und verstörendes Stück Weltliteratur“(95). „Erkenntnis wird hier darauf reduziert, die Sinnlosigkeit zu erkennen“. (96). Die Grundaussage ist: Gott quält. Er verachtet das Leiden der Menschen, er ist unbarmherzig, ohne Großmut, Gott erlaubt dem Menschen noch nicht einmal, sich von ihm zu befreien.

„Aber das soll man bloß nicht Gott sagen, dann macht er alles noch hundertmal schlimmer“, sagt ein weiser „Narr“ im Text: „Gott hat mir auf mein Bitten um Brot geantwortet: Ich solle doch Schnee essen. Selbst ein Irrer sagt so etwas nicht“. (S.131)

Wie später auch, etwa bei dem Philosophen Emil Cioran, kommt das Motiv vor: „Es sei ein Nachteil geboren zu sein (98). Der fromme Mensch will „in diesem Leben nicht leben“ (99). „Wer an ein Jenseits glaubt, muss sich eingestehen, dass es nach dem Tod im Himmel mit dem schrecklichen Gott weitergeht“ (100) … und das will man nicht. Es gibt also eine Jenseits-Abwehr bei frommen Leuten.

„Mit Gott geschimpft hat niemand so leidenschaftlich wie Attar“ (170). „Mit Attar wird Gott attackiert, und zwar von einem, der Gott verfallen ist“ (172). „Die meisten Narren Attars klagen ohne Hoffnung. Frieden finden sie nur in der Resignation oder im Irrsinn. Weil Gott für sie der Schrecken ist, fürchten viele Narren gar, das ER sie erhöre, und dann würde er sie noch ärger quälen“ (243).

Im Islam bleibt dieser radikale Protest gegen Gott nur dem Heiligen, dem Propheten und dem Narren vorbehalten, Protest kann nicht Sache aller Frommen sein (209). Und nur in der Mystik ist diese Klage möglich. Im Koran selbst ist diese An-Klage nicht zu finden. (S. 230)

HIOB, aus der Hebräischen Bibel, dem Alten Testament.

Attar kennt die Geschichte von Hiob (176), aber nicht den Text, wohl kennt er die Erzählung, die mündlich in dieser islamischen Kultur verbreitet wurde. Bei Attar werden viele Hiob Motive des AT variiert. Es ist interessant, dass in der noch recht frühen islamischen Kultur die Kultur der Bibel (AT) irgendwie populär bekannt war. Also religiöse Abgrenzungen nicht so deutlich waren. (182). Unsere philosophische Mitstreiterin Heike schreibt dazu: „Die Hiob Geschichte ist immer weiter geschrieben worden. Die Urform, die Rahmenhandlung als Volksmärchen wurde um 900 v. CHR. aufgeschrieben. Nach der Exilserfahrung (und dem Erleben des Bösen) kam der Teufel in der Erzählung dazu (520 v.Chr.). Und damit ist Gott nicht mehr der Verursacher des Unglücks. Hiobs Monolog und die Gespräche der Freunde entstanden wohl um 450 v. Chr. (Rede Elihus 430 vor) und das Lob der Weisheit um 300 v. Chr. Das Kapitel 28, um Hiobs Begegnung mit Gott vorzubereiten“.

Der fromme und vorbildliche Hiob leidet ohne jeden für ihn erkennbaren Grund. Gott spielt auf Vorschlag des Teufels ein Spielchen mit ihm, will ihn testen.

Kermani meint: Gott straft in diesem Text ohne Ansehen von Sünden, ohne erkennbaren Grund. Gott kann ungerecht sein (S.153). Ein Hinweis auf die Klagelieder des Jeremias. „Du hast ohne Barmherzigkeit Menschen geschlachtet“ (Klagelieder 2.21)

Der Beter des AT klagt nicht nur, er klagt Gott an. Etwa Psalm 88 ist da wichtig.

Einige Zitate:

Hiob 3,11: „Warum bin ich nicht gestorben bei meiner Geburt…“

Hiob 7,16:“Ich vergehe. Ich leb ja nicht ewig. Gott, lass ab von mir, denn meine Tage sind nur noch ein Hauch“. … 9, 18: „Gott lässt mich nicht Atem schöpfen.. Geht es um Recht, wer will ihn vorladen“ (schon damals die richtige Erkenntnis, wie sinnlos ein Blasphemie Gesetz ist: Gott ist kein Rechtssubjekt und kann es als Gott gar nicht sein).

Hiob 12, 23: „Gott macht Völker groß und bringt sie wieder um“

Hiob 16,11: „Gott mich in die Hände der Gottlosen kommen lassen, ich war in Frieden, aber er hat mich zunichte gemacht. Er hat mich beim Genick genommen und zerschmettert“. Und so weiter und so weiter.

Einer der wichtigsten Texte der Empörung gegen den Gott. Er hat zahlreiche  Autoren, wie Attar, und andere (wie Joseph Roth) zu literarischen Aktualisierungen eingeladen…

Die Übersetzungen aus Hiob stammen aus der LutherBibel, 1985.

Copyright: Christian Modehn Berlin

 

 

Können wir das Böse verstehen? Hinweise zu einem Salonabend über Attar und Hiob

Können wir Böses verstehen?

Einige Hinweise zu einem schwierigen Thema anlässlich des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons am 27. 3. 2015

Von Christian Modehn  —Zu einigen Hinweisen zu Attars Buch der Leiden und zu Hiob klicken Sie hier

Die Texte Attars und Hiobs zeigen: Die ausdrückliche Klage Gott gegenüber, vor allem auch die explizite und heftige ANklage Gottes als eines ungerechten Wesens hinterlässt die Überzeugung: Bei Attar bleibt es – besonders im definitiven Ende, dem Epilog – bei der Verzweiflung angesichts eines eher menschenfeindlichen Gottes. Bei Hiob folgt nach der Anklage Gottes dann doch zum Schluss der demütige Respekt vor seiner unergründlichen Wirklichkeit.

Welche Konsequenzen ergeben sich für eine philosophische, vernünftig argumentierende Lebensweise aus diesen zweifellos schwierigen und verstörenden Texten?

Das Aussprechen der Anklage Gottes kann dem einzelnen Leidenden helfen, zu einer deutlichen Wahrnehmung seiner Situation zu gelangen. Der leidende Mensch hört sich selbst zu; er nimmt wahr, worunter er leidet. Das kann zur Klärung der eigenen Situation führen. Klage und Anklage Gottes sind poetische Formen, denen sich die Reflexion anschließen muss. Sonst bleiben sie bloße Worte der Erregung.

Wenn man aber nach-denkt: Was zeigt sich dann heute? Gott kann in einem reflektierten, vernünftigen Denken und Fühlen nicht direkt als Subjekt angesprochen und einbezogen werden. Warum soll denn Gott gerade nur mich in meiner Not erhören und direkt eingreifend retten und meinen Nachbarn nicht? Ist Gott also eher willkürlich-launig? Ist dies etwa sein Wesen, seine göttliche „Geheimnishaftigkeit“? Doch wohl nicht. Diese Überzeugung zu haben, ist keine menschliche Arroganz, kein Allmachtsgefühl! Sie ist, wenn man es fromm formuliert, Ausdruck der göttlichen Kraft der Vernunft, die Gott der Schöpfer den Menschen gegeben hat. Und diese Vernunft sollen wir „gebrauchen“, weil sie als Gabe Gottes uns auch dem Göttlichen nahe bringt. Totale Beliebigkeit und Willkür entspricht einem tyrannischen Gottesbild. Aber: „Gott ist Geist“, sagt das Neue Testament…Hegel war deswegen überzeugt: Wenn Gott Geist ist, dann ist er auch Vernunft. Aber das ist ein anderes Thema. Die Überzeugung von Gott als dem Wundertäter, der Leiden aufhebt, ist theologisch und philosophisch heute nicht nachvollziehbar.

Aber damit endet nicht das Nachdenken über die Wirklichkeit des Bösen. Denn „Gott“ kann in dieser Debatte mit dem Begriff „Sinn“ übersetzt werden. Dann wird die „Gottes“-Klage zur Klage über den im Augenblick nicht sichtbaren und spürbaren Sinn, also meinen subjektiven Sinn wie den Sinn überhaupt. Dann wird der klagende Mensch deutlich auf sich selbst reflektierend zurückgeworfen. Es kommt nur darauf an, in dieser Situation sich zu vergewissern: Auch in der Suche nach dem Sinn weiß ich implizit, dass es Sinn gibt. Ich habe ihn ja früher einmal erfahren, ich habe mich an ihm erfreut. Nun ist er entschwunden. Ich kann nur klagen und suchen, weil ich weiß, was ich suchen kann: den Sinn, der mich immer noch auch im verzweifelten Suchen hält. Gottesklage wird zur Sinnsuche. Dadurch wird das Thema besprechbar und in die Argumentation gezogen. Es werden nicht mehr fromme Geschichten erzählt oder autoritäre Weisungen der Vertreter Gottes auf Erden gegeben. Denn der Übergang von göttlichem Wort zu amtlich interpretierten Wort des „Klerus“ ist immer da und fließend. So aber wird ein freier Raum geschaffen in der Erkenntnis: Wir selbst suchen selbständig verzweifelt nach Sinn, weil wir immer noch in ihm stehen und leben, und weil wir ihn einmal in ganzem Licht erlebt haben. Ob wir zu diesem Sinn sprechen (beten) können, ihm Worte der Poesie „widmen“, ist eine andere Frage. Wer aber den Sinn als personal – wohltuende Wirklichkeit erlebt, kann sich dann durchaus zu diesem Grund des Lebens (das ist der Sinn) poetisch verhalten. Oder er kann auf dieser Reflexionsstufe das Symbol „Gott“ (mit dem verwandelten Inhalt) wieder vorsichtig verwenden. In jedem Fall zeigt mir die verzweifelte Suche nach Sinn, nach dem tragendem Grund: Ich habe noch Widerstandsreserven bei mir, das zeigt mir allein schon die Leidenschaft der Frage .Ich bin auch in der Sinn-Suche noch immer vom Sinn als Grund des Daseins getragen.

Manche stellen sich die Frage: Leide ich, weil ich Böses getan habe? Straft mich Gott? Am wichtigsten ist es in einer philosophischen Lebensform, diese volkstümliche Überzeugung abzuweisen: Gott greift nicht als ein strafendes Subjekt aus Himmelhöhen ins Weltgeschehen, in mein kleines Leben, ein. Er bestraft nicht den angeblich oder tatsächlich moralisch böse handelnden Menschen, er bestraft nicht die Welt (-Gesellschaft) mit schlimmen Naturkatastrophen. Das ist ein zu personales, wir meinen infantiles Gottesbild. Die Naturkatastrophen gehören zur bleibenden Unvollkommenheit dieser Welt (und der Erkenntnis des Menschen): Wer in der Welt lebt, muss diese Unvollkommenheit dieser Welt annehmen. Sie ist sozusagen die kosmische Seite der ebenso unveränderbaren menschlichen Endlichkeit, Sterblichkeit. Die wir auch als solche annehmen müssen als Struktur unserer Weltverbundenheit. Das unübersehbare Durcheinander der Natur (Natur ist keineswegs immer verzückend und verzaubernd, wie einige Romantiker glaubten und glauben) gehört zur Struktur der Welt. Diese gegebene Struktur pauschal als „die beste aller denkbaren Welten“ (Leibniz) vorzustellen, führt nicht weiter. Der zwiespältige Zustand der Natur kann nicht verändert werden. Er bleibt die bleibend offene Frage. Diese offene Frage als Existenz-Form anzunehmen ist wohl die entscheidende Leistung eines jeden reifen Menschen. Zum „moralisch Bösen“ siehe Punkt 3.

Wie können wir noch aktiv agieren, wenn sich Sinnloses und Vernichtendes in unserem Leben zeigt: Ein extremes Beispiel: Menschen können inmitten höchster Not und schlimmsten Leidens doch noch rettend, für andere, Nachkommende, sich verhalten. Ich denke etwa an den 11. September, und da besonders an den „flight 93“. Die Piloten wussten bereits kurz nach dem Start, dass andere Flugzeuge in die Tower mit hilflosen Opfern rasten. Diese Piloten verhinderten einen offenbar geplanten Absturz ihrer Maschine im Washingtoner Regierungsviertel und stürzten hingegen auf einem freien Feld ab. Das heißt: In größter Not und größtem Leid kann noch der Verstand bewahrt werden und eine schlimme Massen-Katastrophe verhindert werden, in der Bereitschaft, sich selbst dabei zu opfern.

Das zeigt: Das Böse als erfahrbare Welt-Wirklichkeit hätte wohl kaum eine solche Übermacht in der Gesellschaft und den Staaten, wenn alle Menschen ihre Augen und ihren Verstand vor dem (sich anbahnenden) Bösen offen halten… und widerstehen.

Beispiel: Wie viele Millionen Menschen haben zu Beginn der Nazizeit aus Feigheit und Dummheit weggesehen?

Es hilft ja auch nicht, nach einem Tsunami-Vorfall Gott anzuklagen, wenn etwa dabei Atomkraftwerke zerstört werden. Sinnvoll ist hier nicht die Gottes-An-Klage, sondern die Frage: Wie kommen wir von der Atomkraft los? Wer hat das veranlasst, dass direkt am Meer, etwa in Japan, AKWs gebaut wurden.

Wichtig ist es auf das Wesen der menschlichen Freiheit zu achten und dabei die Frage nach dem „moralisch Bösen“ zu bedenken. Da kann eine Überlegung von Kant hilfreich sein: Im April 1792 publizierte er in der „Berlinischen Wochenschrift“ den Beitrag: „Von der Einwohnung des bösen Prinzips neben dem guten“ (im Menschen). Veröffentlicht dann als erstes Stück in dem immer aktuellen Buch „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, Königsberg, 1793. In der Meiner Ausgabe: S. 21 ff.

Nur so viel: Aufgrund der Freiheit des Geistes gibt es – für Kant – einen „Hang“ zum Bösen im Menschen, dieser Hang, diese Tendenz, zeigt sich, wann immer von den vernünftigen Maximen des moralischen Gesetzes abgewichen wird. Dieser Hang zum Bösen als Möglichkeit der Freiheit äußert sich für Kant in Selbstliebe, Eigendünkel, kurz: als bewusste Zurückweisung, dem Spruch des Kategorischen Imperativs zu entsprechen. Diese Möglichkeit, aus freier Reflexion unvernünftig und unmoralisch zu handeln, wurzelt in der Tiefe der menschlichen Freiheit. Freiheit ist also das erste, das Bösesein-Können und tatsächliche böse Leben ist das Zweite. Grundlegend ist die Anlage zum Guten; der Hang zum Bösen ist eine Konkretisierung der Freiheit. Nun hat – theologisch gesprochen – Gott diese Freiheit geschaffen, die in sich die Möglichkeit des Bösen enthält: Hat Gott also dann letztlich doch das Böse mit-geschaffen? Diese Frage zeigt, wie das Denken da an Grenzen stösst.

Auf das kritische Denken kommt es an, auf die vernünftige Fähigkeit, Widerstand zu leisten, wo immer Böses sich zeigt. Ohne dabei zu glauben, dass definitiv Böses aus der Welt geschafft wird. Aber dieser Widerstand kann als Ausdruck der Kraft des Geistes verstanden und erlebt werden: Gibt es Schöneres?  Wer ständig bei diesen Fragen Gott ins Spiel bringt, folgt Phantasien, verbreitet Nebel, erzählt Mythen, analysiert (sich selbst und den Weltzustand) nicht klar. Wobei letzte Klarheit als Durchschaubarkeit niemals erreichbar wird bei dem Thema Freiheit und das Böse. Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie hat also bei dem Thema die Aufgabe, Gott als Argument eher außen vor zu lassen. Philosophie kann begründen, warum es richtig ist, ihn außen vor zu lassen… Philosophisch ist es wohl so: Je mehr wir lernen, die Ursachen des Bösen zu erkennen und verzichten, das Böse religiös/mystisch zu verfärben, um so eher könnte den bösen Tendenzen Einhalt geboten werden.

Wer den SINN als die Basis seines Daseins wahrnimmt, kann sich auch zu dem alles Tragenden Sinn positiv verhalten. Warum nicht: Er kann sich diesem Sinn poetisch nähern, dankend, dass es ihn gibt. Denn das Erfahren, vom Sinn des Ganzen getragen zu sein, wird oft als Geschenk erlebt.

Welche Bedeutung hat dann noch die religiöse Poesie, etwa, wie sie Attar und Hiob vorlegen?

Deren Anklagen Gottes sind verschleierte Anklagen gegen die umgebende Gesellschaft, die als autoritäre Organisationen den Menschen keinen freien Lebensraum lassen. Oder es sind Klagen, dass sich der Sinn momentan entzieht, dass sie ihn aber einmal erlebt haben, denn sonst wüssten sie gar nicht, wonach sie schreien.

Jedenfalls wird man philosophisch nie zu einer schlüssigen und allseits und immer geltenden „Lösung“, Antwort kommen. Denn diese Frage nach dem Sinn des Ganzen bezieht sich eben wirklich auf das Ganze, das Alles- Begründenden, also jenes, das die Religionen Gott nennen. Dieses Ganze und Gründende (Gott) kann der erkennende Mensch, eben weil es das Ganze und Gründende ist, nie erkennend umfassen. Das heißt: Diese Frage bleibt offen. Das Ganze und Gründe kann philosophisch nur berührt, nicht aber definiert, also bestimmt (umfasst) werden.

Mit anderen Worten: Die Frage nach dem Sinn des Ganzen bleibt wesentlich das, was man philosophisch Geheimnis nennt, niemals total aufzuklärendes Gründendes. Insofern ist der erkennende Mensch immer wesentlich auf das Geheimnis verwiesen bzw. mit ihm verbunden.

Wenn Religionen behaupten, sie hätten die Antwort auf das, was das Geheimnis (Gottes) ist: Dann sind diese Antworten eben Antworten frommer und selbstverständlich ernst zu nehmender Menschen: Sie sagen unreflektiert, was sie erlebt haben, etwa die Autoren der Bibel und anderer heiliger Bücher. Sie machen Vorschläge, die beachtet werden können: Etwa die Botschaft Jesu: Gott, das Gründende, der tragende „Sinn“, ist wesentlich Liebe. Es steht jedem Menschen philosophisch natürlich frei, dieses Angebot spiritueller Menschen persönlich geistig und umfassend im eigenen Leben zu prüfen. Das Gefühl, von einer letzten Liebe getragen zu sein, TROTZDEM und TROTZ ALLEM, kann sich dann einstellen. Davon berichten viele Menschen, die als Märtyrer der Menschenrechte (!) ihr eigenes Leben (und nicht wie die Selbstmordattentäter auch noch das vieler anderer Unschuldiger) opfern, etwa die Widerstandskämpfer gegen Hitler, Dietrich Bonhoeffer, Widerstandskämpfer gegen moderne Verbrechersysteme, wie in El Salvador der selige Erzbischof Oscar Romero. Aber auch diese Menschen haben erlebt: Eine definitive runde und umfassende Antwort auf das Böse gibt es nicht. Und Gott kann nicht dazu missbraucht werden, unsere Wünsche nach umfassenden Antworten zu befriedigen. Gott ist bleibend Geheimnis, wie das Leben selbst bleibend Geheimnis ist. Wer solches sagt, weiß, dass Gott Geheimnis, das ist etwas anderes als eine fromme Vision.

Copyright: Christian Modehn, geschrieben am 31.3.2015

 

 

Theresa von Avila 500. Geburtstag: Mystik bricht aus dem religiösen System aus

Theresa von Avila und „Die mystische Fabel“

Ein Hinweis zum 500. Geburtstag der Mystikerin und eine Erinnerung an Michel de Certeau SJ

Von Christian Modehn

Theresa von Avila ist eine große Autorin, eine inspirierende Mystikerin, wohl auch heute.

Aber was heißt eigentlich „Mystik“? Welcher Sprache begegnen wir dann? Welche Lebenserfahrungen sind prägend? Wer darf sich Mysteriker, Mysterikerin, nennen oder darf so von anderen genannt werden?

Fragen, die anlässlich des 500. Geburtstages der Karmeliter-Nonne Theresa von Avila (28.3.1515 – 1582) wichtig sind, aber unseres Wissens im Umfeld dieses Gedenktages nicht (so oft) behandelt werden. Wie umfassend darf an kirchlichen (römischen) Gedenktagen gedacht werden?

Hilfreich sind immer die Studien des französischen Intellektuellen und Jesuiten Michel de Certeau (1925-1986). Wenn jemand die französische Ehrenbezeichnung „Intellektueller“ verdient, dann wohl er, der Historiker, Psychoanalytiker, Linguist, Theologe. Er hat unter anderem das (auch auf Deutsch vorliegende) Buch veröffentlicht “La Fable Mystique“, 1982 erschienen. 2013 wurde dann ein 2. Band publiziert: La Fable Mystique, II, Édition établie et présentée par Luce Giard, erschienen bei Gallimard, 392 p., 22,90 €. Luce Giard ist eine hervorragende Kennerin des Werkes de Certeaus.

Certeau spricht von „Fabel“, um das Sprechen und Briefe-Schreiben der Mystiker des 16. und 17. Jahrhunderts zu bezeichnen, und er meint damit: Es gibt bei den Mystikern eine bemerkenswerte Erfindungsgabe der Sprache. Sie sagen alles, „von dem man sagt, es nicht sagen zu können“ (so Johannes vom Kreuz, ein Mitstreiter und Freund Theresas, auch er ein Meister der Sprache, ein Poet). De Certeau zeigt, dass die Mystik (ein Wort, das vor dem 16. Jahrhundert unbekannt war, meint er) eine Art „paradoxe Wissenschaft“ sei, weil sie in neuer Sprache, befreit von der Last der klassischen Theologie und ihrer Systeme, wieder unverbraucht Wesentliches sagt. Die Welt der Mystiker dieser beiden Jahrhunderte ist erschüttert: Politischer Absolutismus, neue Welten („Amerika“), Wissenschaften, rationale Philosophie, Übersetzungen der Bibel etc…

Die Mystiker erleben diese neue Welt und wollen als Glaubende dieser erlebten neuen Welt Ausdruck geben. Es ergibt sich so eine „Befreiung der Stimme der Frauen“, ein Gespür für die Bedeutung der Subjektivität. Die alte Welt wird als untergehende erlebt, von der neuen Welt wird in neuer Sprache gesprochen, nicht in einer Geheimsprache, betont de Certeau. Es wird mystisch das NEIN gepflegt, das Nein zum alten System-Denken, es wird der alte religiöse Raum leer geräumt, zugunsten des NICHTS (vor allem bei Johannes vom Kreuz). Alte Sicherheiten zerbrechen, das Gehaltensein im Nichts als „dennoch“-Gehaltensein kann zum Glaubensausdruck werden.

Wer würde diese Gedanken nicht modern, also zeitgemäß finden? Bloß wo sind die Mystiker heute? Gibt es sie noch etwa unter den vielen tausend Nonnen der Unbeschuhten Karmelitinnen, also jenes Ordens, den Theresa unter Leiden und Not (drangsaliert von den reformunwilligen Nonnen) gegründet hat? Der Katholizismus hat „MystikerInnen“  in seinen Reihen, bloß die kommen nicht zu Wort, melden sich nicht, schweigen. Weil sie nichts zu sagen haben? Weil die Orden ihre beste Tradition aufgegeben haben und nicht mehr mystisch sind und bestenfalls historische Studien publizieren? Oder weil sie ihre vielleicht provozierende mystische Einsicht nicht sagen dürfen? Etwa: Dass wir vielleicht mehr an das Nichts, die Leere, als an den so lieben und allmächtigen und gerechten Gott denken sollten? Dass wir die Sprache des Schweigens üben und hören sollten als das viele religiöse Gerede, diese routinierte Fortsetzung von frommen Sprchen und Floskeln.

Vielleicht noch ein Hinweis zu dem empfehlenswerten Buch „Michel de Certeau“, herausgegeben von Marian Füssel, erschienen UVK Verlagsgesellschaft, 2007.

Aus dem Beitrag von Koenrad Geldof nur einige markante Sätze, immer bezogen auf das Werk de Certeaus selbst, als Einladung weiterzuforschen:

„Der Geburtsort der Mystik ist die Ruine“ (S. 138). „Die Mystik existiert gerade dank des Fehlens ihres Objektes Gott. Sie sehnt sich nach dem Abwesenden, aber ihre Sehnsucht kann und wird nie erfüllt werden: Diese Unmöglichkeit ist der Grund, aus dem die Mystiker sprechen und schreiben“ (S. 139).

„Der Mystiker ist dazu verdammt, ICH zu sagen, um im Namen seiner selbst sprechen zu können“ (S. 141).

Und Daniel Bogner schreibt in dem genannten Buch: “Wahrheit gibt es für die Mystiker nicht mehr als eine von der kirchlichen Institution treuhänderisch verwaltete und abrufbar bereitgestellte Wahrheit“ (S. 312). Wird man solche Sätze hören bei den nun einmal nicht ausbleibenden Jubelfeiern und Festgottesdiensten zu Ehren der Theresa von Avila. Papst Paul VI. hat 1970 diese unbequeme Frau und Kritikerin gar zur offiziellen Kirchenlehrerin ernannt. Wollte er diese radikale Theologin und Nonne besänftigend „eingemeinden“? Oder rechnete er damit, dass radikale Worte der Gottesferne und des Nichts wirklich in die Mitte des christlichen Glaubens und der römischen Institution gehören?

Dieser Beitrag bedarf einer Ergänzung:

Ich habe als Hörfunk und Fernseh-Journalist (RBB) im Karmelitinnen Kloster Regina Martyrum in Berlin Ordensfrauen getroffen, die durchaus von einer Weite des Denkens und des mystischen Erfahrens geprägt sind und dies auch so sagen. Ob alle Karmelitinnenklöster in Deutschland von diesem offenen Geist geprägt sind, ist eine andere Frage.

Einige Zitate aus verschiedenen Ra­dio­sen­dungen von mir.

Schwester Maria Theresia sagt zum Beten für andere Menschen: „Für andere beten, das heißt zunächst einmal von anderen wissen. Und nicht nur theoretisch, sondern auch direkt, persönlich, und auch die Lage von anderen Menschen, sich selbst unter die Haut gehen lassen. Es ist eine gewisse Solidarisierung. Das ist so etwas wie das Halten einer Hand, wenn wir sagen: Ich denke an dich“.

Die Gründerin des Karmelitinnenklosters in Berlin ist Schwester Gemma Hinricher, zuvor lebte sie im Karmel am Rande des ehem. KZs Dachau: Schwester Gemma ist 1990 verstorben, sie war in Berlin als geistliche Lehrerin sehr angesehen, ie sagte mir in einem Interview in Plötzensee:

„Es ist für die Karmelitinnen ganz wesentlich die Ausrichtung auf Gott und zugleich die Ausrichtung auf die Menschen. Ich glaube, dass wir teilnehmen an der Glaubensnot unserer Epoche. Dass wir ja in welcher Form auch immer auch ein Stück Gottferne erfahren. Es ist wichtig zu betonen, dass es uns da nicht besser geht, dass wir auch angefochtene Menschen sind und verletztliche Menschen, dass uns nicht alles zufliegt mit Heiterkeit“.

Gelegentlich besuchen auch Agnostiker und Atheisten den Berliner Karmel, so etwa Gita Neumann, Psychologin und Mitarbeiterin des Humanistischen Verbandes im Rahmen eines Filmes, den ich fürs ERSTE drehte. Gita Neumann fragte Schwester Maria Theresia:. „Betet man irgendwie zu Gott, zu Jesus, zu einer übergeordneten Instanz? Sind Sie der Meinung, dass da auch Wünsche auch irgendwo ankommen?“ Darauf die Karmelitin Schwester Maria-Theresia: :

„Ich muss gestehen, ich teile diese Frage auch. Für mich ist dieses Beten in eine gewisse Leere hinein wie ein Gottesbeweis. Weil ich mir sage: Eine fassbare Antwort, das ist nicht mein Gott. Es muss immer etwas bleiben, was geheimnisvoll ist, was scheinbar sogar das Gegenteil sogar von dem Erbeteten ist. Dieses durchkreuzende Moment von Gebeten führt mich, wenn ich ehrlich bin, letztlich weiter. Ich möchte darauf hin leben, dass ich Gott größer sein lasse als meine Gebete.“

In einem Beitrag über die spirituellen Dimensionen der Nacht konnte ich auch Schwester Maria Theresia zu dem Thema befragen: „Das beste Nachtgebet ist für mich, das, was am meisten mich selbst einsammeln kann, wo ich am meisten drin bin. Das ist überhaupt kein Gebet im üblichen Sinn. Das ist vielleicht ein Fallenlassen, ein Loslassen. Eine Einwilligung, in das, was jetzt gerade mein Leben ist, weil ich jetzt mal gerade so ganz zu mir kommen kann. Und ich denke, dass ist dann beste Gebet, auch wenn ich in dem Moment gar nicht merke, dass ich bete”.

Copyright: Christin Modehn Berlin

 

Ein etwas anderer philosophischer Salon: Eine Begegnung von Niederländern und Deutschen am Freitag, 17. April 2015

Ein „etwas anderer“ philosophischer Salon…

…am Freitag, den 17. April 2015 ab 18. 30 Uhr im Kulturzentrum Afrikahaus, Bochumerstr. 25, Stadtteil Tiergarten.

An dem Tag kommen 10 Mitglieder eines philosophischen Salons aus Amsterdam nach Berlin. Er findet statt in der philosophisch interessierten protestantischen, liberal-theologischen Kirche der Remonstranten. (Siehe:   http://www.vrijburg.nl/ )

Wir wollen gemeinsam Vegetarisches essen, nach afrikanischem Rezept, und ein Gläschen Wein trinken und uns danach weiter austauschen. Der Leiter der Amsterdamer Gruppe, der Philosoph Pieter Jan André, wird auf die Aktualität des „Sokratischen Gespräches“ hinweisen. Und Christian Modehn wird einige Fragen stellen über die Bedeutung des NEINSagens und des Widerstands in der Philosophie. Aber abgesehen davon: Es gibt genügend Zeit sich auszutauschen und persönlich kennen zu lernen. „Gezelligheid“ ist das entsprechende holländische Wort.

Wegen der Vorbereitung des afrikanischen vegetarischen Essens durch den Leiter des Afrika Hauses, Herrn Diallo, bitte ich bis zum 13. 4. um eine definitive Anmeldung: christian.modehn@berlin.de

Der Eintritt ist frei. Das Essen kostet 4,50 Euro., auch die div. Getränke sind „bezahlbar“.

Start um 18.30 Uhr. Das Afrika Haus in der Bochumer Str. 25 befindet sich dicht am U Bhf Turmstr., Ausgang Alt –Moabit.

Vom Glauben sprechen: Aber in homöopathischen Dosierungen

Vom Glauben in homöopathischer Form sprechen. Zur Aktualität eines „mondainen“ Priesters in Paris: Abbé Arthur Mugnier

Von Christian Modehn

Am 13. Juli 1920 notiert der Pariser Priester, Abbé Arthur Mugnier, (1853-1944), in seinem Tagebuch: „Nach einem Mittagessen bei Madame Fitz-James mit Bischof Lemaistre von Carthago sagte dieser: Man solle sich in den Pariser Salons bemühen, die Leute, die Gäste, im strengen katholischen Sinn auszubilden“. Diese Meinung lehnt Abbé Mugnier, eine Art Dauergast/Freund in den Salons, absolut ab: Er meint: Wenn man dieses klerikale Programm anwenden würde, hätten die charmanten Mittagessen und Diners in den Salons keinen Sinn mehr, wo man doch dort frei sprechen kann, jeder kann seine Meinung vortragen. „Ich glaube nur an das kirchliche Apostolat, also die „Seelsorge“, in homöopathischer Form“.

Sanft und in homöopathischen Dosierungen vom Glauben sprechen in einer bunten und vielfältigen intellektuellen Welt der Schriftsteller und der Welt der Künstler und Schauspieler in Paris: Das konnte sehr gut Abbé Mugnier, er ist eine ungewöhnliche, gebildete, wenn man so will: eine einmalige Gestalt unter den Priestern und Theologen in Paris: Er war der gern gesehene Gast und Gesprächspartner in zahlreichen Salons. In einem umfangreichen „Journal“ (erschienen bei Mercure de France, Paris 1985) hat er von diesem ungewöhnlichen Leben berichtet, mit Menschen ins spirituelle Gespräch zu kommen, die sonst eher nicht einen christlichen Theologen respektieren, geschweige denn regelmäßig zum Essen einladen. Das lag daran, dass alle diese Literaten und Künstler, die oft gar nicht so christlich, schon gar nicht katholisch waren, sich einfach von Abbé Mugnier verstanden und ernst genommen fühlten.

Der Pariser Historiker, Autor und Übersetzer Charles Chauvin hat vor kurzem eine Biographie dieses ungewöhnlichen Abbés vorgelegt: „L Abbé Mugnier. L aumonier des Lettres“ erschienen bei Mediaspaul, Paris, 2015. 182 Seiten, 18 Euro. Charles Chauvin zeichnet genau den Lebensweg dieses dialogfreudigen Pfarrers nach, der kein Missionar war, sondern ein Gesprächspartner. Chauvin spricht von seinem frühen Engagement in verschiedenen Pariser Gemeinden, von seinen Schwierigkeiten mit den Bischöfen, schließlich von dem Freiraum, den er erlangen konnte: Endlich unter denen zu leben und zu wirken, denen er sich zugehörig fühlt: Eben den Schriftstellern und Schauspielern. Er ist in Verbindung mit Marcel Proust, mit Jean Cocteau, aber auch mit Paul Claudel. „Er war als guter Unterhalter („Causeur“) der Freund und der Vertraute von denen allen“ (S. 129). Er war der „libérale Abbé“ (S: 62) „Praktisch war Mugnier in seinem Engagement vom übrigen Klerus in Paris isoliert und von den Bischöfen nur toleriert“ (S. 130).Charles Chauvin berichtet von den Reisen Mugniers nach Deutschland, er war in Bayreuth und Berlin, besuchte in Röcken den geistig umnachteten Friedrich Nietzsche (S. 79). In seinem neuen Roman „Unterwerfung“ erwähnt Michel Houellebecq mehrfach den Schriftsteller Joris -Karl Huysmans: Mit ihm war der weit denkende und vernünftig fühlende Mugnier befreundet.

Mugnier war eine Ausnahmegestalt: großzügig, tolerant, entschieden antisemitisch in den Zeiten eines allgemeinen katholischen Antisemitismus, ein Mann der Verständigung auch mit den Deutschen, ein Theologe, der Sinne hatte für Ästhetik und Kunst.

Eine solche freie Gestalt gibt es selten im römischen Katholizismus, und wenn, dann eher in Frankreich als im eher bürokratisch geprägten deutschen Katholizismus. Charles Chauvin hat das große Verdienst, an diesen ungewöhnlichen Abbé zu erinnern, der sanft und verständnisvoll, hörend und lernend vom Glauben sprechen konnte, ohne Wahrheitsansprüche, und schon gar nicht mit dem “dogmatischen Hammer”, der zu der Zeit selbstverständlich war.

Wer die Biographie und die Tagebücher selbst liest, kann sich kaum vorstellen, dass solch eine Gestalt jemals auf neue Art wiederkehren könnte in den Kirchen Deutschlands oder Frankreichs. Dort hat sich längst der enge, der fundamentalistische Geist herrschend durchsetzen können. Liberale theologische Geister haben da kaum noch eine Chance.

copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

Griechenland in Not: Wider das alte korrupte System und die Allmacht der Banken

Griechenland in Not: Wider das alte korrupte System und die Allmacht  der Banken

Das Motto: Deutschland und die anderen alles bestimmenden europäischen Länder sollten nicht vergessen: EUROPA ist ein Wort und auch eine philosophische Realität, die aus Griechenland stammen. Europa ist insofern griechisch. Dabei ist klar, dass die EU als Wirtschaftsunion, als Finanzwelt, nicht die umfassende Idee Europas abbildet. Europa ist – hoffentlich- mehr als Kapitalismus. Aber man kann Europa kaputt machen.

Von Christian Modehn

Philosophen und philosophisch Interessierte haben häufig eine innere, eine freundschaftliche Nähe zu Griechenland und eine Verbundenheit mit den Griechen. So wie Christen vielleicht eine Nähe zu dem haben, was die Kirchen „Heiliges Land“ nennen, weil dort Jesus von Nazareth lebte und predigte. So haben Philosophen zu Griechenland eine positive Stimmung; dort lebten Sokrates, Platon, Aristoteles, Epikur, dort wurde die Stoa begründet, dort wurde ursprünglich über die Bedeutung der Vernunft im Leben der Menschen gerungen. Gibt es eine Form “philosophischer Dankbarkeit”? Auch wennklar ist, dass Sokrates heute nicht in Athen lebt, genauso wenig wie niemand glaubt, dass Jesus noch in Israel lebt. Oder Goethe oder Heine heute das geistige Klima der Regierung in Berlin prägen.

Von daher also eine bleibende Nähe philosophischer Menschen zu Griechenland, zumal dann, wenn die jetzige Regierung, sechs Wochen im Amt, die ungeheure Aufgabe stemmen will und die Jahrzehnte lange Korruption beseitigen möchte.

In jedem Fall ist meine Sympathie für die neue Regierung in Athen zweifellos vorhanden, auch wenn natürlich jeder weiß, dass auch diese linke Regierung keine absolute Rettung, keine Heilsbringerin usw. ist. Das sind ja auch nicht die Regierungen in Berlin, Washington oder anderswo. Dort mischt sich Demokratie mit unerfreulichem Lobbyismus, durchaus auch mit Korruption, ja, mit Unrecht, wenn man nur an den Irak-Krieg von Mister Bush jun. denkt. Lupenreine Demokratien, das gibt es nicht. Das weiß inzwischen auch Herr Schröder. Aber es gibt sicher Regierungen, die die Korruption der Vorgänger beseitigen wollen, wie die jetzige Regierung in Athen. Sie will einen Neustart und sich von Politikern absetzen, die von vielen westeuropäischen Regierungen, auch von Deutschland, unterstützt wurden, waren diese konservativen Regierungen doch dem Scheine so brav, so angepasst, so christlich oder sie nannten sich sozialdemokratisch. Die ließen sich gerne Waffen deutscher Produktion aufschwatzen, von diesen korrupten Regierungen profitierte nicht nur die deutsche Wirtschaft.

Unsere Sympathie für die neue linke Regierung in Athen findet eine hervoragende Vertiefung in einem Beitrag des ausgezeichneten Berliner Recherche-Journalisten HARALD SCHUMANN vom „Tagesspiegel“ (Ausgabe 16.3.2015). Wir können nur einige Zitate aus diesem hervorragenden Beitrag bieten, eigentlich sollte er Pflichtlektüre aller Politiker in Deutschland sein, vielleicht könnten sie dann noch in ihrer bronierten Haltung ein wenig erschüttern lassen.

Harald Schumann schreibt u.a.:

….“So wird immer klarer, dass es beim Ringen zwischen der Athener Linksregierung und den anderen Euro-Staaten nicht wirklich ums Geld geht. Wäre Kanzlerin Merkel, Minister Schäuble und ihren Kollegen tatsächlich daran gelegen, möglichst viel der an Griechenland ausgereichten Kredite zurückzubekommen, dann würden sie die Chance nutzen, die eine vom Oligarchenfilz und Klientelismus unbelastete Regierung in Athen bietet. Dann würden sie Tsipras und seinen Ministern den finanziellen Spielraum verschaffen, den diese für den Aufbau eines funktionierenden Staatswesens und den Bruch mit dem alten Machtkartell benötigen. Aber die Verwalter der Euro-Krise fürchten den Erfolg einer linken Regierung offenkundig mehr als die milliardenschweren Verluste auf ihre Kredite, die das Scheitern der Regierung Tsipras ihnen zwangsläufig bescheren wird. Schließlich könnte das Beispiel Schule machen. Auch in Spanien, Portugal und sogar in Irland könnten linke Basisbewegungen bei den dort anstehenden Wahlen die Mehrheit gewinnen“.  Und wenn die linke Reform-Regierung von den anderen Europäern und ihrem Geld zerschlagen wird. Was ist dann?

Harald Schumann meint: „Denn der Sieg über die Widerständler wird europaweit ein verheerendes Signal aussenden: Entweder die wirtschaftlich schwächeren Länder kriechen bei den Deutschen und ihren Agenten in Brüssel zu Kreuze. Oder aber diese treiben sie in den wirtschaftlichen Niedergang. Das aber ist die beste Wahlkampfhilfe, die sich Marine Le Pen, ihr Front National und mit ihnen alle Anti-Europäer jemals wünschen könnten. Gegen diese Drohung können sie ihren ebenso einfachen wie verhängnisvollen Ausweg anbieten: Raus aus dem Euro und raus aus der Europäischen Union, weil man sich nur so von den Deutschen unabhängig machen kann. Erringt Le Pen mit dieser Botschaft die Präsidentschaft in Frankreich, wäre das der Anfang vom Ende der Europäischen Integration”…. Das ist die eigentliche Gefahr, aber Wolfgang Schäuble und seine Kanzlerin nehmen sie billigend in Kauf. „Die macht mir mein Europa kaputt“, warnte Altkanzler Helmut Kohl darum schon 2011. Hoffentlich hat er sich geirrt“.

Wir empfehlen dringend die Lektüre seines Texte, veröffentlicht im Tagesspiegel am 16.3.2015: http://www.tagesspiegel.de/politik/griechenland-krise-die-unterwerfung-athens-ist-ein-verheerendes-signal/11506994.html

 

 

 

Oscar Romero-Von der Leidenschaft für die Menschenrechte

Oscar Romero: Von der Leidenschaft für die Menschenrechte

Der ermordete Erzbischof Oscar Romero (El Salvador) wird demnächst in Rom seliggesprochen.

Ein Interview mit Anita Escher Echeverría, der Botschafterin El Salvadors in Berlin.

Die Fragen stellte Christian Modehn

Frau Escher Echeverría, Sie sind Botschafterin von El Salvador in Berlin, bald in dieser Funktion in Stockholm. Sie haben sich in verschiedenen NGOs für eine gerechtere und soziale Entwicklung in El Salvador eingesetzt. Nun wird der berühmteste Salvadorianer, Erzbischof Oscar Romero, selig gesprochen. Was ist heute wichtig an seinem Denken und seiner Praxis?

Anita Cristina Escher Echeverría: Oscar Romero stammte aus einer konservativen Familie. Als Bischof war er bis 1977 auch theologisch konservativ. Aber mit der Ermordung seines Freundes, des Befreiungstheologen Rutilio Grande, durch die rechtsextremen Todesschwadronen, vollzog er einen radikalen Kurswechsel. Dieser Schritt ist am wichtigsten! Romero bekehrte sich, wie er selbst sagte; er diente ganz der Befreiung der Armen. Deswegen galt er in der Militärdiktatur als Kommunist. Und Kommunisten mussten ausgelöscht werden, so die Doktrin. Romero hat die Guerillabewegung durchaus kritisiert, mit den Entführungen von Unternehmern war er nicht einverstanden. Aber er wusste: Wenn die Armen um ihre Menschenrechte kämpfen, dann wehren sie sich zu Recht gegen die bestehende Gewalt. Erzbischof Romero forderte öffentlich die jungen Soldaten auf, nicht länger auf die Armen zu schießen: »Tötet eure Brüder nicht«, mit anderen Worten: »Verweigert den Befehl!« Das war eine Attacke aufs System! Deswegen wurde er während einer Heiligen Messe von Todesschwadronen erschossen. Was schwingt von diesem brutalen Mord damals heute noch nach? Escher Echeverría: Die »Wahrheitskommission« hat 1992 den rechtsextremen Politiker und Leiter der Todesschwadronen, Roberto D’Aubuisson, als Verantwortlichen für den Mord benannt. Dessen Arena-Partei ist auch heute einflussreich. Arena-Leute wagen es jetzt, den seligen Erzbischof Romero zu preisen. Dabei weigern sich deren Politiker, das Grab Romeros in der Krypta der Kathedrale von San Salvador zu besuchen, wenn sie ausländische Gäste in der Hauptstadt begleiten.

Frage: Was sagt Präsident Salvador Sánchez Cerén zu der Seligsprechung?

Escher Echeverría: Unser Präsident – ich darf sagen: ein frommer Mann – war ein Kämpfer für die Befreiung in der Guerilla FMLN. Er hat sich für die Seligsprechung Romeros eingesetzt. Jetzt erklärte er wörtlich: »Unsere Regierung erkennt in Erzbischof Romero eine Leitfigur und ein Licht auf dem Weg zu einem guten Leben für alle. Er ist der spirituelle Führer unserer Regierung.« Wir Salvadorianer wissen, dass Romero seit seiner Ermordung in ganz Lateinamerika als Heiliger verehrt wird. Aber unser Land ist heute noch ein politisch und auch theologisch gespaltenes Land. Die Oligarchie im Land denkt in Kategorien von Herrenmenschen.

Frage: Jetzt wird Romero als Märtyrer offiziell von Rom anerkannt. Was bedeutet das für die Täter, die Mörder?

Escher Echeverría: Wenn Erzbischof Romero offiziell als Märtyrer gilt, dann geht es in erster Linie darum zu betonen, dass die Mörder Mitglieder der rechtsextremen Todesschwadronen waren. Das ist die Wahrheit! Und die ist sehr wichtig für El Salvador. Wir haben Papst Franziskus sehr zu danken, ohne ihn gäbe es die Seligsprechung Romeros nicht.

Frage: El Salvador wird derzeit von vielen gewalttätigen Attacken der Jugend-Banden, »Maras« genannt, erschüttert. Statistisch gesehen gibt es 14 Morde pro Tag. Kann in diesem Zusammenhang Romeros Seligsprechung eine Hilfe sein?

Escher Echeverría: Direkte Wirkungen sehe ich nicht. Es ist ein langer, schwieriger Weg, diese Gewalttäter zu sozialisieren. Oft wenden sich bekehrte Bandenmitglieder den evangelikalen Kirchen zu; von denen begrüßen einige durchaus die Seligsprechung.

Frage: Romero ist eine internationale Gestalt. Welche Konsequenzen hätte das etwa für Deutschland?

Escher Echeverría: El Salvador erhält leider keine bilateralen Entwicklungszuschüsse von Deutschland, auch nicht für die präventive Jugendarbeit. Kredite aus Deutschland sind zwar für die Gewaltprävention zugesagt. Sie können jedoch nicht ausgezahlt werden, weil die Arena-Partei im Parlament immer dagegen stimmt. Ohne Arena gibt es also keine Kredite. Diese Partei will unser Land mit seiner linken Regierung »lahmlegen«. Dennoch sollte Deutschland uns helfen!

(Anita Cristina Escher Echeverría, geboren 1958, ist Menschenrechtlerin und seit 2010 Botschafterin der Republik El Salvador in Deutschland, bald in Schweden. Sie engagiert sich vor allem in Alphabetisierungsprogrammen in Lateinamerika).

Zuerst erschienen in der empfehlenswerten Zeitschrift PUBLIK FORUM am 13. 3. 2015.