Reformation neu denken, über Luther hinaus für eine neue Reformation

Reformation neu denken, über Luther hinaus für eine neue Reformation

Ein Hinweis auf drei Beiträge, die gerade im Umfeld des Reformationstages von Interesse sein könnten.

-Prof. Wilhelm Gräb in einem Interview über Reformation und die Flüchtlinge heute: Klicken Sie hier.

-Über einen Reformator, der wieder in Vergessenheit gerät, Thomas Müntzer, klicken Sie hier. Ein Beitrag von Christian Modehn.

-Über die Aktualität und Gegenwart des Ablasses, klicken Sie hier. Ein Beitrag von Christian Modehn

 

 

Die Welt im Lot: Mondrian. Die Linie’ – Eine Ausstellung im Martin-Gropius-Bau. Ein Gastbeitrag von Christian Langner

Die Welt im Lot: ‘Mondrian. Die Linie’ – eine Ausstellung im Martin-Gropius-Bau

Ein Gastbeitrag von Christian Langner

Am 26. Oktober führte uns, eine Gruppe aus dem Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon und weitere Interessierte, Christian Langner durch die Ausstellung „Mondrian. Die Linie“ im Martin-Gropius-Bau. Für alle, die dabei waren oder die gerade nicht dabei sein konnten, überlässt uns Christian Langner seinen Text, er weckt Verständnis … und hoffentlich Lust, die Ausstellung noch zu besuchen. CM.

Im Martin-Gropius-Bau gibt es eine Buchhandlung, in der auch Designobjekte, früher nannte man das Kunstgewerbe, verkauft werden. Dort finden sich zur Zeit Tabletts, Trinkbecher und Servietten mit schwarzen Linienrastern, mit roten, gelben und blauen Farbflächen auf weißem Grund – und jeder weiß nun bereits, dass hier von Bildern Piet Mondrians die Rede sein wird. Was einmal als Ausdruck einer tiefernsten, religiösen Suche, einer Pilgerreise, ins Werk gesetzt wurde, ist in einer Gesellschaft, der nichts heilig ist und die alles zum Objekt ihrer dekadenten Konsumwünsche macht, zum Markenzeichen und zur banalen Dekoration verkommen. Wer die einmalige Gelegenheit nutzen will, sich in einen Dialog zu begeben mit den Bildern eines der ganz Großen der Klassischen Moderne, muss sich von dieser ‘Rezeptionsgeschichte’ befreien und sollte sich vergegenwärtigen, dass eine andere Ikone der Moderne, die Neue Nationalgalerie, vor 50 Jahren mit einer großen Piet-Mondrian-Retrospektive eröffnet wurde. Sie wäre auch der angemessene Ort für diese Ausstellung. Eng ist die Verbindung der Ideen Mondrians zur Architektur, kongenial der Bau Mies van der Rohes, und dessen war man sich vor einem halben Jahrhundert auch noch sehr bewusst. Nahezu symbolisch muten daher die beiden Buchstaben an, die dort wie ein Menetekel Touristen und Berlinern entgegenhalten: ZU! Wegen Renovierung für Jahre geschlossen. So sind mehr denn je auch die Wege zu Mondrian verschlossen (s.o.) und es gilt, einen neuen Zugang zu finden, sie wieder zu erschließen, sich über unsere neo-biedermeierliche Nippes-Kultur hinweg zu setzen und ihnen ihren Sinn, ihre Bedeutung und ihre Würde zurück zu geben.

Dafür ist diese Ausstellung mit Werken aus dem Gemeentemuseum Den Haag auf ideale Weise geeignet. Bild für Bild macht sie nachvollziehbar, wie traditionell Mondrians Reise begann und in welche kosmischen Weiten ihn seine ‘Kompositionen’ führten, der Entwicklung der Linie folgend, die seit alters her den Geist ins Bild setzt – in Verbindung oder im Gegensatz zur Fläche, zur Farbe, die den Körper repräsentiert. Wie man dem Meer jeden Quadratmeter Land mühsam abringen muss – wer wüsste das besser als Piet Mondrian, Holländer und Küstenbewohner, so erobert Mondrian konsequent neues Terrain auf dem Weg vom (naturalistischen) Abbild zum Bild(zeichen), das seinen Sinn einzig aus und in sich selbst hat ohne deshalb bedeutungslos zu sein. Das hat es bis vor hundert Jahren in der Malerei nicht gegeben und die in diesen Bildern zum Ausdruck gebrachte Sehnsucht nach universeller Harmonie war nicht zuletzt eine Reaktion auf die Verheerungen des (1.)Weltkriegs in den Köpfen und Herzen der Menschen, denen jeglicher verlässliche Grund entzogen war, die ihr seelisches Gleichgewicht verloren hatten.

Mondrian geht von der Natur aus, die ihn umgibt und versucht, durch Reduktion und Konzentration seiner darstellerischen Mittel immer größere Klarheit und Aussagekraft zu entwickeln. Das Meer, die Weite des Horizonts und die Holzpfähle der Buhnen, die Bäume am Strand sind das ganz handgreifliche, sinnliche Ausgangsmaterial, um die dualistischen Lebensprinzipien, ‘weiblich und männlich’, Frieden und Krieg, in einen horizontalen und vertikalen Rhythmus zu übersetzen, der hinter die Sichtbarkeit der Natur blickt, der durch sie hindurch sieht, denn „Inneres macht leben“, jenseits der oberflächlichen Genüsse; aber: „Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen gewesen wäre“. Und so führt der Weg, die Metamorphose in die sichtbare Welt des Geistigen über die vergängliche Welt welkender Blumen (‘Sterbende Chrysantheme’, 1908) in die Sphären reiner Formen und Farben – und gerader Linien im rechten Winkel, wo „die Welt (wieder) im Lot ist“ (Komposition in Oval mit Farbflächen 2, 1914). Das Oval gibt hier den idealen Rahmen, um darin das Unbegrenzte zu Erforschen. Die Lebensaufgabe: Das ‘Gleichgewicht aus Kontrasten’ immer wieder neu herzustellen – Kreuzungspunkte, Knotenpunkte des Lebens in seiner permanenten Bewegung, dabei Proportionen ausmessend zwischen alles sprengender Lebenskraft und harmonischer Balance, zwischen Offenheit und Begrenzung – objektiv, nach Proporz und Portionen ermittelt, ebenso abstrakt (und damit gerecht) wie konkret (und damit menschlich) – nichts weniger als ein Gesellschaftsmodell, in dem die Einheit von Religion und Philosophie, von Wissenschaft und Kunst wieder hergestellt ist.

Wie alle Idealisten ist Mondrian ein Romantiker. Malen ist für ihn deshalb kein Abbilden, sondern ein Sich-vorstellen. Gerade seine logisch-abstrakte Bild-Grammatik ist das Forschungsergebnis intensiver Auseinandersetzung mit den mystisch-theosophischen Strömungen seiner Zeit, besonders wirksam auf dem Hintergrund des strengen niederländischen Calvinismus. Mit seinen Kreuzstrukturen im ovalen ‘Rahmen’ macht sich Mondrian auf in eine asketische Welt gemalter Utopien, wo „die Kunst (als ‘Kunstgenuss’) überflüssig wird“, weil ihre/seine Formeln für sittliches Verhalten in ihrer ethischen Wirkung verstanden, d.h. ‘gelebt’ werden. ‘Kunst’ ist bei Mondrian nicht mehr aber auch nicht weniger (!) als der Weg zum Ziel und er entfernt alles Subjektive, fragt bei jedem Bild neu ‘was ist notwendig, was ist entbehrlich, um das zu bedenken, was (noch) mehr als die Kunst sein könnte?’ So bleibt auch die organische Urform der Natur, das Oval, schließlich zurück, und das (Bau-)gerüst des Lebens, die ‘Architektur der Natur’, tritt immer radikaler in Erscheinung. Mondrian sucht danach „durch die Natur hindurch zu sehen“, in eine Tiefe, wo nicht die subjektive Wahrheit, sondern die Wahrheit hervortritt. Seine Bilder werden dabei zu ‘Gesetzestafen’ (als solche 1925 vom Bauhaus anerkannt) und entfalten in der Architektur einen wegweisenden Lebensraum – eine Erfahrung, die beim Besuch der Meisterhäuser des Bauhauses in Dessau heute wieder nachvollzogen werden kann und damit die lebendige Verkörperung einer wohl geordneten Welt mit humanen, universell gültigen Regeln und Gesetzen. Auf der Suche nach einem harmonischen Ganzen hinter der Macht des Zufalls wird die Ästhetik zum ethischen Maßstab des 20. Jhdts.:“Die Ästhetik bringt uns der Vollendung oder Vollkommenheit so nahe wie wir können (als) die einzige qualitative Form der Erkenntnis.“ (M.Seuphor)

Für den Sitzungssaal des nach diesen Prinzipien der ‘reinen, neu gebildeten Schöpfung’ (mit Neo-Plastizismus so ‘deutsch’ wie missverständlich übersetzt) 1928-31 neu erbauten Rathauses von Hilversum wurde ein repräsentatives Gemälde gesucht. Mondrian bot ‘Im rechten Winkel’ an, eine Komposition, die ausschließlich aus zwei sich kreuzenden schwarzen Linien in einem auf die Spitze gestellten Quadrat bestand. Die Ratsherren hatten eher an etwas im Stile Rembrandts gedacht und reagierten mit Entsetzen und Gelächter auf diesen ‘würdelosen Witz’. Mondrian hatte ihnen ein ernstes Zeichen gegeben, einen Maßstab der Unveränderlichkeit und der verlässlichen Ruhe für verantwortliches Handeln unter den Bedingungen des politischen Tagesgeschäfts voller individueller Interessen und gefühlsgeleiteter Machtspiele. Der Appell an eine ‘rechtwinklige’, rechtschaffene Lebensführung, dem Gemeinwohl verpflichtet in der Suche nach Interessenausgleich, demokratischen Gesellschaftsstrukturen und Lösungen für ein harmonisches Miteinander, war hingegen eine inakzeptable Zumutung. Mondrians Bilder sind eben keine Dekorationen sondern Provokationen.

Christen kennen die Wirkmächtigkeit und den Skandal solcher Zeichen im Symbol des Kreuzes. Und im Grunde wissen sie deshalb auch, dass gerade ‘abstrakte’ Bilder ohne den ‘inneren Dialog’ mit ihrem Betrachter – ohne das Gebet (die Meditation) – totes Holz bleiben. Man kann den Klang dieser Bilder hören, ihre Schwingungen spüren, wenn man bereit ist, an ihnen ‘weltfremd’ zu werden. In ihrer schöpferischen Mehrdeutigkeit und bewusst gestalteten Offenheit sind sie – immer ‘im Rahmen des von ihnen vorgegebenen Möglichen’ – Wegweiser und Wegbegleiter, ähnlich einem Mandala: „Denn ‘das Letzte’ lässt sich nicht in Gestalten bannen“(heinrich Lützeler) – es lässt sich eben nicht abbilden, sondern bildet sich in uns, wenn wir es zulassen.

copyright: Christian Langner

Mondrian. Die Linie

Eine Ausstellung im Martin-Gropius-Bau noch bis zum 6.12.2015

Mi-Mo (Di geschlossen) 10-19 Uhr

11 Euro / Gruppen ab 5 Personen 8 Euro (bis 16 Jahre Eintritt frei)

www.gropiusbau.de

 

Zur Vernunft kommen. Unterwegs zu umfassender Menschlichkeit. Eine Ra­dio­sen­dung auf NDR Kultur

Zur Vernunft kommen. Unterwegs zu umfassender Menschlichkeit. Eine Ra­dio­sen­dung auf NDR Kultur von Christian Modehn

Am Sonntag, den 8. November 2015 um 8.40 Uhr auf NDR KULTUR

Wir sind nie vernünftig. Wir werden es, aber wir müssen uns zur Vernunft aufmachen, ihr entgegenstreben, dabei Kritik, vor allem Selbstkritik, wie einen Kompass gebrauchen. Dann werden Vernunft und Freiheit für alle als Einheit erkannt. Unterwegs treffen wir Irregeleitete, die glauben, die Vernunft gepachtet zu haben. Andere geben Willkür und Egoismus als Leitprinzipien aus. Woher kommt die Energie, sich trotz Elend und Not an der Vernunft zu orientieren? Sie ist für Philosophen auch mit “Licht” identisch; einem Licht, das unzerstörbar ist, solange der Geist lebendig bleibt.

“Christus ist kein nur christliches Phänom”: Spirituelle Aspekte im Werk von Ursula Sax

Spirituelle Aspekte im Werk von Ursula Sax: Die Christusgestalt aus Packpapier.

Ursula Sax, international bekannte Künstlerin, Bildhauerin, lebt jetzt wieder in Berlin, war u.a. auch Professorin an der Dresdner Kunstakademie von 1993 bis 2000. Kürzlich hat sie ihren 80. Geburtstag gefeiert. Sie macht in ihren Arbeiten (aus Metall, Holz, Kunststoff, Ton) das Freie und die Freiheit real und die vielen Möglichkeiten der (Lebens-)Gestaltung. Sie zeigt dabei durchaus das Weiche, nicht das Starre. Ursula Sax hat einen Sinn, wie Räume, mit Objekten gestaltet, erst als Räume gelten können. Sie plante etwa eine begehbare Großplastik für die Grünanlage der Bundes-Minsterien, damals noch in Bonn. Wenig bekannt ist, dass die vielseitige Künstlerin auch Kreuze gestaltet hat – aus Packpapier. Wenn man z.B. spirituell den Menschen Jesus Christus als Gegenwart des Göttlichen in dieser Welt versteht, dann ist eben auch Packpapier ein treffendes, geradezu typisches Material dieses alltäglichen Jesus. Schafft die barocken Heiligenscheine beiseite, gestaltet ihn mit irdischem Stoff, mit Gebrauchspapier z.B., dann kommt man Jesus Christus nahe, sage ich als Theologe.  Bis zum 21. November 2015 sind zahlreiche Arbeiten von Ursula Sax in der Galerie SEMJON CONTEMPORARY zu sehen, in der Schröder Str. 1 in Berlin-Mitte; geöffnet Dienstag bis Samstag von 13 bis 19 Uhr. www.semjoncontemporary.com. Ein neuer Katalog wird dort am 1. November vorgestellt. Danach sind die Arbeiten in Dresden zu sehen (Deutsche Werkstätten Hellerau).

Christian Modehn. Die interessante website von Ursula Sax erreichen Sie beim Klicken hier.

Ursula Sax hat uns ihren eigenen Text zur spirituellen Dimension ihrer Arbeiten zur Verfügung gestellt:

Ich begreife Christus nicht christlich – Christus ist kein nur christliches Phänomen

Von Ursula Sax, Berlin

Mich interessieren alle großen Religionen gleichermaßen.

Im christlichen Kulturkreis bin ich geboren und aufgewachsen – lebe ich.

Die Bibel und die Geschichte Jesu sind mir durch mein Elternhaus sehr vertraut.

Davon nahm ich dann erst einmal Abstand. Ich habe mich in den anderen Kulturräumen umgesehen. Buddha ist mir ebenso eindrucksvoll. Es gibt so herzbewegende Buddhageschichten, Zengeschichten, Sufigeschichten, Christusgeschichten. Die immergleiche Wahrheit, dieselben Appelle an uns. Es gibt viele wunderbare Buddhafiguren, mich ergreifende bildliche Darstellungen der Kreuzigung, innige, von Gläubigkeit und Liebe des jeweiligen Künstlers zeugend, die mich tief berühren.

Ich hätte gerne eine Buddhafigur. Ich wünschte mir ein Kruzifix und manchmal dachte ich, ich sollte das selbst machen, aber ich wusste nicht wie.

Ich habe es ruhen lassen.

Jetzt hat es sich ergeben, dass mir das „unangemessen” schäbige, vergängliche Material Packpapier als Realisierungsmittel für dieses große Thema – das bei uns ja sehr verbraucht und belastet ist und als Gegenstand der Kunst, heute eher als fragwürdig betrachtet wird – gerade recht erschien und eine Formulierung möglich machte.

Christus meint für mich die Überwindung des Egos, die Kreuzigung des Egos, zugunsten einer viel größeren Dimension des Seins, einer Befreiung von den engen Konzepten unserer Welt-und-ich-Vorstellung.

Copyright: Ursula Sax

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My understanding of Christ is not Christian – Christ is not solely a Christian phenomenon

By Ursula Sax, Berlin

I am equally interested in all the major religions.

I was born and grew up in a Christian culture – and live in it.

I am very familiar with the bible and Jesus from my parental home.

I initially distanced myself from it. I explored the other cultural spaces. I am just as attracted to Buddha. There are such heart-rending Buddha stories, Zen stories, Sufi stories, Christ stories. The same unchanging truth, the same appeal to us. There are many wonderful Buddha figures, poignant, heartfelt pictorial representations of the crucifixion that testify to the belief and love of the respective artist which move me deeply.

I would have liked to have had a Buddha figure. I wanted a crucifix, and sometimes I thought I should make one myself, but I didn’t know how.

I left the idea to one side.

Then it occurred to me that the “inappropriate”, shabby, transitory material of packing paper was precisely the right medium for realising this great theme, making a formulation possible – a theme that has become exhausted and as a subject of art now tends to be viewed with suspicion.

For me Christ means transcending the ego, the crucifixion of the ego in favour of a far greater dimension of being, a liberation from our strict concepts of “world and me“.

Copyright: Ursula Sax

 

 

DIE Rede Kermanis in der Paulskirche. Alle beten für die Ermordeten, Verfolgten, Verschwundenen in der islamischen Welt

Alle beten für die Ermordeten, Verfolgten, Verschwundenen in der islamischen Welt

Die Rede Navid Kermanis: Analyse, Appell, Gedenken und … Gebet

Ein Hinweis von Christian Modehn am 18.10.2015 um 14.15 Uhr

In der Frankfurter Paulskirche wurde wieder einmal gebetet. Nicht in einem konfessionellen Gottesdienst, sondern in einer der ganz großen kulturellen, „weltlichen“ Feierstunden, bei der Verleihung des „Friedenspreises des deutschen Buchhandels“ am 18. Oktober 2015 an den großen Navid Kermani. Und alle Anwesenden folgten der Gebets-Einladung des gläubigen Muslims Navid Kermani und erhoben sich – zu stiller Meditation, zum Gebet und – wer das alles nicht so mag – eben zu einem säkularen Wünschen, dem Wünschen des Guten, für die bedrohten und verfolgten und verschleppten und ermordeten Christen in Syrien. Ausdrücklich dem Gebet anempfohlen wurde von Navid Kermani der befreundete verschleppte Jesuitenpater Paolo dall Oglio. Alle Menschen können gemeinsam in tiefer Not angesichts der Weltlage beten und Gutes wünschen, also sich sammeln, auf das Herz hören und der Stimme der Vernunft folgen. Ein solches Ereignis real zu erleben, ist schon, sagen wir es ruhig, ein Wunder. Ein Geschenk des (heiligen, sagen religiöse Menschen) Geistes.

Und daran wird man sich in Deutschland lange erinnern: Da werden die Säkularen und die Christen und die in der Paulskirche wohl nicht sehr zahlreich anwesenden Muslime und Juden aufgefordert, einmal nicht dem üblichen routionierten Applaus am Ende des Vortrags zu folgen, sondern diese eingeschliffene Routine zu unterbrechen, und etwas ganz anderes, ganz Ungewöhnliches, zu tun, eben zu Gott dem Barmherzigen zu beten oder eben Gutes zu wünschen. Die aufgeschlossenen Theologen werden später zurecht zeigen, wie nahe beide Haltungen einander stehen.

Das stille gemeinsame Beten und Gutes Wünschen in Zeiten des globalen Welt-Krieges („denn wir leben bereits im Krieg“, sagte Kermani) erinnerte mich an die Krisenzeit in Prag, an das Ende der kommunistischen Herrschaft, als der katholische Priester und Dissident Vaclav Maly auf dem Wenzelsplatz im November 1989 vor einer halben Million Menschen, die meisten sehr säkular-denkend, wenn nicht kommunistisch, das Vater-Unser anstimmte und einige, die den Text noch ein bisschen kannten, tatsächlich auch mitbeteten. Da wurde nicht Magie betrieben, da wurde kein Wundergott auf die Erde herabgezaubert, die Atheisten mögen sich bitte beruhigen, da wurde die Üblichkeit des alltäglichen Denkens, das oft so dumm und wahnhaft ist, unterbrochen. Eine geistvolle Pause trat ein. Eine Stille, die wie eine Ewigkeit empfunden wurde.

Es war ja auch die Rührung bei Kermani selbst zu beobachten, als er vom Ende der großen muslimischen Kultur fast in der gesamten arabischen Welt sprach, von der Geistlosigkeit der stinkend-reichen ÖL-Staaten, die von Europa in ihrer verbrecherischen Haltung gestützt werden, bloß weil sie ökonomisch dem Westen Profit bringen. Der gemeinsame Gott, so möchte man die Rede Kermanis fortsetzen, ist unter den arabischen Verbrecher-Regierungen wie in den westlichen Kommerz-Regierungen auf je andere Weise eben doch der gemeinsam Gott, das Geld. Wenn die eigene Kasse für die wenigen Privilegierten immer voller wird, dann ist der Respekt vor den Menschenrechten sekundär. Die Anklage Kermanis gegenüber der eher dummen bzw. bloß geldgierigen westlichen Politik gegenüber den arabischen Staaten werden sich hoffentlich die Politiker und die Bürger, die diese Politiker immer wieder „brav“ und unpolitisch denkend wählen, hoffentlich gut merken.

Zurück zu Kermani selbst: Deutschlands Kultur verändert sich, das zeigt dieser Tag deutich, und das ist immerhin ein Lichtblick: Ein weit denkender, frommer Muslim, den Sufis nahe stehend, das Christentum gut verstehend, wenn nicht liebend, ein exzellenter Kenner der islamischen Kulturen von einst, ein solcher Intellektueller hat die Chance, ganz vorn in Deutschland wahrgenommen zu werden. Man wünscht sich dringend, immer wieder und wieder Navid Kermani zu hören und zu lesen. Das philosophische Thema wird uns noch stärker als bisher befassen müssen, nach dieser Rede: Wie braucht die säkulare Kultur tatsächlich auch die religiöse Weisheit? Wie wirkt sie in die Routinen des Alltäglichen befreiend und inspirierend hinein? Man möchte die These aufstellen: Die säkulare Kultur der Vernunft der Menschenrechte braucht doch öfter die Stimme des religiösen Herzens. Aber eben nicht mehr konfessionell-dogmatisch eingesperrt. Man braucht die religiöse Weisheit von weit her, wenn denn diese Stimme so authentisch, so freundlich vermittelt und übersetzt wird, wie von Navid Kermani.

Leider ist der Redetext Kermanis in der Paulskirche erst ab Dienstag abrufbar, der Himmel weiß warum, eigentlich sehr schade,  wo wir doch jetzt alle die Rede nachlesen wollen:

www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de.

Copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

Franzosen, die in den angeblich heiligen Krieg ziehen…

Franzosen, die in den „heiligen Krieg“ ziehen

Ein Hinweis von Christian Modehn

Ein Wort vorweg:

Es gibt in Frankreich eine angesehene Zeitschrift, die sich unabhängig von konfessionellen Bindungen –das Blatt ist selbstverständlich an den großen Kiosken zu kaufen – der Welt der Religionen widmet: „Le Monde des Religions“ ist der Titel. Da klagen immer noch Leute in Deutschland, die von Frankreich wenig (bzw. gar keine) Ahnung haben, dass dort der totale Laizismus herrscht und religiöse Themen in der Öffentlichkeit nicht vorkommen. Das ist natürlich falsch, diese Meinung wird allein schon widerlegt, dass in Frankreich an jedem Sonntag seit Jahrzehnten von 8.30 bis 12 Uhr alle großen Religionen in eigener Verantwortung ! (also Buddhisten, Juden, Muslime, Orthodoxe, Protestanten und Katholiken) ihr eigenes religiöses Programm gestalten können, auf France 2. Und nebenbei nur ganz schnell: Es gibt in Frankreich immer noch eine lesbare, sogar zitierfähige, dogmatisch nicht allzu enge katholische Tageszeitung, La CROIX mit Namen, Auflage ca. 90.000. Zu solchen Leistungen ist die Milliarden-reiche deutsche katholische Kirche gar nicht in der Lage. Bekanntlich sind die Kirchen aufgrund der Trennung von Kirchen und Staat eher „arm“.

Zurück zu dem Heft „Le Monde des Religions“. Dort wurde am 22. 9. 2015 ein interessanter Beitrag auf der website des Blattes publiziert über die jungen Leute, die aus Frankreich in den angeblich „heiligen Krieg“ in Syrien etwa ziehen. Wir wollen den deutschen LeserInnen einige Erkenntnisse dieses Artikels nicht vorenthalten, weil ja leider (!) Französisch eine Sprache in Deutschland (und fast überall) ist, die nur noch Minderheiten sprechen.

Es gibt in Paris ein Zentrum, das sich mit der Prävention gegen das Abgleiten ins Sektiererische im Islam befasst. Es heißt CPDSI, siehe: http://www.cpdsi.fr/. : Dounia Bouzar leitet, vom Innenminister beauftragt (!), diese „Association“, also dieses auf für französische Verhältnisse üblicherweise vereins-mäßig organisierten Präventionszentrum.

Heute haben die jungen Leute, die in den angeblich heiligen Krieg ziehen wollen, ein sehr unterschiedliches Profil, betont Dounia Bouzar. Sie stammen aus muslimischen, christlichen und atheistischen Familien, und „meme juifs“, also selbst aus jüdischen Familien, betont die Leiterin.

Die meisten sind zwischen 14 und 25 Jahre alt. „In diesem Alter haben junge Menschen das Gefühl, gesandt zu sein zur Rettung der Welt“.

Diejenigen, die diese jungen Leute anwerben, sind ganz ins französische Leben integriert. Sie gaukeln den jungen Leuten die wahren Werte der Brüderlichkeit und Solidarität vor.

Das Ziel der seelischen Bearbeitung durch die „Werber“ ist: Die jungen Leute sollen jegliche Vertrauen verlieren in die Welt, in der sie groß geworden sind. Das Motto heißt: „Alle sind hier verdorben, alle lügen. Nur eine Art blutiger Endkampf könne die reale Welt heute noch retten“.

Für diesen Kampf werden die jungen Leute vorbereitet: Sie müssen mit ihrer ganzen bisherigen „Welt“ brechen, mit ihren musikalischen Vorlieben etwa, vor allem aber mit der Familie. In dieser äußerst kritischen Situation hilft es nach Dounia Bouzar gar nichts, noch einen „verständnisvollen Imam“ zu bewegen, mit dem Jugendlichen zu sprechen, um den Jugendlichen von seinem Vorhaben abzubringen. Wichtiger ist die Mitarbeit der Familie, Dounia Bouzar nennt das – in Anlehnung an die Erinnerungs“arbeit“, wie sie Marcel Proust beschreibt, „la madelaine de Proust“. Bekanntlich war beim Erleben, Riechen, Genießen einer Madelaine die Erinnerung bei Proust wach geworden, wie denn die früheren, längst vergangenen Jahre waren. Diese Methode soll versuchen, den betroffenen Jugendlichen an die schönen Zeiten in der Familie und unter Freunden zu erinnern. Es sollen Gefühle geweckt, wie die gemeinsame Vergangenheit früher aussah, es waren doch angenehme gemeinsame Stunden. Erst dann kann ein tieferer religiöser Dialog beginnen.

Dounia Bouzar hat 2015 in dem Verlag “Editions de l Atelier“ (Paris) das Buch veröffentlicht: „Comment sortir de l emprise djihadiste ?“. 160 Seiten, 15 Euro.

Zu dem Beitrag in „le Monde des Religions“ siehe: http://www.cpdsi.fr/actu/dounia-bouzar-le-registre-de-la-raison-est-inefficace-pour-parler-a-un-jeune-embrigade-le-monde-des-religions-fr/

Spiritualität für Atheisten und alle anderen: Die Haikus. Der Philosoph Michel Onfray entdeckt die berühmten „Dreizeiler“ der Zen Tradition

Spiritualität für Atheisten und alle anderen: Die Haikus.

Der Philosoph Michel Onfray entdeckt die berühmten „Dreizeiler“ der Zen Tradition

Ein Hinweis von Christian Modehn

Michel Onfray (Caen, Frankreich) ist einer der besonders umstrittenen und streitbaren und polemischen Philosophen Frankreichs, Autor vieler, zum Teil sehr voluminöser „Geschichten der Philosophie“, zudem ein militanter Gegner des religiösen Glaubens im allgemeinen. Dass er in seiner radikalen Religionskritik oft sehr „daneben liegt“, haben inzwischen philosophische Studien gerade in Frankreich gezeigt. Das hindert Onfray freilich nicht, weiter zu polemisieren und zu pauschalen Urteilen zu kommen. Auch in Deutschland sind seine Bücher verbreitet.

Interessant und sicher wichtig auch für die weitere Diskussion in Deutschland über Spiritualität ist, dass Michel Onfray seit einigen Monaten eine für uns bislang neue, unbekannte Dimension seines Denkens zeigt, eine weniger polemisch-polternde, sondern eben ruhige, sanfte, sensiblere Art: Onfray schreibt Poesie, vor allem Haikus. In diesen Dreizeilern aus alter Zen-Tradition wird die Frage nach Gott offen gehalten, ja, sie kommt gar nicht vor und kann auch im Raum der Zen-Tradition gar nicht vorkommen als solche. Onfray tritt entschieden für die Geltung der Haikus auch in der Jetzt-Zeit ein, wenn er selbst “seine Haikus” schreibt. Er verteidigt zudem das Projekt, dass eigentlich jeder und jede – mühsam und mit Geduld – Haikus schreiben kann. Für Onfray ist eine Voraussetzung dafür die Verbundenheit mit der Natur, die Nähe zu ihr, das Erleben der Natur. In der Stadt, so Onfray, könne er keine Haikus schreiben. Was jedoch problematisch ist, denn sehr viele an Haiku-Spiritualität Interessierte leben nun einmal in Städten. Wer Haikus nur in der Einsamkeit kleiner Dörfer schreiben kann, rückt sie in den Rahmen einer idealisierten ländlichen (alten) Welt.

Aber immerhin, der Vorschlag ist gemacht und verdient umfassende Diskussion: Können Haikus, die schon vielen vorliegenden Haikus der großen Meister aus Japan und Haikus eines Monsieur Onfray und vieler anderer Damen und Herren heute, können diese also eine Basis sein für ein spirituelles Gespräch zwischen Menschen aller Glaubens-Richtungen, also Atheisten, Skeptiker, Mystiker, christlicher Rationalisten usw. Wir im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon meinen ja, Haikus können eine gute spirituelle Basis sein. Wie auch andere Traditionen des Zen, etwa die Tee-Zeremonien, noch entdeckt werden sollten für eine außerreligiöse UND religiöse Spiritualität. Da gibt es noch viel zu tun für unseren privaten und völlig unabhängigen Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin und die viel besser finanziell etablierten Akademien usw. Die Suche nach gemeinsamen Traditionen für Atheisten und Glaubende/Religiöse ist doch nicht ergebnislos und uferlos, die gemeinsame Gesprächs-Basis könnte es bereits geben, wenn man nur diesen Vorschlägen ausgerechnet von Onfray folgen möchte: Schreiben wir Haikus….

Zu den französischen Publikationen Haikus und Poesie von Michel Onfray:

Un Requiem athée (Galilée, 2013). Avant le Silence/Haïkus d’une année (Galilée, 2014). Les Petits Serpents (Galilée, 2015). L’Éclipse de l’éclipse (Galilée, à paraître en 2016).#

Haikus hat die von Martin Heidegger inspirierte Philosophin Ute Guzzoni in ihrem großartigen Buch „NICHTS“ (Verlag Karl Alber) dargestellt und philosophisch interpretiert. Eine anregende und anstrengende Lektüre!