Meine Biografie – meine Theologie.

Meine Biografie – meine Theologie. Hinweise zum Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon am 27. 11. 2015

Von Christian Modehn

Wir danken Prof. Johan Goud aus Den Haag, dass er uns mit seinen Beiträgen im Salon am 27.11.2015 zu Einsichten und weiteren wichtigen Fragen geführt hat.

Das Thema des Abends (mit 26 TeilnehmerInnen) “Autobiografie und Theologie” wird uns auch im nächsten Jahr weiter beschäftigen.

Es ist für mich als Veranstalter des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons Berlin interessant zu sehen, wie stark das Interesse an dem Thema ist. Wir mussten etliche Interessierte leider wegen Platzmangel abweisen. Zugleich wird dabei deutlich, wie in Zeiten der Krise, wie jetzt, der Wunsch wächst, sich über Grundlegendes auszutauschen. Dies sollte in kleinen, überschaubaren Kreisen geschehen, eben in philosophischen Salons.

Zum Salon am 27. 11. 2015 selbst:

Es geht um eine Erkenntnis, die viele ahnen, spüren, aber selten auszusprechen wagen: Als Ausgangspunkt und Quelle der Inspiration von Theologien und auch Philosophien gilt das eigene Leben. Nicht das abstrakte, neutrale, a-historische Ich, befreit von allen Bindungen an Geschichte und Kultur. Sondern das Individuum, die Person, geprägt in einer religiösen oder eben auch einer nicht-religiösen Welt, die sich mit der Frage befasst: „Wer bin ich, wo will ich hin, was ist mir entscheidend wichtig, was ist für mich ein gutes Leben, was will ich in der Gesellschaft sein?“ usw. Wer diesen Fragen nicht ausweicht, kommt oft dazu, seine Autobiografie zu schreiben. Das kann auch „nicht-professionell“ geschehen. Man muss nicht den Ansprüchen der großen „Confessiones“ eines Augustin oder Rousseau nacheifern.

Autobiografie kann in Fragmenten geschehen, oft nur in Gedanken und Meditationen, am besten aber doch in schriftlicher Form. Und dann kommt immer wieder später der Rückblick auf mein Leben, dann zeigen sich in wachsendem Abstand neue Erkenntnisse, dann wird weiter geschrieben, immer im Verzicht auf Banales, Nebensächliches, sondern im Blick auf Entscheidendes, Prägendes, Sinnstiftendes. „Was lässt mich leben?“

Diese Fragen nach der Autobiografie sind keineswegs Ausdruck eines egozentrischen Denkens. Sie sind Ausdruck dafür, dass ich mich – in Gemeinschaft mit anderen – wichtig nehmen soll. Es geht ja um mein Leben, um die Gestaltung (m)eines guten Lebens. Darin wird das angezielt und vielleicht erlebt, was man klassisch-theologisch „Erlösung“ nennen könnte.

Um den Grund der Theologie in meinem eigenen Leben zu erkennen und wahr- zu nehmen, gibt es wohl eine spezifische praktische Einstellung, als Bedingung der Möglichkeit der Wahrnehmung: Dies ist etwa die Praxis der Ruhe, der Gelassenheit. Offenbar zeigt sich dieser gründende Sinn, den manche göttlich nennen, nur, wenn er sich mir schenkt, mich überrascht, als eine Gabe für mich. Welche Rolle spielt dann noch das eigene Aktivsein? Hat Suchen den Anspruch, Wesentliches zu finden? Ist also eine gewisse „passive“ Haltung die Voraussetzung für das Wahrnehmen des „Göttlichen“ in meinem Leben? Auch darüber wurde in unserem Salon gesprochen. Welche Rolle spielen Texte der Poesie, spielt die Musik, die Kunst, wenn ich nach Vertiefung oder Erweiterung meiner eigenen Erfahrungen suche? Wenn ich die Zeugnisse der Kunst usw. wichtig nehme, weil sie ja auch Ausdruck des Lebens sind: Dann entsteht die Frage: Warum werden sie so selten in der religiösen, christlichen Praxis als Quelle wahrgenommen? Warum gibt es weithin diese starre Fixiertheit ausschließlich auf biblische Texte im christlichen Raum, etwa auch in den offiziellen „Gottesdiensten“? Entspricht diese enge Haltung überhaupt noch der „religiösen Globalisierung“ heute? Gott und das Göttliche zeigen sich in der Vielfalt. Aber gibt es ein Kriterium für die Auswahl hilfreicher oder eher verstörender Texte? Kann dieses Kriterium nur ein bestimmtes Verständnis der Bibel sein? Oder auch die selbstkritische Vernunft?

Noch einmal: Die zentrale These, an diesem Abend ausgesprochen, über die weiteres gemeinsames Nachdenken lohnt:

Nur aus der eigenen Biografie wächst der eigene Glaube bzw. die eigene Ablehnung eines religiösen Glaubens. Nur unter dieser Voraussetzung wird „authentische“ Theologie bzw. A-Theologie möglich.

Dann muss die klassische Theologie befragt werden: Ist die abstrakte Gegenüberstellung von Theologie und A-Theologie, von Glaube und Nicht-Glaube, tatsächlich ein wahrer Gedanke, der die gemeinte „Sache“ trifft? Wird da nicht viel zu objekthaft von dem Göttlichen bzw. dem Nichtgöttlichen gesprochen, so, als würde man von vorhandenen Gegenständen reden und mit diesen vergleichend hantieren und gedanklich „probieren“. Die Beschreibungen der positiven Wesenseigenschaften gelten ja nicht Gott als Gott, sondern sie sind Aufforderungen an uns, sozusagen göttliche Eigenschaften zu leben, selbst barmherzig zu sein, Frieden zu stiften, Gerechtigkeit zu praktizieren. Die literarisch bezeugten negativen Eigenschaften Gottes (Rache, Gewalt gegen anders usw.) sind nur historisch zu verstehende Bilder einer noch eher unreif lebenden religiösen Gemeinde, die sich als schwache Gemeinde aufwerten muss, indem sie Andersdenkende – auf Gottes Befehl angeblich – ausschaltet.

Wichtig ist die Erkenntnis: Nicht die Frage: „Gott oder Atheismus? „ist entscheidend, sondern die Art, wie ich, wie wir, als Mensch(en), leben in der Welt: Ist es Liebe und Solidarität, ist es Hass und Diffamierung? Ist die Sehnsucht nach Schönheit wichtiger als die destruktiven Kräfte? Die Antwort ist für jeden vernünftigen Menschen klar. Gibt es also eine neue Ökumene derer, die Liebe und Gerechtigkeit als die oberste Norm ansehen? Dabei ist es diesen Menschen eher zweitrangig, ob sie sich das eigene Leben mit oder ohne Gott begründen.

Sollte es also eine neue Ökumene der Menschen geben, derer, die das Menschliche über alles schätzen, also humanistisch leben? Dabei ist klar, dass es kulturell unendlich viele Ausdrucksformen des Humanismus gibt und geben muss. Aber diese Vielfalt ist immer auch Humanismus, es gibt etwas Universal-Menschliches, es gibt also bei aller Vielfalt einen gemeinsamen „Nenner“ des gemeinsamen „Humanums“. Wären hier Projekte geboten, angesichts des Terrors? Vielleicht gerade als prophylaktische Aufgabe aller Humanisten, Fundamentalismus und anderen Wahn argumentativ zu besprechen und dadurch stark einzuschränken. Dass dies ohne eine Politik, auch Sozialpolitik, des Respekts nicht gelingen wird, ist auch klar.

Mit anderen Worten: Der Humanismus als die sich stets erneuernde und wandelnde Lebens-Philosophie ist die Basis für alle Menschen. Religiöse oder nicht-religiöse Lebensdeutungen und Dogmen gehören an die zweite Stelle! Diese Überzeugung dient dem Frieden, zumal dann die Religionen durch den Geist eines sich stets reformierenden Humanismus sich selbst weiter reformieren, also etwa alle Gewalttexte eigener religiöser Traditionen wissenschaftlich verstehen, aber dann eben existentiell und praktisch beiseite legen.

Wo sind die Räume für einen Austausch solcher Erfahrungen? Das bloße Nachsprechen von vorgefertigten alten traditionellen Lehren, Dogmen usw. ist da wenig hilfreich und führt eher zur Begrenzung der eigenen spirituellen Lebendigkeit.

Diese wenigen, nur skizzenhaften Fragen, die hier notiert wurden, zeigen, welche Dimensionen der Diskussion sich im Laufe des Abends eröffneten, dank der Vorschläge und Beiträge auch von Prof. Johan Goud.   Sein neuestes Buch in niederländischer Sprache hat den Titel „Onbevangen“. Es ist im Verlag Meinema in Zoetermeer, NL, erschienen. 127 Seiten. 15 Euro. ISBN: 978 90 2114386 6

Copyright: Christian Modehn

 

Ist Sicherheit wichtiger als Freiheit? Philosophische Hinweise zu einer aktuellen Debatte

Ist Sicherheit wichtiger als Freiheit? Philosophische Hinweise zu einer aktuellen Debatte

Von Christian Modehn, veröffentlicht am Montag, 23. November 2015 um 14.30 Uhr.

Lesen Sie den Beitrag: https://religionsphilosophischer-salon.de/12557_sicherheit-oder-freiheit-was-ist-wichtiger_denkbar

Ethik oder Religion? Eine Ra­dio­sen­dung im RBB Kulturradio am 22.November 2015 um 9.04 Uhr

GOTT UND DIE WELT am 22. November 2015, RBB Kulturradio, von 9.04 bis 9.3o Uhr,

Ethik oder Religion?     Das Manuskript können Sie bei Interesse bestellen: religion@rbb-online.de

Was den Frieden fördert. Mit Beiträgen von Prof. Karl-Josef Kuschel, Tübingen, Prof. Wilhelm Gräb Berlin; Prof. Anne Eusterschulte, Berlin; Prof. Mouhanad Khorchide, Münster und anderen.

Von Christian Modehn

Nehmt die Religion nicht so wichtig, betont der Dalai Lama in seinem neuesten Buch: „Für ein friedliches Zusammenleben kommt es vor allem auf die Ethik an, sie gilt für alle, auch für Atheisten“. Aber eine universale Ethik der Menschenrechte ist heute nicht selbstverständlich. Damit sie sich durchsetzt, sollten auch die Religionen ihren Beitrag leisten und sich auf hilfreiche Traditionen religiöser Moral besinnen. Denn die enthält jede Religion – keine basiert im Kern auf Hass und Gewalt. Zugleich geht Religion über ethische Weisungen hinaus und lässt sich nicht durch eine rein humanistische Ethik ersetzen. Ihre Spiritualität weckt das Gespür fürs Transzendente und Göttliche. Dadurch wird der „absolute Wert“ eines jeden Menschen betont, auch das ist ein Beitrag für eine gerechtere Welt.

 

Schuldig. Und mit-schuldig? Philosophische Fragen, um den Terrorismus in Europa besser zu begreifen

siehe den Beitrag: http://religionsphilosophischer-salon.de/7106_den-terrorismus-philosophisch-begreifen_denkbar

oder klicken Sie hier.

 

 

 

Den Terrorismus in Frankreich philosophisch begreifen

Den Terrorismus in Frankreich philosophisch begreifen

Hinweise von Christian Modehn veröffentlicht am 18. November 2015.

Nachtrag am 30. November 2015:  Nun hat ein weiterer kompetenter Autor unsere Darstellung unterstützt: “Der Tagesspiegel” veröffentlicht am 27. 11. 2015 ein Interview mit dem französischen Künstler Kader Attia, klicken Sie zur Lektüre dieses sehr wichtigen Beitrags hier. (Das Interview führte Fabian Federl). Die Äußerungen Kader Attias sind schlicht erschütternd: Die meisten französischen Banlieues, in denen er selbst groß wurde, sind eigentlich “Anti-Städte”, Orte der Verzweiflung, des Todes, der Kriminalität. Kader Attia im “Tagesspiegel”:” In Frankreich herrscht seit Jahrzehnten eine Art soziale Kolonisierung. Der Riss zwischen den ärmer werdenden Armen und den reicher werdenden Reichen sorgt dafür, dass die Armen (Einwanderer aus Nordafrika vor allem C.M.) sich dominiert fühlen”.  Und weiter folgen Beurteilungen, die wir schon in unserem Beitrag erwähnt haben.”Die weißen, wohlhabenden Männer, die in Frankreich in Machtpositionen sind, sind meist so von diesen Problemzonen entfernt, geografisch und mental, dass es ihnen egal ist, wenn sich dort junge Männer zu Kämpfern rekrutieren lassen”. Soweit  “Der Tagesspiegel”.

Dies ist mein Beitrag vom 18. November 2015. Grundsätzliches vorweg: Der Terror – Attacken in Paris am 13. 11. 2015 sind wie alle terroristischen Gewalttaten abscheulich. Das ist überhaupt keine Frage. Die Terroristen haben das Leben in Paris vieler unschuldiger Menschen ausgelöscht. Das ist ein Verbrechen! Und Verbrecher müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Zu dem Punkt gibt es keine Debatte.

Und eine weitere Erkenntnis vorweg, die heute von einigen kritischen Beobachtern, auch in Frankreich, geteilt wird: Mit dem 13. November 2015 hat in Frankreich eine neue Epoche begonnen, eine neue Epoche, die von Krieg bzw. ständigen Kriegs-Reden, die schon jetzt der “Feldherr Hollande” praktiziert, bestimmt sein wird, so eine Einschätzung von des Pariser Soziologen Prof. Michel Wieviorka. Eine neue Epoche, die sich mit zunehmender Macht bzw. Herrschaft der Rechtsradikalen (FN von Marine Le Pen) auseinander setzen muss; eine neue Epoche, in der in Frankreich der “rassistisch-xenophobe Diskurs schon jetzt kaum zu ertragen ist” (Michel Wieviorka); eine neue Epoche, die wegen der zuvor genannten Entwicklungen ein Ende Europas, der Idee eines vereinten Europas, bedeuten kann. Und damit zu einem neuen, alten rigiden und dummen kriegerischen Nationalismus in Europa wieder führt. Einem Nationalismus, der die eigenen Bürger in einem Getto der Angst leben lässt und die individuellen Freiheiten weiter einschränkt. (Die Zitate von Prof. Michel Wieviorka, Soziologe, Paris,  stammen aus einem sehr wichtigen Interview der “SZ”, 19. November 2015, Seite 11).

Aber es muss eine weiterführende Debatte geben aus philosophischer Sicht, die bekanntlich niemals nur abstrakt auf ein einzelnes Phänomen blickt, in dem Fall ausschließlich auf den „absolut bösen“ Terror oder die „absolut bösen“ Terroristen. In dieser Haltung entstehen in Westeuropa nur abstrakte Positionen, etwa: Dass sich die attackierte Seite (Europa) als die absolut gute Seite sieht, die nun an Krieg und an Auslöschung der Täterseite denkt. Dabei aber offenbar übersieht, wie unberechenbar vielfältig die Täterseite ist und wie diese europäische Antwort kriegerischer Gewalt nur die Aktionen der Täterseite wiederholt. Und diese Täterseite wird dann bei dieser europäischen Gewalt zweifelsfrei noch heftiger und unberechenbarer agieren. In dieser Verklammerung eines verengten Denkens wird es nur weitere Gewalt geben, weiteren Hass, weitere Degradierungen usw. Das heißt: Der schnelle und stolze und hoch beleidigte Ruf in Paris und anderswo nach Krieg fördert alles andere als den Frieden. Die angeblich so Wohlwollenden und Reinen und Guten, also die Europäer, wollen “die Bösen” auslöschen, morden, zerreißen, wie auch immer. In Zeiten, die eigentlich der Vernunft und Aufklärung entgegenstreben sollten, ist dieser Kriegsruf der Europäer ein Skandal. Darin steckt eine maßlose Überschätzung der eigenen „Reinheit“. Als fällt den Gebildeten und Aufgeklärten nichts anderes mehr ein, als die Schlachtrufe der „Bösen“ ihrerseits zu wiederholen und zu verschärfen. Und so wird die Spirale der Gewalt weiter in immer schlimmere Dimensionen ausgebaut. Kein Ende ist dann absehbar.

Philosophische Betrachtungen sind also immer auch dialektisch, d.h. sie sehen immer Zusammenhänge, sehen die Täter, sehen aber auch die Opfer, sehen aber auch die Verantwortung der Opfer dafür, dass die Täter so wurden wie sie wurden. Philosophie fragt nach der Verklammerung (und der möglichen friedlichen Auflösung) der Täter-Opfer-Beziehung. Dann aber wird zweifelsfrei klar: Die Täter sind AUCH zu Tätern geworden durch die Art und Weise, wie sie und die meisten ihrer Familien in Europa, etwa in Frankreich, Belgien oder Deutschland aufgenommen und behandelt wurden. Natürlich gibt es keinen automatischen Übergang von den miserablen Lebensbedingungen der meisten aus Nordafrika stammenden Menschen zur Gewalt. Aber schon die neunziger Jahre waren von Krawallen geprägt, es gab die “Rituale” der brennenden Autos dort seit 2005.

Es gilt also, so schmerzlich die Erkenntnis auch für Franzosen und Europäe ist, eine gewisse Mitschuld Europas anzuerkennen, ein Mitschuld der Staaten, der Sozialpolitik hier, der so genannten „Integrationspolitik“ usw. Über die Jahre lange Diskriminierung der Ausländer, der Muslime zumal, ist viel Vernünftiges geschrieben worden von Soziologen und Politologen und Sozialarbeitern usw. Nur: Deren gemeinsame Grundthese, vereinfacht gesagt: „Europa tut viel zu wenig für die Integration der Ausländer“ wurde von den Politikern kaum gehört und selten umfassend genug respektiert. Man hat den Eindruck, viele Politiker ignorieren und ignorierten einfach wissenschaftliche Grunderkenntnisse und stolpern so in Kriege hinein. “Es macht mich fassungslos, dass nichts gegen den Ausschluss in den Banlieues getan wird. Wieso wird es vom Staat so lax gesehen, dass ihm eine komplette Bevölkerungsgruppe verloren geht”, sagt der oben schon genannte französische Künstler Kader Attia im “Tagesspiegel”… “Wohin” ihm, dem Staat, der Republik!,  etliche Menschen dieser ausgeschlossenen Bevölkerungsgruppe hin “verloren” gehen, ist nun bekannt.

Philosophie als „die Zeit in Gedanken fassend“ (Hegel) erinnert an Fakten, um dann die eigenen Evidenzen zu illustrieren:

Nehmen wir die Situation der nordafrikanischen, oft muslimischen Einwohner in Frankreich, etwa im Umfeld von Paris: In den meist miserablen Neubauvierteln der Banlieues aufgewachsen, erleben sich auch heute viele junge Leute als Ausgegrenzte. Sie verstehen sich als Opfer in der herrschenden (westlichen, christlichen, atheistischen wie auch immer) europäischen Gesellschaft. Sie sehen sich als Benachteiligte, in vielerlei Hinsicht, nicht nur im Bildungsbereich. Sie fühlen sich benachteiligt, weil sie etwa aufgrund der Immobilien-Spekulation aus ihren Wohnungen in Paris-Zentrum in die Ferne hässlicher Satellitenstädte vertrieben wurden, in denen man von der freiheitlichen Kultur der Reichen und Schönen in Paris nur noch träumen kann. Viele dieser Unterbringungen für Tausende in den Hochhäusern der Banlieues sind von Paris, also der lebendigen Metropole, abgekoppelt, etwa vom Netz der öffentlichen Verkehrsbetriebe. Die kulturellen Angebote sind in den Banlieues minimal, Restaurants, die den Namen verdienen, sind kaum vorhanden. Wer sich mit seinem Namen, notgedrungen, als Araber outen muss, wenn er sich bei einer Firma bewirbt und dann noch als Wohnadresse das Departement Postleitzahl 93 für das Département Saint-Denis angeben muss, hat überhaupt keine Chance, in die engere Auswahl zu kommen. Das wird immer wieder belegt. Der weltbekannte französische Soziologe Michel Wieviorka betont, die Banlieues seien ein “katastrophal gescheitertes Projekt”. Zuerst lebte dort auch noch eine aufstrebende Arbeiter- und Mittelklasse französischer Herkunft. “Die zogen dort weg, sobald sie es sich leisten konnten. Nur die Verlierer (also die Menschen mit arabischen, muslimischen Wurzeln) sind geblieben”…. “Sie haben in der französischen Gesellschaft keinen Platz gefunden”.

Wenn Anerkennung und soziale Akzeptanz fehlen, neigen Menschen grundsätzlich zu Aggression und Gewalt. Der Freiburger Neurowissenschaftler und Psychiater, Prof. Joachim Bauer, weist auf ein wissenschaftlich gut gesichertes Faktum hin: “Als stärkste menschliche Triebkraft identifizierte die moderne Hirnforschung das Streben des Menschen nach sozialer Akzeptanz, Anerkennung und Zugehörigkeit”. Es werden Schmerzzentren aktiv, wenn sich eine Person sozial ausgegrenzt fühlt. “Das menschliche Gehirn reagiert auf soziale Diskriminierung also ähnlich wie auf einen körperlichen Angriff … und so wird die Aggressionsbereitschaft erhöht”. Wenn aber große soziale Ungleichheit besteht und sich Millionen Menschen unterlegen, mißachtet und ausgegrenzt wissen, wächst das Leiden derer, die nicht dazugehören dürfen … aufgrund der Politik der Herrschenden. Man bräuchte also auch aus psychiatrischer Sicht eine Veränderung der europäischen Gesellschaften, man bräuchte vor allem Zugangsmöglichkeiten für ausgegrenzte junge Leute zu Bildung und Arbeit. Das ist zumindest genau so wichtig wie der Einsatz modernster tötender Waffen gegen den IS. Und diese Erkenntnis gilt weltweit: “Darum brauchen wir – im Kampf gegen die Terroristen –  globale Gerechtigkeit und ein Ende all dessen, was in vielen Ländern als Ausbeutung und Demütigung erlebt wird”. Aber offenbar ist das Kriegführen einfacher als die langandauernde, konsequente Gestaltung einer gerechen Gesellschaft! Die Zitate von Prof. Joachim Bauer stammen aus “TAZ” vom 21./22. November Seite 11.

Das zumeist erniedrigende Leben der arabischen/muslimischen Mehrheit in den Banlieues ist vom französischen Staat zugelassen und wahrscheinlich auch gewollt. Man möchte „diese Leute“ bitte nicht in den Zentren der Stadt Paris oder Lyon oder Marseille oder Toulouse wohnen lassen. So fühlen sich Menschen arabischer Herkunft förmlich als Menschen zweiter bzw. dritter Klasse. Sie sind bestenfalls als Putzkolonnen oder als unterbezahlte Tellerwäscher in den Luxus-Restaurants willkommen. Wenn in der Pariser Metro Kontrollen geschehen, gilt das Hauptinteresse den Schwarzen. Und über die Rechtslastigkeit der französischen Polizei (Nähe zur Front National) wurde schon oft berichtet.

Der aus einer nördlichen Vorstadt bei Paris stammende Fotograf und Künstler Kader Attia (Kind algerischer Eltern) hat in Algier Jugendliche beobachtet und fotografiert, wie sie Stundenlang ins Mittelmeer starren und träumen … vom besseren Leben im gegenüberliegenden Frankreich. Kader Attia schreibt: „Ich frage mich, ob die jungen Menschen auf meinen Fotos aus Algier, die den Horizont in der Hoffnung nach einem Ausweg absuchen, wissen, in welch trostloser Umgebung sie letztlich in Frankreich landen werden. Da wie dort die gleiche Hoffnungslosigkeit, die gleiche sexuelle Frustration, der gleiche Mangel an Anerkennung, das gleiche Gefühl des Versagens und des Leidens“ (aus „Zeit Magazin“, 13. November 2015). Zu ähnlichen Einschätzungen kommt der in Paris lebende Politiker Daniel Cohn-Bendit, er spricht sogar, so wörtlich, von einem “System der Apartheid in den französischen Vorstädten”: “Manche Jugendliche in den Banlieues wachsen in mehreren Generationen der Arbeitslosigkeit in weitgehend abgehängten Stadtvierteln heran. Die begreifen das als eine Art sozialer Stadtviertel Apartheid…Man muss die soziale Apartheid, die ungleichen Chancen, die man hat, je nachdem aus welchem Viertel du stammst, in Frankeich überwinden”. (So Daniel Cohn-Bendit in einem Interview mit der “TAZ” vom 21./22.November 2015, Seite 13). Diese Apartheid ist staatlich gewollt oder zumindest über Jahre und Jahrzehnte zugelassen!

Dabei ist die seit Jahrzehnten dauernde Ausgrenzung “der” Ausländer, “der” Muslime, in Frankreich leider nur ein Beispiel. Etliche Attentäter vom 13. November 2015 haben in Molenbeek, einem vernachlässigten und von Armut geprägten Viertel im Zentrum einer der reichsten Städte Europas, in Brüssel, gelebt. Johan Leman, ein erfahrener Sozialarbeiter in Molenbeek, berichtet z.B., er habe bereits in den neunziger Jahren Polizei und Justiz auf eine extremistische Moschee in Molenbeek aufmerksam gemacht. Die Reaktion der Behörden, so Leman: “Wir wissen jetzt, wo diese Leute sind, das ist gut. Wir sollen nicht eingreifen, sonst tauchen sie ab”. Von dieser Mentalität waren also die staatlichen Behörden bestimmt. Prof. Dirk Jacobs von der “Université libre de Bruxelles, ein Spezialist für marokkanische Einwanderung in Belgien, betont: “Unsere Einwanderer sind nicht anders als die in Deutschland oder Frankreich. Aber sie fühlen sich von den radikalen Botschaften der salafistischen Prediger angezogen, weil sie hier abgelehnt werden. Wir (Belgier) sind nicht schuld an den Verbrechen der Salafisten aus Molenbeek, aber wir haben den fruchtbaren Boden bereitet”, will heißen: Wir Belgier haben durch unsere offizielle und staatlich betriebene Ausgrenzung den Boden bereitet für den Radikalismus, den Salafismus, in den diese orientierungslosen jungen Männer dann geraten sind. Diese Zitate zu Molenbeek stammen aus einer empfehlenswerten Reportage des “Tagesspiegel” vom 18.November 2015, Seite 3. Das ist nur ein Hinweis auf die Realität des Milieus, aus dem auch die jungen Terroristen des IS stammen. Es ist deprimierend, aber es ist wohl wahr: Die westliche Gesellschaft hat sich die Terroristen zu einem guten Teil selbst erzeugt, über Jahre und Jahrzehnte, in denen der Ausschluss dieser „Ausländer“, dieser „Fremden“, dieser „Anderen“ förmlich eine kulturelle Tradition wurde, in der es bessere, wertvolle Menschen gibt und eben solche, die nicht besser und nicht so wertvoll sind. Dieses Phänomen ist international zu beobachten, in Lateinamerika sprechen Soziologen und Philosophen von den „Herren-Menschen“, die sich in ihren Luxusvillen verbarrikadieren. Zu Frankreich: Man lese bitte kritische soziologische Studien schon aus den 1980 Jahren, in denen bereits die ganze Misere der Ausgrenzung dieser Menschen zweiter Klasse beschrieben wurde. Soziologen haben das dokumentiert, aber kein Politiker hat das offenbar gelesen oder man wollte diese Erkenntnisse ignorieren, weil man mit den Augen der reichen Clientèle in Paris, der Luxus-Metropole, die Wirklichkeit betrachtet.

Zu sprechen wäre auch von der Unmöglichkeit, dass muslimische Gemeinden würdevolle Moscheen bauen dürfen in den Städten. Baugenehmigungen ziehen sich normalerweise 15 Jahre hin. Jetzt ist viel von den Hinterhof – Moscheen in Paris und den Banlieues die Rede: Aber diese Hinterhof-Moscheen, diese alten Lagerhallen und Quasi-Ruinen,  waren ja offiziell von der Regierung gewollt! Muslime sollten eben im Hinterhof beten oder manchmal noch auf den Straßen im 18. Pariser Arrondissement.

Wer den Kontext, auch den sozialen, auch den historischen Kontext, betrachtet, kann sich kaum der Überzeugung enthalten: Dieser Terror ist in einem über Jahrzehnte gewachsenen feindseligen Milieu (der Vertreibung in die Banlieues) entstanden, in dem die Muslime bzw. Araber/Türken förmlich das Gefühl entwickeln mussten, zweitrangig und minderwertig zu sein. Und jetzt der große „Umschlag“: Diese sich degradiert fühlenden Menschen, junge Männer, können plötzlich im Rahmen der Terrororganisation IS allmächtig werden, sie können sich enorm stark fühlen, als Herren über Leben und Tod im wörtlichen Sinne, sie können sich an ihrer “Allmacht” förmlich berauschen.

Diese Erkenntnis soll diese schrecklichen Taten vom 13. November in keiner Weise entschuldigen, aber sie fördert das Verstehen: Diese Menschen sehen sich als ungerecht behandelte Opfer des demokratischen Systems. Diese Menschen erleben westliche Politiker, die ständig von Menschenrechten im allgemeinen sprechen, aber gern mit Verbrecher-Regimen, wie Saudi-Arabien, Waffenhandel betreiben, um die eigene europäische Wirtschaft boomen zu lassen. Thomas Assheuer, Redakteur in der Wochenzeitung „DIE ZEIT“ schreibt in einem Beitrag über den kürzlich verstorbenen Kulturanthropologen René Girard (am 12. November 2015, Seite 46) treffend: „Wer sich als Opfer fühlt (oder es tatsächlich ist), der verfällt leicht einem mörderischen Unschuldswahn und glaubt, seine Rache sei moralisch gerechtfertigt“.

Was sollte getan werden? Prävention wäre das erste. Also: Schützt die jungen ausgegrenzten und oft verzweifelten jungen Muslims vor den Salafisten. Bietet ihnen neutrale Räume zur Bildung, fördert das Gespräch mit der Gesellschaft, gebt ihnen Arbeit. Habt den Willen dazu, das auch zu tun. Fördert den Dialog mit anderen Gruppen der Gesellschaft, den Kirchen, den NGOs, den Gewerkschaften …

Zeigt den jungen ausgegrenzten Leuten, dass der einzige Bezugspunkt zur Ausbildung einer eigenen Identität niemals nur die Moscheen-Gemeinde sein kann, niemals allein der Glaube an Allah, niemals allein die Verehrung des Koran. Deutlich muss werden: Religion ist ein kleiner Teil im Leben eines Menschen. Wichtiger ist die zivile, die bürgerliche, die laizistische Ausbildung. Also die lebenspraktische Kenntnis, das Wissen, was Demokratie eigentlich sein könnte. Dieser Erkenntnis sollten sich selbstverständlich auch christliche und jüdische Menschen anschließen!

Solche Bildungsprogramme als Präventiv-Projekte sollten sofort starten, sollten sofort mit vielem Geld gefördert werden. Solche Präventiv-Projekte sind „billiger“ als die Kriege.

Und die Kirchen in Europa? Sie könnten endlich begreifen, dass Gebete um den Frieden recht nett sind, aber faktisch nicht ausreichend sein können. Es geht jetzt nicht nur um die Beruhigung der Seele im Gebet, sondern um solidarisches Handeln. Und was soll das Bittgebet? Europäer bitten (ihren) Gott um Hilfe für ihre eigene Sache. Muslime und Salafisten bitten (den angeblich) selben Gott um Hilfe für ihre eigene, etwa die salafistische Sache. Wie soll sich Gott da bloß entscheiden? Besser als Gebetszeiten wären wohl Gespräche, Informationen, Dispute, auch mit Politikern. Aufklärung tut not (und private innere “Einkehr” und friedliche Meditation).

Also neues Handeln, Tun des Neuen, wäre wichtig: Warum nicht auch von kirchlicher Seite, bei den Milliarden-Euro-Haushalten aus Kirchensteuern in Deutschland. Warum also nicht von kirchlicher Seite allgemein-bildende, nicht konfessionelle Schulen bauen, Sprachkurse einrichten? Die während der Woche ständig leer stehenden Kirchengebäude so umgestalten, dass dort Kurse und Feiern und Begegnungen stattfinden? Damit diese Menschen die so genannte freiheitliche Ordnung europäischen Lebens kennen und schätzen lernen. Und auch berufliche Perspektiven finden.

Der bekannte und anerkannte Islamismus Experte Ahmad Mansour wirft der hiesigen Politik Versagen auf der ganzen Linie vor, also Mitschuld am Entstehen des Terrorismus. Mansour schreibt (in „Der Tagesspiegel“ vom 18.11. 2015) sehr treffend: „Wird jetzt in Europa nicht umgedacht, gehandelt, investiert, dann werden manche Entwicklungen irreversibel sein. Dann könnten dem Land Deutschland Pariser Verhältnisse bevorstehen“

Es geht also darum, Evidenzen der Vernunft zu akzptieren und ihnen praktisch zu folgen:

Evident ist, d.h. zweifelsfrei zutreffend: Kriege werden den Terrorismus der Islamisten nicht beenden, bestenfalls kurzfristig eingrenzen.

Evident ist: Europa ist aufgrund einer Jahrzehnte langen falschen Sozialpolitik gegenüber den „Ausländern“ mitschuldig (also AUCH, aber nicht allein, schuldig) geworden am Entstehen des Terrorismus. Wer bereit ist, eigene Schuld einzugestehen, kann sich eher entschließen, einen neuen, einen besseren Weg zu gehen. Gilt das auch für Politiker?

Evident ist: Allein sofortige Projekte der Gewalt-Prävention und vor allem intensive Bildungsarbeit können das weitere Entstehen terroristischer Mentalitäten und Praktiken verhindern.

Evident ist: Für Menschen aus islamischen Kulturen kann die Moschee unmöglich der einzige Bezugspunkt sein in der Suche nach Lebenssinn. Der Koran sollte niemals das einzige Buch sein, das diese Menschen lesen.

Evident ist: Mit verbrecherischen Regierungen im arabischen Raum muss Europa ganz anders umgehen. Diese Oligarchien/Diktaturen müssen auch ökonomisch, im Waffenhandel etwa, isoliert werden, selbst wenn dadurch vielen Europäern eine gewisse Umstellung hinsichtlich ihres Reichtums zugemutet wird.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Welttag der Philosophie: “Meine Biographie und mein Glaube, meine Spiritualität”.

Zum Welttag der Philosophie 2015 am 19. November 2015:

Der „Religionsphilosophische Salon Berlin“ hat regelmäßig am “Welttag der Philosophie” eine eigene Veranstaltung angeboten.

In diesem Jahr können wir an dem von der UNESCO weltweit geförderten Tag selbst, also am Donnerstag, den 19. November 2015, keine eigene Veranstaltung anbieten.

Erfreulicherweise ist der Religionsphilosophische Salon am 27.11. 2015 AUSGEBUCHT. Alle bisherigen Anmeldungen (bis zum 24.11.) werden selbstverständlich berücksichtigt. Bitte um Verständnis, aber 1. sind die Raum – und Sitzzplatzkapazitäten begrenzt. Und 2. soll im Salon die Gesprächsmöglichkeit unbedingt -bei kleinerer Anzahl der TeilnehmerInnen – erhalten bleiben.

Dafür laden wir ein, etwas später, zu einem speziell religionsphilosophisch relevanten Thema am Freitag, den 27. November, um 19 Uhr in die Galerie Fantom, Hektorstr. 9 in Berlin-Wilmersdorf. Professor Johan Goud von der Universität Utrecht, Niederlande, Theologe und Kulturwissenschaftler, wird mit uns die Frage erörtern: Welche Bedeutung hat die eigene, die individuelle Biographie und dann auch meine schriftliche Autobiographie für das eigene religiöse Bewusstsein und damit auch für die Theologie. Anmeldungen bitte an: christian.modehn@berlin.de

Es geht um ein Ernstnehmen des je eigenen individuellen Glaubens gegenüber der vorgegebenen dogmatischen Glaubenswelt. Angesichts der viel besprochenen Krise des kirchlich gebundenen Glaubens ist dies ein dringendes Thema.

Für die Raummiete bitten wir um 5 Euro. StudentInnen haben freien Eintritt.

Zu den Veranstaltungen anläßlich des Welttages der Philosophie klicken Sie bitte hier.

 

 

Warum ist die Ewigkeit verschwunden? Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb.

Drei Fragen an Professor Wilhelm Gräb im November 2015

Warum ist die Ewigkeit verschwunden?

Unser üblicher Umgang mit Leben und Sterben. Aktuell nicht nur angesichts des Totensonntags/Ewigkeitssonntags.

Die Fragen stellte Christian Modehn

1. Es ist ein umfassendes Thema, aber wir sollten es einmal an-denken: Für die meisten Menschen in der westlichen Welt, vor allem in Europa, ist die über Jahrhunderte gültige Überzeugung verloren gegangen: „Es gibt eine Ewigkeit, für mich und die anderen“. Waren denn unsere Vorfahren so primitiv, so naiv, wenn sie meinten: Dieses Leben, oft so schmerzvoll, oft so brutal von Gewalt und Krieg abgebrochen, dieses Leben kann nicht mit dem Tod enden? Gehört zu einem modernen Glauben auch die Neufassung einer alten Überzeugung: Mit dem Tod treten wir in eine, wie immer geartete, natürlich im Detail unbekannte, Ewigkeit?

Ich bin ebenfalls der Meinung, dass die Alten keineswegs nur aus purer Naivität, Gutgläubigkeit und Wunschdenken von dieser starken, realistischen Ewigkeitshoffnung erfüllt waren. Auch ihnen war klar, dass wir über die Dinge, die jenseits unserer Erfahrung liegen, nichts wissen können. Schon im Neuen Testament wird die Frage verhandelt, ob die Menschen nicht sehr viel energischer mit dem ewigen Leben und den möglichen Konsequenzen, die das hat, rechnen würden, wenn schon einmal jemand aus dem jenseitigen ins diesseitige Leben zurückgekehrt wäre (Lukas 16, 27-31) Dass die Ewigkeit eine andere als die zeitlich erfahrbare Wirklichkeit bedeutet, eine Wirklichkeit, zu der wir nur im Glauben und Hoffen den Zugang haben, war auch den Alten klar.

Aber im Unterschied zu uns Heutigen hatten sie mit diesem Glauben an ein ewiges Leben nicht so große Schwierigkeiten wie wir. Ganz offensichtlich fiel es ihnen leichter, die Grenzen des Wissens anzuerkennen und dem Glauben Platz zu machen. Allerdings, damit spiele ich auf Immanuel Kant, den großen erkenntniskritischen Philosophen der Moderne an: Kant hat zwar energisch dagegen Einspruch erhoben, das moralische Handeln an eine Gehorsamspflicht den göttlichen Geboten gegenüber zu binden. Er behauptete jedoch ebenso entschieden, dass wir unseren zum moralischen Handeln motivierenden Gerechtigkeitssinn wie unser Glücksverlangen nur in Verbindung mit dem Ewigkeitsglauben aufrechterhalten können.

Jedes Lebens bleibt fragmentarisch. Es bricht oft viel zu früh und gewaltsam wieder ab, ohne jede Chance, seine Erfüllung auch nur ansatzweise zu finden. Was ist mit dem, worauf auch dieses Leben ausgegangen war, wofür es gekämpft und sich eingesetzt hat, was es gewollt und worauf es gehofft hat? Ist es damit im Tod aus und vorbei, somit alles, was diesem Leben wichtig und erstrebenswert war, vergeblich und sein Sinnvertrauen eine bloße Selbsttäuschung gewesen?

Dem wollen wir spontan widersprechen. Auch wir Heutigen glauben eigentlich nicht, dass die Hoffnung auf Gerechtigkeit ein bloßes Trugbild ist und alles, was uns wichtig ist, letztlich doch sinnlos gewesen sein wird.

Wenn ich mich nicht irre, behaupten tatsächlich auch heute nur wenige Menschen, dass für sie mit dem Tod „alles aus“ sei. Kaum einer sagt das laut. Und wenige glauben es wohl wirklich. Nicht von ungefähr sind westliche Formen des Reinkarnationsglaubens sehr verbreitet. Oder es werden Vorstellungen von einer seelischen bzw. geistigen Fortexistenz von den Alten übernommen und mit neuen Metaphern weiter entwickelt. Die Vielfalt der individuellen Jenseitsvorstellungen ist heute enorm groß.

Und ich meine, es ist den Menschen heute, wie schon den Alten, dabei völlig klar, dass dies Vorstellungen sind von einer Wirklichkeit, von der wir uns eigentlich keine Vorstellung machen; zu der in Gedanken uns zu verhalten wir aber ebenfalls nicht unterlassen können. Wir Menschen, die wir wissen, dass wir sterblich sind, müssen zugleich immer auch über die Todesgrenze hinaus denken, weil wir sonst einzugestehen hätten, dass das Leben, das wir hier und jetzt haben, eine einzige „Krankheit zum Tode“ (Kierkegaard), damit letztlich alles vergeblich und umsonst gewesen ist.

Wir können uns freilich auch zu diesem nihilistischen Eingeständnis durchringen. Denn es gibt keine wissensbasierten Argumente, auf deren Basis ihm zu widersprechen wäre. Aber bekömmlich dürfte dies kaum jemandem sein. Es ist vielmehr sehr viel vernünftiger und unserem alltäglichen Lebenspraxis auch sehr viel entsprechender, an ein – wie auch immer geartetes – ewiges Leben zu glauben.

2. Ewigkeit meint ja nicht die Fortsetzung der üblichen Zeit in himmlischen Sphären. Ewigkeit meint eher die dauernde, sich unendlich gebende Gegenwart. Diese Gegenwartserfahrung als Heraustreten aus der Zeitstruktur erfahren wir in unserem alltäglichen Leben schon immer: In Momenten der Liebe, des Glücks, der Begegnung mit Kunst. Haben wir von daher nicht alle Veranlassung, eine andauernde Gegenwart des Geistes anzunehmen – auch nach dem Tod?

Die Ewigkeit, das ewige Leben, ist nicht, wie Sie zu Recht sagen, die unendliche Verlängerung des zeitlichen Lebens. Die Ewigkeit ist das unendliche Gewicht der Zeit, die unendliche Bedeutsamkeit des zeitlichen Lebens. Deshalb resultiert der Ewigkeitsglauben daraus, dass die Dinge dieses Lebens, das wir hier und heute bewusst führen, für uns Bedeutung haben. Die Ewigkeitserfahrung geschieht gewissermaßen immer schon, mitten in der Zeit, als die Erfahrung dessen, dass wir uns mit dem, was wir tun, wofür wir uns einsetzen, was uns wichtig ist, in eine Welt einbezogen wissen, die uns entgegenkommt, die wir erkennen und gestalten können. Sie kommt uns in ihrer Unendlichkeit entgegen, aber so, dass wir den Eindruck gewinnen als die endlichen Wesen, die wir sind: Wir passen in sie hinein und sind in ihr, allem Widerwärtigen zum Trotz, letztlich gut aufgehoben.

Deshalb sind es besonders die herausgehobenen Erfahrungsmomente unseres zeitlichen Daseins, sind es die Grenzerfahrungen im Positiven wie im Negativen, in denen unser Einbezogensein ins unendliche Ganze einer Welt, die für uns Sinn macht, in uns nachklingt und Resonanzen in unserem Lebensgefühl auslöst. Gerade dann, wenn wir zum Augenblick sagen möchten: „Verweile doch, du bist so schön“, ist er schon vorüber, tritt uns somit vor Augen, dass wir zeitliche, endliche Wesen sind. Zugleich stärken diese Lebensmomente, in denen uns unsere Zugehörigkeit zum unendlichen Ganzen in einer auf uns hin geordneten Welt aufgeht, den Glauben daran, dass wir mit unseren einmaligen, individuellen, endlichen Leben ein unverlierbares Moment im in diesem unendlichen, göttlichen Welt- und Sinnganzen sind.

3. Es wurde und wird viel Unsinn getrieben mit überschwänglichen und furchtbar drohenden Bildern vom jenseitigen Leben. Die Vertröstung auf ein besseres Jenseits war doch höchst problematisch, im Blick auf das reale, irdische und zugelassene Leiden der Armen. Trotzdem: Wenn diese Missverständnisse beseitigt sind: Können moderne, liberal-theologisch denkende Christen sagen: Zum Vertrauen in einen göttlichen Grund gehört auch die begründete und begründbare Hoffnung auf ein ewiges Leben? Oder hat das etwas mit Egozentrismus zu tun?

Gut, dass Sie das zuletzt fragen, ob die Hoffnung auf ewiges Leben nicht doch etwas mit Egozentrismus zu tun hat. Wir sind als selbstbewusste Lebewesen selbstzentriert, beziehen alles, was wir denken, fühlen und tun, auf uns selbst. Wir verhalten uns ständig so, als käme es unbedingt auf uns selbst an, weil wir der Welt erkennend und gestaltend gegenüberstehen, sie uns zugleich entgegenkommt und wir ihr zugehören, als dem Ganzen, aus dem wir selbst kommen und von dem wir glauben, dass wir in ihm nie ganz verlorengehen. Aus dieser zu uns als selbstbewussten Menschen gehörenden Erfahrung geht der Gedanke hervor, dass wir Teil des unendlichen Ganzen sind, in dem keiner je den Eindruck gewinnen müsste, ganz umsonst gelebt zu haben.

In jedem Menschen, so der religiöse, auf das Ganze gehende Gedanke, muss, da er seine Zugehörigkeit zum Ganzen immer auch auf sich bezieht, ein unverlierbares Moment des Ganzen aktiv sein und über den Tod hinaus aktiv bleiben. Es ist, so denke ich, in der Tat unser Egozentrismus, der freilich nichts mit selbstsüchtigem Egoismus zu tun hat; sondern der Egozentrismus hat, ganz im Gegenteil, mit einer für uns lebensnotwendigen Selbstachtung zu tun, er ermutigt uns zur Hoffnung auf ein ewiges Leben.

Weil das so ist, treten unserer Ewigkeitshoffnung aber auch gewaltige Einsprüche entgegen, die sie uns permanent wieder zu rauben drohen, sie zumindest als äußert ambivalent erscheinen lassen. Denn so sehr wir alles, was wir denken, fühlen und wollen, immer auf uns selbst beziehen, wir uns dem Ganzen einer Welt gegenüber stellen, zu der wir uns zugleich gehörig wissen, so haben wir doch, wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, keine Konzeption, die unsere Rolle als Menschen unter mehr als sieben Milliarden (allein in diesem Moment lebenden) davor bewahrt, schlechterdings als absurd erfahren zu werden. Ist jeder und jede von uns nicht doch bloß ein zufälliges, nichtiges Einsprengsel in einem kosmischen Prozess, der ohne uns weitergehen wird, als wären wir überhaupt nie gewesen? Ein Einspruch gegen die individuelle Ewigkeitshoffnung, von der auch die Bibel zu sagen weiß: „Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt.“ (Jesaja 40, 6f.)

Wir sind selbstzentriert und zugleich sind wir, wie doch offenkundig ist, ganz ephemer im Ganzen. Das treibt die Ewigkeitshoffnung unweigerlich in die Fraglichkeit. Ich kann sie auch persönlich, muss ich gestehen, nur als zutiefst fragliche Hoffnung teilen. Auf der einen Seite kann und will ich mich als ein Mensch verstehen, der im Vertrauen auf die Gründung des eigenen Daseins im göttlichen Sinn des Ganzen sein Leben sinnbewusst führt und deshalb auch auf die unendliche Einbindung in das göttliche Seins- und Sinnganze hoffen darf. Auf der anderen Seite kann ich mir durchaus vorstellen, dass mit meinem Tod dieser Ewigkeitsgedanke, wie alles, was einmal zu mir und meinem Leben gehört hat, ohne jede Bedeutung sein wird.

Was bleibt also? Eines doch zumindest – und vielleicht wiegt das sogar schwerer, wenn es kein ewiges Leben geben sollte: Für mich – jeder und jede kann da nur für sich selbst sprechen – ist das menschliche Leben damit verbunden, dass es im Ganzen dessen, was es ist, für sich selbst und für ein anderes Lebens dankbar sein kann – also gerade im Tod, dem eigenen oder dem eines geliebten Menschen dankbar, unendlich dankbar sein kann.

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon.