Camilo Torres lebt: Seine Bedeutung 50 Jahre nach seinem Tod.

Camilo Torres lebt: 50 Jahre nach seinem Tod

Ein Interview mit Juan Camilo Biermann López. Er ist Wissenschaftler am „Centro de Pensamiento Camilo Torres Restrepo de la Universidad Nacional de Columbia“.

Ein Vorwort von Christian Modehn am 29.3. 2016: Angesichts der schwierigen und immer wieder scheiternden Friedensverhandlungen zwischen der kolumbianischen Regierung und der Guerilla dort ist es wichtig, an einen Priester, Theologen und Soziologen zu erinnern, der in Kolumbien 1966 als Mitglied einer damals noch ganz anderen „Befreiungsbewegung“ von Regierungstruppen erschossen wurde. Camilo Torres Restrepo gilt heute bei denen, die sich um eine objektive Sicht bemühen, als wichtiger Soziologe und als Befreiungstheologe, der mit der Allmacht eines konservativen Systems in Kirche und Staat zu kämpfen hatte. Camilo Torres war ein Intellektueller, der dem Evangelium gemäß die Armen über alles liebte und sich deswegen den Zorn einer reaktionären Kirchenführung zuzog. Dass er sich einst auch in Berlin aufhielt, darauf haben wir – danke der Hinweise von Juan Camilo Biermann Lopez – schon hingewiesen. Wir sind dankbar für das Exklusiv-Interview mit dem jungen kolumbianischen Historiker Juan Camilo Biermann Lopez.

Die Fragen stellte Christian Modehn, Berlin.

Anlässlich des 50. Todestages von Camilo Torres gibt es jetzt ein breites Interesse unter den KolumbianerInnen an seiner Person und seinem Denken? Gibt es möglicherweise eine neue, nicht-polemische Einschätzung seiner Person?

Jede Dekade der Erinnerung an den Tod von Camilo Torres Restrepo (im folgenden wird der Name der Einfachheit halber oft mit den Buchstaben CTR abgekürzt) führt zu einer Zunahme des Interesses an seinem Leben und Werk. (In der Fußnote wird eine Übersicht geboten, mit der man gut einschätzen kann, wie viele Zeitschriften-Beiträge außerhalb und innerhalb Kolumbiens über CTR geschrieben wurden. In dieser Übersicht kann auch man erkennen, dass sich in den Gedenk-Jahren 1976, 1986, 1996 und 2006 die Zahl der Publikationen über ihn ständig vermehrt hat. Diese Daten entnehme ich einem Buch, das kürzlich unter dem Titel „ Bibliografía general sobre Camilo Torres Restrepo“, veröffentlicht wurde, verfasst von Professor Alberto Parra Higuera von der Universität Hamburg). Aber in dieser Geschichte der Erinnerungen ist das Gedenken an den Tod von CTR vor 50 Jahren durchaus größer als zuvor. Der erste, eher oberflächliche Grund für das große Interesse an CTR ist, dass es jetzt nun einmal um die Erinnerung an den Tod vor genau 50 (!) Jahren geht. Jetzt sind die Menschen, die ihn kannten und seiner Generation angehörten, schon gestorben oder eben sehr alt. Diese Tatsache erleichtert es, dass man jetzt Themen behandeln kann, die vorher noch Groll erweckten oder von einigen Bereichen der kolumbianischen Gesellschaft als Störung empfunden wurden. Ein noch wichtigerer Grund für die Erinnerung an CTR jetzt ist die Tatsache, dass die kolumbianische Regierung und die Guerilla der FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Columbia) einen Ausweg suchen, indem man über den bewaffneten Konflikt verhandelt. Obwohl die FARC und der ELN (Ejército de Liberación Nacional; zum ELN gehörte CTR am Ende seines Lebens, der Übers.) zwei verschiedene Guerilla-Organisationen sind. So haben diese Friedensdialoge die Frage nach einem möglichen Dialog zwischen der Regierung und dem ELN aufgeworfen. So kommt der Gestalt von CTR von neuem eine Bedeutung zu, da er ja die intellektuell bedeutendste Figur des ELN war. Und sein politisches Projekt, das reflektiert wurde in „Plataforma del Frente Unido del Pueblo“ kann die Basis sein, um die Verhandlung zu beginnen. Einen dritten Grund für das starke Interesse an CTR ist darin zu sehen, dass seine sterblichen Überreste noch immer verschwunden sind. Das aber ist ein Verbrechen der Menschlichkeit und es gibt einen Gerichtsprozess, der international gültig ist. Und der hat die kolumbianische Regierung verpflichtet, nach den sterblichen Überresten von CTR zu suchen, um diese dann den Verwandten zu übergeben. Jedoch haben die Kommunikationsmedien ein wenig diese Tatsche verdreht, sie haben behauptet, dass der kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos die Überreste von CTR suchen lässt wie in einer Art freundschaftlichen Geste gegenüber dem ELN.

Jede neue Erinnerung bringt neue Interpretationen und Forschungen über Leben und Werk von CTR mit sich. Es ist sehr schwierig, dass in eine Land, das mehr als 50 Jahre den Krieg erlebt, nun mit Leichtigkeit erkannt wird: Camilo Torres Restropo war mehr als ein Guerillero. Es gibt viele Sektoren, auf der Linken wie auf der Rechten, die das Bild von Camilo Torres als einem Guerilla-Priester aufrechterhalten wollen, obwohl klar ist: Priester sein und Guerillerosein bedeuten heute etwas anderes als vor 50 Jahren, als CTR sich der ELN anschloss. Vonseiten verschiedener Universitäten und religiöser und akademischer Kollektive haben wir versucht, neue Erkenntnisse anzubieten, damit CTR nicht nur als Guerilla-Priester gesehen wird. Vielmehr soll man auch anerkennen, dass er Beiträge geliefert hat etwa zu Themen der Stadt-Soziologie. Wichtig ist seine christliche Solidarität mit den Ärmsten der Armen, seine akademische Arbeit mit dem Ziel, die Gesellschaft zu verändern usw. Trotzdem, das wiederhole ich, haben es diese Erkenntnisse schwer, anerkannt zu werden. Denn die Gesellschaft ist sehr polarisiert. Und wenn man dann anerkennt, dass Camilo Torres mehr ein sozialer und politischer Führer war denn ein Guerillero: Dann kann man seinen Tod nicht mehr als einen Sieg des kolumbianischen Militärs über „die Guerillas“ betrachten. Dann kann man Camilo Torres Tod eher interpretieren als ein Beispiel mehr für die Tatsache, dass sich der kolumbianische Staat der bewaffneten Gewalt zuwandte als einer Antwort auf die Gruppen, die politische Veränderungen herbeiführen wollten zugunsten der marginalisierten Gruppen.

Haben die Führer der Katholischen Kirche in Kolumbien die theologische und hohe menschliche Qualität von Camilo Torres inzwischen anerkannt?

Bevor ich diese Frage direkt beantworte, ist es wichtig sich daran zu erinnern, dass CTR sein Priesteramt aufgab, weil die hohe Hierarchie zu der Zeit (damals geleitet von Kardinal Luis Concha Cordoba) ihn verpflichtete, zwischen der priesterlichen Tätigkeit und der politischen Aktivität zu wählen. Es ist schon komisch: Eine Figur wie Monsignore Angel Builes Gomez hat in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts versichert: „Liberale zu töten ist keine Sünde“, er hat vonseiten der Kirche konservative gewalttätige Gruppen unterstützt. Und jetzt ist dieser Prälat ein Kandidat für die Kanonisierung, also die Heiligsprechung im Vatikan. Hingegen gilt CTR nach wie vor als eine Art „outsider“ der katholischen Kirche in Kolumbien. Mehr Informationen über Builes und seine Heiligsprechung bietet: http://www.las2orillas.co/el-obispo-mas-violento-de-colombia-puede-terminar-de-santo/ )

Das zeigt, dass die katholische Kirche in Kolumbien verbunden war mit den Gruppen, die an der politischen Macht waren und die nicht interessiert waren, auf ihre Privilegien zu verzichten.

Trotzdem und über diese Tatsachen hinaus, gibt es doch einige Gestalten in der kolumbianischen Kirche von heute, die versuchen, das Vermächtnis von CTR zu befreien, neu zu lesen, und neu zu sehen, indem man ihn als einen engagierten Christen präsentiert, engagiert für die ganz armen Menschen. Das beste Beispiel dafür ist Bischof Jesus Dario Monsalve aus der Stadt Cali. Er hat nicht nur von der Regierung verlangt, dass sie sich um die sterblichen Überreste von CTR kümmert und diese ausliefert, er hat auch zahlreiche Termine gestaltet um dessen Andenken zu ehren. Das hat dazu geführt, dass Bischof Monsalve Drohungen erhalten hat und dass er von der Rechten als ein Freund der Guerilla qualifiziert wurde, was in Kolumbien schon etwas sehr Schwerwiegendes bedeutet.

Dann beantworte ich also die Frage: Es fehlt noch ziemlich viel an Einsicht, dass die hohe Hierarchie in Kolumbien die Leistungen und die hohen menschlichen Qualitäten von Camilo Torres anerkennt. Sie tut das deswegen nicht, weil dies bedeuten würde: Dass die Kirche eben auch Fehler und Fehleinschätzungen begangen hat und dass sie nicht verstanden hat, was CTR damals als Thema aufwarf, das noch immer gültg ist, nämlich die Solidarität der Kirche mit den Ärmsten der Armen. Hingegen ist das Bild von CTR anerkannt von den Basisgemeinden, das sind Gruppen von Christen, die ihn verehren und in ihm einen „Martyrer“ sehen.

Ist der Gedanke der Hingabe für das leidende Volk DAS Lebensmotiv von Camilo Torres? Ist sein Eintreten für die ELN ein Akt der Verzweiflung gewesen?

Ich glaube das Lebensmotiv bzw. die zentrale Idee seines Lebens war die „amor eficaz“, also die wirksame Liebe. Und die ist sehr viel umfassender als nur die Sorge um die Menschen, die leiden. Diese wirksame Liebe ist die Basis seiner Haltung als Christ, als Akademiker, als Priester, als politischer Führer und … endlich auch als Mensch! Das ist sehr wichtig, da nur dieses Verständnis es erlaubt, in CTR nicht einen Marxisten zu sehen. Sondern er hat begriffen, dass der Marxismus helfen kann, die christliche Liebe eben als eine wirksame Liebe zu gestalten, und zwar dank einer wissenschaftlichen Methode, die das Verständnis und die Umformung der Gesellschaft garantiert zugunsten der breiten Mehrheit.

Wenn man von der wirksamen Liebe ausgeht, dann bietet CTR drei große Aufrufe bzw. Appelle.

Es ist der Aufruf zur Einheit der Volksklasse (clase popular), also der armen Bevölkerung. Es ist der Aufruf zur Solidarität mit dieser Klasse. Und der Aufruf, diese Klasse zu organisieren. Wenn CTR von dieser clase popular sprach, bezog er sich auf die Armen auf dem Land und in den Städten. Es handelt sich um einen sehr weiten Begriff, er ist ein bisschen zwiespältig, denn CTR benutzte zu seiner Zeit diesen Begriff, um von der großen Mehrheit der Leute damals verstanden zu werden. Und dann wollte er damit auch den Unterschied zwischen der Volksklasse und der herrschenden Klasse etablieren, diese herrschende Klasse wurde auch die Oligarchie genannt.

Diese drei Aspekte und Aufrufe fassen sehr gut zusammen, was seine politische Arbeit in den letzten 2 oder 3 Jahren seines Lebens betrifft. Im übrigen suchte er mit diesen drei Appellen alle Parteien, die nicht so mächtig waren und alle Menschen innerhalb der herrschenden Macht-Parteien (also der liberalen und der konservativen Partei) zu vereinen. Er wollte diese Menschen vereinigen ringsum eine „Frente Unido del Pueblo“, eine vereinte Front des Volkes. Aus verschiedenen Gründen fand diese Koalition von Parteien keinen großen Erfolg, vor allem deswegen, weil die Idee verteidigt wurde, nicht an den Wahlen teilzunehmen (man nennt das Absentismus). Und das in einem Moment, als die Präsidentschaftswahlen näher rückten und es Parteien gab (wie die Kommunisten oder die Christlichen Demokarten), die sehr interessiert waren, an diesen Wahlen teilzunehmen.

Ich glaube nicht, dass Camilo Torres Entscheidung dem ELN beizutreten aus Verzweiflung geschah. Ich glaube, es war eine Entscheidung, die er unter großem Druck getan hat, da es ja bekannt ist, dass er im Jahr 1965 zahlreiche Todes-Drohungen erhalten hat. Es ist wichtig, um besser seine Entscheidung zu verstehen, im ELN mitzumachen: Zu dieser Zeit damals war die sozialistische Revolution als nahe bevorstehend erwartet worden. Der Triumph der Revolution in Cuba überzeugte viele, dass sie glaubten: Der bewaffnete Weg sei tauglich, um an die Macht zu kommen, besonders in Ländern wie Kolumbien, wo die Oligarchie überhaupt nicht bereit war, irgendetwas von der eigenen Macht anderen Gruppen der Gesellschaft zu überlassen.

Woran man sich immer erinnern muss ist: Die Idee der Guerilla in den 1960 Jahren ist sehr verschieden von der aktuellen Guerilla!! In der Dekade der 1960 Jahre hatte die Guerilla überhaupt keine Verbindung mit dem Drogenhandel. Zudem, auch wenn der sowjetische sozialistische Block existierte, gab es keine ideologische Rechtfertigung, um die bewaffnete Revolution zu verteidigen. Aber alle diese Zusammenhänge haben sich geändert. Das Problem heute ist: Viele Forscher und vor allem viele Massenmedien präsentieren die Guerilla der 1960 Jahre so, als wäre sie identisch mit der Guerilla von heute. So wird die Gestalt von Camilo Torres falsch verstanden und stigmatisiert!

Ist der ELN, der sich Camilo Torres angeschlossen hatte, überhaupt vergleichbar mit heutigen “Guerilla-Bewegungen” in Kolumbien?

Es sind wenige Dinge, die noch heute mit dem ELN zur Zeit von CTR gemeinsam sind. Ich glaube, ein Element, das sich durchgehalten hat, ist die Verachtung für den Geistige (la intelectual). Die Guerilla des ELN ist eine solche, die vor allem von Campesinos geformt ist, die ohne große ideologische Bildung sind. Sie entscheiden sich, beim ELN mitzumachen, nicht nur, um „die Revolution zu machen“, sondern um etwas zum Leben zu haben. Ich beziehe mich nicht darauf, dass der ELN ein irreguläres Söldner Heer ist. Ich beziehe mich auf eine ideologische Schwäche, sie hält sich im ELN. Wenn der ELN noch Personen anzieht, dann wegen der Möglichkeit, sich vor den Misständen der Regierung zu verteidigen und um die Territorien zu kontrollieren, zu denen das Militär der Regierung nicht viel Zugang hat.

Kann die Beschäftigung mit der „ganzen“ Person von Camilo Torres ein Beitrag sein, dass Kolumbien zum inneren Frieden und zur Gerechtigkeit findet?

Es wäre geradezu ideal , wenn die Gestalt des Camilo Torres mehr Berücksichtigung fände in der aktuellen politischen Debatte in Kolumbien. Trotzdem: Es ist schwierig. Denn die großen Massenmedien und die katholische Kirche Kolumbiens stellen ihn nicht so dar, dass er mehr ist als einn „Guerilla-Pfarrer“. Man darf auch nicht vergessen, dass CTR in einer reichen kolumbianischen Familie geboren wurde und dass er in seinem Leben nicht nur ein großes Interesse und eine Sorge für die Armen hatte, sondern dass er auch die die Oligarchie attackiert hat. Deswegen wird er von vielen wie ein Verräter betrachtet.

Ich glaube, dass Camilo Torres eine Persönlichkeit ist aus der Generation der 1960 Jahre. Diese Generation suchte die Veränderung Kolumbiens. Es gibt mehrere andere auch, die wie CTR dachten. In diesem Sinne glaube ich, dass man damit beginnen muss, sich nicht nur auf Camilo Torres zu konzentrieren. Man sollte ihn hingegen als Mitglied einer Generation sehen (einer Generation, die für viele als gescheitere Generation gilt)… Diese Generation suchte die Veränderung, die Gerechtigkeit, die Gleichheit. Und noch heute sind seine Ideen gültig, weil er zeigte: Der Konflikt in Kolumbien wird von strukturellen Ursachen bestimmt, und diese Ursachen verpflichten uns auch …zu strukturellen Veränderungen.

Copyright: Juan Camilo Biermann López und Religionsphilosophischer Salon Berlin

Siehe auch das Dokument: Publicaciones sobre CTR 1957-2015.doc

 

Winfried Kretschmann hält sich an den Theologen Karl Rahner

Winfried Kretschmann hält sich an den Theologen Karl Rahner.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Der in einigen nachdenklichen kritischen Kreisen immer noch geschätzte, um 1970 noch weltberühmte progressive katholische Theologe Karl Rahner aus dem Jesuitenorden (1904 bis 1984) bestimmt mit seinen theologisch-kritischen Aussagen offenbar jetzt (Mitte März 2016) den pragmatischen Umgang Winfried Kretschmanns (Die Grünen) mit dem neuen Koalitionspartner, der CDU. Ministerpräsident Kretschmann erinnerte schon wenige Stunden nach seiner Wahl, am 14. 3. 2016, an Karl Rahner, ein Zeichen für die theologische Kenntnis des katholischen Politikers.

Karl Rahner sagte: „Dogmen sind wie Straßenlaternen. Sie wollen den Weg beleuchten, aber nur Betrunkene halten sich daran fest“.

Offenbar ist Kretschmann nüchtern genug, relativ dogmenfrei eben auch mit der CDU eine Koalition einzugehen. Wir würden uns wünschen, diesen Spruch Karl Rahners auch aus dem Munde vieler führender SPD Politiker zu hören, bezogen auf eine gemeinsame Koalition mit der Partei Die Linke und den Grünen auf Bundesebene. Vielleicht wird dies angesichts der AFD auch not-wendig, sich von Dogmen zu trennen, die Koalitionen bisher verhindern…

Und wir wünschen uns auch – allerdings völlig illusorisch – dass sich die obersten dogmatischen Glaubenswächter in Rom, etwa Kardinal Müller von der so genannten Glaubenskongregation, an die Weisheit Karl Rahners halten. Rahner folgend, wären dann eigentlich alle Kardinäle und Bischöfe, alle Beamten der Glaubenskongregation irgendwie leicht oder heftig betrunken. Sie klammern sich ja förmlich an die Dogmen wie Rettungsanker und kommen kaum die Beine, im Sinne des fortschreitenden Unterwegsseins… Ja, selbst die Päpste und die bischöflichen Teilnehmer der dogmatisch-ängstlich geprägten Welt-Bischofs-Synoden wären dann eigentlich betrunken, weil sie sich an Dogmen klammern, und deswegen, beschwipst, kaum ernst zu nehmen sind in ihrer Erstarrung.

Dieses Zitat von Karl Rahner geistert jetzt förmlich durch das gesamte www.

Mir hat dieses Zitat Rahners der Wiener katholische Theologe Prof. Paul Michael Zulehner in einem Interview 2013 in Berlin mitgeteilt. Das Zitat Zulehners wurde dann von mir in einer Sendung für den HR 2013 verwendet (für die Reihe Camino):

9.O TON in der HR Sendung vom 26.5.2013:

Paul M.Zulehner: „Wir müssen weg von unseren alten, bekannten abgedroschenen Aussagen und von dem, was wir für richtig gehalten haben, auch weg von der Macht versessenen Kirche, als wären wir diejenigen, die das Heil der Menschen in der Hand haben. Die Dogmen sind im Grund genommen wie die Laternen, die uns auf dem Weg durch die dunkle Nacht leuchten und nur Betrunkene halten sich daran fest, hat Karl Rahner mal ein bisschen salopp über die Dogmen gesagt….“    Soweit Prof. Paul M. Zulehner.

Es wäre eigentlich wichtig, wenn das hoch geschätzte Rahner Archiv in Freiburg die exakte Belegstelle des Rahner Wortes mitteilen könnte.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon

 

Philosophischer Salon “Jeder Mensch ist ein Grenzgänger”

Der nächste religionsphilosophische Salon findet am Freitag, den 29. April 2016 um 19 Uhr, in der Galerie Fantom, Hektorstr.9 statt. Das Thema: „Jeder Mensch ist ein Grenzgänger“. Philosophische, theologische und politische Überlegungen zur aktuellen und uralten (immer aber falschen) Tendenz, sich selbst und andere einzumauern.

Schriftliche Anmeldungen (!) sind erforderlich. christian.modehn@berlin.de Es stehen eigentlich nie mehr als 20 Plätze in einem Salon zur Verfügung. Für die Raummiete: 5 Euro als “Eintrittsgebühr”. StudentInnen haben natürlich freien Eintritt.

Wir werden zunächst den Zusammenhang von menschlicher Existenz und Grenze in den Blick nehmen: Wie wir auch im ursprünglichen Mit-Sein doch immer letztlich unvertretbar einzelne sind, mit den Grenzen des Individuums ausgestattet, etwa im Blick auf den je eigenen Tod. Wie wir aber immer schon die Grenzen des Ich überwinden, indem wir erkennen, dass wir allein schon in der Sprache die Grenzen des Ego ins Allgemeine hin überschreiten. Wie wir bisherige Werte und moralische Selbstverständlichkeiten tatsächlich als Grenzen überwinden können und sollen, etwa durch die Auseinandersetzung mit der Kunst und der Musik oder der vernünftig geprägten, nicht-fundamentalistischen Religion. Wir wollen die Frage erörtern, wie gerade im Überschreiten der eigenen Grenzen das eigene Dasein in seiner Weite und Tiefe, die ständig wachsen und sich wandeln, neu bejaht wird. Wir wollen fragen, ob das Inistieren auf dem Gegebenen als dem angeblich Unveränderlichen (siehe Dogma) das Dasein selbst verkümmert lässt in ängstlicher Abwehr. Wir werden fragen, wie diese verkümmerte Existenz voller Angst auch politische Auswirkungen hat, etwa in der Abwehr der Fremden und Flüchtlinge. Das Insistieren auf den angeblich besonderen Werten der eigenen Nation als dem höchsten Wert, schlimmer noch, das Insistieren auf einer Rasse als Grenze gegenüber anderen, ist der Ursprung von Gewalt und Hass.

Alles in allem verspricht dieser Salonabend am 29.4. lebendig zu werden. “Vorbereitende Gedanken und konzentriertes Sprechen und gesammeltes Eingehen aufeinander sind in jedem Salon besonders willkommen und notwendig”, hat die berühmte Salonnière Madame d Epinay in Paris einmal gesagt…. Das nehmen wir alle uns doch sehr zu Herzen bzw. zur Vernunft.

Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Kant und die Auferstehung Jesu. Ein Hinweis.

Kant und der Glaube an die Auferstehung Jesu. Anläßlich des Geburtstages von Immanuel Kant am 22.4.1724.

In seinem Buch „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793/1794) sagt Kant (Seiten 173 f.) in der Ausgabe des Felix Meiner Verlages (2003) bzw. in der Originalausgabe Seite 191.

Dabei ist klar, dass Kant die Erkenntnisse der historisch-kritischen Bibelforschung durchaus vertraut sind.

Das Christentum ist für Kant aus dem Judentum entstanden, und zwar „plötzlich, obzwar nicht unvorbereitet“ (S. 173). Dann ist von Jesus (aus dem Judentum stammend) als dem „Lehrer des Evangeliums“ die Rede. Er kündigte sich als einen vom Himmel Gesandten an. Jesus zeigte sich als einer solchen Sendung würdig (aus dem Himmel kommend !), indem er den „Fronglauben“, wie Kant sagt, (also den veräußerlichten Gesetzesglauben) für „an sich nichtig“ erklärte, hingegen den „moralischen Glauben,“ der seine „Echtheit durch einen guten Lebenswandel beweist“, zu dem, so wörtlich, „alleinseligmachenden Glauben“ erklärte. Kommentar: Also war Jesus bereits das Vorbild des Vernunftglaubens im Sinne Kants…

Dieser Jesus hat, so Kant weiter im Text, durch seine Lehre und sein Leiden („bis zum unverschuldeten und verdienstlichen Tod“) ein Beispiel gegeben für die Gott wohlgefällige Menschheit; Jesus ist „das Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit“ (S. 175). Jesus „kam aus dem Himmel und ist dorthin wieder zurück gekehrt“. (Kant sieht Auferstehung Jesu und Himmelfahrt Jesu als ein „Ereignis“).

Dann kommt Kant auf die Auferstehung zu sprechen, und zwar in der Fußnote 1, S. 174: Kant hält, so wörtlich es „für die Vernunft günstiger“ die, wörtlich, „Hypothese des Spiritualismus vernünftiger Weltwesen“ anzunehmen. Dieser Spiritualismus, wie er diese Denkhaltung nennt, bedeutet: Der Körper bleibt tot in der Erde und, so wörtlich, „doch ist diese Person lebend da“, „dem Geiste nach kann diese Person (nicht aber in ihrer sinnlichen, d.h. körperlichen Qualität“) zum „Sitz der Seligen gelangen“. Das heißt für Kant: Der alte Körper wird nicht „in Ewigkeit mit geschleppt“. Dem Geiste nach kann es ein „ewiges Leben im Sitz der Seligen“ geben. Kant stellt klar, dass dies Bilder sind, auf die der Vernunftglaube sich nicht verlassen muss.

copyright: Christian Modehn

 

Für die Grenzgänger: Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb

Für die Grenzgänger.

Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb

Die Fragen stellte Christian Modehn

Sinn und Berechtigung der Grenzen ist jetzt „das“ Thema politischer Debatten: Die Erfahrung geschlossener Grenzen in Europa wird nicht nur von den Flüchtlingen als massive Einschränkung der Menschenwürde erlebt. Ein grundsätzliches Verstehen der Grenzen kann nicht auf theologische Überlegungen verzichten. Der christliche Glaube spricht vom begrenzten, vom „endlichen“ Leben immer nur im Zusammenhang von der Überwindung dieser Begrenzungen. Gott selbst sprengt die enge Befangenheit; er schenkt die Weite, selbst die Überwindung der absoluten Grenze im Leben, dem Tod. Sind Christen also Grenzgänger im Sinne von „Grenzen-Überwinder“?

Der Sinn der Religion, so könnte man geradezu sagen, ist der, dass sie sich an Grenzen abarbeitet, an unüberwindlichen Grenzen allerdings, an denen, die uns aufgrund unserer Endlichkeit gesetzt sind. Unser Leben ist begrenzt und diese Grenzen sind uns unverfügbar. Wir werden geboren und wir müssen sterben. Beides liegt nicht in unserer Hand. Was wir aber können, das ist, dass wir den Sinn zu erkennen versuchen, der unserem Leben in den uns gesetzten Grenzen zukommt. Warum bin ich auf der Welt? Was soll das Ganze, wenn irgendwann doch alles aus und vorbei ist und das Leben genauso ohne mich weitergeht.

Der christliche Glaube kann, wie jede Religion, die Grenzen, die uns mit unsere Endlichkeit gesetzt sind, auch nicht überwinden. Aber er kann unserem endlichen Dasein eine unendliche Bedeutung geben. Das tut der christliche Glaube, wenn er sagt, dass jeder Mensch als Gottes geliebtes Geschöpf auf die Welt kommt und seine Bestimmung darin hat, für das Ganze der Schöpfung von unschätzbarem Wert zu sein.

So nimmt die Religion die größtmögliche Distanz zu unserem begrenzten Leben ein. Sie anerkennt die Grenzen, die uns gesetzt sind, aber sie lässt den Sinn, der unserem Leben gegeben ist, nicht in diesen Grenzen aufgehen. Sie lockt in das Vertrauen darauf, dass jeder Mensch, wo auch immer er auf die Welt gekommen ist, welcher Kultur und Religion auch immer sie zugehören mag, welche Chancen und Möglichkeiten auch immer ihr mitgegeben sind, ein unbedingtes Recht darauf hat, ein menschenwürdiges Leben führen zu können. Weil die Religion jedem Menschen in den gesetzten Grenzen seines endlichen Daseins eine unendlich Bedeutung gibt, deshalb, genau deshalb existieren für sie keine unüberwindlichen Grenzen zwischen Staaten, Kulturen und auch nicht zwischen Religionen.

Diese Religion der Menschlichkeit ist „in aller Menschen Herz nur Eine“ (Herder). Wer diese Religion hat, für den schreit das Elend der Flüchtlinge an den jetzt (auch mit deutscher Hilfe)geschlossenen Außengrenzen Europas nicht nur zum Himmel, sondern ins eigene Herz.

Finden diese religiösen Überlegungen eine Bestätigung in der je eigenen Erfahrung von Musik, Kunst, Literatur, Erotik, Solidarität? Erleben dort Menschen, wie sie ihr wahres Leben finden, also über ihr kleines Ich hinauswachsen in immer neue Weiten hinein? Ist Grenzüberschreitung also auch eine anthropologische Konstante?

Wir machen immer wieder solche Erfahrungen, in denen uns die unendliche Bedeutung des Lebens, das uns gegeben ist und an dem wir mit allen unseren Sinnen teilhaben, aufgeht. Das sind die Augenblicke, zu denen wir mit Goethes Faust sagen möchten: „verweile doch, du bist so schön“. Es sind die Augenblicke, in denen uns die Ewigkeit ins Herz gegeben ist. Dann weitet sich unser Sinn, dann haben wir das Gefühl, wir könnten, wie es ein Psalmbeter gesagt hat, mit unserem Gott auch „über Mauern springen“ (Psalm 18,30). Solche Aussichten ins Unendliche können sich uns eröffnen, wenn wir mit dem „Seestück“ Caspar David Friedrichs, den Wolkenbildern Gerhard Richters oder den Farbkollagen Marc Rothkos über die Grenzen unserer sinnlichen Wahrnehmung hinausgetrieben werden. Ebenso erleben wir durch die Musik, wie sich unsere Sinne weiten und die Ahnung von einem Sinn, der dem unendlichen Ganzen einer Welt, zu der wir mit unseren begrenzten, endlichen Dasein gehören und die uns bedeutungsvoll in sich einbezieht, in uns aufsteigt – nicht zu schweigen von der erotischen Verschmelzungserfahrung, in der wir leibhaftig die Grenzen unseres Ichs transzendieren.

Von einer anthropologischen Konstante würde ich im Blick auf unser Grenzverhalten deshalb sprechen, weil wir Menschen eben nicht nur endliche, begrenzte Wesen sind, sondern darum wissen und uns zu diesen Grenzen verhalten. Dieses Grenzverhalten, ja, Grenzgängertum, ist in Wahrhaftigkeit gelebte Religion.

Wenn die gegenwärtigen radikalen Grenzschließungen in Europa, dieses Sich-Abkapseln vor den Fremden, schlimme seelische Auswirkungen (Angst, Egoismus) auch in Europa selbst haben: Könnten die Kirchen andere Akzente setzen? Wie könnten sie die Menschen ermuntern, sich nicht angstvoll eingrenzen zu lassen? Ist die Abgrenzung der christlichen Konfessionen voneinander dabei auch noch ein starkes Hindernis, diesen Weg zu gehen?

Die Kirchen haben starke Akzente gesetzt – jedenfalls solange sie sich hier in Deutschland im Einklang mit der Politik Angela Merkels wissen konnten. Merkels Satz „wir schaffen das“ hat ja geradezu zivilreligiöse Bedeutung gewonnen. Der Kanzlerin „freundliches Gesicht“ und die nach Deutschland offenen Grenzen konnten ansatzweise so etwas wie ein neues deutsches Identitätsbewusstsein begründen – ähnlich wie das „Sommermärchen“ von 2006. Da konnten die Kirchen sich gut anschließen und verstärkend in diese Richtung wirken. Jetzt gilt es aber aufzupassen, dass dieses zivilreligiöse Legitimationsmuster einer menschenrechtsorientierten Politik der Flüchtlingsaufnahmebereitschaft nicht zur schlechten Ideologie wird, die über eine in Wirklichkeit inhumane Praxis der längst geschlossenen Grenzen nur noch hinwegtäuscht.

Jetzt müssen die Kirchen, auch unter Inkaufnahme der Gefahr, dass in den Gemeinden harte Kontroversen entstehen (denn unser Land und auch die Christen in ihm sind in dieser Frage gespalten), klar ihre Stimme erheben und kompromisslos für offene Grenzen eintreten. Im September letzten Jahres, als die deutsche Bundesregierung Busse nach Ungarn schickte, um die gestrandeten Flüchtlinge abzuholen, waren sich die beiden großen Kirchen in ihrer Unterstützung dieser Flüchtlingspolitik sichtbar einig. Der Einsatz vieler Gemeinden in beiden Kirchen war beeindruckend.

Wenn es gelänge, diesen Elan erneut an den Tag zu legen, dann könnte das auch die Ökumene beflügeln. Die Überwindung der getrennten Kirchen, ja, was meine Hoffnung ist, auch der getrennten Religionen, wird nicht durch theologische Diskurse und die Arbeit an Lehrkonsensen gelingen, sondern durch die Einsicht, dass die Religion der Menschlichkeit, die ihre Bekenntnisgrundlage in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ (1948) hat, jedem Menschen sein Recht auf Leben und seinem Platz im Leben gibt. Aus dieser humanreligiösen Einsicht wächst die Kraft, die Grenzen zwischen Staaten, Kulturen und Religionen zu überwinden.

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Ludwig Wittgenstein: Ein religiöser Philosoph?

Ludwig Wittgenstein, war er religiös? Ein Hinweis von Christian Modehn anläßlich von Wittgensteins Geburtstag am 24. April 1889.

Diese Frage zu stellen, ist naheliegend und geboten, wenn man in der Werkausgabe Band 8 “Über Gewissheit” die Notizen zum Glauben, zur Gestalt Christi und zur Lebensform des Religiösen liest. Sie sind in dem Kapitel “Vermischte Bemerkungen” zu finden, in der Suhrkamp Ausgabe (2015) Seite 445 -573.

Diese Frage wird zudem unterstützt durch die Hinweise von Dieter Henrich in seinem hoch interessanten Buch “Werke im Werden. Über die Genesis philosophischer Einsichten” (C.H.Beck Vl, 2011), Seite 45 ff. Dort zitiert Henrich Ludwig Wittgenstein, dass er “jedes Problem von einem religiösen Gesichtspunkt aus ansehe”. Zu dieser Einsicht sei Wittgenstein durch ein “Volkstheaterstück”  von Ludwig Anzengruber gekommen (“Die Kreuzelschreiber”). Darin sagt sich die Hauptfigur, auch angesichts des Behütetseins durch die Sonne: “Es kann dir nix geschehen“. “Ob gestorben oder genesen”, sagt sich die Hauptfigur, dass er “zu dem alln gehört, was ihm vor Augen liegt, und dös alls ghört zu dir”.

Diese Frage nach dem religiösen Denker Wittgenstein ist ungewöhnlich nur für jene, die Wittgenstein mit dem “Tractatus” identifizieren, aber das sind eher wenige.

Ludwig Wittgenstein (1889 – 1951): Ein religiöser, vielleicht ein christlicher Philosoph? Diese Frage kann man sich und muss sich wohl stellen, wenn etwa die Texte in dem Band „Über Gewissheit“ und dort die Notizen aus dem Nachlass unter dem Titel „Vermischte Bemerkungen“ von 1929 bis zum Todesjahr 1951 liest.

Es ist vielleicht noch erstaunlicher, Ludwig Wittgenstein auch im Zusammenhang des Themas „Auferstehung Jesu von Toten“ zu nennen, vor allem für jene, die ihn nur als den Logiker kennen, den Autor des schwierigen „Tractatus logico-philosophicus“ von 1916.

Aber Wittgenstein hat die Grenzen der logischen Positivisten früh erkannt. Er wusste: Die wissenschaftliche Weltanschauung lässt „die eigentlichen Fragen“, wie er sagt, ungelöst.

Zu unserem Thema Auferstehung findet man die besten Hinweise in dem genannten Buch Wittgensteins „Über Gewissheit“, Werkausgabe Band 8, Suhrkamp, und dort die Abteilung „Vermischte Bemerkungen“.

Mehrfach und immer wieder gibt es in dem Kapitel „Vermischte Bemerkungen“ Hinweise zum Glauben und Christentum.

Ich will hier nur eine Hauptstruktur seines Gedankens nachzeichnen:

Der Glaube ist für Wittgenstein eine eigene Welt. Glauben ist nicht beweisbar. „Glauben ist für ihn eine Art Intuition“, schreibt einer der Wittgenstein-Interpreten, Karl Nähr. Glaube ist eine Intuition, die zu einer Grundeinstellung im Leben führt, die mein Verhalten bestimmt. Glaube ist eine praktische (!) Entscheiddung für ein Bezugssystem, für eine Grundeinstellung. Siehe Karl Nähr: http://sammelpunkt.philo.at:8080/1669/1/naehr.pdf

„Der Glaube ist etwas, was mein Herz, meine Seele braucht“, so in dem längeren Text Wittgensteins zur Auferstehung aus dem Jahre 1937, Seite 495 f. in dem genannten Band 8. „Das Christentum ist keine Lehre, keine Theorie, was mit der Seele geschehen ist und geschehen wird, sondern eine Beschreibung eines tatsächlichen Vorgangs im Leben des Menschen. …. Die Erlösung durch den Glauben ist ein tatsächlicher Vorgang“. Vorgang: das meint wohl, eine innere Bewegtheit, die den praktischen Lebensvollzug bestimmt. Religion als Lebensvollzug, der stark von einer Entscheidung abhängt und nicht eine Folge logischer und philosophischer Überlegungen ist. Da spielt seine Hochachtung vor Kierkegaard hinein. Die Religion sagt: „Tu dies! Denk so! Aber die Religion kann dies nicht begründen…“ S. 491.

„Das Christentum sagt: Jetzt glaube. Verhalte dich zur Nachricht des Glaubens NICHT wie zu einer historischen Nachricht. Lass diese Nachricht eine ganz andere Stelle in deinem Leben einnehmen”. S. 494

„Der historische Beweis geht den Glauben nichts an.“ Die Evangelien werden glaubend d.h. liebend ergriffen“… “Das ist die Sicherheit dieses Fürwahrhaltens, nicht Anderes”. S 495.

Der Kern seiner etwas ausführlicheren Notiz zum Auferstehungsglauben ist (S. 496): “Weisheit und Spekulation helfen beim Thema Auferstehung nicht weiter”. “Ich brauche Gewissheit, und diese Gewissheit ist der Glaube”.  „Nur die Liebe kann die Auferstehung glauben. Oder: Es ist die Liebe, was die Auferstehung glaubt. Man könnte auch sagen: Die erlösende Liebe glaubt auch an die Auferstehung…“

Copyright: christian modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

„Mit Platon in Palästina“. Das neue Buch von Carlos Fraenkel.

„Mit Platon in Palästina“.

Das neue Buch von Carlos Fraenkel hat den Untertitel: „Vom Nutzen der Philosophie in einer zerrissenen Welt“

Von Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Dieses Buch liest man mit Begeisterung, weil man entdeckt: Philosophie ist tatsächlich mehr als die allzu oft „abgehobene“ Forschung und die elitäre Debatte in den notwendigerweise begrenzten Räumen der Universitäten. Der Philosoph Carlos Fraenkel (geb. 1971), aufgewachsen in Brasilien und Deutschland, jetzt Professor an der McGill University in Montreal, hat Philosophie an der Basis erprobt, unter benachteiligten arabischen Studenten der al-Quds Universität in der Nähe von Jerusalem oder mit Studenten (der Alauddin state Islamic University) auf der eher entlegenen Insel Sulawesi, Indonesien, aber auch mit philosophischen „Laien“, wie Fraenkel sagt, hat er philosophiert, etwa in Brooklyn mit ultra-Orthodoxen Juden, mit Mitgliedern des Mohawk-Volkes oder in Brasilien mit Oberschülern. Es ist schon erstaunlich, wenn nicht vorbildlich, wenn ein junger Philosoph sich „in die Fremde“ begibt, weil er zurecht vermutet, dass er fragend und suchend dort vielleicht mehr lernt als in ein paar Monaten in einer kanadischen Bibliothek. Diesen „Ortswechsel“ der Philosophie sollte man viel breiter diskutieren … Das Thema “Philosophie in Brasilien” (S. 91- 111) könnte wenigstens am Rande noch einmal aktuell werden, wenn in 2016 dort die Olympiade stattfinden soll. Es wird sich doch nicht jeder und jede hoffentlich nur für den Sport in Brasilien interssiere…

Der Anfang einer Basis-Beziehung der Philosophie ist gemacht, durch Carlos Fraenkel! In Deutschland, so mein Eindruck, sicher auch in Frankreich, überlässt man das Philosophieren an der Basis bisher den freien, d.h. frei- beruflichen Philosophen. Bestens bezahlte Universitätsprofessoren lassen sich an der Basis äußerst selten „blicken“, verachten gar diese elementare Form der Philosophie, und das ist das Philosophieren. Hoffentlich lesen die etablierten deutschen Professoren das Buch von Fraenkel und lassen sich zu neuem Denken bewegen! Sie sollten doch mal nach Holland schauen: Dort gibt es seit vielen Jahren, immer im April, den „Monat der Philosophie“ („Maand van de filosofie“) unter reger Beteiligung der denkenden “Laien”, begleitet von Universitätsprofessoren; eine leider weithin unbekannte Erfolgsgeschichte. In diesem Jahr 2016 ist das Thema in Holland, klug gewählt, „Grenzen“. Ich habe vor einigen Jahren über diesen “maand van de filosofie” berichtet, ohne sichtbare Wirkungen. Leider! Zur Lektüre dieses Beitrags von 2011 klicken Sie bitte hier.

Was Carlos Fraenkel in den mehrwöchigen Workshops erlebt hat, welche Themen debattiert wurden, beschreibt er im ersten Teil des Buches in sehr lebendiger, gut nachvollziehbarer Sprache. Man nimmt förmlich teil an der leidenschaftlichen Abwägung der Argumente, sieht aber auch, wie schwer oft kulturelle oder religiöse Traditionen das kritische Denken „bremsen“. Carlos Fraenkel hat das große Glück, sehr gut die muslimischen Philosophen des 10. Jahrhunderts – natürlich auf Arabisch – interpretieren zu können, genauso wie die jüdischen Philosophen aus der Zeit, als etwa in al andalus (Anadalusien) ein tolerantes Miteinander von Muslims, Juden und Christen möglich war. Dass er die europäischen und amerikanischen Philosophen kennt, ist sowieso klar. Erfreulich in unserer Sicht ist, dass die lateinamerikanische Theologie der Befreiung wenigstens erwähnt wird. Da hätte man sich „mehr“ gewünscht, zumal es auch die „Philosophie der Befreiung“ gibt… In seinen Workshops ist Fraenkel nicht als Besserwisser aufgetreten, sondern als Gesprächspartner. Er wollte das gemeinsame Suchen und Fragen einüben, eine Kultur fördern und pflegen, die das Debattieren als einen der höchsten Werte schätzt: Nur wer in der Debatte seine eigenen Überzeugungen kritisch betrachtet, stagniert nicht, er wächst und nähert sich der je größeren Wahrheit.

Im zweiten Teil seines Buches plädiert Fraenkel, die „Basis-Erfahrungen“ im Hinterkopf, dafür dass die Förderung einer Debattenkultur weltweit so wichtig ist. Und er sieht zurecht, dass da die Philosophen eine riesige Aufgabe hätten, wenn sie denn diese Debattenkultur an der Basis fördern und begleiten würden. Fraenkel zeigt, wie jeder Mensch naturgemäß seine festen Überzeugungen hat, ja diese durchaus braucht zur Orientierung im alltäglichen Leben. Aber das Festklammern an den überlieferten Überzeugungen ist gefährlich, weil das geistige Leben im sturen Nachsprechen traditioneller (Glaubens)-Formeln erstarrt. Auf die Debattenkultur kommt es an, durchaus auch auf Streit, als Austausch von Argumenten. Fraenkel schreibt, bei allem Respekt vor der Relativität der je eigenen Meinungen, dass man nur in der Streitkultur „der Wahrheit näher kommen kann“ (S. 194).

Man würde sich wünschen, wenn Fraenkel in einem nächsten Buch die Frage aufgreifen könnte: Was aber tun wir mit Menschen, die sich jeder Debatten-Kultur entziehen? Die sich selber aussperren aus der Öffentlichkeit? Man muss ja nicht nur an IS denken, sondern an die vielen anderen ideologisch und/oder religiös-fundamentalistisch Verblendeten. Wird man diese Menschen erst dann wieder in eine Debattenkultur einbeziehen können, wenn sich die materiellen/sozialen Verhältnisse so weit verbessert haben, dass sie sich ökonomisch gerecht behandelt fühlen? Welche Fehler werden gemacht, wenn man rechtslastige Kreise von öffentlichen Debatten bewusst ausgrenzt? Verstärkt man dadurch das sektiererische Sich- Abgrenzen dieser Leute?

Aber abgesehen von diesen „schweren“ Debatten-Projekten: Es wäre viel gewonnen, wenn die liberalen, gebildeten Schichten überhaupt viele freie (natürlich angenehm gestaltete) Räume vorfänden für die Pflege der Debatten, gerade in Großstädten wäre das so geboten! Warum kann es nicht „Häuser der Philosophie“ geben, wo sich doch mit großer Selbstverständlichkeit „Literaturhäuser“ längst etabliert haben? Warum könnten da nicht erfolgreiche Verlage als Initiatoren auftreten? Es muss ja nicht gleich ein Haus sein, eine hübsche Etage wäre schon prima….

Diese Fragen werden zurecht angestoßen durch die Lektüre des wichtigen Buches von Carlos Fraenkel, das ja den Untertitel hat: “Vom Nutzen der Philosophie in einer zerrissenen Welt“. Über den Begriff „Nutzen“ könnte man in diesem philosophischen Zusammenhang natürlich weiter diskutieren: Ist Philosophie einsetzbar in gewisse „Nützlichkeits-Erwägungen“, oder ist sie eher hilfreich, inspirierend, erschütternd? In der englischen Ausgabe kommt das Wort „Nutzen“ auch nicht vor. Gut so.

Carlos Fraenkel, „Mit Platon in Palästina. Vom Nutzen der Philosophie in einer zerrissenen Welt“. Aus dem Englischen übersetzt von Matthias Fienbork. Carl Hanser Verlag, 2016, 240 Seiten, 19,90 €.

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