In den Händen der Leute. Wie sich der Katholizismus in Mexiko “modernisiert”

Im religionsphilosophischen Salon wollen wir immer auch die Realität der Religionen weltweit wahrnehmen, die internen Fragen und Probleme, Entwicklungen und Aufbrüche studieren und kritisch bewerten.
Unser Korrespondent in Mexiko – Stadt, der Theologe Alfons Vietmeier, weist in seinem neuen Beitrag auf ein Thema hin, das etliche Beobachter der religiösen Szene in Deutschland interessieren kann; vor allem angesichts der Umstrukturierungen des Katholizismus, bedingt durch den Mangel an Priestern.

In den Händen der Leute
Über die Veränderungen von Glauben und Gemeinden in Mexiko
Von Alfons Vietmeier, Mexiko – Stadt, August 2011

In diesen Wochen bin ich zu verschiedenen Begegnungen und Vorträgen in Deutschland und stelle mit Freuden fest, dass endlich (!) hier die Bereitschaft wächst, auch vom lateinamerikanischen Kirchenalltag zu lernen. In der deutschen Mentalität ist (teilweise immer noch) tief internalisiert: Wir haben ´s und verschicken es dann! So wurden im kirchlichen Bereich jahrzehntelang exportiert: deutsche Ordensschwestern und Priester (das ist jedoch schon seit Jahren ausgelaufen), deutsche Philosophie und Theologie ( in mexikanischen Priesterseminaren schwitzen die Studenten über Kant, Hegel, Rahner usw.; studieren aber nicht die eigene Indio – Philosophie und Indio – Theologie; diese Materien gibt es fast noch nicht) und deutsche Technologie als Entwicklungshilfe. Ist das nicht Neo-Kolonialisierung?, so fragte provozierend schon vor 40 Jahren der Theologe und Kulturkritiker Ivan Illich im mexikanischen Cuernavaca.
Den in Deutschland überall spürbare große Kirchenfrust bekomme ich sehr deutlich mitgeteilt. Ich empfinde ihn jedoch auch als Chance, sich zu öffnen für das. was schon seit vielen Jahren in Lateinamerika anders und ermutigend praktiziert wird, vor allem in der christlich – kirchlichen Selbstorganisation. Ich mache das fest an den derzeitigen Strukturreformen vor Ort. Leider gibt es diese Strukturreformen nicht auf anderen Ebenen und nicht, z.B. in der dringend zu überwindenden Klerusfixierung. Die Gründungen neuer Großpfarreien haben Konfusionen, Irritationen und Verletzungen mit sich gebracht. So wird nachgehakt: Jetzt haben wir neue Strukturen: Und was dann? Aber: Wie macht Ihr das in Mexiko konkret? Können wir davon etwas lernen, bei uns anwenden?
Großpfarreien sind seit Jahrzehnten die typische Form einer Pfarrei in Mexiko. Denn im Vergleich zu Deutschland gab schon immer viel weniger Priester und damit auch größere Pfarreien. Denn nur Priester dürfen nach dem Kirchenrecht Pfarreien leiten. Hinzu gekommen ist in den letzten Jahrzehnten ein starkes Bevölkerungswachstum. Insofern haben die Pfarreien an Mitgliedern zugenommen, ohne dass entsprechend die Priesterzahl gewachsen ist. Ein typisches mexikanisches Bistum mit heute etwa einer Million Katholiken hat zwischen 50 bis 70 Priester. Die in der realen Pastoralarbeit vor Ort Eingespannten, einschließlich Generalvikar, Pastoralvikar, usw. sind alle Pfarrer in Pfarreien mit 20 – 30 Tausend oder noch mehr Katholiken.
Sicher gilt es, historisch gewachsene unterschiedliche Rahmenbedingen wahrzunehmen und nicht naiv Übertragungen vorzuschlagen. Auf deutschem Boden wachsen halt andere Bäume mit anderen Früchten. Unterschiedlich sind vor allem:
Die materielle Basis: Eine immer schon finanziell und personell (im Sinne der Anzahl hauptamtlicher Mitarbeiter) arme Kirche ist zugleich freier, kreative Veränderungen voranzubringen als eine reiche deutsche Diözese mit hunderten Hauptamtlichen im Generalvikariat und mit vielen Pfarreien, die oft zugleich die größten Anstellungsträger vor Ort sind.
Die Volksreligiösität und Selbstorganisation: Immer schon wenig Priester beinhaltet auch, dass die Leute es gelernt haben, selbst ihr Christ Sein zu leben und zu pflegen und die notwendigen kirchlichen Dienste vor Ort, d.h. in ihrer Kleingemeinde, soweit wie eben möglich selbst in die Hand zu nehmen. Deshalb ist es nicht ungewöhnlich, dass ein Laie als Zelebrant oder Zelebrantin (so werden sie genannt) den Sonntagsgottesdienst (in Abwesenheit eines Priesters; das kommt sehr oft vor) oder die Beerdigungsfeier leitet. Dem steht kirchenrechtlich nichts im Weg und das allgemeine Priestertum hat so Hand und Fuß.
Kulturell verschiedener Umgang mit Ordnung und Normen: Aus vitaler Notwendigkeit heraus haben die Menschen gelernt, so weit wie möglich das Notwendige selbst zu regeln: Normen müssen dem Leben dienen und damit auch die kirchlichen Ordnungssysteme mit ihren Regeln: Was nicht verboten ist, ist zuerst einmal erlaubt, und was nicht so anwendbar ist vor Ort, wird mit natürlicher Freiheit gestaltet.
40 Jahre lateinamerikanischer Weg der Pfarreierneuerung: Die Bischofsversammlung von Medellin (Kolumbien, 1968) hat in Anwendung der Konzilsbeschlüsse für die ganze lateinamerikanische Kirche klare Orientierungen erarbeitet. Als Schlaglichter erwähne ich: Option für die Armen und für eine integrale Evangelisierung und deshalb die Option für Basisgemeinden, Laienmitarbeit und eine kreative Vielfalt von Diensten. Wenn auch über konfliktreiche Etappen hinweg, die letzte Bischofsversammlung in Aparecida (Brasilien, 2007) hat erneut und eindringlich unterstrichen: Weg von einer bewahrenden und hin zu einer missionarischen Pfarreipastoral; und „missionarisch Sein“ ist Aufgabe aller Getauften. Deshalb geht es nicht anders: Kirche in den Händen der Leute! Das benötigt vor allem eine ganz eigene Spiritualität christlicher Verantwortung, benötigt aber auch Leitbilder, Pastoraloptionen und – das ist der sensible Punkt – Pfarrer / Pastoralteams, die nicht Alles bestimmen wollen, sondern die loslassen und zulassen, die ermutigen und begleiten. Hierarchie ist nicht Monarchie; „wer der Erste sein will, soll der Diener Aller sein“, sagte schon Jesus.
Was so schon seit langem Praxis ist, nicht nur Folge von Priestermangel: Wir haben uns daran gewöhnt, von drei Kirchenebenen auszugehen: Weltkirche (Vatikan), Ortskirche (Diözese) und Pfarrei (Basiskirche). In den ersten drei Jahrhunderten des Beginns der Kirche war das nicht so. Die Basis bestand vielmehr aus einer Vielzahl von Hauskirchen / Kleingemeinden, dann gab es die Vernetzung dieser Basis auf Stadtebene und schließlich die universelle Kirche.
Das entscheidend Christlich – Kirchliche findet vor Ort statt, nicht als Kleinfamilie, sondern als Basisgemeinde. Sie kann territorial (Wohnviertel) sein oder auch ausdifferenzierter je nach Milieus und Lebenswelten. Entscheidend ist: das reale Leben mit Ängsten und Hoffnungen wird geteilt (Koinonie) und solidarisch verteilt (Diakonie), das „neue Leben in Christus“ wird bedacht und vertieft (Katechese) und dann gefeiert in vielfältigen Formen (Liturgie). In der Wichtigkeit steht nicht an erster Stelle „sie gingen zum Tempel“, sondern das Miteinander als Hauskirche – Kleingemeinde (vgl. die Berichte der Apostelgeschichte). Genau dies macht sie attraktiv. Es ist die Zeit gekommen, in den komplexen heutigen Umbrüchen („Epochenwechsel“ nennt es Aparecida) sich von dieser frühkirchlichen Praxis inspirieren zu lassen.
Das beinhaltet unter anderem die internalisierte Vorstellung zu überwinden, das “Pfarrei” gleich “Gemeinde” ist. Eine Pfarrei, der formal Tausende von Katholiken angehören, kann nicht direkt diese “Koinonie“ zwischen Allen leben und deshalb nicht wirklich „Gemeinde“ sein. Sie kann bestenfalls eine Gemeinschaft von vielen Gemeinden sein, von Gemeinschaften, Basisgruppen, Solidarkreisen, „Christseinsbiotopen“, ein möglicher neuer Begriff?
Es ist deshalb heutzutage auch notwendig, die historische Fixierung auf das vom Johannes Evangelium geprägte Pastoralmodell (Hirt und Herde:, der Pastor, der alle bei Namen kennt und dem Verlorenen nachgeht! Wie ist das möglich bei 20 Tausend?) zu überwinden. Wir haben doch vier Evangelien! Es gilt, den Übergang zu gestalten zu einem vom Apostel Paulus geprägten Evangelisierungsmodell: viele kleine Gemeinden (Christus –und nicht der Pfarrer- ist das Haupt und alle sind Glieder) mit unterschiedlichen Diensten und Ämtern.
Der Theologe José Comblin (Brasilien) drückte das so aus: „Wir müssen die Kirche in einer Stadt uns vorstellen wie ein Archipel mit vielen kleinen Inseln, d.h. Gemeinden, wo bei hohem Wellenschlag die Boote anlegen können“. Bei einem Workshop stellte ein ehrenamtlicher Gemeindeleiter seine Pfarrei wie folgt vor: „Wir verstehen uns wie einen großen Obstgarten. Jeder Gemeinde ist ein eigener Baum mit Ästen und den Früchten je nach Baumart; und es gibt Große und Kleine, Junge und Alte, Krumme und gerade Gewachsene. Alle zusammen sind wir unsere Pfarrei. Ein solcher Obstgarten muss natürlich kultiviert werden; da machen wir alle mit. Unser Pfarrer hilft auch mit, gibt Ratschläge, schult uns, erarbeitet mit uns zusammen den Jahresplan und steht uns zur Verfügung in Sorgen und Freuden.“
Genau diese Erfahrungen in Großpfarreien, die „mehr Christ sein und Kirche sein in den Händen der Gläubigen“ ermöglichen, können für die derzeitigen Bemühungen um Pastoralerneuerung in den neuen deutschen Großpfarreien zumindest inspirierend sein. in Mexiko geht es darum, dass die vielen kleinen Gemeinden den Menschen in der Stadt oder auf dem Land helfen, miteinander das Leben zu gestalten, Auswege aus der Gewalt zu suchen, Hilfsbereitschaft zu fördern, politisch sensibel zu werden. Denn für uns sind diese vielen kleinen Gemeinden kein Selbstzweck! Es geht ja nicht primär um die Kirche, nichr nur um Gottesdienste im engeren Sinne, schon gar nicht um den Ausbau der Macht der Kirche. Es geht einzig darum, in diesen Gemeinschaften den Menschen zu dienen und Schritte zu einer größeren Gerechtigkeit zu finden, die natürlich auch politisch Ausdruck finden muss.

Wie kann in Mexiko Veränderung gelingen?

“ÜBERDURCHSCHNITTLICH ZUFRIEDEN” UND ZUGLEICH “DIE SCHNAUZE VOLL!”
Wie kann in Mexiko Veränderung gelingen?
Von Alfons Vietmeier, Mexiko – Stadt, Anfang Juni 2011

Viele Reisende aus Deutschland kommen nach Mexiko mit Informationen über ein landschaftlich und kulturell reiches Land, das aber zugleich in einer tiefen Krise steckt mit einem besorgniserregend hohem Armuts – und Gewaltindex. Beim Spaziergang durch die Straßen kleiner und großer Städte gibt es dann schnell ein Erstaunen: Überall herzlich – erfreuliches Leben! Es gibt viel mehr Kinder und Jugendliche als in Deutschland und die haben ihren Spass auf den Strassen und in den Park; in der Metro zwitschern verliebte junge Pärchen; ältere Menschen erklären höflich den Weg ;lachende junge Frauen stehen zusammen beim Schwatzen an der Tortilla-Bäckerei. Um nicht zu idealisieren: Natürlich fallen auch viele bekümmerte und müde Gesichter auf. Jedoch der Eindruck bleibt, auch nach Wochen und Jahren in Mexiko . Trotz all des Schlimmen, was tagtäglich passiert und wovon die Nachrichten voll sind: Die Stimmungslage der ganz großen Mehrheit der mexikanischen Bevölkerung ist “überdurchschnittlich zufrieden”.
Das ist erneut im internationalen Vergleich dokumentiert worden im jüngsten Zufriedenheitsindex der “Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung” (OECD). Das verwundert sogar die öffentlichen Medien. “Mexiko, GLÜCKLICH trotz schlechter Lebensqualität!”, so steht es groß als Titelzeile in einem Massenblatt. Und das trotz aller objektiven Daten, die eigentlich auf ein depressives und zugleich aggressives Grundempfinden der mexikanischen Gesellschaft schliessen müssten.
Wie erfasst man, wie lebenswert ein Land ist? Der klassische Ansatz fragt vor allem nach materiellen und politischen Eckpunkten: Beschäftigungindex, Einkommensniveau und Kaufkraft, Wohnung, Gesundheitsversorgung, Bildungssystem, Rechtssicherheit usw. Laut dieser seit Jahren realisierten Studie der OECD befindet sich Mexiko unter den 34 Mitgliedsstaaten bezüglicher solcher Eckpunkte an vorletzter Stelle und Deutschland in der Spitzengruppe. Als Beispiele mögen folgende Daten dienen: Das durchschnittliche Jahreseinkommen in Mexiko beträgt 12.100 Dollar, im Vergleich zu 22.200 Dollar im OECD – Schnitt. Zugang zur Bildung: Im Mexiko haben nur 34 % der arbeitenden Bevölkerung einen Schulabschluss, während der OECD Standard bei 73 % liegt. Jedoch bei der Frage, wie zufrieden insgesamt die Befragten sich fühlen, liegt Mexiko deutlich über über Deutschland, ein “Volk notorischer Nörgler auf hohem Niveau” (Spiegel – Online, 26.05.2011).
Warum? Die Antwort ist nicht leicht, man muss sich differenzierter nachdenken.
Da sind zuerst und vor allem die sozialen Beziehungen, die weithin noch halten und als Sicherheitsnetz dienen, “trotz allem…” Fast jeder hat Onkel und Tanten, Cousinen und Vetter, Hochzeits- und Taufpaten; und diese haben wiederum… Aus vitaler Notwendigkeit über Jahrhunderte kultiviert, befindet sich fast jeder in einem Beziehungsgeflecht. Das heißt konkret: wir helfen uns gegenseitig! Und das macht zufrieden! Wer es akzeptiert z. B. eine Patin zu sein, rechnet damit, dass “irgendwann” auch dem Patenkind geholfen werden muss, einen Job zu finden oder… Das ist gleichsam eine kulturell – moralische Norm. Also, trotz Arbeitslosigkeit und eines schlechten Gesundheitssystems gilt: “Wir kriegen das schon hin, “irgendwie” einen Weg zu schaffen, der uns zufrieden macht und erhält”.
Von solcher Grundeinstellung her gibt es eigentlich nicht die Krise einer deutschen Mittelschichtsgesellschaft, die nach oben gekommen ist, Wohlstand geschaffen hat und dann immer in Angst lebt, das Erworbene zu verlieren. “Wir in Mexiko waren halt immer schon knapp dran. Aber meine Familie ist jetzt etwas besser dran als damals die Familie meiner Eltern. Wir haben eine kleine und dezente Wohnung und 2 Kinder studieren sogar!,” erzählt mir Josefina, die eine kleine kirchliche Basisgruppe leitet.
Soche Beziehungen müssen gepflegt werden. Im Laufe des Jahres gibt es immer Gelegenheiten miteinander zu feiern: Es vergeht kein Monat ohne irgendein soziales, ziviles oder religiöses Fest. Das ist immer Anlass, sich zu treffen, um miteinander zu essen, zu trinken, zu singen und zu tanzen… und –ganz wichtig- sich auszutauschen und konkrete Absprachen zu treffen. Das hat Kultur und ist Kultur.
Sicher hat solche positive Grundstimmung auch ihre erheblichen Schattenseiten: Beziehungsgeflecht beinhaltet auch Vetternwirtschaft, Seilschaften und “Klüngel”. Da ist Tür und Tor offen für Korruption (“der Pate regelt das schon…”) und für Kleptokratie (statt Demokatie): “Da sowieso die Institutionen schwach und korrupt sind, warum sollen wir nicht das für uns rausholen, was möglich ist…!”
Und hier wird dann konkret die tiefere Krise eines solchen “Systems”, das bisher es noch ermöglichte, “mehr oder weniger” zufrieden zu sein mittels solcher Umgangsformen und Absicherungsstrategien. Aber wie lange noch? Für wie viele ist ein solches Sichheitsnetz schon zerrissen? Die Millionen Migranten, die Drogenökonomie und die damit verbundene extrem schnell wachsende Gewaltszene machen das sehr deutlich.
Es geht dabei nicht darum, die soziale Beziehungskultur abzuwerten, sondern sie umzuformen und mit neuen Werten zu füllen. Zum Beispiel: Für Transparenz der öffentlichen Finanzen sich einzusetzen, auch wenn “Schmieren” eine übliche Alltagspraxis ist! Solidarisch sein mit den Opfern einer korrupten Wirtschaftspolitik (Betriebsschliessung mit Massenentlassung), auch wenn der politische “Pate” ein Teil der Ursache ist! Es geht um Menschenwürde und Menschenrechte, die höhere Werte sind als das Beziehungsgeflecht einer Vetternwirtschaft.
Solches Umformen ist nicht leicht, geschieht aber seit Jahren in einer großen Vielzahl von Sozialbewegungen und Organisationen der Zivilgesellschaft, von denen sehr viele christlich inspiriert sind. Oft waren es engagierte Leute in kirchlichen Basisgruppen, die dort gelernt haben die “Unterscheidung der Geister” zu praktizieren und denen dann irgendwann das “Pfarreimilieu” zu eng wurde: Einfach deshalb, weil der Kleriker immer gefragt werden will und Unterordnung erwartet und weil auch die grosse Mehrheit der pastoralen Ehenamtlichen religiös und politisch sehr konservativ ist. Die große Mehrheit der mexikanischen Solidar-, Öko- oder Menschenrechtsszene hat (im Auszug aus dem pfarrkirchlichen Milieu und bei bleibendem christlichen Engagement) hier ihren Ursprung. Seit Jahren wächst in diesem weiten Bereich eine “kritische Bewegung”, die gesellschaftsverändernde Dynamik voranbringt und gerade diesen Einsatz als erfüllend empfindet und deshalb “kritisch – zufrieden” ist: “Wir können noch ‘ne Menge bewegen! Fast ohne materielle Mittel, aber mit großer Kreativität kommen wir voran! Das macht Freude!”, meint Oscar, engagiert im Netzwerk “Alle Rechte für Alle!”
Eine solche “kritische Massenbewegung” hat ein enormes Potential in sich, das sich sozusagen entlädt, wenn “etwas ganz Ernstes” passiert. Das geschah in Mexiko z.B. 1985, als ein schlimmes Erdbeben ganze Straßenzüge, Kliniken usw. zerstörte. Es war zugleich auch ein soziales und politisches Erdbeben. Seit langer Zeit befindet sich Mexiko in einem zivilen Krieg (Drogenkrieg), in dem es in den letzten dreieinhalb Jahren über 40.000 Ermordete gegeben hat, allein im letzten April waren es 1 427 Tote. Am 8 März 2011 wurden in Cuernavaca (eine Autostunde von Mexiko – Stadt entfernt und “Stadt des ewigen Frühling” genannt; jetzt vom Volksmund umbenannt in “Stadt der ewigen Schiesserei”) 7 junge Erwachsene ermordet gefunden, unter ihnen der Sohn des Dichters und Schriftstellers Javier Sicilia, ein im ganzen Land bekannter Interlektueller aus dem Kreis um den berühmten Theologen und Gesellschaftskritiker Ivan Illich (1926 bis 2002): Jetzt war das “Fass übergelaufen”! Es bildete sich spontan eine Solidarbewegung, insbesondere christlicher Provenienz, wo Sicilia groß geworden war und weiterhin aktiv ist. Die Empörung war enorm! “…hasta la madre!” (so ungefähr wie “… die Schnautze voll!”), war das Poeten – Leitwort, das den Zorn orientierte. Es wurde ein viertägiger Marsch nach Mexiko – Stadt initiiert mit Schneeballefekt: Am Sonntagnachmittag füllten 150.000 Schweigende solidarisch den Hauptplatz: Das Motto: “Nicht mehr Blut!”. Es war die Stunde der Berichte und Zeugnisse der Mütter von Ermordeten und von Poeten, die besser als geübte Aktivisten oder Politiker in Worte und Zeichen fassen konnten, was viele Tausende im Innern bewegt hat. Ich habe sehr viele weinen gesehen und auch meine Augen wurden feucht. In Gesprächen wurde immer wieder betont: “Meine Tränen fließen aus Trauer und Wut über das, was passiert. Aber es sind auch auch Freudentränen: Endlich bewegt sich unsere Gesellschaft! Schaut, wie wir uns neu vernetzen !”
Dieser Nachmittag war zugleich die Geburtsstunde einer neuen mexikanischen Friedensbewegung: ein nationaler “Pakt für ein Mexiko in Frieden mit Gerechtigkeit und Menschenwürde” beginnt sich zu vernetzen. In diesen Tagen bricht eine Karavane auf nach Ciudad Juárez, dieser traurig – berühmten Millionenstadt an der Grenze zu den USA. Am Sonntag, dem 10. Juni, wird dort dieser Nationalpakt der Zivilgesellschaft vertieft. Dieses Datum hat auch symbolische Bedeutung. Vor genau 40 Jahres (es war das Fronleichnamsfest 1971) gab es in Mexiko – Stadt eine grosse Studentendemostration, die brutal von paramilitarischen Gruppen zusammengeschlagen wurde mit über 70 Toten (“Leichnamsfest”): Geschichte bleibt lebendig!
Der Pakt beinhaltet folgende 6 Forderungen, von denen jede wiederum eine Liste von Konkretisierungen beinhaltet:
Wir fordern:
1. Die Morde und das Verschwinden von Personen aufzuklären und diese Opfer auch namentlich bekannt zu geben…
2. Die Kriegsstrategie (gegen die Drogenkartelle) zu beenden und den Schwerpunkt auf die Sicherheit der Bürger zu setzen…
3. Die Korruption und das Straffreibleiben zu bekämpfen…
4. Die ökonomische Wurzel und die Gewinne der Verbrechensorganisationen zu bekämpfen…
5. Eine dringende Aufmerksamkeit auf die Situation der Jugend und effektive Aktionen zur Erneuerung des sozialen Netzes…
6. Eine Demokratie mit mehr Bürgerbeteiligung…

Die da einbezogen sind, sie stecken einander in ihrer Begeisterung an, machen Mut, man vernetzt sich… Die “kritische Massenbewegung” wirkt wie Sauerteig und die oben beschriebene Qualifizierung der mexikanischen Bevölkreung als “überdurchschnittlich zufrieden” erhält neue Motive und Aufgaben.

Geistliche Gemeinschaften: Wie geistlich sind sie wirklich?

Der folgende Text ist die noch ungekürzte Fassung einer Ra­dio­sen­dung des Deutschlandfunks. Wir bieten das Manuskript (in der für Hörfunkproduktionen üblichen Form) zum privaten Gebrauch. Das Thema berührt auch religionsphilosophisch Interessierte wegen der Beziehungen zu aktuellen Themen der Religionskritik. C.M. Siehe auch den Kommentar am Ende des Beitrags.

DEUTSCHLANDFUNK – Köln
Redaktion Religion und Gesellschaft
Tel.: 0221 / 345 1580
Redaktion: Hartmut Kriege
STUDIOZEIT
Aus Religion und Gesellschaft
Die hochgelobten „Geistlichen Gemeinschaften“ werden mehr und mehr zur Belastung der Katholischen Kirche
Von Christian Modehn

Sendung : 23. Februar 2011
Uhrzeit : 20.10 – 20.30 Uhr Weiterlesen ⇘

Angesichts der Gewalt – die Hoffnung kultivieren.

In der neuen Rubrik “Der andere Blick” wird ab 1. Februar 2011 der Theologe, Supervisor und Autor Alfons Vietmeier einmal im Monat aus Mexiko – Stadt (dort lebt er seit fast 30 Jahren) als Gastautor schreiben; er wird Themen aufgreifen aus den Bereichen Ethik, Soziales, Religionen in Mexiko und Lateinamerika. Dies ist eine wichtige Horizonterweiterung für den Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon. Der kulturelle Dialog über die europäischen Grenzen hinaus ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit philosophischer Dispute. Jetzt können wir damit starten und hoffen auf regen Austausch. Selbstverständlich können LeserInnen und TeilnehmerInnen des “Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons” Themen-Vorschläge und Fragen zu dieser Rubrik mitteilen. Ein weiterführender Kommentar wurde am 4. 2. 2011 zugesandt, siehe am Ende des Beitrags von Alfons Vietmeier.

Angesichts der Gewalt: Die Hoffnung kultivieren

Von Alfons Vietmeier, Mexiko, im Januar 2011
I.
Mexiko – Stadt: Am Neujahrsvormittag spazieren wir durch den nahen Park. Unsere Töchter entdecken es zuerst: ein Schwarm von Raben verfolgt einen kleinen Wellensittich, wohl entkommen seinem häuslichen Käfig. Sie picken auf ihn ein und er flattert zu Boden. Wir laufen hin und vertreiben die Raben. Der Kleine lebt noch. So bringen wir ihn zu einer uns bekannten Tierärztin. “Wie heißt er?” Die Mädchen (12 und 16 Jahre) entscheiden: “Esperanza (Hoffnung) soll er heissen!” Eine kurze Behandlung ergibt: “Hoffnung” hat noch etwas Überlebenschance! Erfreut fahren wir nach Hause. Jedoch nach 5 Stunden finden wir ihn tot auf. Uns werden die Augen feucht. So traurig beginnt das Neue Jahr!
Beim Abendessen zünden wir eine Kerze an und erzählen… Wir kommen zu sprechen auf wachsende Aggressivität in den Schulen und auf der Strasse, auf Gewalt und Drogenkrieg: “2011, das wird ein Rabenjahr werden!”, meint bedrückt die Jüngste.
Das Dreikönigsfest ist in Mexiko der Tag der Geschenke. Die Töchter bekommen je einen neuen Wellensittich: Es darf doch nicht sein, dass Hoffnung stirbt! Aber, sie muss behutsam und kontinuierlich gepflegt werden. Und die Augen leuchten!
II.
Das neue Jahr begann mit dem Eingeständnis der mexikanischen Regierung, dass der “Krieg gegen die organisierte Kriminalität” im Jahr 2010 über 15 000 Tote gefordert hat, mehr als je zuvor. Zum Vergleich: im Krieg in Afganistan und Pakistan gab es 2010 zusammen über 6 800 Opfer. Konkret heisst das für Mexiko, dass einerseits diese fürchterliche Zahl sich zusammensetzt aus Opfern der verschiedenen Kriege unter den Drogenkartellen um die Kontrolle über ihrer Einflusszonen (Bundesstaaten, Grossstädte und Transportwege) und andererseits aus dem Krieg des mexikanischen Heeres gegen diese Kartelle. Die Hauptkampfgebiete sind in den nördlichen Bundesländern hin zur Grenze zu den USA. Zudem gewinnt an schlimmer Bedeutung das Kartell der “Zetas”, (gegründet von ehemaligen Spezialeinheitten des. guatemaltekischen Heeres und berüchtigt durch extreme Grausamkeit), mit seiner wachsenden Kontrolle über mehrere Millonen von Migranten aus den zentralamerkanischen Ländern auf dem Weg in die USA.
Das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung im “Konfliktbarometer 2010” ordnet Mexiko unter die 6 Länder mit der größten Gewaltrealität weltweit ein, d.h. zusammen mit Somalia, Sudan, Irak, Afganistan und Pakistan. Ciudad Juárez, mexikanische Grenzstadt zu den USA hat den traurigen Rekord, sich weltweit an der Spitze der gewalttätigsten Städte zu befinden. Die Tendenz ist steigend, d.h. für weitere Jahre wird es mehr Leid und mehr Tote geben. Also, doch ein “Rabenjahr”?!
III.
Worum geht’s und was steckt dahinter?
Es geht zuerst einmal um Drogen und ihrem Konsum: Der Drogenkonsum wächst und wächst! Und da wachsender Bedarf ist, wird entsprechend produziert und kommerzialisiert. So ist die Marktlogik. Die USA sind das Land mit dem absolut höchsten Drogenkonsum. Sicher ist das Thema “Drogenkonsum” sehr komplex und es ist wichtig zu differenzieren: So ist Marihuana nicht gleich Kokain und auch Alkohol und Tabak sind Drogen. Wie auch immer, ein wachsender Drogenkonsum indiziert auf jeden Fall auch eine wachsende Krise des jeweiligen Gesellschaftssystems und dessen Werteskala. Der soziale Druck nach immer mehr Leistung, Gewinn und Vermögen beinhaltet zugleich auch mehr Stress mit wachsender Agressivität oder Depressivität. Da haben Drogen einen leichten Einstieg!
Es geht dann vor allem um’s Geld. Im Drogenhandel werden extrem hohe Gewinne erzielt. So kostet ein Gramm Kokain in der Herstellung ca. 1 US-Dollar, wird aber dem Konsumenten für etwa das 50- bis 100-fache verkauft. Der Umsatz von illegal verkauften Drogen wird weltweit derzeit ca. 500 Milliarden US-Dollar jährlich geschätzt. Das heist, dieses enorme Geschäft braucht Organisation, inzwischen gewachsen zu internationalen Wirtschaftskonzernen mit all dem was das beinhaltet: tausende hochspezialisierte Mitarbeiter, hightech Logistik, Optimierung der Geldanlagen, usw. Dieser “Wirtschaftssektor” hat seit Jahren zudem begonnen, ihre “Produktenpalette” zu diversifizieren: ist aktiv geworden im Waffenhandel, in der “Entführungsindustrie”, usw. Deshalb sprechen wir immer weniger von Drogenkartellen, sondern von “organisierter Kriminalität”. Diese braucht ihre spezialisierten Exekutivgruppen, z.B. zum brutalen Hinrichten von Kontrahenten im eigenen Herrschaftsbereich; und immer mehr Minderjährige sind bereit zu diesem Tötungsgeschäft.
All das verunsichert zutiefst: Warum? In wem und in ‘was können wir noch vertrauen?! Wie viel Wert hat überhaupt noch das menschliche Leben? Ist Leben ein Wegwerf – Produkt?
IV.
Schon vor über 50 Jahren ging Erich Fromm, der damals im mexikanischen Cuernavaca lebte, in einer sozialpsychologischen Studie der Frage nach: Gibt es nur psychisch erkrankte Individuen oder und vor allem kann nicht auch eine Gesellschaft psychisch erkranken? Sein Ergebnis: “Wege aus einer kranken Gesellschaft”.
Heute sollten wir uns fragen: Woran krankt unsere (westlich – nördlich – okzidentale) Gesellschaft? Das muss radikal (an die Wurzeln gehend) und interdisziplinär analysiert werden. Es tauchen dann wichtige Fragen auf: Welches Leitbild prägt unser Fühlen und Denken? Einzig: Wohlstandsvermehrung? Und das für immer weniger, weil die Mächtigeren sich durchsetzen? (“Ellbogengesellschaft”). Wäre es nicht wertvoller das Leitbild “Wohlleben für alle” voran zu stellen, wie es Bolivien und Ecuador in ihre neue Verfassung eingeschrieben haben? Deshalb “anders besser leben!” Welche persönliche, soziale, ökonomische, kulturelle und politische Konsequenzen beinhaltet das. Und für Christinnen und Christen: Für welche andere Sozialgestalt unserer Kirchen müssen wir uns deshalb einsetzen?
Beim “Sehen – Urteilen – Handeln” in Basisgruppen und Kleingemeinden der christlich – solidarischen Szene, in der ich mich in Mexiko bewege, kommen wir immer wieder genau auf diese Punkte. Und dann wird’s konkret: Wie können wir eine “aktive Hoffnung weben”? So heisst das Leitwort der diesjährigen Kampagne unseres Kollektivs “Mission Brüderlichkeit”, seit 15 Jahren präsent mit einfachem Arbeitsmaterial, Workshops und Solidarinitiativen in einigen tausend Basisgemeinden mit ihren Gruppen. Und wir sind vernetzt mit vielen Organisationen der mexikanischen Zivilgesellschaft und diese über Mexiko hinaus. In der Gesellschaft selbst erwachsen immer neu Lebenskräfte. Sie kommunizieren und organisieren sich, insbesondere wenn ein “kritischer Punkt” sich ergibt, der das Vitale des gesellschaftlichen Miteinanders gefährdet, wie derzeit wohl der Fall ist. So hat es sich beim riesigen Erdbeben 1985 erwiesen. Es gibt wachsend innovative Praktiken und komplexe Strategien gesellschaftlicher Transformationen, “…um auszureissen und niederzureissen, aufbauen und einpflanzen.”(Jer 10.10). Solche hoffnungsvolle Praxis einer gesünderen Gesellschaft gilt es zu kultivieren.
Copyright: alfons vietmeier.

Alfons Vietmeier, Diplomtheologe und Supervisor, lebt und arbeitet seit 1983 in Mexiko. Zuerst 7 Jahre pastoraler Mitarbeiter in einem integralen Entwicklungsprojekt unter Indiobevölkerung. Seit 1991 Bildungs-, Beratungs- und Vernetzungsarbeit in einem ökumenischen Studienzentrum, inmitten der Megacity Mexiko und auf Nationalebene. Seit 3 Jahren emeritiert und ehrenamtlich tätig in verschiedenen Netzwerken und Stiftungen im Übergang von Kirche, Zivilgesellschaft und alternativer Ökonomie. Mitbegründer des Nationalen Netzwerkes für Grossstadtpastoral.
Email: pasosalfonso@att.net.mx

Ein KOMMENTAR, zugesandt von Benedikt am 4. 2. 2011:
Lesenswert der Artikel von Alfons Vietmeier.
Mir fallen zu Mexiko immer gleich die
illegalen Waffenverkäufe von heckler & koch ein, in die
Nordprovinzen von Mexiko und die Schulungen von
Polizisten dort. In der Wikipedia tobte in den letzten
Wochen ein Kampf um den Umfang der Kritik an dieser
“feinen” Firma, die im Wahlkreis von Herrn Kauder (CDU Politiker, ergänzt von CM)
liegt, hoch verschuldet ist und Waffen verkauft, wie andere Kokain…