Wenn die Institutionen überholt sind…Alfons Vietmeier schreibt aus Mexiko

Der andere Blick: Anfang März 2011
Alfons Vietmeier berichtet aus Mexiko – Stadt.
Wenn die Institutionen überholt sind: Über die Fähigkeit, die Gesellschaft kreativ von unten neu zu organisieren

I.
“Mexiko ist krank. Fast alle sind wir einverstanden mit dieser schmerzhaften Diagnose.” So beginnt eine Presseerklärung der mexikanischen Bischofskonferenz am Montag, 21. Februar 2011.
Versuchen wir zuerst blitzlichtartig einige Symptome dieser Erkrankung sichtbar zu machen.
Das öffentliche Gesundheitssystem ist krank. Über meine Frau bin ich mitversichert im ISSTE, dem Nationalinstitut für Angestellte im Öffentlichen Dienst (in Mexiko gibt es nicht das deutsche Beamtensystem.). In der für uns zuständigen Klinik unseres Ortsteils in Mexiko – Stadt bin ich dem 18. Sprechzimmer der Nachmittagsschicht zugeordnet. Ich beantrage bei der Ärztin für den jährlichen Check eine kostenlose Blut- und Urinanalyse. Für die erste Untersuchung gibt es 3 Tage später einen Termin. Als ich um 7 Uhr ankomme, reihe ich mich in eine riesige Schlange ein: Nach 1 ½ Stunden bin ich dran, der 233-igste (!) an diesem Morgen. Für die Urinanalyse bekomme ich leider einen Termin erst in 6 (!) Wochen. So gehe ich zu einem Privatlabor, bin sofort dran, bezahle 30 Euros und hole abends das Ergebnis ab.
In den Nachrichten an diesem Abend gibt es einen längeren Bericht über die Krise im öffentlichen Gesundheitssystem: den Klinikenapotheken mangelt es an Medikamenten, es fehlen Kliniken, neuere Apparate, es fehlen Ärzte, sie werden schlecht bezahlt. Deswegen haben viele Ärzte noch eine zusätzliche Privatpraxis oder einen weiteren Job…
Aber vor allem, das System ist völlig überschuldet und für eine grundlegende integrale Sanierung und Modernisierung reichen nicht die im Haushaltsplan vorgesehen Mittel. Denn der Krieg gegen die organisierte Gewalt (sprich Drogenkartelle) hat Priorität. Konsequenz: Die beiden grossen öffentlichen Gesundheitsinstitutionen (es gibt noch das IMSS für die Angestellten der Privatwirtschaft) erweisen sich als unfähig und die Kranken suchen die Privatversorgung, falls sie zahlen können. Oder sie bleiben krank und sterben schneller. Zugleichzeitig ist es sehr interessant: Die Rückbesinnung auf die traditionelle Naturheilkunde boomt! “Gesundheit in den Händen der Leute!” ist zu einer wichtigen Sozialbewegung geworden. In Mexiko – Stadt hat z.B. das zivile Netzwerk “Gesundheit und Natur” in den letzten 12 Jahren etwa 10.000 Personen ausgebildet, die wiederum Selbsthilfegruppen gründen und inspirieren: Viele Kräuter haben Heilkräfte und reinigen Nieren, regulieren den Blutdruck usw. Dann gibt es eine Vielfalt von Massagen, wichtig für eine integrale Gesundheit.
Fast alle Systeme haben ähnliche, wenn nicht gleiche Krankheitssymtome: Das Bildungssystem mit Schulen und Hochschulen (laut PISA Studie befindet sich Mexiko an 30. Stelle der teilnehmenden Länder; Deutschland an 8. Stelle), das Wirtschaftssystem und die miserable Arbeitsmarktlage (deswegen wollen und müssen Millionen in die USA emigrieren), das Rechtssystem (98 % aller krimineller Handlungen führen nicht zu Verurteilungen; zugleich sind die Gefängnisse überfüllt vor allen von Kleintätern, die erst dort lernen “wie man’s macht”, um grösser einzusteigen und nicht erwischt zu werden), das Parteiensystem (“Formaldemokratie von politischer Elitegruppen, die sich bereichern mittels der öffentlichen Parteienfinanzierung” (so heute in einer wichtigen Tageszeitung), die öffentliche Verwaltung (mit rudimentärer Professisonalisierung,, denn alle 3 Jahre wird ein neuer Bürgermeister gewählt, der dann fast das gesamte Personal auswechselt und die ihm Vertrauten anstellt). Und es darf auch nicht übersehen werden: Die kirchlichen Institutionen werden ebenfalls den Herausforderungen der Realität absolut nicht mehr gerecht! Es wird ganz überwiegend eine “K3” – Pastoral praktiziert, die sich auf Kult, deshalb Klerus und deshalb Kirchenräume reduziert und ganz wenig zum wirklichen Christsein im Alltag beiträgt. Dieses nehmen dann die Leute selbst in die Hand, z.B mittels volksreligiöser Formen. Oder es werden Antworten auf vitale Notwendigkeiten in anderen Religionsorganisationen gesucht, wie z.B. die Pfingstkirchen sie anbieten.
Kürzlich zitierte ich in einem Podiumsgespräch über Gewalt und ihre Ursachen Hamlet: “Es ist etwas faul im Staate…”. Darauf sagte ein Teilnehmer: “Etwas? – Fast alles ist in einem dramatischen Verfaulungsprozess!”

II.
Die Analyse dieses “Verfaulungsprozesses” zeigt komplexe Ursachen:
Da ist zum einen das Gewicht der mexikanische Geschichte. Fast alle erwähnten öffentlichen Institutionen wurden in der postrevolutionären Etappe (nach 1917) geschaffen, als versucht wurde, die Revolution zu institutionalisieren. So wuchs ein sehr eigenes mexikanisches politisches System. Dieses hat sich durch den Druck der Zeitumstände etwas modernisiert und formal etwas besser demokratisiert. Aber es ist inzwischen überfordert und sehr viele Institutionen sind völlig obsolet, sie sind überholt. Eine radikale Neuorientierung wäre dringend notwendig, so wie sie in Bolivien und Ecuador vor kurzem erreicht wurde. Das ist derzeit und in absehbarer Zeit politisch jedoch nicht durchsetzbar.
In diesem Kontext spielt u.a. eine Schlüsselrolle die Korruption. Sie war ursprünglich und ist weiterhin eine Überlebens- und Aufstiegsstrategie durch Beziehungspflege und Seilschaften. Bei nicht vorhandenen oder schwachen, ungerechten oder obsoleten Institutionen braucht jede Familie oder gesellschaftliche Gruppe geeignete soziale Mechanismen um durchzukommen und weiterzukommen. Das geschieht dadurch, dass Beziehungen geschaffen werden: “compadrazgos” d.h. Patenschaften. Konkret sind das Hochzeits- und Taufpaten, Paten bei Haus- und Betriebssegungen und bei Anlässen aller möglichen Art. Solche “neufamiliären Beziehungen” helfen, z.B. eine Bauerlaubnis oder einen Studienplatz oder eine Arbeitstelle (schneller) zu bekommen. Und dabei wird natürlich auch Gegenleistung eingefordet. Der kritische Punkt ist dann überschritten, wenn eine solche Gegenleistung darin besteht, Wählerstimmen zu verpflichten, bei “schmutzigen Geschäften” zu schweigen oder kräftig finanziell dabei zu “schmieren”. Das ist Alltag geworden! Vieles läuft nur, wenn immer mehr und immer größere Summen dabei im Spiel sind. Laut jüngstem Bericht (Oktober 2010) von “Transparency International” befindet sich Mexiko auf dem 98. Platz bei der Länderbewertung über Korruption: diese verbreitet sich wie ein Strahlenkrebs und ist in allen Institutionen immer mehr präsent .
Dann ist seit etwa 20 Jahren der “neoliberale Zeitgeist” als Hegemonie und Herrschaft durchgesetzt. Der “big brother” im Norden und sein “american way of life” ist allgegenwärtig mit der Botschaft: Alles “Öffentliche” ist überholt, bürokratisch, ohne Effizienz und vor allem korrupt! Die einzige Lösung ist die Privatisierung, soweit es eben geht”. Also, deswegen soll das öffentliche Gesundheitssystem vermodern: Wer gesund werden will, soll halt die privaten Angebote nutzen (und bezahlen)! Private Kindergärten, Schulen, Universitäten: Das ist “in”! Autobahnen und Schnellstrassen mit Mautgebühren. Privatisierung der öffentlichen Sicherheit (Privatpolizei, geschlossene Wohnviertel mit Wächtern, etc): das ist ein blühender Wirtschaftsektor.
Nun benötigt die Privatwirtschaft natürlich “wohlgesonnene” gesetzliche Rahmenbedingungen, Erlaubnisse, öffentliche Aufträge, Steuererleichterungen etc. Und hier sind wiederum “Beziehungspflege und Seilschaften” grundlegend. So hat sich über viele Jahre ein “Klüngel – System” eingespielt von Komplizenschaft zwischen den politischen und wirtschaftlichen Eliten; sie sind die “faktischen Mächte”, die auf den drei Strukturebenen Stadt – Land – Bund herrschen, auch wenn es formaldemokratisch funktioniert. Aber wer bringt welche Abgeordnete in die jeweiligen Parlamente und Ministerien, sponsert Wahlkämpfe, unterstützt Präsenz in den Massenmedien (es gibt keine öffentlich – rechtlichen Radio- und Fernsehanstalten)?

III.
Er ist einfach nicht wahr, dieser Slogan: “öffentlich = schlecht” und “privat = gut”. Die Polarisierung in der Gesellschaft wächst erneut und immer dramatischer zwischen “die da oben” (die Wenigen, die die Systeme und deren Institutionen -öffentlich und privat- kontrolieren) und “die da unten” (inzwischen erneut ca. 60 % der Bevölkerung unterhalb der Armutsschwelle). Und wo Armut dominiert, funktioniert sehr schlecht die Demokratie.
In der solidarisch orientierten Szene in Mexiko und Lateinamerika (von Basisgruppen über soziale und zivile Netzwerke, der sozial orientierte Sektor der Kirchen und anderer Institutionen, auch unterstützt von einer wachsenden Zahl nicht – neoliberalen Akademiker) wird eine Neubesinnung auf die Prinzipien “Gerechtigkeit für alle und Solidarität” als konstitutiv für jegliche Gesellschaft eingeklagt und begründet; und nicht nur abstrakt “an sich”, sondern als konkrete Orientierungsvorgaben für Gesetzesrahmen, Institutionen und die praktische Politik bezüglich “öffentlich – privat – gesellschaftlich”. Die ethische und zugleich rechtliche Basis finden wir in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO, insbesondere im 3. Teil, wo u.a. festgeschrieben ist: “Jeder hat als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit (Art. 22). Jeder hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit (Art. 23). Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände (Art. 25). Menschenrechte müssen stets in ihrer Gesamtheit verwirklicht sein. Eine Umsetzung von Freiheitsrechten ist nicht möglich, wenn nicht gleichzeitig das Recht z.B auf Nahrung und Arbeit verwirklicht ist.
Wie weit entfernt sind wir noch in Mexiko und weltweit von dieser praktizierten Gültigkeit dieser neuen Weltgerechtigkeitordung! Aber auch kritisch nachgefragt: Setzt sich die deutsche Bundesregierung für die Gültigkeit dieser Rechte weltweit ein? Ist die neue Entwicklungspolitik ihres dafür zuständigen Ministeriums an diesem Pakt wirklich orientiert?
Aber währenddessen muss unsere Gesellschaft überleben und das mit Kreativität und mit Hand und Fuss. Insofern wachsen und vernetzten sich von unten nach oben ungezählte Selbsthilfeprozesse wie Gesundheit…, Sicherheit im Stadtviertel…, ethisch orientierter Konsum…, Rückgewinnung von öffentlichen Plätzen…, Kulturvielfalt…, Christsein in Basisgemeinden… und Vieles mehr…: Das alles in den Händen der Leute!. Solidarische Gesellschaft wächst von unten nach oben!
Solcher Standortwechsel benötigt auch einen Bewußtseinswechsel und viel Fähigkeit zur “Unterscheidung der Geister”: Wie befreien wir uns vom internalisierten korrupten Klüngelsystem und vernetzten uns horizontal? Wie schaffen wir dabei eine solidarische demokratische Kultur?
Das ist alles noch sehr bescheiden; aber es wächst und verbreitet sich wie aus “vitaler Notwendigkeit”. In einem Workshop von kirchlichen Basisgemeinden erklärte das ein junger Mann, engagiert in einer ökologischen Bewegung: “Was verfault, kann entweder vergiften, aber es kann auch zu Dünger werden!” Über diesen Impuls haben wir dann weitergearbeitet: Es geht darum, eine Vielfalt von Begegnungsformen zu ermöglichen und zu begleiten, in denen konkrete Alltagssorgen und Hoffnungen miteinander geteilt werden und Lebensmut und Solidarität wächst. Das sind dann „Biotope von Glaube, Hoffnung und Liebe“, das sind Zellen und Gruppen in Kleingemeinden. Darin zeigt sich eine Praxis, die mehr evangeliumsgemäss ist. Und diese Basisgruppen sind zudem so etwas wie „Sauerteig“ inmitten der immer komplexeren Gesellschaft, die sicher schlimm erkrankt ist, aber sie kann sich zugleich auch durch eigene Heilungskräfte erneuern.

Copyright: Alfons Vietmeier
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