Jede Religion ist esoterisch. Über die Rolle Vernunft bei esoterischen Lebensweisen

Jede Religion ist esoterisch

Oder: Warum private Überzeugungen übersetzt werden sollten und das Esoterische das Exoterische braucht

Hinweise von Christian Modehn

In unserem religionsphilosophischen Salon am 24.4. 2015 hatten wir uns ein recht umfangreiches Thema vorgenommen. Es ist zudem sehr komplex. Aber es ist ein notwendiges Thema, auch für eine „philosophische Lebensgestaltung“. Und die liebt bekanntlich nicht den Nebel des Ungefähren und Verschwommenen, des Mutmaßlichen und Rätselhaften, sondern eben Klarheit, so weit sie möglich ist.

Jeder/jede hat seine persönliche „Lebensphilosophie“ mit einem Mittelpunkt/Zentrum allen persönlichen Interesses. Diese eigene, Lebensphilosophie enthält oft esoterische Elemente und Inhalte. Aber sie sollte, wenn sie kommuniziert wird, in exoterischer Sprache, also in allgemeinen Vernunftbegriffen, ausgesprochen werden. Nur so verstehen die anderen, was ich (oder mein Freundeskreis) tatsächlich „präzise“ meine und wichtig finde. Ein bloßes Wiederholen meiner esoterischen Begriffe fördert kein wechselseitiges Verstehen und steht einer vernünftigen Gestaltung von Welt und Gesellschaft im Wege: Was nützt es, wenn jemand behauptet, ein Engel hätte ihm befohlen, dieses oder jenes gesellschaftlich zu tun? Oder gar ein Gott hätte es ihm einflüstert, also offenbart.

„Esoterisch“ bezieht sich auf das griechische Wort ἐσωτερικός, esōterikós, also innerlich‘, dem inneren Bereich zugehörig‘.Und mit diesem inneren Bereich, unserer privaten „Welt“ und mit unserer inneren Sprache haben wir immer zu tun. Diese innere Welt kann sich dann ausweiten zu einem großen Gebäude von Weltanschauungen usw. ein religiöser Mensch kann so tief die Sprache seiner Religion übernehmen, dass er alle Weltdeutung in dieser Sprache vollzieht. Das aber führt letztlich zu einer sektenhaften Abgeschlossenheit des eigenen Daseins.

Man könnte eigentlich annehmen, Esoterik spiele in der „total technisierten“ Gegenwart keine Rolle (mehr). Der Soziologe Max Weber sprach von der Entzauberung der Welt und meinte, „dass es prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da (in die Welt CM) hineinspielen, dass man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt“. (Max Weber, Wissenschaft als Beruf, München 1919). Heute jedoch gilt: Je mehr die Entzauberung der Welt als das Vertreiben des Numinosen um sich greift, um so stärker werden die Interessen an Wahrsagerei, Magie, Astrologie, new-age-Praktiken wie „Rückführungen“ usw. Es fällt den meisten Menschen in Europa schwer, ausschließlich in einer verstandesmäßig organisierten Welt zu leben. Sie meinen, der Verstand sei zu nüchtern, zu kalt, lasse die Gefühle unbefriedigt etc. Es müsste – gut hegelisch – der Unterschied zwischen Verstand und Vernunft herausgearbeitet werden. Vernunft ist das Umfassendere, Gründende, Verstand eher das technisch-praktische Organisieren: Aber ist die „innere“ Qualität der Vernunft tatsächlich „kalt“? Ist nicht das Gegebensein der Vernunft selbst schon etwas Erstaunliches? Führt Vernunft, tief genug reflektiert, nicht auch in eine „vernünftige innere Welt“? Aber für solche Reflexionen braucht man Zeit und Stille. Und die wollen nur wenige Menschen. Deswegen greifen sie schnell auf das große Warenangebot des kommerziell vorgefertigten Esoterischen zurück, um etwa abends, nach dem Stress, in eine andere (verklärte?) Welt einzutreten. Viele meinen, Esoterisches sei a priori heilsam, also der Gesundheit dienlich, möglichst auch als Melange mehrerer esoterischer Traditionen. Weil die Schulmedizin oft als kalt und inkompetent erlebt wird, erhofft man sich Heilung aus dem Gegenteil, der Esoterik. Diese hat nur deswegen einen so großen Zuspruch, weil das Gesundsein (und das lange Leben) unter allen nur denkbaren Werten im Westen an oberster Stelle steht. Deswegen zählt eine Religion, die nicht unmittelbar gesund macht, auch nur noch recht wenig…

In jedem Fall muss philosophisch die Vernunft in ihrer Tiefe auch als „Gabe“ verstanden verteidigt werden, sie ist mehr als eine kalte Form von Technik und „Gebrauchsanweisungen“. Die Reflexion auf die Vernunft selbst, auf ihren Grund, kann doch Erschütterungen und starke „innere“ Wahrnehmungen auslösen. As muss später weiter vertieft werden!

Viele Esoteriker waren zuvor Naturwissenschaftler, wie etwa der Kirchengründer und „Seher“ Emanuel Swedenborg. Ihm reichte die rationale Welt nicht, er erlebte das subjektive Wunder, Wunderbares zu sehen. Er hatte Gespräche mit Engeln und Geistern, die er nach seiner eigenen Aussage tatsächlich erlebte. Ihm war bewusst, dass er damit auf viel Unverständnis stoßen würde: „Ich sehe voraus, dass viele, welche das hier Folgende und die Denkwürdigkeiten hinter den Kapiteln lesen, dieselben für Erfindungen der Phantasie halten werden; allein ich versichere in Wahrheit, dass sie keine Erfindungen, sondern wirklich Geschehenes und Gesehenes sind. Gesehen nicht in irgendeinem Betäubungszustande des Gemüths, sondern im Zustande des völligen Wachens.“

Das ist dann ein durchgehendes Argument aller Esoteriker: Es ist sozusagen ihr Standard-Argument gegenüber den Exoterikern, dass sie an das Vertrauen der Leser appellieren. „Glaubt es bitte, denn ich bin es, der es euch sagt“. Tatsächlich geben sich viele mit solchen autoritären Vertrauens-Appellen zufrieden und folgen blind dem „Meister“. Welchen Stellenwert kann/darf also Esoterisches in meinem Leben spielen? Darf sie die prägende geistige Kraft sein? Etwa die Astrologie: Richte ich mich nach den Sternen oder denke ich noch selber über meine eigenen Entscheidungen?

Esoterik hat im religiösen Bereich stets einen kritischen Aspekt, sie ist Kritik an veräußerlichter, dogmatischer Religion. Von den dogmatischen, religiösen Führern wird sie deswegen kritisiert, oft verfolgt. Wahrscheinlich ist Friedrich Hölderlins Leben und Werk nur in dem Zusammenhang zu verstehen: Er litt unter dem rigiden Kirchenregiment in Tübingen, wandte sich der griechischen Welt zu und entdeckte -verehrend- die Mythen des klassischen Griechenlands als eine neue, bessere, tiefere religiöse Welt.

Die Beziehung „Mythen und Esoterik“ wäre weiter zu vertiefen…

Oft verfolgen auch Esoteriker, im Glauben, absolut die Wahrheit zu haben, jene Wissenschaftler, die das Esoterisch-Fromme ins Exoterische übersetzen wollen. Dafür gilt es tausende von Beispielen, man denke etwa an den Religionshistoriker Ernest Renan im 19. Jahrhundert: Er wurde massiv beleidigt und bedroht, weil er ein historisches, und nicht bloß ein frommes erbauliches und wunderbares Jesus Bild beschrieben hatte. Man denke an den Widerstand vieler muslimischer Kreise, wenn der Koran als ein literarischer Text behandelt wird und historisch-kritisch ausgelegt wird und die Frage gestellt wird: Kann denn Gott als Gott sich in einem einzigen Buch sozusagen „begrenzen“ lassen. Man denke an die Ausschluss-Verfahren des Vatikans gegen Hans Küngs Neuinterpretation zur „Unfehlbarkeit des Papstes“…

Wir begegnen dem Esoterischen auch in der Gesellschaft, der Politik, der Wirtschaft: Etwa das Glaubens-Dogma von Madame Thatcher: „Es gibt zum Neoliberalismus keine Alternative“: Das erinnert an die ebenso esoterische These von der allein selig machenden Kirche. Politische, ideologische Propaganda ist esoterisches Blendwerk, etwa das Buch Hitlers oder die antisemitischen Kampfschriften (Die Weisen von Zions) usw. Auch die heftige Polemik gegen die Feimaurer hat oft ihre Wurzeln in biblischen Bücher, etwa der Apokalypse des Johannes, dies ist ein ein hochkomplexer Text, der von Frommen wie ein Zeitungsbericht gelesen wird und entsprechend politisch umgesetzt wird.

Entscheidend ist die Erkenntnis: Jede Religion ist esoterisch, selbstverständlich auch die christliche ist esoterisch, denn sie basiert auf Schriften, in denen fromme Menschen von einst ihre eigenen frommen Überzeugungen unmittelbar darstellen: Nur einige Beispiele zur esoterischen christlichen, kirchlichen „Lehre“: „Gott ist dreifaltig“, „ Jesus wurde von einer Jungfrau geboren“, „Maria ist die Himmelskönigin“. „Jesus starb für unsere Sünden am Kreuz und erlöste uns durch seinen Tod“, „Der Papst ist der Stellvertreter Christi auf Erden“ usw. Jesus von Nazareth hat, soweit wir das histroisch rekonstruieren können, hat nur gelegentlich esoterisch gesprochen, etwa im Zusammenhang des bevorstehenden Reiches Gottes usw. Aber seine ethischen Weisungen (Nächstenliebe) sind so allgemein vernünftig einsichtig, dass sie nichts esoterisches haben. Die spätere Kirchenlehre hat aus Jesu Überlieferung ein hoch komplexes esoterisches Lehrsystem gemacht. Alle diese dogmatischen oder bloß volkstümlichen Überzeugungen (etwa das Antlitz Christi in Turin usw.) erschließen sich nicht einem vernünftigen Verstehen. Sie sind nichts als Ausdruck – durchaus subjektiv legitimer- persönlicher Glaubensüberzeugungen einer Gemeinschaft.

Der Unterschied zwischen kleineren und größeren esoterischen Religionen bzw. Kirchen ist entscheidend: Größere Religionen mit vielen Millionen Mitgliedern neigen dazu, im Rahmen der Theologie argumentativ von ihren esoterischen Grundüberzeugungen Brücken zu bauen ins Exoterische, also Vernünftige und allgemein Kommunizierbare. Wobei dann Gott nicht bewiesen werden kann, aber es kann gezeigt werden, dass es nicht unvernünftig ist, an eine transzendente „Wirklichkeit“ zu glauben. Hingegen schließen sich die kleinen esoterischen Glaubensgemeinschaften, etwa die Zeugen Jehovas oder die Christliche Wissenschaft oder die Heiligen der Letzten Tage, völlig von vernünftigen Argumenten ab. Sie kennen nicht die Spur eines Versuchs, allgemein vernünftig argumentierend ihre Lehre darzustellen. Deswegen sind diese Kreise auch in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit und ihrer Diskurse nicht präsent. Und sie wollen das selbst auch gar nicht. Die christlichen Kirchen etwa in Deutschland genießen gesellschaftlich ein so hohes Ansehen, dass sie – obwohl auch ihre Lehren esoterisch sind – in exoterische Kreise, wie etwa in den Ethik Rat usw. berufen werden. Die Theologie der großen christlichen Kirchen ist, abgesehen von den historischen Fächern, eigentlich eine Interpretation esoterischer Lehren. Oft, wie im Katholizismus, steuern die Meister der esoterischen Lehren, etwa die Bischöfe, dann noch die theologische Forschung. Katholische Esoteriker bestimmen also die esoterische dogmatische Deutung. Sie sagen: „Der Heilige Geist geht vom Vater und vom Sohn aus“ (und nicht bloß vom Vater, wie die Orthodoxen glauben). Schon dieses zentrale trinitarische Thema zeigt, wie tief esoterisch die christlichen Lehren sind, die noch heute in diesen Worten im Glaubensbekenntnis an jedem Sonntag nachgesprochen werden von der aufgeklärten (?) Gemeinde…

Ein eignes Thema ist der Unterschied zwischen Mystik und Esoterischem. Allgemein könnte man in einer ersten Annäherung sagen: Der christliche Mystiker spricht von seinem inneren und eigenen Glauben; er will an dem Glauben zwar festhalten, kann sich aber nicht mehr der gängigen Begriffe der herrschenden Theologie und Kirche bedienen. Er bevorzugt die negative Theologie, das Nein zu dogmatischen Sätzen, er will sie tiefer verstehen. Während der ursprünglich noch aus dem dogmatischen Christentum stammende, aber ihm entwachsende Esoteriker meist eine Überfülle positiver Inhalte und Weisungen verbreitet. Man denke an die katholische Esoterikerin Gabriele Bitterlich, die Seherin und Begründerin des offiziell-katholischen Engelwerkes und des offiziellen „Kreuzordens“: Sie hat, über den Daumen gepeilt, ca. 150 verschiedene Engel namentlich gesehen und nennen können. Esoteriker zeichnen sich dadurch aus, dass sie enorm viel vom Himmlischen zu wissen behaupten. Dass das tiefe Lebensgeheimnis inhaltlich kaum in Worte zu fassen ist, wie die seriösen Philosophen sagen, vgl. Karl Jaspers, können Esoteriker nicht ertragen: Sie erdrücken die Menschheit mit einer stetig wachsenden Masse an Ahnungen, Offenbarungen, Einsichten usw. Esoteriker passen insofern gut in die „Überfluß-Gesellschaft“. Sie sind deren ideologischer Ausdruck. Mit dieser Masse an Esoterik-Lehren können die Meister immer noch viel Geld, sehr viel Geld verdienen. Wie sagte Kant so schön: „Wir leben noch nicht in einer aufgeklärten Welt“…

FORTSETZUNG folgt…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin