Das überforderte Selbst. Zur Krise der Selbstbestimmung

Das überforderte Selbst. Zur Krise der Selbstbestimmung

Eine philosophische Meditation zum Salon am 15.2. 2013, inspiriert von Michael Theunissen

Von Christian Modehn

Selbstbestimmung ist ein unaufgebbares Ziel personalen Lebens im Miteinander in Staat und Gesellschaft. Autonom zu leben ist förmlich ein Menschenrecht, was ja nicht heißt, dass autonomes Leben gesetzloses oder gar verantwortungsloses Dasein bedeutet. Nur sollen eben Gesetze als Ausdruck allgemeiner Vernunft gestaltet sein. An der allgemeinen Vernunft hat der einzelne Anteil. Fremdbestimmung verweist auf Verhältnisse, an denen sich der „Kampf“ um Selbstbestimmung abzuarbeiten hat.

Nun gibt es offenbar unüberwindbare Fremdbestimmungen, die unaufgebbar zur Struktur des Daseins gehören: Ich bin in die Welt ohne meine vorherige Zustimmung „geworfen“, wie Heidegger in „Sein und Zeit“ betonte; ich bin unveränderbar sterblich; ich bin immer leiblich geprägt usw… Selbstbestimmung muss also von jeglichem euphorischen Optimismus befreit werden, so, als wäre das vielfache Bestimmtsein des Daseins prinzipiell zu überwinden und „aufzugeben“.

Für den Berliner Philosophen Michael Theunissen ist vor allem das Hineingestelltsein des Menschen in die Zeit eine unüberwindbare Fremdbestimmung. Wir sind in die stetig fließende Zeit hineingestellt, können sie nicht stoppen, können aus ihr nicht aussteigen, können ihr nicht entkommen. Darauf bezieht sich Theunissen in seinem Aufsatz „Können wir in der Zeit glücklich sein?“. Er wurde in dem Buch „Negative Theologie der Zeit“ veröffentlicht (Suhrkamp Verlag, 1991).

Theunissen nennt seine Hympthese: „Die Zeit herrscht über uns, über uns Menschen wie über die Dinge. Und zwar richtet sie eine entfremdende, keine befreiende Herrschaft über uns auf“ (S. 41).

Das heißt aber nicht, dass menschliche Freiheit sich zu der Zeit nicht individuell verhalten kann, also diese Fremdbestimmung formen und gestalten kann. Andererseits wird in Theunissens Überlegungen deutlich, wie in den unterschiedlichen Formen der Bezogenheit auf Zeit die Überforderungen des Selbst, gerade auch krankhafter Art, etwa in Psychosen, Neurosen und Depressionen, entstehen. Die (objektive) Zeit gestalten oder vor der Allmacht der Zeit erstarren – in dieser Spannung gestalten wir unser Dasein. Alle Menschen sind der Zeit unterworfen, „in Psychosen aber werden Kranke der Zeit (sogar) ausgeliefert“ (S. 49).

Grundsätzlich aber können Menschen inmitten dieser, nennen wir sie „objektiven“, also stetig dahin fließenden Zeit, auch „ihre“ persönliche (Lebens) Zeit gestalten und ihre eigene Lebenszeit formen. Wir sind auf Zukunft ausgerichtet, planen immer schon selbst unsere noch so bescheidene Zukunft; wir schauen aber auch stets zurück, erinnern uns an die von uns erlebte Vergangenheit, etwa an ihre Höhe – oder Tiefpunkte und sammeln dann diese Erfahrungen in der erlebten Gegenwart. Dabei vergegenwärtigen wir dann unsere Zukunft und unsere Vergangenheit in einer langen Dauer, einer dauernden Gegenwart. Sie ist also mehr als das punktuelle Jetzt, das schon ganz schnell wieder Vergangenheit wird. Die auch durch Martin Heidegger angestoßene Zeit – Verbundenheit und immer schon geschehende Zeit – Gestaltung des Menschen führt, so Theunissen, dazu, dass heutige Menschen Zeit immer zuerst als ihre zu gestaltende Lebenszeit sehen.

Jedenfalls meint Theunissen, durchaus im Anschluss an Kant „Kritik der reinen Vernunft“: Der Raum beherrscht uns a priori, aber die Zeit beherrscht uns apiori noch viel mehr (S. 41), weil die Zeit auch unsere geistigen Vorstellungen beherrscht. Wir können an dem ewigen, „objektiven“ Zeitfluss leiden, Theunissen nennt auch Langeweile in seiner Sicht ein Leiden an der Zeit. Und er betont weiter: Psychosen entstehen aus der Überforderung an der Zeit. Denn in den Psychosen haben Patienten die Gewissheit, der Zeit ausweglos ausgeliefert zu sein. Das Krankmachende ist für diese Menschen die Zeit selbst, sie erleben sich, wie in einer Niederlage, der objektiven Zeit hilflos preisgegeben. Das Subjekt hat dann keine Kraft mehr, dem allgemeinen Unterworfensein unter die Zeit kreativ Eigenes entgegen zu halten. D. h. diese Menschen können nicht mehr die Zukunft als ihre ureigene Zukunft gestalten, sie sind außerstande, die eigene Vergangenheit aus dem Meer des Vergangenen zu formen. Dieses Ausgeliefertsein verändert das Zeitgefühl: Ein Tag erscheint dann dem Depressiven wie der andere. Diese Situation wird wie eine ewige Wiederkehr des gleichen erlebt. „Das Leben zieht an einem vorbei“, sagt ein Patient, so berichtet Theunissen. Und das Ich schaut sozusagen dem Zeitfluss nur noch zu. Man erstarrt als Beobachter und kommt letztlich existentiell zum Stillstand. Theunissen weist darauf hin: Depressive Menschen erleben sich als Zurückbleibende im Zeitstrom, Lebensstrom, der an ihnen vorüber fließt. Dadurch entstehen tiefe Hemmungen in der Vitalität. Theunissen erinnert an den Philosophen Walter Benjamin, der sagte: „Die Katastrophe ist, dass es so weitergeht“. Wie die Vitalität wieder gefunden werden kann, wie sich wieder eine ureigene personale Zukunft eröffnet, ist eine Frage, die Philosophen nicht beantworten können. Sie können lediglich darauf verweisen, dass in dem unabwendbaren Hineingestelltsein in die Zeit die Ursachen für seelische Krankheiten zu suchen sind. Sie können weiter daran erinnern, dass wir in einer Gesellschaft leben, die zur Monotonie neigt und Zukunft verstellt, also krankmacht und gerade Selbstfindung eher verhindert.

Entscheidend ist: Für Theunissen gelingt menschliches Leben immer nur TROTZ der Zeit. (S. 56). Also müssen Menschen ihre Herrschaft über die objektive Zeit gewinnen. Und das gelingt im Verweilen in einer langen Weile, verstanden als dauernde Gegenwart, in der das personale Leben gesammelt ist und die Aufgaben der Zukunft und die Last der Vergangenheit aus dem Blick treten: So wird die dauernde Gegenwart als Glücksmoment intensiven Lebens erlebt und gedeutet.

Entscheidend ist auch eine zweite Beobachtung Theunissens: Er weist zu diesem eben beschrieben Geschehen darauf hin, dass die Zeit in sich selbst die Potentialität hat und uns bietet, also doch aus dem ewig währenden und ewig fließenden Zeitfluss auszusteigen. „Im Verweilen leiste ich gerade nichts! Das Glück des Verweilens ist gerade, dass ich mich von der Anstrengung , die mich das Zusammenhalten von Zukunft und Vergangenheit in jedem Augenblick kostet, ausruhe“ (S. 60).

In der gedehnten, verweilenden Gegenwart erlebt ich: Die Zeit ist mehr also mehr als  „Zeit“. Wir können uns gegen diese objektive Zeit wenden, weil in der Zeit selbst etwas ist, das über sie hinausreicht. Und das ist die verweilende Gegenwart. Dieses andere der Zeit kann man Ewigkeit nennen, Ewigkeit verstanden als die dauernde Gegenwart. Ewigkeit – in diesem neuen Verständnis – kann ja selbst nicht noch einmal die Zeitstruktur haben!

Dahin führt also die Frage nach der Selbstbestimmung – trotz des Hineingestelltseins in die Zeit: Die tiefe Gegenwart als das andere der Zeit erschließt – ein neues Verständnis von – Ewigkeit. Philosophieren führt in Dimensionen eines tieferen Selbstverständnisses. Führt Philosophieren in  existentielles Erleben hinein?

Michael Theunissen betont zurecht: „Ein Philosoph darf am Ende, wo er den Boden der schlechten Empirie verlässt, die Spitze seines Gedankens nicht abbrechen“ (S. 63)

Copyright: Christian Modehn

 

Selbstbestimmung – ein Projekt, das niemals an ein Ende kommt

Selbstbestimmung – ein Projekt, das niemals an ein Ende kommt

Von Christian Modehn

„Was wäre ein selbstbestimmtes Leben?“

Die folgenden Hinweise gelten für das Gespräch im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon am 19. 10. 2012, anlässlich der Diskussion des 1. Kapitels des Buches von Peter Bieri: „Wie wollen wir leben?“ (St. Pölten, 2011)

Philosophie reflektiert vor allem –in unterschiedlicher Sprache – das menschliche Leben. Sie zeigt die Grundstrukturen, sozusagen, um ein Bild zu verwenden: Wie das Gebäude des Lebens, auch meines Lebens, im einzelnen „gebaut“ ist, wie der Grundriss ist, die Anlage der einzelnen Räume aussieht, der Zustand der Zimmer. Philosophie macht mich sensibel für meine Sprache und meine Begriffe: Was meine ich wirklich, wenn ich Leben sage oder Wahrheit oder Selbstbestimmung.  Philosophie unterbricht mit dieser Besinnung das Gebundensein an den üblichen Lauf der Dinge. Sie erzeugt Gegenwart, lange Dauer der Gegenwärtigkeit des Denkens.

Der erste Vortrag Peter Bieris ist im Konjunktiv formuliert:
Was wäre ein selbstbestimmtes Leben? Der Konjunktiv deutet zumindest die Schwierigkeit der Selbstbestimmung an. Die Schwierigkeit liegt sicher auch in der faktischen Situation heutigen Lebens: Dieses Ausgesetztsein der Werbung und ihren „Erlösung“ versprechenden Sprüchen, die Hilflosigkeit, den alles Denken tötenden Stress zu überwinden, die dogmatischen ideologischen Zwänge, die ungefragt respektiert werden, wie: Erfolg als oberster Wert, „Quantität ist wichtiger als Qualität“, „Arbeit ist wichtiger als Muße“, „ich“ bin wichtiger als die anderen usw. Darin zeigt sich, wie unfrei wir bereits faktisch leben.

Nur einige Hinweise zum Begriff Selbstbestimmung.

Seit dem 16. Jahrhundert taucht der Begriff auf, schreibt Volker Gerhardt in der „Enzyklopädie Philosophie“, Band 2, S. 2409. Dieser Begriff  ist verbunden mit dem Entstehen des Humanismus (Pico della Mirandola, Erasmus von Rotterdam). Noch Luther war noch gegen die Selbstbestimmung in Freiheit (de servo arbitrio). Katholische Dogmatik hat bis heute wenig Vorliebe für Selbstbestimmung. Man beachte, dass noch in dem 8 Bände umfassenden „Herders Theologischen Lexikon“ von 1973, also nach dem 2. Vatikanischen Konzil, kein theologisches Stichwort zur Selbstbestimmung vorkommt; hingegen, wenn man nach einer Wortkombination mit „Selbst“ sucht, lediglich auf einen Beitrag zur „Selbstmitteilung Gottes“ findet. Dafür gibt es in dem genannten angesehenen Lexikon einen ausführlichen Artikel zum Stichwort Gehorsam… wobei allerdings darauf abgehoben wird: Der gehorsame folgsame Mensch sollte erkennen,  „dass eine Anordnung dem Wohl des Menschen nicht widerspricht“. (Band 2, S. 384).

Selbstbestimmung ist jedenfalls als Vollzug des Menschen ein moderner Begriff, obwohl die gemeinte Sache, der Vollzug der Freiheit des handelnden Menschen schon in der Antike,  etwa bei Aristoteles, reflektiert wird.

Volker Gerhardt weist darauf hin, dass sich in philosophischen Wörterbüchern des 18. Jahrhunderts der Begriff noch gar nicht findet (ebd). Aber ab Mitte des 18. Jh. wird der Begriff Selbstbestimmung dann doch „eine dominierende Denkfigur“ (Gerhardt S. 2411) der europäischen Philosophie und des europäischen Denkens insgesamt; Kant stellt die Selbstbestimmung als zentralen Begriff in die praktische Philosophie. Vorher aber hatte der englische Philosoph David Hume grundlegende Zweifel an der Selbstbestimmung geäußert: Wir Menschen, so meinte er, seien als angeblich vernünftige Wesen doch  eher Sklaven der Leidenschaften. Bei Kant kommt es dann zum Eingeständnis: Wir sind zwar heteronom vorgeprägt, können uns aber innerhalb der heteronomen Bindungen doch frei verhalten.

Hegel sah etwa, dass es Momente gibt, wo ich mich gern fremd bestimmen lasse, etwa in der Liebe.

Ich will noch kurz den aktuellen Horizont etwas ausleuchten:

Dass der Begriff und die gemeine Sache heute aktueller denn je sind, zeigen etwa auch die Diskussionen im Rahmen der Bioethik, Stichworte Patientenverfügungen, aktive Sterbehilfe, usw. Und man denke etwa noch an den populären Slogan der Befürworterinnen der Abtreibung: „Mein Bauch gehört mir“, das Motto wurde ausgelöst durch einen Beitrag im STERN im Jahr 1971, wo sich mehr als 300 Frauen dazu bekannten „Ich habe abgetrieben“…

Vor 20 Jahren wurde im Bundestag übrigens das Gesetz novelliert, wonach die Frau und nicht der Arzt entscheidet, ob eine Abtreibung vorgenommen wird…

Nur nebenbei, um noch einmal auf die katholische Szene zurückzukommen: In der Dominikanischen Republik ist aufgrund massiven bischöflichen Einflusses jegliche Abtreibung bis heute verboten. Und in Nikaragua ist aufgrund des politischen Opportunismus der herrschenden Sandinisten heute ebenfalls Abtreibung streng verboten, einfach nur, um der dortigen katholischen Kirchenführung zu gefallen (und sich dadurch katholische Stimmen zu sichern).

Peter Bieri führt uns entschieden zu Frage: Wer will ich sein, wer kann ich sein, wer bin ich…

Wir wollen Regeln selber bestimmen bzw. mit bestimmen. Und dann einsehen: Ja, das sind auch unsere Regeln, auch wenn sie von anderen formuliert wurden.

Wichtiger ist noch: Innere Selbständigkeit.

Wir wollen uns selbst kennen, uns selbst kritisch sehen, unser Selbst dabei sehen.

Wir beginnen unsere Selbstbestimmung nie am Nullpunkt. Wir sind immer schon vorgeprägt… Es gilt, den Sinn für das Mögliche zu entwickeln. Was kann ich noch wollen unter den Bedingungen, unter denen ich (gebunden) lebe. .

Ich mache mich selbst zum Thema: Ich reflektiere. Ich denke mein Denken. Ich denke mein Fühlen. Ich denke mein Tun. Ich beziehe mich auf mich. Das ist der Kern. Denn bei der Reflexion sehe ich,  dass ich auch anders denken und handeln könnte. Ich verstehe, wer ich bin, sehe eine Art Selbstbildnis von mir. Kann ich in meinem Tun meinem Selbstbildnis entsprechen?

Das erfordert: Aktivität, „Arbeit“, innerer UMBAU, gegen die innere Monotonie, gegen das Erstarrte.

Monotonie hat etwas mit der Zeit Erfahrung zu tun: Die sich stets wiederholende Zeit, der starre Rhythmus, der krank macht.

Das Hineingestelltsein in die Zeit: Können wir in der Zeit glücklich sein? Herrscht die Zeit über uns? Offenbar haben seelische Erkrankungen mit dem „einseitigen“, kankmachenden Umgang mit Zeit zu tun, etwa in der starren Bindung an (meine) Vergangenheit. Psychotiker etwa beklagen den Stillstand ihrer Lebenszeit, sie erleben diese Zeiterfahrung als Ohnmacht.

Aber müssen wir das unabwerfbare Hineingestelltsein in die Zeit immer negativ, als entfremdend, deuten? Wäre Zeit nicht auch ein eher neutrales Phänomen, ein „neutrales“ „Apriori“ (Kant)?

Die zentrale Frage bleibt: Wie kann ich die „Regie“ in meinem Leben entdecken oder wieder entdecken?

Copyright: Christian Modehn