Verlassene Kirchen: Aufgegeben. Verfallen. Christentum im Übergang

Meditative Foto – Studien von Francis Meslet.
Ein Hinweis als Buchempfehlung von Christian Modehn, zuerst 2020 publiziert.

Reisezeit ist für viele auch Zeit der Kirchenbesichtigungen, der gotischen Kathedralen oder der romanischen Dorfkirchen. Oder eben auch, wer realistisch ist, der Kirchenruinen, die sich vor allem in Frankreich, Spanien, Italien geradezu massenwesie befinden. Auch im Land Brandeburg wird man da findig… Wer sich – vielleicht als Fan von Casper David Friedrich oder Carl Blechen – für Kirchenruinen aus kunsthistorichen Motiven interessiert, sollte auch den aktuellen Fotoband von Francis Meslet “Verlassene Kirchen. Kultstätten im Verfall” nicht übersehen und meditativ betrachten.

1.
Ein kultureller Bruch ist in ganz Europa sichtbar: Immer mehr „Gotteshäuser“, wie Katholiken sagen, in denen noch gebetet wird und Gottesdienste gefeiert werden, verschwinden allmählich. Eine altersschwach gewordene Kirche und Konfession zeigt auf diese Weise ihre Altersschwäche, im Verfall von Kirchengebäuden, Kapellen, Klöstern. Noch stehen diese verlassenen Gebäude, noch. Es ist jetzt die Zeit des Übergangs, vom einst Lebendigen zum Verschwindenden, dann zu Verschwundenen, zum Toten.
2.
Der Enthusiasmus der Frommen einst schuf „heilige Gebäude“ in Hülle und Fülle, in strahlender Schönheit oder in merkwürdigem Kitsch. Seit Jahrzehnten ist dieser Enthusiasmus in Europa dahin, entschwunden, aufgegeben. Neue Kirchen werden nur selten gebaut, manchmal von so genannten Stararchitekten, wie Mario Botta. Aber in wie vielen neuen Stadtvierteln werden heute noch Kirchen gebaut? Äußerst selten, man sehe sich nur einmal in Berlins Neubauvierteln um.
Verlassene Kirchen als Zeugnisse des Übergangs. Spiritualität lebt (wahrscheinlich) anderswo. Aber die alten und nun ehemaligen christlichen „Gotteshäuser“ bleiben noch in der Landschaft stehen, Ruinen sind es ja nicht, die Mauern sind noch stabil. Nur der Schutt und Dreck überall im Raum, die zerstörten Heiligenfiguren, die zertrümmerten Sitz-Bänke, die verwahrloste Orgel deuten an: Bald werden die verlassenen Kirchengebäude verschwunden sein, zerfallen als Ruinen oder sie werden abgerissen.
So wird auch das kulturelle Gedächtnis eingegrenzt. Das kulturelle und religiöse Gedächtnis braucht Sichtbarkeiten. Noch sind die verlassenen und langsam verfallenden Kirchen da. Schauen wir sie an, als Zeugen einer untergehenden Epoche. Auch einer untergehenden religiösen und kirchlichen Kultur? Wahrscheinlich ist das so. Die heutigen vielen katholischen Ultra – Mega-großen – Pfarreien werden sich um eine oder zwei große Kirchen gruppieren, so wollen es die Bischöfe, die sich nur mit einem (hoffentlich zölibatären) Priester eine Gemeinde und damit eine gepflegte Kirche vorstellen können. So werden die Bischöfe und ihr mittelalterliches Kirchenrecht mit der Klerus–Fixierung mittelfristig dafür verantwortlich sein, dass es immer mehr verlassene und dann abgerissene Kirchen geben wird.
3.
Es ist ein großes Verdienst des französischen Fotografen und Fotokünstlers Francis Meslet, dass er in einem neuen Buch sein Können zeigt und sich die Mühe machte, verlassene, aufgegebene Kirchen vor dem definitiven Verschwinden und Einebnen zu fotografieren. Er hat zu seinem umfangreichen Fotobuch (das in mehreren Sprachen erschienen ist) eine Einführung geschrieben über seinen persönlichen Weg zu dem Thema. Er betont ausdrücklich, dass die vielen fotografisch dokumentierten verfallenen Kirchen nicht mit Ortsangaben ausgestattet sind. So soll ein möglicher „Ansturm“ von interessierten Touristen verhindert werden, sie könnten den Verfall beschleunigen…Francis Meslet hat einige französische Autoren eingeladen, anlässlich der Fotos zu jeweils einer verlassenen Kirche Meditationen oder Beobachtungen oder poetische Bemerkungen zu verfassen. Die Titel zu den einzelnen Fotos regen die Phantasie an, manche sind verstörend, viele sehr treffend. Religionssoziologische Studien oder theologische Reflexionen darf man in dem Buch nicht erwarten. Francis Meslet weist aber (S.7) darauf hin, dass es in Frankreich eine staatliche „Beobachtungsinstitution für das religiöse Erbe“ gibt, das „Observatoire du Patrimonie religieux“, OPR, in Paris. Auf dessen Website werden ständig lange Listen aktuell bedrohter Kirchen genannt, also alte Gotteshäuser, die als ganze oder hinsichtlich bestimmter Bauteile vom Verfall oder Einsturz bedroht sind. Allein für den Monat Oktober 2020 werden 20 Kirchen genannt, darunter auch 2 protestantische, die als „édifices menacés/fermés“ genannt werden. Für Kirchengebäude, die vor dem Jahr 1905 errichtet wurden, ist der französische Staat verantwortlich, jedenfalls für das äußere Mauerwerk, nicht aber für Gestaltung im Innern, so schreibt es das Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat vor.
Francis Meslet weist darauf, dass auch Kirchen von aktuellen Vandalismus angegriffen und zerstört wurden und werden. Vandalismus gegen Kirchen ist bekanntlich vor allem in Frankreich ein weit verbreitetes Vergehen extrem fundamentalistischer oder krimineller Kreise. Der Fotograf erinnert auch an Gemälde, die den Kirchenabriss vor langer Zeit dokumentieren, etwa ein Gemälde aus dem Jahr 1800 mit dem Titel „Abriss der Kirche von Saint-Jean-en-Grève“, gemalt von Hubert Robert, es ist im Pariser Musée Carnavalet zu sehen. Dieser Hinweis ist wichtig: Viele Kirchen wurden im Umfeld der sich radikalisierenden Französischen Revolution, der „Entkirchlichung“, geplündert und zerstört.
4.
Die Fotoserien in dem Buch „Verlassene Kirchen“ beziehen sich auf 37 verschiedene Kirchengebäude aus unterschiedlichen Epochen (vom 11. bis in 19. und sogar 20. Jahrhundert: Diese verlassenen „Gotteshäuser“ – nun, in diesem Zustand, auch von Gott verlassen? – entdeckte Francis Meslet vor allem in Frankreich, aber auch in Italien, Portugal, Belgien und 2 Kirchen sogar in Deutschland.
Oft sind bis zu 10 verschiedene Fotos auf ein Gebäude bezogen. Und wie gesagt, die manchmal poetischen Texte der Einstimmung lassen der Phantasie der Leser freien Raum. Abgesehen von den zahlreichen Texten von Francis Meslet schätze ich besonders die Beiträge des Historikers und Autors Christian Montesinos: Sie sind oft auf aktuelle, letztlich auch religiöse oder sogar theologische Fragen bezogen. Nebenbei: Es ist schon bemerkenswert, dass Francis Meslet keinen Theologen als „Kommentator“ zu seinem Buch eingeladen hat, ist das etwa „typisch französisch“ für die „laicité“?
In seinem Hinweis zu einer Kirche aus dem 16. Jahrhundert in Burgund erinnert Christian Montesinos eher nebenbei daran, dass im 19. Jahrhundert in Frankreich mehr Kirchen neu gebaut wurden „als in allen Jahrhunderten zuvor“. Ich ergänze: In der politischen Restauration nach der Revolution blühte förmlich der katholische Glaube wie eine Art Volksreligion auf, er zeigte förmlich eine Leidenschaft fürs Bauen und fürs Klosterleben.
5.
Die Betrachtung der großen, ganzseitigen Fotos (im Querformat) weckt die Stimmung der Melancholie, besonders bei denen, die den Verfall nur als Verlust deuten. Wichtig sind die Bemerkungen von Sylvie Robic zu einer verlassenen Kirche in Okzitanien aus dem 19.Jahrhundert: „Mit Blick auf das Meer“ ist der Titel. Diese Kirche kannte die Autorin persönlich gut, selbst nachdem gar keine Gottesdienste mehr stattfanden zog es sie dorthin. „Wenn ich mich recht erinnere, ging das so bis zu dem großen Sturm 1977, als so viele Boote nicht zurückkehrten. Wir fühlten uns verraten. Ja, es muss 1977 gewesen sein, als das Dorf die Kapelle aufgab“ (S. 72). Mit anderen Worten: Die Fischer sind mit ihren Booten im Meer versunken. Und die Gemeinde, die Pfarrer, fanden keine passenden Worte des Trostes. Auch deswegen verfallen Kirchengebäude! Die Fotos bestätigen die Aussage: Der kleine 2. Altartisch steht noch, den man nach dem 2. Vatikanischen Konzil brauchte, damit der Priester die Messe dem Volk zugewandt lesen konnte. Voller Staub und Spinnweben zwar stehen auch noch die Bänke. Dazu die ironische (?) Bildunterschrift „Es ist nie zu spät“… Wird diese Kirche noch einmal genutzt werden für Gottesdienste? Wohl kaum. Sie ist wie viele andere Kirchen in diesem Buch aufgegeben worden – auch weil die Gemeinde den Glauben verlor, weil ihnen eine religiöse Lehre vorgesetzt wurde, die kaum noch jemand verstand, die auch das Herz nicht berührte. Mein Eindruck: An den verlassenen Kirchen ist auch die Kirchenführung schuld.
6.
Jetzt stehen die beschädigten Gipsfiguren der Heiligen wie kleine banale Ruinen da, Zeugnisse einer Zeit, als die Kirche mit allerlei Volksfrömmigkeit und Kitsch und grellen Wandgemälden meinte, religiöses Bewusstsein zu fördern, das den Geist der Menschen prägt.
7.
Über dieses Buch, seine hervorragenden Fotos, seine inspirierenden Texte, sollten theologische Debatten und Vorlesungen veranstaltet werden, auch in Kirchengebäuden bzw. katholischen oder evangelischen Akademien. Immer auch unter der Frage: Sind die Gebäude, in denen wir jetzt noch sitzen, in einigen Jahren auch verlassene Kirchen und verlassene Kirchengebäude? Die Antwort heißt wohl mit JA – mindestens “sehr wahrscheinlich”. Weil die verlassenen Kirchengebäude immmer auch mit den von allen guten kritischen Geistern verlassenen Dogmen der Konfessionen verbunden sind, wie etwa dem Wahn des Erbsündendogmas oder der Bindung an christologische Dogmen aus dem 4. Jahrhundert.

Werden die Kirchen heute zu solchen Debatten, etwa anlässlich des Buches „Verlassene Kirchen. Kultstätten im Verfall“, den Mut haben? Ich vermute nein, denn die oberste Tugend der (katholischen) Kirchenleute und Theologen ist bekanntlich Angst, Angst vor den fernen Autoritäten, etwa im Vatikan. Sie reden den Glaubenden ein, als selbsternannte, niemals demokratisch gewählte Autoritäten allmächig und unfehlbar zu sein.

Francis Meslet, “Verlassene Kirchen. Kultstätten im Verfall”. Editions Jonglez, Versailles. 2020. 224 Seiten, viele ganzseitige meisterhafte Fotos. 35 Euro. In Deutschland erreichbar unter Mairdumont in Ostfildern bzw.:buchcontact@buchcontact.de

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Leere Kirchen – lebendige Spiritualität. Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb

Leere Kirchen – Lebendige Spiritualität?

Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb

Von Christian Modehn

Besonders im Sommer, im Urlaub, besuchen viele Menschen während der Woche Kirchen, leere Kirchen, in denen im Augenblick kein Gottesdienst stattfindet. Viele laufen bloß neugierig herum, etliche, so meine Beobachtung, ruhen sich aus, verweilen, sammeln sich, beten vielleicht auch.

Was macht aus Ihrer Sicht den Charme leerer Kirchen aus? Fördern Sie irgendwie die individuelle Spiritualität, das stille Suchen nach dem eigenen Weg?

Leere Kirchen reduzieren die Nebengeräusche. Es gibt weniger Störungen von außen. Man muss sich vor allem nicht auf ein Geschehen einlassen, das, wie es bei jedem Gottesdienst der Fall ist, besondere Verpflichtungen einschließt. Wird in einer Kirche Gottesdienst gefeiert, dann werde ich konfrontiert, mit liturgischen Formeln, Chorälen, Predigten, gar sakramentalen Handlungen wie dem Abendmahl, der Eucharistie oder der Taufe. Sofort bin ich gezwungen, mich irgendwie zu dem zu verhalten, was da geschieht. Das kann aufregend und anregend sein. Das kann ärgerlich oder langweilig sein. Wie auch immer, ich bin dazu gezwungen, mich mit Zumutungen von außen auseinanderzusetzen. Aber vielleicht wollte ich genau dies nicht, sondern einfach nur die Kirche besichtigen, weil sie kunsthistorisch wertvoll ist, weil sie ein ästhetisch beeindruckendes Raumerlebnis verspricht, vielleicht auch nur, weil es in ihr an heißen Sommertagen so schön kühl ist.

Etwas anderes kommt hinzu, in der Regel ist es eine Gemeinde, die Gottesdienst feiert. Wenn ich zu dieser Gemeinde nicht gehöre, fühle ich mich fremd, vielleicht sogar als Eindringling in eine vertraute Gemeinschaft. Da will ich nicht stören. In einer leeren Kirche bin ich willkommen, sofern ich mich still und rücksichtsvoll verhalte.

Das Wichtigste scheint mir zu sein: Leere Kirchen lassen sich zum privaten Meditationsraum machen. Wenn es ästhetische ansprechende Räume sind, verbreiten sie eine sakrale Aura. Sie schaffen eine Atmosphäre, die zur Andacht einlädt. Sie öffnen unser Herz, weiten unseren Verstand, ergreifen uns mit allen unseren Sinnen. Dadurch stimulieren sie unser religiöses Gefühl. Das ist das Gefühl jener Selbstvertrautheit, die all unseren Anstrengungen der Selbstreflexion und Selbstfindung immer schon vorausliegt. In ihm werde ich des Sinnes gewiss, der mein Leben trägt, kann mir die Nähe Gottes aufgehen, bin ich ohne Anstrengung zugleich ganz bei mir. Ich finde mich gleichsam passiv in mich selbst und den mich tragenden göttlichen Grund eingesetzt.

Leere Kirchen aktivieren das religiöse Gefühl. Sie laden ebenso zu dessen reflexiver religiöser Deutung ein. Dann sagen Menschen, dass sie an diesem heiligen Ort sich selbst und Gott gefunden haben. So kann sich gerade in leeren Kirchen ereignen, was schon Augustin in den Confessiones als das Motiv wie als das Ziel der Selbst- und Sinnsuche beschrieb: “Mein Herz ist unruhig, bis dass es Ruhe findet, o Gott, in Dir“.

Viele leere Kirchen, gerade hier in der Mark Brandenburg oder Mecklenburg, sind nur als begehbare Ruinen erhalten, etwa das ehemalige Kloster Chorin. Diese Orte und auch bloß notdürftige reparierte Dorfkirchen finden viel Interesse bei Besuchern. Spüren diese Menschen vielleicht, dass diese Kirchenruinen Symbole sind für untergegangene alte und veraltete Glaubenformen? Sind diese Kirchenruinen ein stiller Hinweis auf den eigenen, zerbrochenen Glauben, der vielleicht nach Neuem Ausschau hält?

Schon der Romantiker Caspar David Friedrich hat am liebsten zerfallende Kirchen gemalt. Heute erst recht sind Kirchen für viele Menschen Denkmäler. Sie steht für die Kultur der Erinnerung an Zentren geistlichen Lebens oder symbolisieren das ideelle Zentrum eines Dorfes. Deshalb kümmern sich in Brandenburgs oder Mecklenburgs Dörfern die Kirchbau- und Kulturvereine um den Erhalt der Kirchen. Sie wollen dort nicht wieder Gottesdienst feiern. Aber das Gebäude ist ihnen wichtig, weil es für den verlorenen Mittelpunkt des Dorfes steht.

Dieses erstaunlich breite Interesse an der Erhaltung alter Dorfkirchen wollen jedoch, ebenso wie die touristische Aufmerksamkeit, die Kirchenruinen finden, das soll noch tiefer verstanden sein. Es geht den Menschen, die diese Kirchen besichtigen und erst recht denen, die sie erhalten, nie nur um das kulturelle Gedächtnis. Für sie spielt, auch wenn sie ansonsten ganz unkirchlich sein mögen, eine enorme Rolle, dass es Kirchen sind, Orte des Glaubens. Diese lassen eine fromme Erinnerung lebendig werden werden: Da muss doch einmal ein Glaube gewesen sein, der den Menschen viel bedeutete, ihnen Halt gab und sie über das Geschäftliche hinaus in einer geistigen Tiefe miteinander verbunden hat!

So wecken die Kirchen, selbst wenn nur noch die Grundmauern stehen, eine heilige Wehmut: Es könnte vielleicht doch sein, dass uns Heutigen etwas fehlt. Das wäre das Zugeständnis einer Sehnsucht nach Religion, nach einem unbedingt verlässlichen Lebensunterhalt, nach einer bergenden Gemeinschaft, nach einem Gott, der die Liebe ist.

In vielen großen Kirchen finden gerade in den Sommermonaten Konzerte statt. Sind diese oft gut besuchten Veranstaltungen „nur“ Kulturveranstaltungen oder haben sie – gerade in diesen Räumen – auch eine spirituelle oder religiöse Dimension? Sind Musikveranstaltungen oder Lesungen oder Ballett in den Kirchengebäuden nicht eigentlich Gottesdienst?

Je deutlicher wir darauf aufmerksam werden, welch enorme Bedeutung das Gefühl in der Religion spielt, desto besser verstehen wir auch die religiöse Tiefendimension, die die Ästhetik der Kirchenbauten und Kirchenräume öffnet. Wir können uns dabei die innere Nähe von ästhetischer und religiöser Erfahrung klar machen. Ästhetische Erfahrung, wie wir sie im Hören von Musik oder in der Begegnung mit Werken bildender Kunst machen, ist sinnlich vermittelte Sinnerfahrung. Sinnliche Sinnerfahrung, in der uns die Welt ebenso beglückend wie verstörend entgegenkommt. So macht die Kunst uns auf die Ambivalenz von Sinn aufmerksam. Sie fordert unsere Sinndeutung heraus. Dabei kommt den kirchlichen Räumen eine wichtige Rolle zu. Sie motivieren die religiöse Deutung der ästhetischen Erfahrung und ermöglichen den Umgang mit ihren Ambivalenzen.

Die in Kirchenräumen zur Aufführung kommende Kunst schließt das kulturelle Gedächtnis an die religiösen Deutungswelten biblischer Sprache an wie auch an die Ikonographie der christlichen Überlieferungen. Selbst wenn die Kunst den alten Glauben nicht erneuern kann, macht sie doch den spirituellen Sinn für Tiefenschichten bewusst, an dem teilzuhaben die kirchlichen Räume einst Gelegenheit boten.

So halten die alten Kirchen, gerade dann, wenn geistliche Musik in ihnen zur Aufführung kommt, die Ahnung lebendig, dass im Ganzen der Welt ein Sinn ist, auch wenn wir ihn nicht verstehen. Käme diese Musik im Konzertsaal zur Aufführung, so würden wir sie dort nicht in der gleichen Weise erleben. Kirchengebäude öffnen Menschen, so säkular sie auch eingestellt sein mögen, für die spirituelle Tiefendimension ihrer Existenz. Besonders wenn die Werke Johann Sebastian Bachs in den alten Kirchen aufgeführt werden, stellt sich das Empfinden ein: Auch wenn wir unser eigenes Leben und schon gar die Welt, zu der wir gehören, nie ganz verstehen, wir können doch nicht in ihr verloren gehen.

Copyright: Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin, veröffentlicht am 17.August 2014