Pierre Hadot: Philosophische Lebenskunst, philosophische Lebensgemeinschaften

Der Philosoph als Exerzitienmeister
Pierre Hadot – Porträt eines ungewöhnlichen Denkers
Von Christian Modehn (2009)

Wenn er sich auf schwierige Herz – Operationen vorbereiten musste, fand er Trost in der Philosophie. „Die innere Ausgeglichenheit haben mir die Philosophen der Stoa gegeben“, berichtet Pierre Hadot, „meine individuelle Situation konnte ich relativieren, wenn ich mir vorstellte, wie ich, gleichsam fliegend, von hoch oben, auf die Welt schaue. Diese Übung gegen alles egozentrische Denken zeigt: Wie unbedeutend alles ist“.
Pierre Hadot hat erlebt und erfahren, dass philosophisches Nachdenken wie eine Therapie heilsam ist: „Lebe jeden Tag so, als wäre er ein erster Lebenstag. Und lebe ihn so, als wäre er der letzte. Dann freust du dich entweder über das Aufgehen einer Welt in dir und um dich herum. Oder du siehst im Blick auf das Ende die Ganzheit des Lebens. Nur in dieser meditativen Haltung, ein Vorschlag antiker Philosophen, entdeckt man die Tiefe des Lebens, die Freude, jetzt diese Gegenwart zu erfahren“.
Philosophie ist für Pierre Hadot mehr als abstraktes Debattieren, mehr als systematisches Reflektieren in den Universitäten: Sie ist eine Lebenshaltung. Nebenbei gesagt, hat sie Pierre Hadot ein langes Leben geschenkt: 1922 in Paris geboren, hat er sich schon als Jugendlicher für die Philosophie leidenschaftlich interessiert. Er erinnert gern an ein Erlebnis ungewöhnlicher Art, das er als „ozeanisches Gefühl“ beschreibt: Er erlebte die Wellen in einem unendlich erscheinenden Ozean, und plötzlich fühlte er sich einbezogen in eine geheimnisvolle Welt. Diese Unendlichkeit hat er nicht mit Gott in Verbindung gebracht. „Es war sozusagen ein religionsfreie philosophische Erfahrung der Unendlichkeit“.
Pierre Hadot lehrte als Professor für Philosophie am berühmten „Collège de France“ in Paris. Sein Fachgebiet: Die antike Philosophie, aber auch das Denken von Montaigne und Kant, Goethe und Wittgenstein.
Seine zahlreichen Bücher  haben vielen Menschen vor allem die antike Philosophie nahe gebracht: Die Schulen der Stoiker und Epikuräer, der Platoniker und Skeptiker. Befreit man deren Lehren von zeitgebundenen Vorstellungen und Einflüssen, wie bestimmten Ideen vom Kosmos oder den Atomen, dann zeigen diese so alten Denker ihre aktuelle Bedeutung für die Lebensgestaltung heute. „Pierre Hadot hat grundlegend unsere Vorstellung von Philosophie verändert“,  schreibt der auf Philosophie spezialisierte Publizist Roger – Pol Droit aus Paris. „Philosophen wie Seneca, Marc Aurel oder Epiktet haben nicht systematische Lehrbücher hinterlassen“, betont Hadot, „sondern Reflexionen, die ihnen selbst wie auch ihren Schülern Lebenshilfe sein sollten.
Dabei hatte zu Beginn seiner Studien alles darauf hingedeutet, dass er eine Karriere innerhalb der katholischen Kirche macht: Von den „Christlichen Schulbrüdern“ ausgebildet, „hatte ich  einen naiven Kinderglauben ohne Enthusiasmus“. Er studierte Theologie, 1944 wurde er zum Priester geweiht, weil das Seminar in Reims dringend einen Geistlichen als Philosophie Dozenten brauchte. Die gegen alles Moderne  gewandte Enzyklika „Humani Generis“ von Papst Pius XII. war für ihn ein Schock; die stereotypen Wiederholungen der liturgischen Sprache empfand er als Ärgernis, den immer wieder propagierten Glauben an übernatürliche Wunder konnte er nur ablehnen. „1953 habe ich die Kirche verlassen“, er gab sein Priesteramt auf. 1964 heiratete er in Berlin die Philosophin Ilsetraut Marten, mit ihr hat er das  gleiche Thema bearbeitet: Die Philosophie als Exerzitium, als geistige Übung.
Die antiken Philosophen wollte den Geist ihrer Zuhörer anregen, „bearbeiten“, sie wollten nicht nur den Geist  informieren, sondern – durchaus mit einem missionarischen Anspruch- die Seele formen. In den zahlreichen und in allen Städten weit verbreiteten philosophischen Schulen wurde mit dem „Meister“ über diese Exerzitien diskutiert. Aber wirklich praktizieren muss die Übungen der einzelne Mensch. Er muss es lernen, philosophische Lebenshilfe in jeder Lebenssituation zur Verfügung zu haben. Darum muss er zentrale Einsichten auswendig lernen und wie in einem inneren Dialog seinen Geist formen: „Bald wirst du alles vergessen haben, und bald werden dich alle Menschen vergessen haben“. Ein Lehrspruch von Marc Aurel, er verhindert blinden Übermut oder gar den Wahn, ewig jung bleiben zu können. Philosophische Übungen als verinnerlichtes Bedenken der Weisheit fördert die geistige Präsenz. Die Versuchung, wie im Dämmerzustand durch das eigene Leben zu tapern, wird zurückgewiesen. Was brauche ich wirklich zum Leben? Epikur lehrte zum Beispiel: „Das Elend der Menschen besteht darin, dass sie Dinge fürchten, die gar nicht gefürchtet werden dürfen, zum Beispiel den Tod oder die Götter: Von unserem Tod können wir nichts wissen. Und von den Göttern wissen wir auch fast nichts, weil sie im fernen Himmel sind“. Innere Ruhe tritt ein, wenn wir uns sagen: „Wir dürfen nicht wollen, dass das, was sowieso eintritt, doch besser nicht eintritt. Sondern wir müssen wollen, das anzunehmen, was nun einmal unabänderlich kommt“.
Zu den Exerzitien der antiken Philosophen gehört für Pierre Hadot entscheidend die Achtsamkeit auf meine Gegenwart: Darum empfiehlt er, wie die Meister der Antike, die reflektierende Meditation am Morgen: Nach welchen Grundsätzen will ich heute handeln, aus egoistischem Antrieb oder gemäß einer vernünftigen Ethik. Und am Abend findet die Gewissenserforschung statt, nicht etwa, weil ein Gott das verlangt, sondern weil es vernünftig und deswegen heilsam ist. Habe ich heute mit Wohlwollen die Menschen behandelt, lebe ich für die anderen, ist mir die Freundschaft das höchste Gut? Habe ich mich der Resignation hingegeben? Marc Aurel hat gelehrt: „Erwarte nicht die ideale Republik, sei zufrieden wenn eine kleine Sache vorankommt. Und bedenke, was dann daraus wird, das ist dann oft gar keine kleine Sache mehr“.
Die Exerzitien der antiken Philosophen haben später die Exerzitien der Kirche geprägt, Pierre Hadot hat das nachgewiesen. Die Christen haben sogar diese freien philosophischen Übungen vereinnahmt, als sie die Philosophie seit dem Mittelalter zur „Dienerin der Theologie“ erklärten  und das Dogma über das kritische Fragen stellten. Philosophie soll noch heute in der Ausbildung der Priester zur Annahme der Kirchenlehre bewegen.
Pierre Hadot lässt keinen Zweifel daran, dass auch heute die philosophischen Exerzitien eine spirituelle Hilfe sind. Der einzelen muss sie leisten, wie in einer Form von „Selbsterziehung“, und diese einzelnen können sich zu philosophischen Gesprächskreisen zusammenschließen. Der zeitliche Abstand zu den Texten antiker Philosophen ist ja nicht größer als zu den Texten der Bibel. In beiden Fällen muss historisch – kritisch gelesen werden. Die Philosophien bleiben zumindest genauso relevant wie das „Buch der Weisheit“ . Denn im Unterschied zu kirchlichen Exerzitien wollen die philosophischen Exerzitien einzig den freien, selbständigen Menschen fördern, er muss sich keiner kirchlich vorgegebenen Moral anpassen. Vielmehr zählt einzig die Achtsamkeit auf die Stimme der Vernunft. Sie führt zum inneren Frieden. „Ein Geschenk, das gerade in Zeiten globaler Krisen lebensrettend sein kann“.

Copyright: Christian Modehn

Das wichtige Buch von Pierre Hadot auf Deutsch “Philosophie als Lebensform” (Fischer Verlag) ist leider immer noch vergriffen. Auf Französisch ist wichtig als Einführung das Interview mit Hadot “La Philosophie comme manière de vivre” (Livre de Poche) aus dem Verlag Albin Michel, Paris. 2001, 6 Euro!