Rousseau zum 300. Geburtstag: Wo sind die wahren Menschen?

Wo sind die wahren Menschen?

Erinnerung an den Philosophen Jean Jacques Rousseau

Von Christian Modehn

Wie lebt ein Mensch, der die Üblichkeiten und Moden seiner Zeit zurückweist und die „angesagten“ Meister – Denker ablehnt? Jean Jacques Rousseau, Dichter, Komponist, Philosoph, hat sich im 18. Jahrhundert, in Zeiten politischer Rechtlosigkeit, für diesen Weg individueller Freiheit entschieden. Kein Wunder, dass er sich auch anders kleidet, auf die üblichen Kniestrümpfe und Perücken verzichtet; erst recht auf die zur Schau gestellten Accessoires, etwa den Degen. Er will nur eins: Authentisch leben und niemandem untertan sein. Dabei entdeckt er, dass er gerade in der alternativen Lebensform zum kreativen Denken findet. Die feinen Salons der Pariser Philosophen lernt er zwar kennen, die Aufklärer, Holbach, Diderot, Voltaire. Aber er zieht es vor, seine eigenen Ideen zu entwickeln. Selbstbewusst lehnt Rousseau sogar eine großzügige Rente des Königs ab. Er will lieber arm als abhängig leben. Einen freien Geist finden die Despoten unerträglich: Sie zensieren seine Bücher, lassen sie verbrennen, verfolgen den Autor.

Vor 300 Jahren, am 28. Juni 1712 in Genf geboren, wird er von seinem Vater, einem Uhrmacher, privat unterrichtet. Eine Schule besucht er nicht. Alle erreichbaren Bücher studiert er leidenschaftlich, etwa den antiken Schriftsteller Plutarch oder die gängigen philosophischen und theologischen Autoren, wie Bayle oder Fénélon. In lebt in der Gewissheit: Den Menschen zeichnet die „Sprache des Herzens“ mehr aus als der rechnende Verstand. Mit 16 Jahren verlässt er seine Heimatstadt. Sein unstetes Leben beginnt, das Wandern zwischen Frankreich, Italien und der Schweiz. Selbst nach England verschlägt es ihn. Es ist die Suche nach einer dauerhaften Bleibe. Nie wird er sie finden. 1778 stirbt er in Ermenonville (bei Paris). Calvinistisch getauft, konvertiert er im Alter von 16 Jahren zum Katholizismus, später (1754) wendet er sich wieder dem  Protestantismus zu. Vielseitig begabt, verdient er zuerst sein Geld als Hauslehrer, Notenkopist, Sekretär. „Autodidakt“ ist für ihn kein Schimpfwort.

Ungewöhnlich und vielschichtig sind die Anregungen seiner Bücher  bis heute. Etwa die Frage: Wie kann ich meine Privatsphäre schützen, meine Eigenheit als Individuum entwickeln und bewahren? Angesichts allgegenwärtiger öffentlicher Video – Kontrollen oder der Selbstpreisgabe vieler Menschen im Facebook ist die Antwort Rousseaus radikal: Nur in dauernder Distanz zur Gesellschaft ist authentisches Leben möglich. „Es wäre aber zu einfach, die hochmütige Einsamkeit Rousseaus als Beweis für eine Neurose zu deuten. Man muss in ihr die Glorifizierung des Privaten als Grundlage der philosophischen Wahrheitsfindung sehen“, schreibt der Historiker Jean Marie Goulemot. Rousseau hat den Anspruch, alle Erkenntnisse mit dem eigenen Gewissen zu konfrontieren. Nur in der engen Verbundenheit mit dem echten Gefühl des eigenen Herzens entsteht die eigene, unvertretbare Identität. Sein „eigenes“ Leben offenbart er in Briefen und Bekenntnissen, in Gesprächen und den „Träumereien eines einsamen Spaziergängers“. „Ich will vor meinesgleichen einen Menschen in aller Wahrheit zeigen“, schreibt er in seinen „Bekenntnissen“, „und dieser Mensch werde ich sein“. Nicht mehr Gott ist der Adressat der „Confessiones“, der Bekenntnisse, wie im gleichnamigen Buch des Heiligen Augustinus (5.Jahrhundert). Rousseau „beichtet“ sozusagen bei seinem besseren Ich … und den anderen.  Der Philosoph Jürgen Habermas hat darauf hingewiesen, dass sich „Rousseaus Bekenntnisse nicht an der Wahrheit historischer Aussagen bemessen, sondern an der Authentizität der Selbstdarstellung. Sie setzen sich, was Rousseau weiß, dem Vorwurf der Doppelzüngigkeit und der Selbsttäuschung aus, nicht aber dem Vorwurf der Unwahrheit“.

Diese ungewöhnliche „Selbstdarstellung“ ist ein Wagnis, aber sie wird Schule machen: „Rousseau will die Transparenz der Herzen fördern, die das Merkmal nicht – korrumpierter Gesellschaften ist“, so der Historiker Jean Marie Goulemot. „Darum gesteht er öffentlich seine masochistische Lust an Züchtigungen in der Jugend, seine Liebesaffären, seine vielfältigen Versuchungen. Er will den tiefsten Grund seines Ichs verstehen, er begibt sich auf die Suche nach Schlüsselerlebnissen, die seine Persönlichkeit erklären“. Dazu gehört auch das Eingeständnis von Schuld: Seine Kinder, fünf insgesamt, hat er gleich nach der Geburt (in den Jahren 1747 bis 1752) in ein Heim für Findelkinder gegeben, aus Angst, wie er später bekennt. Er fürchtet nämlich, für die Kinder angesichts seiner eigenen Krankheiten und des alsbald bevorstehenden Todes nicht mehr sorgen zu können. Zudem lebte er mit seiner Partnerin, der Wäscherin Thérèse Levasseur, unverheiratet zusammen. Sie wäre, im Falle seines Todes, nicht imstande gewesen, sich um die Kinder zu kümmern. Mit „starken Gewissensbissen“ erinnert sich der alte Rousseau an die Fortgabe der eigenen Kinder. Der Philosoph Bernhard H.F. Taureck weist immer wieder darauf hin, dass Rousseaus Leben von „Dissonanz“ geprägt sei, also von „Missklängen“ und fehlender Harmonie. Ein „Heiliger“ war er nicht, wie manche seiner Verehrer im 19. Jahrhundert meinten, als sie „ihren“ Rousseau auf Amuletten stets bei sich hatten oder mit  Büsten des „Verewigten“ ihr Zimmer schmückten.

Viele seiner Erkenntnisse bestimmen das geistige Leben bis heute.

Mit der schonungslosen Offenlegung des eigenen Ich gerät Rousseau in Opposition zu den viel beachteten Philosophen Holbach oder d  ` Alembert. Sie halten sich, so meint er,  an „den kalten und objektiven Verstand“. Sie sprechen nur von anderen oder von dem „Abstrakt – Allgemeinen“, nicht aber von sich selbst. Mit diesen Philosophen kann Rousseau auf Dauer keine Freundschaft schließen.

Zum eigenständigen Denker wird er im Jahr 1749. Unterwegs in Vincennes bei Paris „empfängt“ er, so sein Bericht, „wie im Rausch Inspirationen und wird von tausend Lichtern geblendet“. Rousseau entschließt sich, auf die aktuelle Preisfrage der Akademie von Dijon zu antworten: „Hat die Wiederherstellung der Wissenschaften und der Künste zur Verfeinerung der Sitten beigetragen“? Seine Antwort, ein klares Nein, überrascht die tonangebenden Meisterdenker: Denn Rousseau findet den zur Schau gestellten Optimismus der Intellektuellen unerträglich. Er zeigt, wie die viel beschworenen Tugenden nur leere Floskeln sind. „Tatsächlich reden unsere Staatsmänner von nichts als von Handel und Geld“. Die Geschichte insgesamt erscheint ihm als Abkehr von dem, was die Menschen auszeichnet: Respekt vor dem Gewissen, Respekt vor der Würde. Fortschritt bedeutet also nicht „Verbesserung des Menschlichen“.

Rousseau ist überrascht, dass seine Thesen tatsächlich von der Akademie angenommen und prämiert werden. Mit einem Schlag ist er berühmt … und von vielen angegriffen, die meinen, technischer Fortschritt sei insgesamt heilsam für die Menschheit. Schuld am Niedergang der Humanität sei aber der exklusiv und heilig gehaltene Privatbesitz, meint Rousseau. Auch darin ist er inspirierend bis heute. „Die herrschende politische Ordnung sichert das Eigentum weniger. Der Besitzlose wird diesem System unterworfen. Der Dämon des Eigentums infiziert alles, was er berührt“, schreibt er. Und weist dann darauf hin, wie die Reichen beim Raffen sich selbst fremd werden. „Ein Reicher will eben überall der Herr sein. Deswegen will er immer dort hin, wo er gerade nicht ist. So ist er gezwungen, auch sich selbst stets zu fliehen“. Aber schaffen diese entfremdet lebenden Reichen nicht doch auch Wohlstand für viele, wie schon damals behauptet wird. Rousseau meint: „Der Luxus mag nützlich sein, um den Armen Brot zu geben. Doch wenn es keinen Luxus gäbe, dann gäbe es auch keinen Armen. Denn der Luxus nährt vielleicht 1000 Arme in unseren Städten, aber er bewirkt den Tod von 100.000 auf dem Lande“.

Darum muss die feudalistische Ordnung verschwinden, meint Rousseau, nur eine Republik kann die Gleichheit aller Menschen respektieren. In seiner viel beachteten Schrift „Vom Gesellschaftsvertrag“ hat sich Rousseau dazu ausführlich geäußert. Seitdem wird leidenschaftlich die Frage diskutiert: Wie kann der einzelne Mensch erkennen, dass es gut für ihn ist, mit anderen gerechte Gesetze zu schaffen. Von dieser republikanischen Ordnung kann der einzelne in seiner Freiheit geschützt werden und die vielen anderen auch, die von einem gerechten System profitieren. Wahre Freiheit besteht in der freiwilligen Bindung an die Gesetze, die sich alle gegeben haben. Zu Zeiten Rousseaus war das noch ein Traum. Aber mit diesen Thesen wird der Feudalismus ins Wanken gebracht und die Französische Revolution vorbereitet. Robespierre hat sich später auf Rousseau berufen. Aber von der Guillotine hat der  Philosoph nichts geschrieben.

Die Überzeugung, dass Gleichheit aller Menschen gut und wertvoll ist, braucht für Rousseau eine religiöse Fundierung. Auch darin ist er aktuell: Ohne eine allen gemeinsame Spiritualität, so Rousseau, fällt die Gesellschaft aus Menschen unterschiedlicher Überzeugungen auseinander. Feindseligkeiten entstehen, wenn jede Religion sich für die wahre hält. Darum plädiert Rousseau für eine neue, allen gemeinsame überkonfessionelle „Zivil – Religion“. Sie folgt den Einsichten der Vernunft, nicht den Weisungen heiliger Bücher. Ohne den Glauben an einen vernünftig handelnden transzendenten Gott kann es keine guten Bürger geben, meint Rousseau. Am wichtigsten bleibt für ihn die absolute Verpflichtung aller zur Toleranz und zum Kampf gegen die Intoleranten: „Ich bezeichne als intolerant einen Menschen, der glaubt: Man könne kein wahrer Mensch sein, ohne auch das zu glauben, was er selber glaubt. Und der alle verdammt, die nicht denken wie er“.

Was hat Rousseau selbst geglaubt? Obwohl er für eine allgemein menschliche Vernunftreligion eintrat, „fühlte er sich als ein Jünger Jesu Christi“, wie Pater André Ravier SJ betont. Er hat allerdings die Lehren des Evangeliums seiner eigenen Prüfung unterworfen. Er kann  nur die christlichen Lehren beibehalten, die seinem inneren Gefühl und der Vernunft entsprechen. Auch darin ist er aktuell.

Entscheidend bleibt für ihn am Lebensende die enge Verbindung mit der Natur. Sie schenkt ihm Gefühle unendlicher Geborgenheit: „Das Hin – und Herfließen des Wassers, sein gleichmäßiges Geräusch, zugleich in Intervallen anschwellend und mein Ohr und meine Augen ohne Unterlass erreichend, ersetzte meine inneren Bewegungen, so dass die =Träumerei=  in mir erlosch, also die Unordnung meiner Gedanken“. Jean Jacques Rousseau erinnert sich an einen Abend am Bieler See, am Rande des schweizerischen Jura. Es sind Augenblicke, die ihm Lebensenergie schenken. Das überraschende Einswerden mit der Natur, so schreibt Rousseau in seinen „Träumereien eines einsamen Spaziergängers“, „genügte, um mich mit Lust meine Existenz fühlen zu lassen“. Es gibt also doch etwas Glück und ein bisschen Trost, auch in Zeiten der Selbstzerstörung der Menschheit.

Copyright:; christian modehn. Dieser Beitrag erschien in der empfehlenswerten Zeitschrift PUBLIK FORUM, dort aucn Probeabonnements bestellen!

Wir empfehlen als ersten „Einstieg“  die RoRoRo Monographie „Jean Jacques Rousseau“ von Bernhard H.F.Taureckt, Reinbek bei Hamburg 2009.