Das Göttliche ist auch weiblich. Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb

Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb: Maria, das Göttliche ist auch weiblich

Die Fragen stellte Christian Modehn   Der Beitrag wurde am 17. 5. 2015 publiziert.

1. Die Verehrung Marias, der Mutter Jesu, ist fast ausschließlich in der katholischen (und orthodoxen) Spiritualität zuhause. In einer breiteren Öffentlichkeit wird über Maria, wie sie im Neuen Testament erwähnt wird, manchmal bloß geschmunzelt, etwa in einem (oberflächlichen) Verständnis der Jungfrauen-Geburt. Kann denn in einer neuen liberal-theologischen Perspektive die Auseinandersetzung mit der Gestalt Marias wichtig und sinnvoll sein?

Ich muss gestehen, dass ich persönlich mit der Gestalt Marias immer noch recht wenig anfangen kann. Die protestantische Prägung sitzt auch bei mir tief. Jesus Christus allein ist der Weg zu Gott, so hatte ich es von früh auf gelernt. Später dann, im Studium der Theologie, wurde es mir sogar zur tiefen Überzeugung, dass all diese Heiligen, allen voran die Gottesmutter Maria, die die katholische Kirche ins Christentum eingeführt hat, lediglich dazu angetan sind, die Macht der Kirche zu steigern. Die Heiligen – und allen voran eine die Kirche symbolisierende Maria – werden, so hatte ich gelernt, im Katholizismus zwischen Christus und die Gläubigen gestellt. Sie sind religiöse Mittlergestalten, die dafür aber auch gewisse Dienstleistungen von den Gläubigen verlangen. Im evangelischen Christentum hingegen, so hatte ich gelernt, ist der einzelne Gläubige, dann, wenn er allein auf Christus, den mit Gott eins seienden Menschen blickt, selbst unmittelbar verbunden mit Gott und in ihm des unbedingten Sinns seines Daseins gewiss.

Der Einspruch gegen die Heiligenverehrung, ja, gegen die die Kirche selbst in ihrer Mittlerstellung symbolisierende Maria, war der Grundimpuls der Reformation. Er beschreibt immer noch die grundlegende Bedeutung der reformatorischen Rechtfertigungslehre und damit, nach protestantischem Selbstverständnis, des wahren Grundes christlicher Freiheit, Freiheit auch und gerade vom zwanghaften religiösen Regulierungswahn der Kirche.

Inzwischen bin ich gegenüber solchen theologischen Argumentationen sehr viel vorsichtiger geworden. Ich halte sie zwar auf der theologisch-argumentativen Ebene immer noch für richtig. Auch denke ich, dass sie religionskulturelle Differenzen zwischen Katholizismus und Protestantismus, insbesondere was die unterschiedliche theologische Bedeutung, die der Kirche und vor allem dem Priesteramt zugeschrieben wird, immer noch ganz gut erklären. Dennoch, so denke ich heute, ist diese die kirchlichen Dogmen und Lehren erklärende Theologie unendlich weit weg von der gelebten Religion und den spirituellen Interessen der Menschen. Eine heutige liberale Theologie denkt aber nicht mehr von den Dogmen und kirchlichen Lehren her, sondern versucht die gelebte Religion der Menschen tiefer über sich zu verständigen und die spirituellen Bedürfnisse der Menschen aufzunehmen.

Der religiöse Sinn der reformatorischen Rechtfertigungslehre war es, dass wir, allein auf Jesus Christus blickend, dessen gewiss sein können, mit Gott auf dem Grunde der je eigenen Seele innerlich eins zu sein. In der alten liberalen Theologie, wie sie von dem Berliner Theologen Friedrich Schleiermacher um 1800 auf den Weg gebracht und um 1900 von dem Berliner Kirchenhistoriker Adolf von Harnack mit dem historischen Denken vermittelt wurde, begegnet in dem irdischen Jesus die beeindruckende und zu eigenen Gottvertrauen ermutigende Gestalt des mit Gott innerlich verbundenen Menschen. Der mit Gott einige Mensch ist in der alten liberalen Theologie der irdische Jesus, fraglos der Mann Jesus.

Unter den gewandelten, in Genderfragen ungleich sensibleren religionskulturellen Bedingungen der Gegenwart, könnte sich eine neue liberale Theologie durchaus offen zeigen für die Maria, die in die Vorstellungswelt des Christentums eingelassene, weibliche Symbolgestalt eines mit Gott innerlich verbundenen Lebens. Auch der biblische Bezug wäre dafür gegeben. Von Maria wird in einem der bekanntesten Texte der Bibel, der Weihnachtserzählung des Lukasevangeliums (Lk 2), das Wichtigste gesagt, was von einem Menschen überhaupt gesagt werden kann: „Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.“ (Lk 2, 19), die Worte von der Geburt des Erlösers.

So ist es eben nicht der Mann Jesus allein, in dem wir dem zur Welt gekommenen Gott begegnen. Wir blicken ebenso auf Maria, die Frau, die Mutter, die uns zeigt, wie es zugeht, wenn in einem Menschen Gott zur Welt kommt. Das geht so zu, dass Menschen die Geschichte, die von ihrer Erlösung erzählt, in ihrem Herzen bewegen, sie sich das Wort von der liebevollen Nähe Gottes innerlich aneignen. Das zeigt Maria, die Gottesmutter. Sie zeigt, wie Gott im Menschen zur Welt kommt.

Gott wohnt nicht droben im Himmel, er herrscht auch nicht über die Menschen. Er wirkt die Geburt des wahren Menschen. Dabei erschließt sich, wozu des Menschen Dasein in dieser Welt bestimmt ist. Davon haben die Engel über dem Stall von Bethlehem, in dem Maria, die Gottesmutter, den Gottessohn zur Welt gebracht hat, gesungen: Vom Frieden auf Erden und dem Wohlgefallen, das allen Menschen, die guten Willens sind, werden soll.

2. Wer die religiöse Praxis an katholischen Marien-Wallfahrtsorten kritisch betrachtet, kommt oft zu der Überzeugung: Für viele religiöse Menschen dort ist Maria die weibliche Seite Gottes. Und die „brauchen“ sie förmlich. Ist diese Erfahrung etwas Erstaunliches, sollte sie vertieft werden in das Bekenntnis: Gott ist (auch) weiblich. Gott ist mütterlich? Oder sollten solche Gott-Vater- und Gott-Mutter Vorstellungen vom einzelnen eher abgewehrt werden?

Wenn wir Gott in seinem Verhältnis zur Welt denken, erscheint es wenig plausibel, Gott als weiblich oder männlich, oder auch als beides, aufzufassen. Gott ist der Sinn des Ganzen. Gott ist es, der in uns Menschen die Kraft freisetzt, für das Gelingen aller guten Dinge einzustehen. Dennoch kann ich der Vorstellung von der Gottesmutter einen tiefen religiösen Sinn abgewinnen. Die Vorstellung von Gott als dem Vater bleibt ja immer mit patriarchalen Herrschaftsverhältnissen verbunden. Auch wenn wir das Beschützende und Bewahrende im göttlichen Handeln an uns betonen und im Bild des Vaters, der den aus der Fremde zurückkehrenden, verlorenen Sohn liebevoll in seine Arme schließt, alle strengen und Angst machenden Züge getilgt haben, die männliche Seite Gottes bleibt doch diejenige, die die Distanz zwischen Gott und uns aufrechterhält.

Maria hingegen, sie ist die Frau. Maria ist die Mutter. Aus der Frau wird das neue Leben geboren. In Maria, der Gottesmutter, erscheint uns das Bild des vollkommen sich zu Gott verhaltenden menschlichen Lebens. Oder besser noch, in Maria erscheint uns das Bild des wahren Menschen, des Menschen, in dem Gott zur Welt kommt, des Menschen, zu dem zu werden wir alle bestimmt sind.

Eine neue liberale Theologie hat allen Anlass, deutlich zu machen: Gott ist in unseren Vorstellungen von ihm bzw. von ihr nicht nur männlich, sondern auch weiblich. Die weibliche Seite Gottes ist die, die uns die Einheit mit ihm fühlbar macht. Der mütterliche Gott ist die, die uns die Gewissheit schenkt, dass wir im Grunde unseres Daseins anerkannt, ja geliebt werden, aus einer Liebe leben, die nichts auf dieser Welt je uns nehmen kann. Alle leben in und aus dieser Liebe, alle, die aus Gott geboren sind.

3. Die Marien-Frömmigkeit im allgemeinen führt zur Frage an Protestanten, zumal eher kopflastige, vernunft-betonte liberale Protestanten: Brauchen sie nicht mehr Emotionen, mehr Bilder und Mythen, auch im Gottesdienst? Das ist ja keine taktische Frage angesichts der Erfolge der emotionalen Pfingstkirchen. Und die emotionalen Taizé-Lieder können ja auch nicht „die“ Lösung sein.

Dass wir aus Gott geboren sind und es die Kraft des göttlichen Geistes ist, aus der in Wahrheit wir unser Leben als ein sinnbewusstes und zielorientiertes führen, das können wir nicht gegenständlich vor uns bringen. Das können wir nicht wissen, nicht rational zum Gegenstand unserer Erkenntnis machen. Gott, der die Quelle unseres sinnbewussten Lebens ist, dessen mütterliche Nähe vor allem, können wir nur fühlen. Aber, was heißt hier „nur“? Das Gefühl ist es, das uns in einen unmittelbaren Kontakt zu uns selbst bringt. Fühlend sind wir uns selbst gegenwärtig, allerdings, ohne dass wir diese Selbsterschlossenheit in ihrem göttlichen Grunde zu bestimmen in der Lage wären. Genau dazu brauchen wir die religiösen Symbole und mythischen Bilder, die rituellen Inszenierungen und ästhetischen Performanzen, alles das, was der religiöse Kult zu ermöglichen versucht. Die Bilder der Religion sind es, die die Objekte der religiösen Anschauung schaffen. Die Musik und die Bewegung des Körpers sind es, die jene innere Erregung schaffen, die es macht, dass wir uns zu dem göttlichen Grunde unseres sinnbewussten Daseins auch bewusst verhalten.

Die bildende Kunst hat wunderbare Marienbilder geschaffen. Wenn wir es lernen, der emotionalen Seite der religiösen Erfahrung wieder größere Aufmerksamkeit zu schenken, dann dürfte Maria als die Mutter des Gottes, der im eigenen Herzen zur Welt kommt, auch in den protestantischen Spielarten der christlichen Religionskultur größere Aufmerksamkeit finden.

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin

Beschneidung – Eine offene Diskussion. Interview mit dem Theologen Prof. Wilhelm Gräb

Eine Information vorweg:

Eine neue Kategorie im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon: „Fundamental vernünftig“ heißt der Titel, unter dem Sie in Zukunft regelmäßig Interviews mit Wilhelm Gräb finden. Er ist Theologieprofessor an der Humboldt Universität zu Berlin. Als „praktischer Theologe“  interpretiert er aktuelle Zeitfragen aus dem weiten Feld von Religionen und Kirchen, Kulturen und Philosophien. Der Untertitel unserer neue Kategorie „Religiös aus freier Einsicht“ zeigt an, dass es in den Beiträgen nicht um Wiederholungen dogmatischer Lehren geht, sondern um die Einladung, sich auch in religiösen Fragen seiner eigenen Vernunft anzuvertrauen. So wird allem unvernünftigen Fundamentalismus gegengesteuert und die Freiheit der einzelnen und der Gesellschaft gefördert. Die Freunde und Mitglieder des „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons Berlin“ freuen sich sehr, dass durch die Beiträge Wilhelm Gräbs den Diskussionen über die Rolle der Religionen in der heutigen Gesellschaft neue Perspektiven erschlossen werden.

Der erste Beitrag:

Beschneidung – Eine offene Diskussion

Ein Interview mit Prof. Wilhelm Gräb, Berlin, zuerst veröffentlicht am 20. Juli 2012

Die Fragen stellte Christian Modehn

Die jüngsten Diskussionen über die gesetzliche Legitimität religiös begründeter Beschneidungen an Jungen werden offenbar von einem Tabu bestimmt: Darf man wirklich nicht über uralte religiöse Traditionen kritisch nachdenken und offen diskutieren?

Die offene Diskussion findet ja statt. Wann ist zuletzt so viel über religiöse Riten, über das Recht, sie nach den Gesetzen der Religionsgemeinschaft auszuüben, diskutiert worden wie jetzt nach dem Kölner Landgerichtsurteil? Das merkwürdige allerdings ist: Die öffentliche Diskussion wird nur von einer Seite aus geführt. Die Säkularen bestimmen die Debatte, Politiker und Politikerinnen, Juristen und Juristinnen, Soziologen und Kulturwissenschaftlerinnen, dann noch Religionsphilosophen. Aber bei Theologen und Theologinnen? Eher Fehlanzeige!

Die Vertreter der Religionsgemeinschaften erwecken tatsächlich den Eindruck, als habe das Kölner Gerichtsurteil ein Tabu verletzt. Wütende Proteste von Seiten jüdischer und muslimischer Organisationen waren die Folge. Absurde Vergleiche bis hin zum Holocaust wurden gezogen. Theologisch erklärt haben die Religionsvertreter aber nichts. Kein Wort dazu, worin der religiöse Sinn dieser in der Tat auf uralte, frühgeschichtliche Kulturen zurückgehenden Beschneidungspraxis denn heute noch besteht. Allenfalls, dass Gott solches zu tun geboten habe, ist von religiöser Seite zu hören.

Bloß auf uralte Traditionen  zu verweisen, ist also kein stichhaltiges Argument?

Das Traditionsargument trägt nicht weit. Traditionen können ihren Sinn verlieren. Traditionen können verändert werden. Von Seiten der jüdischen Religionsgemeinschaft wird deshalb auch  gar nicht so sehr das Traditionsargument ins Feld geführt. Es wird auf das jüdische Religionsgesetz verwiesen, das wiederum eine klare biblische Begründung habe. Sie ist im Alten Testament auch der christlichen Bibel leicht nachzulesen (vgl. Gen 17, 10).

Auf Traditionen und Bräuche zu verweisen, entspringt im Grunde bereits einer säkularen Denkweise. Mit dem Traditionsargument operieren auch eher die Muslime. Denn die Beschneidung wird im Koran nicht befohlen. Sehr wohl aber in der Thora. Aus orthodoxer jüdischer Sicht geht es im jetzigen Beschneidungsfall um das Verhältnis von Religionsrecht und säkularem Recht oder eben Gottesgesetz und Menschengesetz.

Deshalb die Schärfe in der Auseinandersetzung von bestimmten Vertretern der jüdischen Religionsgemeinschaft. Dahinter steht freilich ein fundamentalistisches Verständnis der Bibel: Gott hat die Beschneidung als das ins Fleisch eingeschriebene Zeichen seines Bundes mit dem Volk Abrahams geboten. So steht es in der Bibel. Was in der Bibel steht, gilt unbedingt und in alle Ewigkeit. Doch das ist die Argumentationsform aller Bibelfundamentalisten, die freilich von Juden genauso wenig wie von Christen wirklich dann für alle Bibelstellen in Anwendung gebracht wird. Weiterlesen ⇘