Ein Hinweis von Christian Modehn … zu einem aktuellen Thema: Dem Krieg Russlands/Putins gegen die Ukraine und einem möglichen Frieden.Wird da ein “fauler Kompromiss” ausgehandelt? Sehr wahrscheinlich!
1.
Über Kompromisse wird jetzt wieder oft (nicht nur von Politikern) gesprochen. Mehr Klarheit über Kompromisse zu finden, ist sicher eine dringende Aufgabe. Dabei wird über Kompromisse in der Philosophie, der Ethik oder der Politologie eher selten diskutiert.
2.
Ein treffender Einstieg in die Diskussion über Kompromisse ist die Erkenntnis: Das menschliche Leben ist von vornherein und von Beginn des individuellen Lebens an von Kompromissen bestimmt. Schon allein die Entscheidung für einen Vornamen des Neugeborenen ist oft Ausdruck eines Kompromisses. Daher wohl die vielen Doppelnamen, „Rolf-Sebastian“ nimmt Bezug auf die Verwandten von Mutter und Vater…
Oft wird über die Kinder durch Kompromisse verfügt. Etwa: Wann der Vater das Kind besuchen kann im Fall einer Trennung von der Ehefrau. Auch die Entscheidung für eine Schule ist oft Ausdruck eines Kompromisses. In unserem Leben werden uns ständig Kompromisse zugemutet, die wir als „Alltags-Kompromisse“ explizit so gar nicht benennen. Etwa: Wenn der eine in der Partnerschaft/Ehe eher seinen Urlaub am Meer, der andere in den Bergen verbringen will: Anstatt die kurze Urlaubszeit auf verschiedene Orte aufzuteilen, wird man entscheiden: In diesem Jahr ans Meer, im nächsten Jahr in die Berge. Das schlichte Kompromiss – Beispiel soll nur zeigen: Wir machen ständig Kompromisse, und wir müssen sogar ständig Kompromisse machen, um ein halbwegs harmonisches Miteinander erleben zu können.
3.
Der Philosoph Avishai Margalit (lehrte an Unis in Jerusalem und Princeton) schreibt in seiner Studie „Über Kompromisse und faule Kompromisse“ (Suhrkamp, 2011): „Der Kompromiss, der sich etymologisch von co-promissum, dem gegenseitigen Versprechen, herleitet, ist eine auf gegenseitigem Versprechen basierende Kooperation“ (S. 49). Und: „Der Kompromiss ist ein wesentliches Element bei der Verringerung der Spannung zwischen Kooperationen und Konkurrenz.“ (ebd.). Kein Mensch erreicht in seinem Lebensentwurf und seinem Zusammenleben mit anderen, die völlige Durchsetzung bzw. Realisierung seiner eigenen Werte und Vorstellungen. „Die Umstände zwingen uns dazu, uns mit weit weniger zufrieden zu geben, als wir eigentlich wollen. Wir schließen einen Kompromiss.“ (Margalit, S. 14). Und genau diese Kompromisse als Notwendigkeit eines humanen, gleichberechtigten Zusammenlebens, sind ein Gewinn, Kompromisse sind kein Verlust für die TeilnehmerInnen des Kompromisses. Sie können mit der teilweisen Realisierung ihrer Werte leben … und zwar freundschaftlich mit anderen, die um meinetwillen auch mit der teilweisen Realisierung ihrer Werte zufrieden sind bzw. sich zufrieden geben müssen. Will ich total meine Werte immer und überall durchsetzen, bin ich schnell allein und isoliert. Nur Anhänger von Sekten oder fundamentalistischen Organisationen können im Ernst diese Position vertreten.
4.
In Demokratien bilden mehrere Parteien oft eine Koalition: Und diese kommt durch Kompromisse zustande: „Einen Kompromiss einzugehen heißt also, ein bestimmtes Ergebnis unter bestimmten Bedingungen für vorzugswürdig zu halten, nicht jedoch, es zu seiner eigenen Meinung machen zu müssen. Kompromiss ist eine Technik des gegenseitigen Nachgebens: Von den 100 Prozent des Parteiprogramms zu den X-Prozent der Koalitionsvereinbarung. Alle, die nachgeben, kriegen nicht, was sie wollten, aber alle kriegen eine Durchsetzungschance für Teile ihres Programms,“ so Oliver Lepsius in der Monatszeitschrift Merkur, Heft 919, Dez.2025.
5.
Demokratie lebt nur durch Kompromisse. Wer den Erhalt der Demokratie will, muss seinem demokratischen politischen Gegner nachgeben, weil er Demokratie will, dadurch bleibt er beteiligt an der Regierung und kann auch politisch mitgestalten. „Ohne Kompromisse besäßen wir als politisch handelnde Gemeinschaft keine Einigung, Orientierung und Handlungsgewissheit.“ (Oliver Lepsius). Ein Kompromiss ist also kein Verlust, kein Defizit, sondern ein Gewinn, schreibt Oliver Lepsius, „um politische Meinungen und Überzeugungen in Entscheidungen zu verwandeln“, um etwa zu einer handlungsfähigen Koalition in einer Demokratie zu kommen.
6.
Ein Kompromiss ist mit einem Konsens NICHT identisch: Ein Konsens ist eine Übereinstimmung aller Beteiligten, die zu einer und demselben Überzeugung gelangt sind, also einer einzigen Meinung sind. Bei einem Kompromiss hingegen hat jeder, der mit dem anderen diese Entscheidung für den Kompromiss eingeht, nach wie vor seine eigene, seine von dem anderen verschiedene Meinung. Aber die totale Durchsetzung der eigenen Meinung stellen beide Parteien für die gemeinsame Arbeit oder für die Zeit des gemeinsamen Lebens zurück. Jeder Kompromiss kann neu verhandelt werden.
7.
Es gibt auch die „faulen Kompromisse“, die – wie der Name sagt – widerlich sind und „stinken“. Und faul heißen sie auch, weil die eine Seite und deren Verbündete offenbar auch „faul“ im Nachdenken waren, so dass der Gegner über den anderen sich durchsetzen konnte. Tatsächlich sind „faule Kompromisse“ Realität im Umgang mit Diktatoren und anderen politischen Verbrechern, etwa Aggressoren im Krieg.
Ein fauler Kompromiss ist eine Übereinkunft, „die um jeden Preis vermieden werden muss“, schreibt Avishai Margalit (S. 109). Und auf S. 108: „Ein Kompromiss ist nur dann faul, wenn er ein unmenschliches Regime etabliert oder stützt.“
8.
Man denkt bei dieser Bewertung naheliegend an den Krieg, den die Russische Föderation, mit ihrem Präsidenten Putin, gegen die Ukraine schon vor Jahren begonnen hat (Krim-Annexion 2014), und den Russland seit dem 24.2. 2022 noch umfassender und brutaler führt.
Eines Tages wird es wohl Frieden geben. Und Demokraten und Putin-Feinde in aller Welt, vor allem das ukrainische Volk, werden dann ihre vertraute Ukraine in den ihnen vertrauten und selbstverständlichen Grenzen von 2003 nicht mehr erleben. Denn: Dass die Ukraine und ihre Verbündeten dieses Russland, Putin, besiegen und dadurch zur Rückgabe der besetzten ukrainischen Gebiete zwingen können, ist leider eher unwahrscheinlich. Zumal wenn man an die völlig unklare Russland-Politik von Mister Trump denkt.
Es wird also – leider – einen faulen Kompromiss als Friedensvertrag geben, der allein deswegen vereinbart wird, um der tötenden und zerstörerischen Gewalt Russlands ein Ende zu setzen.
9.
In dieser durchaus abstrakt erscheinen Überlegung ist es wichtig: Dieser faule Kompromiss zwischen Russland und der Ukraine hatte als Voraussetzung schon faule Kompromisse vor Kriegsbeginn im Jahr 2022: Als nämlich Jahre zuvor schon die westlichen Demokratien, die EU, besonders Deutschland, um des eigenen ökonomischen Vorteils willen, Verträge mit Russland abgeschlossen hatten, bezogen auf die „günstigen“ Öl -und Gas-Lieferungen Russlands. Aus ökonomischem Egoismus der europäischen Staaten wurden die kriegerischen Aggressionen Russlands gegen Georgien (die georgischen Territorien Abchasien und Südossetien sind seit 2008 von Moskau abhängig) und gegen die Krim (2014) dann aus ökonomischen Gründen übersehen. Dies waren bereits faule Kompromisse mit Putin, in denen sich Demokratien auf den Diktator Putin einließen, diese faulen Kompromisse stärkten den Diktator und ermöglichten ihm den Krieg seit 2022… Und eines Tages wird zu einem noch viel umfassenderen „faulen Kompromiss“ kommen, zum Schaden der Ukraine und letztlich zum Schaden des von Russland bedrohten Europa.
10.
Man muss fragen, ob es Kompromisse auch für Gesellschaften und Organisationen geben kann, die behaupten, „die“ Wahrheit total auf ihrer Seite zu haben. Etwa die göttliche Wahrheit in den Religionen, zum Beispiel auch im Katholizismus. Damit sind wir bei der Frage: Gibt es, gab es, Kompromisse innerhalb der katholischen Kirche? Einer Kirche, die von sich selbst offiziell behauptet, „allein selig-machend“ zu sein. Ist eine solche Organisation zum Kompromiss fähig?
Kompromiss setzen in unserem Fall gegenüber dem Papst usw. die kritischen Katholiken voraus, die Kompromisse als Reförmchen fordern. Bestenfalls kann dann von sehr bescheidenen Kompromissen die Rede sein: Zum Beispiel: In vielen Ländern dürfen seit einigen Jahren, durch bischöfliches Entgegenkommen gegenüber den „Laien“, nun auch Mädchen als Ministrantinnen dem Priester am Altar zu Diensten sein. War es ein Kompromiss, als der Papst auch die Feuerbestattung den Katholiken erlaubte? War es ein Kompromiss, als im 2. Vatikanischen Konzil die Religionsfreiheit offiziell anerkannt wurde? Sicher waren es Kompromisse, weil die Kirchenführung spürte, ohne solche Zugeständnisse würden noch mehr Leute die Kirche verlassen oder die Kirchen stände sehr sehr blamabel in der Moderne da. Weil aber die katholische Kirche keine Demokratie ist, in der Kompromisse üblich und angesehen sind, nannte also diese Kirche ihre Kompromisse Reformen. Aber eben nicht eine „Reformation“, denn diese würde das System dieser Kirche erschüttern.
Sehr ausführlich äußert sich zu diesem philosophisch vernachlässigten Thema „Kompromiss“ Véronique Zanetti, in „Spielarten des Kompromisses“, Suhrkamp, 2022.
Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin
