Tugenden und Laster: Eine philosophische Revue

Müßiggang ist aller Liebe Anfang

Wenn Tugenden zu Lastern werden – und umgekehrt.   Christian Modehn im Gespräch mit dem Philosophen Martin Seel

Hinweis am 2.1.2019: Über das neue (2018) Buch von Martin Seel “Nichtrechthabenwollen” klicken Sie hier.

Wollen Sie an einer philosophischen Revue teilnehmen? Dabei können Sie ganz schön erschüttert werden. Denn im Laufe der Revue werden Tugenden zu Lastern und umgekehrt. Der Philosoph Martin Seel (Universität Frankfurt am Main) zeigt überzeugend, wie fließend die Übergänge sind zwischen gutem und bösem Verhalten. »111 Tugenden – 111 Laster« heißt sein neuestes Buch. Es stellt keineswegs 111 Tugenden den 111 Lastern gegenüber. Vielmehr sind die 111 menschlichen Charakterbilder in sich doppeldeutig: Eine Tugend kann zum Laster werden und ein Laster zur Tugend.

Herr Seel, verwischen Sie in Ihrem Buch nicht das klare Bild, das bisher ein tugendhaftes beziehungsweise ein verabscheuungswürdiges, ein lasterhaftes Leben auszeichnete?

Martin Seel: Auch nach der Lektüre meines Buches bleibt es dabei, dass Tugenden ein gutes und gerechtes Leben fördern und Laster ein solches Leben behindern und im Extremfall zerstören. Jedoch führt das Buch vor, dass in den meisten der menschlichen Charaktereigenschaften, die wir auf den ersten Blick als Laster verbuchen, durchaus auch Energien der Tugend stecken und entsprechend, dass in den menschlichen Tugenden häufig auch Kräfte des Lasters wirksam sind. Das heißt: Tugenden sind heikle Balancen, die oft nur mit Mühe gehalten werden können – aber die Mühe ist es wert.

Zum Beispiel: Warum kann das hoch gelobte Mitgefühl auch lasterhaft, also schädlich sein, für den Mitfühlenden wie für die Betroffenen?

Martin Seel: Wir alle kennen das Phänomen des falschen Mitleids. Aber auch dort, wo wir nicht nur ein geheucheltes, sondern ein echtes Mitgefühl für die Lage anderer Personen aufbringen, kann es vorkommen, dass wir die anderen durch unsere Empathie erdrücken: Wir glauben, besser als diese selbst zu wissen, wie es ihnen ergeht, und maßen uns an, deren Leben in unsere Hand zu nehmen. Zugleich kann übersteigertes Mitgefühl auch denen schaden, die es zeigen. Dies geschieht, wenn sie vor lauter Anteilnahme das Gespür für ihr eigenes Wohlergehen verlieren, was ihnen früher oder später die Kraft und die Fähigkeit zu aufrichtiger Anteilnahme raubt.

Oder denken wir an die Tugend der Frömmigkeit. Warum kann sie ins Lasterhafte »umkippen«?

Martin Seel: Wie immer man Frömmigkeit im Einzelnen versteht, ob als eine religiöse Haltung oder auch nur eine Haltung der »Weltfrömmigkeit« (die von jener gar nicht immer so leicht zu unterscheiden ist) – ihre Formen kippen ins Lasterhafte um, wenn der Glaube der Frommen zu einem starren, dogmatischen und darum intoleranten Glauben wird, der keinen anderen neben sich duldet. Insofern ist aller Fanatismus fehlgeleitete Frömmigkeit.

Nehmen wir eine relativ milde Form des Lasters, etwa die Faulheit. Kann denn aus Faulheit eine tugendhafte Haltung werden?

Martin Seel: Aber sicher. Das ethische Lob der Faulheit ist ja durch die Jahrhunderte hinweg immer wieder gesungen worden. Nicht weil Faulheit in jeder Hinsicht wohltuend und sozialverträglich wäre, aber doch, weil in ihr manchmal ein Geist des Widerstands gegen falsche eigene Erwartungen und maßlose gesellschaftliche Zumutungen steckt, der durchaus heilsam sein kann. In der richtigen Dosis erweist sich Faulheit als eine Form des Müßiggangs. Und entgegen anderslautenden Gerüchten ist Müßiggang nicht aller Laster, sondern aller Liebe Anfang.

Könnte man es ethisch rechtfertigen: Wer nie untreu war, weiß nicht, was Treue ist? Also sollte man sich eine gewisse »Dosis« Untreue gönnen?

Martin Seel: Ich würde vorsichtiger sagen: Wer den Zweifel an der Treue nicht kennt, kennt den Sinn der Treue nicht. Der Zweifel, auf den es hier ankommt, betrifft die Frage, ob die Person oder Sache, der ich treu bin, es wirklich wert ist, dass ich es bin. Sich dies fragen zu können ist selbst ein Zeichen der Fähigkeit zur Treue.

Ein hundertprozentig heiliger Mensch ist also philosophisch gesehen nichts als ein frommer Wunsch?

Wenn wir mit der Figur des Heiligen, wie es in der Moralphilosophie und Moraltheologie immer wieder geschehen ist, das Ideal einer Person verbinden, die sich vollkommen sicher auf der Seite des Guten bewegt, weil diese den Widerstreit zwischen Pflicht und Neigung, zwischen Selbstsorge und Sorge für andere, zwischen den Forderungen des Tages und denen über den Tag hinaus (usw.) überhaupt nicht kennt, dann handelt es sich nicht einmal um einen frommen Wunsch, sondern einfach um eine unsinnige Vorstellung. Denn moralisch zu sein heißt gerade, den Widerstreit zwischen unterschiedlichen Anforderungen und Erwartungen ohne Bedauern anzunehmen – ohne den Irrglauben, man könne ein für alle Mal auf der richtigen Seite sein. Die wirklichen Menschen übrigens, die in religiösen Traditionen als »Heilige« verehrt werden, haben sich diesen Irrglauben kaum zuschulden kommen lassen.

Der Revolutionär Robespierre etwa wollte »nur tugendhaft« sein. Ist er gerade deswegen zum Massenmörder geworden?

Martin Seel: Unter anderem deswegen würde ich sagen. Moralischer Rigorismus ist gerade politisch gefährlich. Er verletzt das menschliche Maß eben dadurch, dass er sich einbildet, im Besitz der einzig wahren Deutung dieses Maßes zu sein. Auch hier gilt: Die reine Illusion ist immer eine Illusion der Reinheit.

Gibt es denn für Sie ein Laster, das niemals die Möglichkeit hat, sich positiv zur Tugend zu entwickeln?

Martin Seel: Ja, zumindest ein Laster bildet in meinem Buch eine Ausnahme von der Ambivalenz-Regel: die Grausamkeit. Grausam sind Personen oder Institutionen, die bereit sind oder es in Kauf nehmen, die leibliche und seelische Integrität von Personen ohne Rücksicht auf ihr Wohlergehen zu verletzen. In dieser Einstellung steckt nicht der geringste Keim einer Orientierung am Guten.

Es kommt in Ihrer Tugend-Philosophie darauf an, die Übergänge wahrzunehmen, wenn zum Beispiel aus der authentischen Freundlichkeit das Bloß-freundlich-Tun wird?

Martin Seel: Überall in der menschlichen Lebensführung kommt es auf die feinen Unterschiede an – so auch hier. Wobei nicht einmal das bloße Freundlich-Tun ganz zu verachten ist, etwa, wenn wir an die »professionelle« Freundlichkeit von Schalterbeamten oder Kassiererinnen denken.

Sie wenden sich gegen die definitive Abgeschlossenheit einer bestimmten Lebenshaltung. Könnte man sagen: Sie wollen das Leben flüssiger machen? »So bin ich und so bleib ich auf ewig«: Dieser Spruch hat dann wenig Sinn?

Martin Seel: »Das Leben« flüssiger machen zu wollen wäre wohl allzu vermessen. Außerdem erscheint es den meisten von uns ohnehin als einerseits zu flüssig (und flüchtig) und andererseits zu festgelegt (und beengend). Der Prozess der Lebensführung aber kann so gestaltet werden, dass in ihm eine Offenheit für die Ungewissheiten und Instabilitäten des Lebensvollzugs zum Ausdruck kommt. Nur dank dieser Offenheit ist so etwas wie ein über einzelne glückliche Augenblicke hinaus gelingendes Leben möglich.

Sie nennen Ihr Buch »eine philosophische Revue«: Das heißt, die Leserinnen und Leser können mit der Lektüre irgendwo beginnen, zum Beispiel bei der »Coolness«. Dann werden sie lesen, dass Coolness durchaus eine Mischung aus Gleichmut, Lässigkeit und Gewitztheit ist. Aber dann schreiben Sie auch: Coolness, »diese wohltemperierte Leidenschaft, lässt sich auf Dauer im wirklichen Leben nicht durchhalten«. Hoffen Sie darauf, dass durch Erkenntnis eine neue Einstellung zur Coolness, vielleicht zum Leben insgesamt, gelingt?

Martin Seel: Das Argument an der Stelle, auf die Sie sich beziehen, besagt, dass ein Leben lang durchgehaltene Coolness zur bloßen Fassade verkommen müsste: »Nur brüchige Coolnes ist cool«, lautet deshalb in dieser Sache das paradoxe Fazit. Wer das akzeptiert, verleiht seiner Lebenseinstellung einen bestimmten Akzent. Die Sache der Tugenden und Laster ist aber zu komplex, als dass man im Nachdenken über eine von ihnen sogleich die ganze Einstellung zum Leben neu konfigurieren könnte. Dies aber kann man ohnehin durch Nachdenken allein gar nicht bewerkstelligen. Erfahrung und Übung, und mit ihnen Enttäuschung und Überraschung, sind die unumgänglichen Begleiter einer wirksamen ethischen Reflexion.

Meinen Sie also, dass philosophische Besinnung und Kritik einen therapeutischen Charakter haben kann

Martin Seel: Ja, durchaus: vor allem deshalb, weil es sich um Selbsttherapie handelt, die ihre Basis in einsamer oder gemeinsamer Selbstverständigung hat.

Sind denn Tugenden aus Ihrer Sicht lernbar? Und wenn ja, wer sollte Tugenden lehren?

Martin Seel: Hier möchte ich paradox sagen: Sie sind lernbar, aber nicht lehrbar. Dies folgt aus dem, was ich eben gesagt habe: Die Ausbildung von Tugenden und auch Laster ist wesentlich eine Sache der individuellen Selbstformung, die im günstigen Fall von beständigen Lernprozessen begleitet wird. Das bedeutet freilich weder, dass man den eigenen Charakter insgesamt in Regie nehmen könnte, noch, dass man nicht auf die Hilfe und das Beispiel anderer angewiesen wäre. Dennoch bleibt der Gedanke eines Tugendlehrers ein hölzernes Eisen. Die Fähigkeit, im eigenen Handeln diverse Tugenden zu beweisen, hat nicht die Verfassung eines Expertenwissens, das in feinen Dosen an die Laien weitergegeben werden könnte. Denn es gibt hier weder Laien noch Experten. Wohl aber gibt es Menschen, die anderen durch Erziehung, Anleitung, Imagination und Animation auf die Sprünge helfen können, indem sie veranschaulichen oder vormachen, wie es trotz allem möglich ist, sich selbst und den anderen einigermaßen gerecht zu werden.

Sollten heute Philosophen bestimmte Tugenden in den Mittelpunkt stellen, wenn nicht fördern? Etwa Gerechtigkeit, Engagement, Solidarität?

Martin Seel: Dies sind wichtige und unbedingt zu stärkende soziale Tugenden, über denen aber auch die stärker individualethischen Tugenden nicht vergessen werden sollten, wie beispielsweise Humor, Selbstachtung und Selbstvertrauen. Denn ohne diese werden jene nicht umsichtig wirksam werden können. Außerdem ist zu beachten, dass gerade die primär sozialen Tugenden in einer Gesellschaft wie der unseren nicht allein individuelle, sondern zugleich institutionelle Werte bezeichnen: Ohne gerechte Institutionen beispielsweise bleibt das individuelle Bemühen um Gerechtigkeit immer auch ohnmächtig. Daher hat die Förderung von Tugenden von vornherein eine politische Dimension.

Wie können Philosophen die verschiedenen Formen der Gier, etwa in der Finanzwelt, analysieren und kritisieren?

Martin Seel: Gerade an diesem Beispiel zeigt sich die eben erwähnte politische Dimension der Rede von Tugenden und Lastern. Das Problem der Finanzmärkte und ihrer Regulierung liegt ja nicht in erster Linie an der persönlichen Gier der Akteure, die auf dem Parkett der Börsen zugange sind. Es liegt vor allem an den systembedingten Imperativen, denen die Finanzindustrie gehorcht, und ihrer Indifferenz gegenüber den Entwicklungen der Realwirtschaft. Hier gegenzusteuern – und damit auch die Spielräume individueller Gier zu verringern – ist eine eminent politische Aufgabe, die zudem nur im internationalen Maßstab angegangen werden kann.

Warum brauchen wir eine neue Tugendlehre? Reicht im Alltag nicht der kategorische Imperativ Immanuel Kants als Orientierung völlig aus, der mich mahnt, immer zu prüfen, ob meine Lebensmaxime allgemeines Gesetz für alle werden kann?

Martin Seel: Der kategorische Imperativ oder andere Formen eines Instrumentalisierungsverbots im Verhalten der Menschen untereinander reichen allein deshalb nicht aus, weil sie angesichts konkreter Situationen viel zu wenig aussagen können. Und weil sie nicht in der Lage sind, der Möglichkeit von normativen Konflikten gerecht zu werden. Eine moderne Tugendlehre erinnert demgegenüber an die praktische Auslegung allgemeiner moralischer und rechtlicher Grundsätze, wie sie in der Gestalt einer Pluralität von Tugenden und Lastern in unserem alltäglichen Leben wirksam ist – und dort auch immer wieder verhandelt wird. Denn das ist der Sinn der Tugenden: Denen, die sich um ihren Besitz bemühen, eine Deutung ihres Lebens zu geben, die es ihnen erlaubt, ihr Dasein in Selbstachtung und in mit anderen geteilter Selbstbestimmung zu vollbringen.

Buchhinweis: Martin Seel. 111 Tugenden, 111 Laster. Eine philosophische Revue.

S. Fischer. Frankfurt am Main. 288 Seiten. 18,95 €

Dieser Beitrag erschien zuerst im April 2012 in der empfehlenswerten Zeitschrift Publik Forum. Man kann  Probeexemplare  bestellen.

Coypright: christian modehn und publlik – forum.

 

 

 

Biophilie und Nekrophilie. Perspektiven von Erich Fromm

Biophilie und Nekrophilie

Perspektiven von  Erich Fromm

Anlässlich des „Religions –  philosophischen Salons“ am 20.4.12.

Von Hartmut Wiebus, Berlin

Der Beitrag von Hartmut Wiebus (Dipl. Päd.) führt in einigen systematischen Überlegungen hin zum Verständnis der grundlegenden Kategorien „biophil“ und „nekrophil“, die treffend die psychische und kulturelle/politische Situation unserer Zeit analysieren. CM.

Um den Hintergrund seines wissenschaftlichen Ansatzes zu verdeutlichen, möchte ich kurz die Lebensdaten sowie die Studiumsrichtungen und die beruflichen Tätigkeiten von Erich Fromm skizzieren:

Erich Fromm wurde am 23.März 1900 als einziges Kind orthodoxer jüdischer Eltern in Frankfurt am Main geboren.

Seine wissenschaftliche Laufbahn begann mit dem Studium der Fächer Psychologie, Philosophie und Soziologie in Frankfurt und Heidelberg. Nach seiner Promotion folgten noch weitere Studien in Psychiatrie und Psychologie an der Universität in München. Ein psychoanalytisches Training absolvierte er von 1926  – 1929 in München und Berlin. 1930 gründete er mit anderen das „Süddeutsche Institut für Psychoanalyse“ in Frankfurt am Main. Dort war er auch Mitglied und Dozent des Institutes für Sozialforschung der Universität, aus dem die „Frankfurter Schule“ hervorging. Die empirische Untersuchung über die autoritäre Charakterstruktur der deutschen Arbeiter und Angestellten vor Hitler (in der Weimarer Republik) war die bedeutendste Tätigkeit, die Fromm neben seiner psychoanalytischen Praxis und Lehre am Institut für Sozialforschung abschloss.  Wegen der Nationalsozialisten emigrierte Erich Fromm 1933 über die Schweiz, 1934 in die USA. Dort hielt er eine Reihe von Vorlesungen am Institut für Psychoanalytik in Chicago. Auch das Institut für Sozialforschung musste wegen der Nationalsozialisten an die Columbia Universität New York verlegt werden.

E. Fromm zog deswegen nach New York um. Ende der dreißiger Jahre nahm er seine Arbeit am „Institut für Sozialforschung“ neben seiner psychoanalytischen Praxis wieder auf. Bis 1949 arbeitete er im den USA an verschiedenen Instituten und Universitäten. In Mexiko übernahm er 1949 eine Professur an der Autonomen Nationalen Universität von Mexiko – Stadt und eröffnete dort eine Abteilung Psychoanalyse der Medical School. Hier lehrte er bis zu seiner Emeritierung im Jahr l965. Neben all dieser Lehrtätigkeiten betrieb er seine psychoanalytische Praxis  weiter (insgesamt über 45 Jahre), auch war er als Supervisor und Lehranalytiker tätig. Von l957 bis 1963 leitete er eine Feldforschung in Mexiko, die er mit Michael Maccoby 1970 unter dem Titel: „Psychoanalytische Charakterologie in Theorie und Praxis. Der Gesellschafts-Charakter eines mexikanischen Dorfes“ veröffentlichte.

Die Theorie vom Wesen des Menschen und der existentiellen Bedürfnisse

E. Fromms Definition des Wesen oder der Natur des Menschen geht vom Vergleich mit dem Tier aus. Das, was den Menschen vom Tier unterscheidet, ist das Bewusstsein seiner selbst, und dies ist die konstante Natur, die allen Menschen gemeinsam ist. Im Menschen ist die Einheit mit der Natur zerbrochen, in der sich das Tier noch befindet. Der Mensch ist sich seiner Vergangenheit und seiner Zukunft und damit auch seines Todes bewusst, also auch seiner Ohnmacht gegenüber seinem natürlichen Schicksal.

E. Fromm beschränkt sich aber nicht darauf, das Wesen des Menschen in diesem Konflikt zu sehen. Erst im Zusammenhang mit der Frage und dem Bedürfnis nach einer Antwort, die aus dem oben genannten „Zerbrechen der Einheit“ resultieren, ist das Wesen des Menschen ganz erfasst. Dieser Zusammenhang ist für E. Fromm die Ursache für die von ihm festgestellten existentiellen Bedürfnisse. Sie sind als psychische Bedürfnisse zu verstehen, deren Befriedigung für E. Fromm genauso lebensnotwendig sind wie die physiologischen Bedürfnisse (Hunger, Durst, Schlaf, Sexualtrieb). Es wurden von ihm 6 existentielle Bedürfnisse definiert:

1. Das Bedürfnis nach Bezogenheit

Dieses Bedürfnis ist bedingt durch das Abgeschnittensein von der primären oder so genannten instinktiven Einheit mit der Natur. „Der Mensch ist von der ursprünglichen Einheit mit Natur, welche die tierische Existenz kennzeichnet, weggerissen. Da er zugleich mit Vernunft und Vorstellungskraft begabt ist, kommen ihm seine Vereinsamung und sein Abgetrenntsein, seine Ohnmacht und sein Unwissen und die Zufälligkeit seiner Geburt und seines Todes zu Bewusstsein. Er könnte diesen Zustand nicht einen Augenblick ertragen, fände er nicht neue Bindungen an seine Mitmenschen, welche die einst von Instinkten gelenkten ersetzen“ (Der moderne Mensch und seine Zukunft, Frankfurt am Main, 1978, S.31(DmMusZ)

2. Das Bedürfnis nach Transzendenz

Dieses Bedürfnis betrifft den Erwerb der spezifisch menschlichen Qualität (Vernunft, Bewusstsein). Dadurch bedingt ist das Bedürfnis, die passive Kreatürlichkeit zu überwinden, also selbst die Rolle des Schöpfers zu übernehmen. „Transzendenz soll andeuten, dass der Mensch die egozentrische und narzisstische Bezogenheit aufheben kann, also die Gefangenschaft des eigenen Ichs überwinden kann“ (Anatomie der menschlichen Destruktivität, Reinbek bei Hamburg, 1978, S.260 Fußnote (AdmD)

3. Das Bedürfnis nach Verwurzelt – Sein

Dieses Bedürfnis ist bedingt durch den Verlust der Geborgenheit bei der Geburt und damit des Verwurzelt – Seins in der Natur.

„Nie sind wir frei von zwei einander widerstreitenden Strebungen: uns aus dem Mutterleib, aus der tierischen Form unserer Existenz zu einer humaneren Gestaltung unseres Dasein zu erheben, von der Gebundenheit zur Freiheit aufzusteigen – und der andern: in den Mutterschoß, zur Natur, zur Gewissheit und Sicherheit heimzukehren……. Hier liegt auch der Schlüssel zur humanistischen Psychoanalyse“ (DmMusZ, 28/29).

4. Das Bedürfnis nach einem Identitätserlebnis oder Einheitserlebnis

Dadurch, dass die Einheit mit der Natur zerbrochen ist, ist es für den Menschen unerträglich, „wenn er sich nicht ein Gefühl der Einheit in sich selbst und mit der natürlichen und menschlichen Welt außerhalb erstellen könnte.“ (AdmD, 262) Die Lösungsmöglichkeiten des Problems sind aber vielfältig, wobei die Determination durch sozioökonomischen Umstände den „Weg“ des Menschen entscheidend beeinflussen. Allerdings sieht E. Fromm  auch den subjektiven Freiraum des Einzelnen:

„Die Alternative, zwischen dem regressiven und dem progressiven Weg, Erlösung zu finden, ist nicht nur ein sozial-historische. Jeder einzelne Mensch ist mit derselben Alternative konfrontiert. Sein Spielraum an Freiheit, die regressive Lösung in einer Gesellschaft, die sich für sie entschieden hat, abzulehnen, ist bestimmt klein – doch er existiert. Aber große Anstrengung, klares Denken und die Anleitung durch die Lehren der großen Humanisten sind dabei unentbehrlich“ (AdmD, 264).

5. Das Bedürfnis nach Wirkmächtigkeit (Das Bestreben, etwas zu bewirken)

Aus der spezifischen Situation des Menschen entspringt das Gefühl der Ohnmacht. Dieser Zustand zwingt den Menschen, etwas zu tun bzw. zu wirken, um das Gefühl seiner Identität und seines eigenen Willen zu erhalten, um sich nicht nur als Objekt der Natur zu empfinden, der „physischen Gesetzen“ (DmMusZ, S.25) er unterworfen ist. In der Wirkmächtigkeit erlebt der Mensch sich nicht als Objekt, sondern als schöpferisches Subjekt.

6. Das Bedürfnis nach einen Rahmen der Orientierung und nach  einem Objekt der Hingabe

Analog zu seiner Wesensbestimmung hat E. Fromm hier ein Bedürfnis benannt, das den Menschen als intellektuelles Wesen fasst.

„Bewusstsein seiner selbst, Vernunft und Phantasie – jene neuen Eigenschaften des Menschen, die weit über die Fähigkeiten selbst der klügsten Tiere zum instrumentalen Denken hinausgehen – erfordern ein Bild von der Welt und ein Bild vom Platz des Menschen in dieser Welt, das strukturiert ist und einen inneren Zusammenhang besitzt. Der Mensch braucht eine Landkarte seiner natürlichen und sozialen Welt, ohne die er in Verwirrung geraten würde und unfähig wäre, zielgerichtet und konsequent zu handeln“ .(AdmD, S.259)

Der Charakter

Die Antworten auf diese existentiellen Bedürfnisse äußern sich als verschiedene Charakterzüge oder menschliche Leidenschaften. Sie resultieren aus der Charakterorientierung, weil sie im Charakter des Menschen integriert sind.

Für die unterschiedlichen Antworten auf die existentiellen Bedürfnisse werden von E. Fromm weitgehend die sozialen Verhältnisse verantwortlich gemacht. Natürlich berücksichtigt der Psychoanalytiker E. Fromm auch die ererbten Dispositionen, wie das Temperament und die vorgeburtliche Ereignisse und die Geburt selbst. Sie begünstigen aber für ihn lediglich eine bestimmte Charakterorientierung vor anderen.

Ferner übersieht E. Fromm auch nicht die physischen Bedürfnisse des Menschen. Für ihn sind sie die dem Menschen noch verbliebenen Instinkte, d.h. seine organischen Triebe wie Hunger, Durst, Schlaf und Sexualtrieb. E. Fromm hält ihre Befriedigung für lebenswichtig, denn sie liegen in der Beschaffenheit des menschlichen Körpers begründet. Die Intensität der physischen Bedürfnisse ist für ihn aber geringer als die der Charakterzüge:

„Das dramatische Element im menschlichen Leben wurzelt in den nichtbiologischen Leidenschaften und nicht in Hunger und Sexualität. Kaum jemand begeht Selbstmord, weil er in Bezug auf seine sexuellen Wünsche nicht auf seine Kosten kommt, aber viele nehmen sich das Leben, weil sie ihren Ehrgeiz oder ihren Hass nicht befriedigen konnten.“ (Sigmund Freuds Psychoanalyse – Größe und Grenzen, Stuttgart, 1979 ( Ps + Grenzen)

– Gesellschaftscharakter

Mit dem Gesellschaftscharakter erklärt E. Fromm die Übereinstimmung der psychischen Haltung der einzelnen Individuen einer Gesellschaft oder Kultur. Im Gegensatz zum individuellen Charakter, durch den sich die Menschen eines Kulturkreises unterscheiden, ist der Gesellschaftscharakter der gemeinsame Kern der Charakterstruktur aller Mitglieder einer Gesellschaft bzw. einer Kultur.

E. Fromm betont zwar  bei der Formung des Gesellschaftscharakters den dominierenden Einfluss der sozioökonomischen Verhältnisse, berücksichtigt aber auch die ideologischen Einflüsse durch Ideen und Ideale (religiöse, politische und philosophische Ideen), die in einer gewissen Wechselwirkung mit der sozioökonomischen Struktur einer Gesellschaft stehen.

Bei der Vermittlung auf den Individualcharakter spielt die Familie die entscheidende Rolle: „Die Familie ist das Medium, durch das die Gesellschaft bzw. die Klasse die ihr entsprechende, für sie spezifische Struktur dem Kind und damit dem Erwachsenen aufprägt; die Familie ist die psychologische Agentur der Gesellschaft.“ (Über Methoden und Aufgaben einer Analytischen Sozialpsychologie, GA I, S.42)

Um mit dem Dilemma fertig zu werden, das seiner Existenz mitgegeben ist, gibt es für den Menschen nur eine regressive oder progressive Lösung. Es existiert für E. Fromm aber kein angeborener Trieb zum Guten oder zum Bösen. ( Die Seele des Menschen, Stuttgart, 1979, S 121 (Seele)

Progressiv bedeutet bei E. Fromm soviel wie fortschreiten, dem Leben dienen. Progressiv entspricht seinen Begriffen produktiv und biophil. Regressiv entspricht seinen Begriffen nichtproduktiv, nekrophil, d.h., das Leben eleminieren, zur vormenschlichen Form der Existenz regredieren. (Sigmund Freuds Psychoanalyse – Größe und Grenzen. Stuttgart, 1979,S.152 (Ps u. Grenzen) Die biophile Antwort resultiert nach seiner Theorie aus der zerbrochenen Einheit des Menschen mit  der Natur, während die nekrophile Lösung in den historischen, von Menschen selbst geschaffenen soziologisch-ökonomischen Dichotomien begründet ist. Darum können sie auch vom Menschen selbst verändert werden.

„Gleichzeitig ist noch hinzuzufügen, dass, wenn ich sage, dass die gesellschaftlichen Umstände für die Entwicklung des Menschen verantwortlich sind, ich damit nicht unterstellen möchte, er sei das hilflose Objekt der äußeren Umstände. Die Umweltfaktoren fördern oder hindern die Entwicklung bestimmter Charakterzüge und bestimmen die Grenzen, innerhalb derer der Mensch handelt. Trotzdem sind des Menschern Vernunft und Wille sowohl individuell als auch sozial machtvolle Faktoren in seinem Entwicklungsprozess. Nicht die Geschichte macht den Menschen, der Mensch erschafft sich selbst im Prozess der Geschichte“ (,AdmD S.299)

Das Hauptanliegen E. Fromms ist diese Förderung der produktiven Kräfte, der lebensfördernden Leidenschaften: „In Wahrheit sind alle menschlichen Leidenschaften, die ´guten´ wie die ´schlechten´, nur als Versuch des Menschen zu verstehen, die banale Existenz der reinen Fristung des Lebens zu transzendieren. Wandel der Persönlichkeit ist nur dann möglich, wenn es ihm gelingt, sich zu einer neuen Art, dem Leben Sinn zu geben, zu ´bekehren´, indem er seine lebensfördernden Leidenschaften mobilisiert und auf diese Weise eine stärkere Vitalität und Integration erfährt, als er sie zuvor besaß.“ (AdmDA, S.26)

Die folgenden kurzen Beschreibungen der Grundformen des Charakters sind idealtypisch gefasst, obwohl der Charakter eines bestimmten Individuums meist eine Mischung einiger dieser Orientierungen darstellt, wobei allerdings eine Orientierung dominiert.

Ferner sind sie nach Assimilations- und Sozialisationsprozess unterschieden, also durch Aneignung und Assimilierung der Dinge und indem der einzelne Mensch sich zu den Menschen und zu sich selbst in Beziehung setzt.

Die Differenzierungen der Charakterorientierungen und die Zusammenfassung in biophil und nekrophil, sind das Resultat der Beobachtungen E. Fromms, in seiner psychoanalytischen Praxis (AdmD, 373, Seele, 7 u. Illusion, 16).

Die nekrophilen oder nicht-produktiven Charakterorientierungen im Assimilierungsprozess

Die durch unser Gesellschaftssystem bedingte Machtlosigkeit, Objekthaftigkeit und Ohnmacht des einzelnen, sind nach E. Fromm hauptsächlich verantwortlich für die regressiven Tendenzen der Menschen. Die Möglichkeit der Veränderung zu den produktiven Orientierungen hin ist demnach ein gesellschaftliches Problem.

Die rezeptive Orientierung

„Bei der rezeptiven Orientierung hat der Mensch das Empfinden, die „Quelle alles Guten“ läge außerhalb seines Selbst. Er glaubt das Wünschenswerte (gleichgültig, ob es sich um etwas Materielles handelt oder um Zuneigung, Liebe, Wissen und Vergnügen) nur von diesem außer ihm Liegenden empfangen zu können. (Psychoanalyse und Ethik, Frankfurt am Main l978 (Ethik, 77)

Mit der Marktorientierung vermischt, bildet sie den heute vorherrschenden Konsumcharakter.

Die ausbeuterische Orientierung

Parallel zur rezeptiven Orientierung wird auch hier die „Quelle alles Guten“ außerhalb des eigenen Selbst vermutet. Nur besteht hier nicht die Passivität, sondern die Aktivität in Form von Stehlen. An sich reißen, Wegnehmen, Ausbeuten ist für diese Orientierung symptomatisch. Das mangelnde Vertrauen auf die eigenen Fähigkeiten führt im geistigen Bereich zum Plagiat.

Zu den Orientierungen im Sozialisationsprozess besteht die größte Affinität zu den verschiedenen Formen des Sadismus.

Die Hamsterorientierung (hortende Orientierung oder auch analer Charakter)

Im Gegensatz zu den beiden vorhergehenden Orientierungen zeichnet sie sich durch große Distanz aus, die aus der Angst gegenüber der Umwelt resultiert. Nähe ist nur durch totales Beherrschen des anderen zu ertragen. Charakteristisch ist hier übertriebene Sauberkeit, Pünktlichkeit, sterile Ordnungsliebe. „Der hortende Mensch hat leicht das Gefühl, dass er eine begrenzte Menge an Kraft, Energie und geistiger Kapazität besitzt……….Für ihn besitzt Tod und Zerstörung mehr Realität als Leben und Wachstum“ (AdmD 332)

Die Marktorientierung

Diese Orientierung ist für E. Fromm die dominanteste Orientierung unserer Zeit. Sie ist ein Resultat unserer westlichen Industriegesellschaft, deren Markt auf Angebot und Nachfrage basiert. Nicht der Gebrauchswert einer Ware ist entscheidend, sondern das Verhältnis von Angebot und Nachfrage bestimmt den Wert der Ware.

Diese Regulation des Marktes beeinflusst stark die Persönlichkeitsstruktur des Menschen dieser Gesellschaft. „Ihr wirkliches Wesen besteht darin, dass kein spezifisches und ständiges Bezugssystem entwickelt wird, die Auswechselbarkeit der Haltung ist das einzige Beständige einer solchen Orientierung. Es werden nur diejenigen Eigenschaften entwickelt, die sich am besten verkaufen lassen.“ (Ethik, 92)  Im Sozialisationsprozess besteht die größte Affinität zum konformistischen Charakter.

Die nekrophil-destruktive Orientierung

Seit l964 (in „Seele“ und noch deutlicher 1973 in „AdmD“)  hat E. Fromm noch eine weitere Orientierung zu den Orientierungen von 1947 (in „Ethik“)  herausgearbeitet. Die Möglichkeit der atomaren Vernichtung der Menschheit und der daraus resultierenden Frage, wie der Mensch selbst diese grauenhafte Massenvernichtung erdenken konnte und das Problem, wie der Mensch im Namen des Fortschritts die Welt so verpestet, dass es „zweifelhaft geworden ist, ob die Erde in hundert Jahren  noch bewohnbar ist“ (AdmD, 394), waren wohl die wichtigsten Voraussetzungen, die E. Fromm zu der Formulierung der nekrophil – destruktiven Orientierung führten. „Dabei macht es kaum einen Unterschied, ob er das absichtlich tut oder nicht. Wenn er die drohende Gefahr nicht kennen würde, könnte man ihn vielleicht von der Verantwortung freisprechen. Aber es ist das nekrophile Element in seinem Charakter, das ihn hindert, aus dem was er weiß, die Konsequenz zu ziehen.“ (AdmD, 395)

Bei der nekrophil – destruktiven Orientierung im Assimilierungsprozess handelt es sich um eine „bösartige Form“ der Legierung von hortender bzw. Analer und der Markt-Orientierung.

In den Träumen von nekrophilen Klienten E. Fromms (AdmD, 376), erscheint neben der Freudschen Symbolik des Todes, wie Exkremente und verwesende Körper, häufig mächtige Maschinen und andere Materialien aus Metall und Glas.

Die nicht-produktiven Orientierungen im Sozialisationsprozess

Diese Orientierungen stellen die unterschiedliche Art und Weise der nichtproduktiven zwischenmenschlichen Beziehungen dar. Sie sind auch wieder idealtypisch gefasst.

E. Fromm unterscheidet zwei Gruppen der unproduktiven menschlichen Beziehungen, die eine ist durch Distanz und Zerstörungssucht gekennzeichnet und die andere ist die symbiotische Verbindung. Unter Symbiose versteht er den Verlust der eigenen Integrität durch eine abhängige Beziehung.

Die Orientierung der Distanz und Zerstörungssucht ist der Versuch, die Ohnmacht und Isoliertheit der spezifisch menschlichen Situation, durch Zerstörung des möglichen Bezugsobjektes aufzulösen.

Die symbiotischen Orientierungen

Der Masochismus

Passivität und Unterwerfung sind die dominierenden Kennzeichen dieser Orientierung.

„Die Macht jener Person, der man sich unterwirft, ist übersteigert, mag sie nun ein Mensch oder ein Gott sein. Sie ist alles, ich selbst bin nichts, abgesehen allein davon, dass ich ein Teil von ihr bin. Denn damit bin ich auch ein Teil ihrer Größe, ihrer Macht, ihrer Sicherheit. Der  Masochist hat selbst keine Entscheidungen zu treffen, hat kein Risiko auf sich zu nehmen, er ist niemals allein.“ (Die Kunst des Liebens, Frankfurt am Main l977, S. 38(Liebe)

Mit Rationalisierungen begründet der Masochist sein Verhalten gegenüber Kritikern und sich selbst. Abhängigkeit wird als Liebe, Minderwertigkeitsgefühle als vernünftige Einschätzung der Unterlegenheit und Leid als Schicksal erklärt.

Die Affinität dieser Orientierung zu der rezeptiven Orientierung im Assimilationsprozess ist durch die nach außen gerichtete Erwartungshaltung deutlich.

Unter der symbiotischen Beziehung des Masochismus und des Sadismus ist nicht primär als sexuelle Perversion zu verstehen. Das so bezeichnete sexuelle Verhalten ist nur eine der vielen Ausdrucksformen dieser Orientierung.

Der Sadismus

Während der Masochist sich selbst als Erweiterung eines anderen Wesens empfindet und formen lässt, dominiert der Sadist in der symbiotischen Beziehung als aktiver Teil, der ein anderes Wesen als Erweiterung seiner selbst einbezieht.

E. Fromm unterscheidet drei Arten des Sadismus:

1. die absolute Beherrschung des anderen,

2. die Ausbeutung Aushöhlung des anderen

3. das Quälen, Demütigen, Erniedrigen (körperlich, seelisch oder geistig)

Die erste und zweite Form des Sadismus hat eine Affinität zum ausbeuterischen Charakter im Assimilierungsprozess; während die dritte Form des Sadismus eine starke Affinität zum hortenden Charakter im Assimilierungsprozess besitzt. (AdmD S. 331)

Die Orientierungen der Distanz und Zerstörungssucht

– Die konformistische Orientierung

Die Entstehungsbedingungen dieser Orientierung sind in der Marktorientierung beschrieben, ihrem Pendant im Assimilierungsprozess. Die dort aufgeführte Wertkonzeption führt zu einer Persönlichkeit, die sich „anonymen Autoritäten“ des Marktes unterordnet. Diese Ausrichtung nach den anonymen Autoritäten führt zur total entfremdeten Persönlichkeit.

„Ich sollte tun, was jederman tut – also muss ich mich anpassen, nicht verschieden von den anderen sein, nicht auffallen; ich muss bereit und willens sein, mich zu wandeln, wenn das Schema sich wandelt ; ich darf nicht fragen, ob ich recht oder unrecht habe, sondern nur, ob ich angepasst bin, nicht eigenartig, nicht unterschieden von der Umwelt.“ (DmMusZ, S.138)

Die Gefahr der anonymen Autorität für die Entwicklung des Menschen bzw. des Wandelns der „offenen Autorität“ (Vater, Lehrer, Chef, Priester, Gott….) in die unsichtbare Autorität, liegt in deren unbewussten Verinnerlichung und dem daraus entstehenden Trugbild der Individualität. Diese Täuschung verhindert die kritische Auseinandersetzung oder Auflehnung gegenüber Verhältnisse, die für Entfremdung und Unterdrückung verantwortlich sind.

– Die nekrophil-destruktive Orientierung

Es handelt sich hier um die bösartige Form der sadistischen Orientierung, die auf Zerstörung abzielt.

Im Gegensatz zur sadistischen Orientierung, in der die Bezugsperson beherrscht und ausgebeutet, aber nicht zerstört wird, ist das Kennzeichen der nekrophil – destruktiven Orientierung, die totale Bezugslosigkeit dem Menschen, den Dingen und sich selbst gegenüber, die in der Faszination des Todes gipfelt.

„Aber selbst die Sadisten leben noch mit anderen; sie wollen sie zwar kontrollieren, aber nicht vernichten. Diejenigen, den selbst diese perverse Art der Bezogenheit abgeht, die noch narzisstischer und noch feindseliger sind, das sind die Nekrophilen. Ihr Ziel ist, alles Lebendige in tote Materie zu verwandeln; sie wollen alles und jeden zerstören, oft sogar sich selbst; ihr Feind ist das Leben selbst“ (AdmD 392)

Der Geist der Industriegesellschaft, wie er in der gleichnamigen Orientierung des Assimilationsprozesses beschrieben wurde, führt auch in der zwischenmenschlichen Beziehung zu dieser Leidenschaft der Zerstörung und der negativen Bezogenheit.

– Die narzisstische Orientierung

Ist die nekrophil – destruktive Orientierung aufgrund ihrer Zerstörungssucht die sozial gefährlichste, so ist die narzisstische die am meisten unbezogene Orientierung, die sich durch größte Distanz auszeichnet. In ihr wird nur die eigene Welt als real anerkannt, während die Umwelt verzerrt beurteilt wird. Da die Selbstüberschätzung der Kernpunkt dieser Orientierung ist, wird Kritik an der eigenen Person als feindselige Attacke aufgefasst.

„Wenn er die Welt ist, so gibt es keine Außenwelt, die ihm Angst einflößen kann; wenn er alles ist, so ist er nicht allein. Daher fühlt er sich in seiner ganzen Existenz bedroht, wenn sein Narzissmus verwundet wird.“ (Seele 75)

Die Wut kann zur Zerstörung des Kritikers führen, aber auch zur Depression, wenn durch die Kritik die Selbstaufblähung unhaltbar geworden ist. Die extremste Ausformung des Narzissmus ist die Psychose, in der keine Beziehung mehr zur äußeren Realität besteht, die durch die eigene Person ersetzt wurde.

– Gruppennarzissmus

E. Fromm sieht im Gruppennarzissmus die häufiger auftretende Form des Narzissmus beim Durchschnittsmenschen, bei dem die Entwicklung eines intensiven, auf die eigene Person bezogenen Narzissmus durch seine soziale Lage (z.B. geringer sozialer Prestige), eingeschränkt ist. „Er ist ein Nichts. Wenn er sich jedoch mit seiner Nation identifizieren oder wenn er seinen persönlichen Narzissmus auf die Nation übertragen kann, dann ist er alles.“  (Ps u. Grenzen,71)

Der Narzissmus der nationalen, politischen und religiösen Gruppen, ist für E. Fromm die Wurzel eines jeden Fanatismus. Durch die Identifikation mit der Gruppe, wird jede Kritik an diese Gemeinschaft, als persönlicher Angriff erlebt und dementsprechend bekämpft.

Die produktiven Orientierungen

Hier handelt es sich um die Beschreibung der Qualität des Fühlens und des Denkens, die bei den Menschen vorherrscht und nicht um einzelne Charaktere, wie bei den nicht-produktiven Orientierungen.

Eine kurze Zusammenfassung der Ausdrucksformen der produktiver Orientierung ist im folgenden Zitat enthalten.

„Im Bereich des Denkens drückt sich die produktive Orientierung in der richtigen Erfassung der Welt durch die Vernunft aus. Im Bereich des Handelns findet sich ihr Ausdruck in schöpferischer Tätigkeit, deren Prototyp Kunst und Handwerk sind. Im Bereich des Gefühlslebens ist die Liebe der Ausdruck der produktiven Orientierung als das Erlebnis des Einswerden mit einem andern, mit allen Menschen und mit der Natur unter Beibehaltung der Integrität und Unabhängigkeit.“ (DmMusZ, S,33)

Die Vernunft hat für E. Fromm im Gegensatz zum Verstand (Intelligenz) diese Aufgabe:

„Etwas zu wissen, zu verstehen, zu erfassen und den Menschen durch dieses Begreifen zu den Dingen in Beziehung zusetzen. Die Vernunft durchdringt das Außen der Dinge, um deren Wesen zu entdecken, ihre verdeckten Zusammenhänge, ihren tieferen Sinn.“ (Ethik, 117)

Liebe ist in erster Linie nicht Bindung an eine bestimmte Person; sie ist vielmehr eine Haltung, eine Orientierung des Charakters, die das Verhältnis einer Person zur Welt als Ganzes, nicht aber zu einen einzigen Objekt der Liebe bestimmt. Wenn ein Mensch nur eine einzige  andere Person liebt und seinen übrigen Mitmenschen gegenüber Gleichgültigkeit empfindet, ist seine Liebe nicht Liebe, sondern eine symbiotische Bindung oder gesteigerter Egoismus.“(Die Kunst des Liebens, Frankfurt am Main 1977, S. 69 (Liebe)

In seinen letzten Buch „Haben oder Sein,“ Stuttgart 1977, schuf  E. Fromm mit den beiden Modi des Habens und des Seins Abstraktionen zur Wertung menschlicher Wirklichkeit.

Sein Verständnis von Charakter, der für ihn jeden Ausdruck menschlicher Existenz bestimmt und der von eben diesen zwei entgegengesetzten Grundorientierungen des Habens und des Seins beherrscht wird, wobei die jeweilige dominierende Orientierung das Denken, Fühlen und Handeln des Menschen grundlegend prägt, ist das Ergebnis seiner sozialpsychologischen Erfahrung und Einsicht.

Die subjektive Möglichkeit, sich aus der Habenstruktur zu lösen, um dem Sein zu folgen, sieht E. Fromm nur gegeben, wenn wir „aufhören Sicherheit und Identität zu suchen, indem wir uns an das anklammern was wir haben, indem wir es besitzen, indem wir an unserem Ich und unserem Besitz festhalten.“(ebd. S. 91)

Da das Sein sich für ihn auf die Wirklichkeit bezieht im Gegensatz zum verfälschenden illusionären Bild, ist für ihn unbedingt vermehrte Einsicht in die Realität des eigenen Selbst, der anderen und unserer Umwelt erforderlich. Dabei muss uns bewusst sein, dass die Gesellschaftsstruktur und deren Werte und Normen weitgehend unsere Entscheidung zu einer der beiden Tendenzen bestimmt.

Aber wir sollten auch die Tatsache berücksichtigen, dass das Sein durch die Praxis wächst. Das heißt, dass Solidaritäts- und Kooperationsfähigkeit, Liebe, Vernunft, das künstlerische und intellektuelle Schaffen in der Praxis wachsen, allerdings nicht als losgelöste Verkehrsform einzelner Menschen, sondern nur auf dem Hintergrund des Bewusstseins, dass das durch die Habenorientierung determinierte Gegeneinander den Interessen aller Menschen widerspricht.

In der Diskussion im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon wurde auch auf die nekrophil/schädlichen Strukturen von religiösen Institutionen hingewiesen. Dazu folgt demnächst eine eigene Stellungnahme.

—-Empfehlend weisen wir ausdrücklich auf ein grundlegendes Buch des sehr angesehenen Kenners des Werkes von Erich Fromm hin, auf Rainer Funks Buch „Mut zum Menschen“.

 

—-Copyright: Hartmut Wiebus, Berlin.

Präsidentschaftswahlen in Frankreich: Welche Religion pflegen die Kandidaten

Frankreich 2012: Was glauben die Präsidentschaftskandidaten?

Von Christian Modehn     Ergänzung vom 23.4. 2012 nach der Ersten Wahlrunde: Die sogen. praktizierenden Katholiken, also die einmal im Monat an der Messe teilnehmen, so die franz. Definition,  haben überwiegend Rechts und Mitte gewählt, so “Harris” heute. Für Sarkozy haben 47%  der praktizierenden Katholiken gestimmt (26,9 % aller Franzosen), für Hollande (Sozialist) hingegen nur 14 % ( 28,7 unter allen Franzosen). Die rechtsextreme Marine le Pen erhielt von praktizierenden Katholiken immerhin 15 % (18,5 % Landesdruchschnitt), alle Katholiken zusammengenommen, also auch die gelegentlichen Mess- Besucher, sind es tatsächlich 20 %. Die Warnungen der Bischöfe vor Le Pen nützen offenbar nicht sehr viel. Le Pen und Front National sind also unter “normalen Katholiken” sozusagen “normal” geworden. Man muss wissen, dass die regelmäßig praktizierenden Katholiken mehrheitlich der älteren Generation angehören. Sie wünschen keinen Wandel, sie sehen nichts Problematisches bei Sarkozy wie es viele andere tun, jüngere und Gebildetere Franzosen vor allem. Bezeichnend: Für die Grünen (Madame Joly) stimmten 2 % der Katholiken.  Erfreulich bleibt in unserer Sicht, dass immerhin 17 % der praktizierenden Katholiken für Bayrou gestimmt haben, einen Christen, der die Laizitität voll ernst nimmt und schätzt.

 

Es ist eine der Grundlagen der französischen Kultur, dem einzelnen nahezulegen, über den persönlichen Glauben an Gott eher diskret zu schweigen. Religion ist Privatsache, das ist der Geist, der seit der Trennung von Kirche und Staat im Jahr 1905 herrscht.

Durch Nicolas Sarkozy ist ein gewisser Wandel eingetreten. Er hat in seinem Buch „Die Republik, die Religionen und die Hoffnung“ (2004, Paris, éditions du cerf) von seiner Bindung an die katholische Kirche öffentlich gesprochen, aber eingestanden, dass er nicht regelmäßig “praktiziert“, also an der Messe teilnimmt. Wegen seiner offenen Liebe zum Katholizismus (nicht unbedingt zur katholischen Morallehre und der katholischen Soziallehre, siehe hier etwa seinen entschiedenen Willen, störende Ausländer, etwa Sintis und Roma, aus Frankreich zu vertreiben) wurde er dreimal (!) von Papst Benedikt XVI. empfangen. Er hat als (wiederverheiratet – geschiedener) Laie sogar den Titel eines „Ehrenkanonikus der Lateranbasilika“ vom Papst Benedikt empfangen (da interessierte sich der Papst nicht so stark wie sonst für die ( in seinem Sinn) eher zweifelhafte moralische Existenz der Wiederverheiratet Geschiedenen). Als Dank für die päpstliche Ehrung sagte Sarkozy: Die Priester seien wichtiger für die Ethik als die Lehrer an staatlichen Schulen. Sarkozy sorgte dafür, dass die Studien – Abschlüsse der katholischen Privatuniversitäten – wie des Institut Catholique in Paris – auch staatlich anerkannt werden. Sarkozy will die Laizität verändern zugunsten einer für die Kirche „positiven Laizität“. An dem Beispiel zeigt sich, was auch für den Vatikan „Kirchen- Diplomatie“  bedeutet.

Gegen die Instrumentalisierung des Glaubens durch einen Politiker wehrt sich mit Nachdruck ein Präsidentschaftsandidat, dem die Öffentlichkeit seinen authentischen Glauben tatsächlich seit Jahren schon abnimmt: Es ist Francois Bayrou von der Partei der Mitte „Modem“. Er ist ein Verehrer des Schriftstellers Charles Péguy oder der Philosophin Simone Weil und des katholischen Pazifisten Lanza del Vasto. Trotz seiner tatsächlichen, offen bekannten religiösen Praxis wehrt sich Bayrou, die bestehenden Gesetze der Laizität, also der Trennung von Kirche und Staat, zugunsten der Kirche verändern. Im Verlag Albin Michel (Paris 2010) erschien zu dem Thema das Buch „Les politiques ont- ils une ame?“, also : Haben die Politiker eine Seele? Um der Laizität willen kritisierte er etwa, als in Frankreich zum Tode Papst Johannes Paul II. die Flaggen auf Halbmast gesetzt wurde;  er war dagegen, dass im Projekt einer Verfassung der Europäischen Union der christliche Glaube als eine Wurzel erwähnt werden soll. „Es gibt die eine Ordnung, die des Gesetzes, und es gibt eine andere Ordnung, die des Glaubens“ heißt sein – typisch französisches, aber darüber hinaus sympathisch – richtiges – Motto.

Auch die Kandidatin des rechtsextremen Front National Marine Le Pen, bekennt sich als Katholikin, allerdings mit der Einschränkung, sie sei eine “catholique de parvis“, also eine Katholik eher auf dem Vorplatz vor der Kirche. Sie erinnert aus taktischen Gründen – gegen die Muslime ! – immer wieder an die christlichen Wurzeln Frankreichs. Weil nur die Priester der Piusbruderschaft diese Positionen unterstützen, sonst der Klerus und die Bischöfe aber eher gegen Le Pen sind, empfiehlt die rechtsextreme Kandidatin: Die Priester sollten sich aus der Politik heraushalten und „in der Sakristei bleiben“.

Ausdrücklich „atheistisch – tolerant“ präsentieren sich Nathalie Arthaud von der trotzkistischen Lutte ouvrière (LO) und Philippe Poutou, von der Neuen antikapitalistischen Partei (NPA). Wobei Poutou durchaus sozial engagierte Katholiken schätzt, etwa Mitarbeiter von EMMAUS, dem Sozialwerk, das Abbé Pierre gestiftet hat. Nathalie Arthaud (Professorin für Ökonomie) bekennt: “Der Mensch hat Gott geschaffen und die Götter nach seinem Bild, und nicht umgekehrt!“

Über ihre religiöse Bindung äußert sich fast gar nicht Francois Hollande (PS): In einem Buch aus dem Jahr 2002 „Ceux qui croient au ciel…  („Diejenigen, die an den Himmel glauben und diejenigen, die nicht an ihn glauben“)  hingegen gesteht er, doch überzeugt zu sein, das Gott nicht existiert. Er verteidigt den Geist der Aufklärung und des Rationalismus, gibt aber zu, dass der Glaube an ein höchstes Wesen eine „gewisse Erleicherung verschaffte und verschafft“. Hollande wurde in Rouen in einem Pensionat mit dem Namen „la Salle“ „christlich“ erzogen.

Auch der recht populäre linke Kandidat Jean – Luc Mélenchon (Front de Gauche) weigert sich über seinen religiösen Glauben ausführlich zu sprechen. „Der Glaube betrifft einzig und allein nur mich selbst”, sagte er. Er wehrt sich gegen die –angebliche ? – Rekonfessionalisierung der Republik unter Sarkozy. Im März 2011 gestand Mélenchon, einst Messdiener gewesen zu sein, „zu einer Zeit, als man die Messe noch auf Lateinisch las“. Er war früher auch Journalist bei der christlichen Wochenzeitung „La Voix Jurassienne“…

Also, ganz können selbst die über Religiöses Schweigsamen doch nicht darauf verzichten, gelegentlich religiös etwas zu plaudern.  Die neugierige Öffentlichkeit will halt bedient werden.

Auch die Kandidatin der “Grünen”, Eva Joly, hat sich auf die Bibel bezogen, als sie inbesondere das 8. Gebot  (der “10”) in den Mittelpunkt ihres Interesses stellte: “Ich verachte die Lüge, wer auf die Bibel schwört und dann ein falsches Zeugnis gibt, hat weder Respekt vor sich selbst noch vor seinem Gesprächspartner”. Sie legte in einem Interview mit La Vie allen Nachdruck darauf, “für das Gemeinwohl zu arbeiten”.

Der Kandidat der Partei “Debout la République”, Nicolas Dupont – Aignan, gibt sich als “Katholik seit meiner frühen Kindheit”. Er hatte Verständnis, sich einige sehr konservative Katholiken schockiert zeigten über das Theaterstück von Romeo Castellucci, das von “Integristen” auch als blasphemisch gedeutet wurde. Sie kämpften für das Verbot des Theaterstücks in Paris.

Jacques Cheminade steht der “la Rouche” Bewegung nahe.

 

 

Copyright: Christian Modehn Berlin

Der Artikel verdankt etliche Informationen dem empfehlenswerten Sonderheft der Zeitschrift LA VIE (PARIS) mit dem Titel „Les Présidents et Dieu“.  2011.

 

 

Der heilige Geist ist skeptisch: Ein philosophischer Salon zum Pfingstfest

Der heilige Geist ist skeptisch: Ein philosophischer Salon zum Pfingstfest

Am Freitag, 25. Mai 2012 um 19 Uhr im Café Antikflair in Schöneberg, Grunewaldstr. 10.

Skepsis als Form des ausdauernden Fragen und Zweifens ist – seit der Antike – eine Form philosophischer Lebenshaltung. Sie ist befreiend, weil sie von trügerischen Vorstellungen löst und für einen unverstellten Zugang zur Wirklichkeit sorgt. Sie erschüttert, weil sie aufbauen hilft. Dabei wird der Skeptiker sich niemals auf letzte Festlegungen einlassen. Aber er wird an seinem Zweifel, seiner Skepsis, selber zweifeln, aber was zeigt sich dann? Ein tragender “Boden”, vielleicht der Geist oder … ein Abgrund? Ein philosophisches Gespräch zum Pfingstfest, an dem der Menschheit der “heilige Geist” gegeben wurde. Von wem?  Wozu? Stört er die Skepsis oder ergänzt er sie? Wie zeigt sich der heilige Geist als skeptische Kraft gegenüber den Religionen und Gesellschaftsformen?

Wir bitten um Anmeldung: christian.modehn@berlin.de

Inspirierende Fragen und Perspektiven bietet das Buch von Andreas Urs Sommer, Die Kunst des Zweifelns. Anleitung zum skeptischen Denken. Becksche Reihe. 2007.

Fragen und Themen zur Einstimmung:

„Der heilige Geist ist skeptisch“:

Das Thema ist nicht mit einem Fragezeichen versehen.

Da werden Sie skeptisch?

Kann es sein, dass der heilige Geist skeptisch ist?

Welcher Geist ist denn gemeint?

Mein Geist, dein Geist, unser Geist? Haben wir Geist? Oder hat der Geist uns?

Ist dieser menschliche Geist heilig? Oder ist nur der Geist besonderer (frommer) Herren heilig? Aber haben die denn skeptischen Geist?

Darf man daran zweifeln? Wie weit reichen meine Zweifel?

Was heißt eigentlich skeptisch?

Skopein, heißt das griechische Verb, von dem sich das Wort ableitet. Es heißt um sich schauen, um sich blicken, prüfen.

Offenbar lebt Skepsis vom Blick nach außen. Kann der Blick nach Innen Skepsis befördern? Passiert gerade dann die skeptische Haltung? Denn Skepsis ist doch mehr als dieses und jenes bezweifeln („Kommt der Bus noch?“, das ist noch keine skeptische Haltung!)

Kann ich auf Dauer skeptisch leben?

Gibt es ein Grundvertrauen? Muss ich dem auch skeptisch begegnen?

Stört oder zerstört Skepsis mein Leben? Brauchen wir eine Basis, frei von aller Skepsis?

Was bedeutet skeptisch gegenüber der Skepsis zu sein? Verlieren wir dann die skeptische Kompetenz? Oder geht bei meiner Skepsis gegenüber der Skepsis erst so richtig das skeptische Leben los?

 

…………….Das sind ein paar vielleicht inspirierende Fragen für unseren Salon.

 

 

 

Wird Frankreich atheistisch?

Etliche Leser unserer website haben nach dem Manuskript meiner Ra­dio­sen­dung gefragt, die am Ostersonntag 2012 im Saarländischen Rundfunk gesendet wurde. Wir bieten sie hier zum Nachlesen an.

Religiösen Wandel zu dokumentieren und zu verstehen, auch den “Atheismus”, ist selbstverständlich eine Hauptaufgabe unseres Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons.

Der Beitrag zeigt, wie tiefgreifend die Veränderungen in der religiösen Landschaft Frankreichs heute sind. Er zeigt auch, wie schwierig es für die katholische Kirche dort ist, auf diese Situation kreativ zu antworten. Interessant wird für viele Leser sein, etwas näher die offene, “liberale protestantische” Gemeinde “L oratoire du Louvre” in Paris kennenzulernen.

Der vorliegende Text hat die für Radioproduktionen übliche Form weitgehend bewahrt.

Copyright: saarländischer rundfunk.

 

Kein Gott mehr in Frankreich?

Die Krise der Kirche und die Suche nach Neubeginn

Von Christian Modehn

musikal. Zuspielung, aus dem Kloster La Pierre, qui vire.

Benediktinermönche der Abtei „La Pierre qui vire“ in Burgund begrüßen in ihrer Kirche früh am morgen das Oster – Fest: O jour si plein de joie, O Tag so voller Freude. Aber zu lautstarkem Jubel fühlen sich die Mönche doch nicht ermuntert; ihre Begeisterung ist eher verhalten: Christus lebt, wie eine strahlende Sonne bricht er hervor, heißt es in dem Lied. Aber die Mönche wissen: An Jesus Christus und seine  Auferstehung glauben heute immer weniger Franzosen.

musikal. Zuspielung, bleibt noch einmal 0 10“ freistehen, dann langsam ausblenden.

Natürlich sind Frankreichs Pfarrer und Pastoren froh, dass die Gottesdienste zu Ostern etwas besser besucht werden als sonst. Dennoch liegt ein Schatten über dem Fest. Denn kürzlich wurden die Ergebnisse einer repräsentativen Umfragen zur religiösen Orientierung der Franzosen veröffentlicht. Über die Ergebnisse sind viele Christen tief besorgt: Nur jeder dritte Franzose erklärt, an Gott zu glauben. So berichtet das Forschungsinstitut „Harris Interactive“. Ein weiteres Drittel betont, Atheist zu sein. Die übrigen wissen nicht so recht, wo sie religiös stehen. Sie schwanken zwischen der Bindung an Gott und dem Atheismus. Als die Forscher wissen wollten, ob der Glaube an Gott einen tragenden Sinn im Leben stiftet, antwortete nur knapp die Hälfte positiv bejahend. Die meisten finden eine glückliche Beziehung und die Liebe zwischen den Partnern oder eine gut bezahlte Arbeit viel wichtiger als den Glauben.

Einst rühmte sich Frankreich, als die „älteste Tochter der römischen Kirche“ eine ehrenvolle Sonderstellung zu haben: Nirgendwo sonst gibt es so viele Gründungen von Ordensgemeinschaften und Klöstern, nirgendwo sonst in Europa so viele Wallfahrtsorte. Wird diese älteste Tochter nun gottlos, wie es jetzt in manchen Kommentaren zu den Umfragen heißt? Gibt es einen Bruch kultureller Traditionen? Geht die christliche Ära zu Ende? Religionssoziologen warnen vor übereilten Schlüssen. Sie wissen, dass bei Umfragen oft auf Nuancen verzichtet werden muss. Und sie erinnern daran, dass es innerhalb des Glaubens wie auch beim Atheismus ein weites Feld voller unterschiedlicher Einstellungen gibt. Der tief greifende religiöse Wandel in Frankreich ist nicht zu bestreiten, aber auf ein differenziertes Verständnis kommt es an, betont der Pariser Religionssoziologe Professor Guy Michelat:

O TON, Prof. Guy Michelat

„Man glaubt, dass die Leute, die sich religionslos nennen, Atheisten seien. Das entspricht gar nicht der Realität. Denn es gibt viele Menschen, die sich religionslos nennen, aber nicht die Existenz Gottes ausschließen. Sie glauben sogar, dass es irgendetwas nach dem Tod noch geben wird. Für die älteren Leute gibt es durchaus den Glauben an ein neues Leben nach dem Tod. Und die Jüngeren sagen: Es gibt wohl etwas „danach“, aber man weiß nicht genau was. Neu ist die Idee der Reinkarnation, der Wiedergeburt. Man kann also nicht die Vorstellung ertragen, dass man wirklich einmal tot sein wird. Darum betrachte ich, wissenschaftlich gesehen, als Atheisten ausschließlich die Menschen, die die Existenz Gottes ablehnen und die meinen, dass es nach dem Tod nichts gibt!“

Die Gruppe eher „militanter Atheisten“ ist auch in Frankreich recht klein. Aber interessant ist doch: Sehr viele Menschen nennen sich ungläubig oder atheistisch, selbst wenn sie nur den traditionellen Glauben der Kirche ablehnen. Sie brauchen eine Art von Etikette, um die eigene Identität zu betonen. Der Kulturwissenschaftler Francois Barbier – Bouvet beobachtet seit Jahren diese Entwicklung. Er ist Kulturwissenschaftler und Mitarbeiter im Centre Pompidou in Paris:

 O TON. Francois Barbier – Bouvet

„Die Frage ist, ob der Atheismus zunimmt. Was zunimmt, ist die Fremdheit der Religion gegenüber. Also, nicht der Atheismus breitet sich aus. Zweitens: Leute, die früher von sich sagen, an Gott zu glauben, neigen jetzt eher zu der Antwort: Wahrscheinlich existiert er. Die alte Glaubens – Gewissheit gibt es nicht mehr. Wir haben es heute mit einer Bevorzugung des Wahrscheinlichen zu tun. Drittens ist es bemerkenswert, dass Leute, die an Gott glauben, der Kirche gegenüber feindlich eingestellt sind. Heute entwickelt sich eine Feindschaft der Kirche, nicht aber eine Feindschaft Gott gegenüber“.

Diese Entwicklung führt zu einer tiefen Beunruhigung in den Kirchen: Viele Verantwortliche sehen eine Lösung nur in der Pflege uralter Traditionen, sie wollen die Gemeinden gegen den angeblichen Ungeist der Moderne schützen und abgrenzen. Die anderen, die eher progressiven Kreise, wollen erstmal alle Details genau untersuchen: Dabei entdecken sie: Für die zunehmend feindliche Einstellung der Kirche gegenüber ist nicht nur der traditionelle Antiklerikalismus verantwortlich, der seit der Französischen Revolution unter Intellektuellen fast üblich ist. Verantwortlich für die tiefe Glaubenskrise ist auch die kirchliche Lehre, etwa in Fragen der Moral. Davon ist der Kulturwissenschaftler Francois Barbier – Bouvet überzeugt. Er ist seit vielen Jahren in der katholischen Basis  – Gemeinde engagiert, die sich in der spätgotischen Kirche Saint Merri in Paris trifft.

 O TON, Francois Barbier – Bouvet

„Heute können Menschen, die jünger als 40 sind, diejenigen Institutionen nicht mehr akzeptieren, die sich mit ihrem Privatleben befassen. Wenn die Kirche erklärt, wie man sich im Bett verhalten soll und im ganzen Feld der Sexualität, dann erscheint dies unerträglich. Man glaubt: Die Institution hat nichts über das private Leben zu befinden“.

Eine Erkenntnis, die auch von katholischen Theologen unterstützt wird. Sie verstehen die jüngsten Umfragen zum Glauben der Franzosen als eine Herausforderung, kritisch die eigene Kirche zu betrachten. Der Dominikaner Pater Jean Pierre Jossua aus Paris ist einer der prominentesten katholischen Theologen. Als Mitarbeiter der Internationalen Theologischen Zeitschrift CONCILIUM wird er weltweit geschätzt. Pater Jossua betont:

O TON, Pater Jossua

„Anstatt ein positives Zeichen zu sein, verhärtet sich die Kirche heute und wird eher zu einem negativ gefärbten Zeichen: Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil unter Papst Johannes XXIII. haben wir eine Zeit erlebt, wo wir glaubten, die Situation verbessert sich. Es gab innerhalb der Kirche eine positive Haltung, unterstützt von einigen Kirchenführern, die die Menschen anzog. Aber heute ist man zu moralisierenden Lehren zurückgekehrt, im Namen falscher theologischer Prinzipien, die die Menschen nicht akzeptieren. Es handelt sich dabei um moralisierende, autoritäre, klerikale Lehren, davon werden die Menschen enorm entmutigt“.

Schwindet das Vertrauen in die Kirche, dann verzichten die Menschen auf die bislang vertrauten religiösen Feiern: So ist die Zahl der Taufen in katholischen Gemeinden Frankreichs in den letzten 10 Jahren rapide gesunken, obwohl die Anzahl der Geburten insgesamt stabil blieb. Ebenso wird die sakramentale Eheschließung immer mehr abgelehnt, gegenüber 1999 hat sich ihre Anzahl jetzt fast halbiert. Und die Teilnahme an der Sonntagsmesse ist jetzt auf einem Tiefpunkt angekommen: 4 Komma 5 Prozent aller Katholiken gelten noch als praktizierende Katholiken, wobei „praktizierend“ bedeutet: Sie nehmen mindestens einmal im Monat an der Messe teil. Mit diesen Verhältnissen ist Pater Gérard Bénéteau aus Paris gut vertraut; als Pfarrer hat er sich viele Jahre um die kirchliche Jugendarbeit gekümmert. Sein Rückblick auf die letzten 20 Jahre ist ernüchternd:

O TON, Pater Beneteau

„Viele Jugendliche haben kein großes Interesse an religiösen Fragen und auch nicht an sozialen und politischen Themen. Man ist nicht mehr engagiert. Junge Leute müssen sich einfach mehr mit der eigenen Zukunft befassen. Denn was sie bringen wird, ist völlig unklar. Dazu kommt, dass die Internetnutzung auch ablenkt, man kommuniziert mit Leuten, die man eigentlich gar nicht kennt. Der Individualismus ist sehr groß, besonders bei jungen Menschen“.

Als verantwortlicher Pfarrer der Gemeinde Saint Eustache mitten in Paris hat Pater Bénéteau versucht, Alternativen zu der vorherrschenden individualistischen Lebenseinstellung aufzuzeigen. Er setzte alles daran, Gruppen zu bilden, den Dialog zu fördern. In der Kirche St. Eustache organisierte er Kunstausstellungen und Gespräche zwischen den Künstlern und den Besuchern. In einer Seitenkapelle richtete er eine Art Beratungs – Zimmer ein,  damit sich Menschen während der Woche auch spontan an einen Priester wenden können. Ein ganzes Haus in der Nachbarschaft wurde zum Treffpunkt umgestaltet. Auch für Menschen mit AIDS öffnete er die Kirche:

O TON, Pater Beneteau

„Die Pfarrgemeinde hat auf ihre Umgebung geantwortet. Die Gemeinde Saint Eustache befindet sich ja unmittelbar an der großen Station der Schnellbahn RER „Les Halles“. Dadurch hat die Gemeinde mit allen Problemen zu tun, die sich an einem Bahnhof bündeln: Da kommen Leute mit materiellen und psychischen Schwierigkeiten zusammen. Darüber hinaus befindet sich Saint Eustache in einem Viertel, wo Künstler leben, es gibt Galerien, Handwerksbetriebe, Verlage: Dann die Gemeinde mit Menschen zu tun, die von AIDS betroffen sind. Auch für sie haben wir diese Kirche geöffnet, damit sie auch  spirituell mit dem Drama dieser Krankheit umgehen können. Zu uns  kamen Menschen, um von ihrem Leiden an AIDS zu berichten; man hat gemeinsam meditiert, Musik gehört, oder gebetet. Es waren ökumenische und „multireligiöse“ Veranstaltungen“.

musikal. Zusp., Gesang aus Karmel – Kloster,

Nur dein Wort will ich kennen, nur um deine Gnade bitten: Die Verse eines modernen Liedes sollten in ihrer schlichten Sprache „eigentlich“ allgemein verständlich. Aber jüngere Menschen tun sich schon mit einfachen religiösen Begriffen schwer, hat Francois Barbier – Bouvet beobachtet. Dabei bemüht sich seine Gemeinde in der Kirche St. Merri seit Jahren um eine zeitgemäße Sprache in der Predigt und im Gebet. Junge Leute bleiben trotzdem fern:

O TON, Francois Barbier – Bouvet

„Als unsere Gemeinde gegründet wurde, waren die Teilnehmer bereits eher ältere Menschen. Und die Leute, die bei der Gründung unseres „Pastoralen Zentrums“  dreißig Jahre alt waren, sind heute 60. Heute sind die Dreißigjährigen bei uns nicht sehr zahlreich. Unsere Kirche St. Merri hat jetzt dieselben Probleme mit der  Altersstruktur wie andere Pfarrgemeinden auch. Aber die älteren Leute heute kümmern sich immer noch um die Erneuerung der Gemeinde“.

Aber wenn sich fast nur noch ältere Leute engagieren, ist das Ende einer Gemeinde absehbar. Die aktiven Kirchenmitglieder fragen sich: Verschwindet der Glaube an Gott, weil es auch die Kirche bald nicht mehr geben wird? Pascal Roland, der Bischof von Moulins in Zentralfrankreich, teilte kürzlich mit, dass nach seinen Schätzungen das kirchliche Leben in seiner Diözese in 15 Jahren nahezu verschwunden sein wird. Von 250.000 Katholiken besuchen heute noch 7.000 die Sonntagsmesse, es sind vor allem ältere Menschen um die 70.

Der Pariser Kulturwissenschaftler und engagierte Katholik Francois Barbier – Bouvet hat im Laufe der Jahre erkannt, dass gut gemeinte Experimente in den Gemeinden nicht ausreichen, um die vielen unkirchlichen oder ungläubigen Menschen wieder mit dem Glauben vertraut zu machen. Die zunehmende Distanz von der Kirche hat viel tiefere Ursachen. Denn es gibt heute einen Bruch zwischen der Welt der Kirche und der modernen Lebenserfahrung. Francois Barbier Bouvet ist überzeugt, dass auch die universal gültige Form der Messe mit ihrem ewig gleich bleibenden Ritus, nicht mehr den Erwartungen einer modernen Spiritualität entspricht:

O TON, Francois Barbier – Bouvet

„Bei den katholischen Messfeiern ist das Ritual unserer heutigen Lebensweise entgegen gesetzt. Diese Rituale bedeuten immer auch Wiederholung. Und das heißt: Alles ist vorauszusehen, eine Messe gleicht im Ritus der anderen. Die Vorstellung, alle Wochen bei derselben Feier mit denselben Leuten zusammen zu sein, ist für viele nicht mehr akzeptabel. Demgegenüber erleben wir die Entwicklung neuer religiöser Formen, sie bevorzugen bestimmte intensive Augenblicke. Man könnte sagen: Wir erleben eine Abkehr von den rituelle Wiederholungen und eine Hinwendung zu intensiven einmaligen Erfahrungen“.

Tatsächlich ist das Interesse ungebrochen groß, an besonderen religiösen Termine teilzunehmen, an katholischen Weltjugendtagen mitzumachen oder in Taizé eine Woche zu verbringen oder an Wallfahrten teilzunehmen. Menschen, die nie einen Fuß in ihre Pfarrkirche setzen, pilgern nach Lourdes, La Salette, Issoudun oder Chartres. Und aus allen französischen Klöstern ist zu hören, dass die Gästezimmer regelmäßig ausgebucht sind. Wenn sich die Formen der religiösen Bindung ändern, sollte die Kirche kreativ mit neuen Angeboten reagieren, meinen einige Theologen. Sie laden vermehrt  Menschen ein, ob gläubig oder nicht, sich in Gesprächskreisen zu treffen. Pater Jossua fördert die Auseinandersetzung mit der modernen Literatur:

O TON, Pater Jossua

„Die Literatur kann ein Ort sein, wo sich ein gewisser Glaube oder eine gewisse Form religiöser Suche ausdrücken können.  Aber Literatur kann auch außerhalb jedes Bezugs auf den Glauben ein Ort sein, wo sich Frauen und Männer aussprechen, die nach einem absoluten Ziel suchen, nach einer Transzendenz. Die Haltung kann im Einklang oder im Widerspruch stehen zur christlichen Erfahrung und ihrer Suche nach der Gott“.

Dichtung und Poesie sind gar nicht so „weltlich“ und säkular, wie oft behauptet wird. Literarische Werke können spirituelle Orientierung bieten:

O TON, Pater Jossua

„Die Poesie Hölderins oder Leopardis ist für sehr viele interessierte Menschen eine Art künstlerischer spiritueller Bewegung geworden. Für diese Menschen ersetzt die Poesie die Religion, die ihnen wie tot erscheint. Die Poesie ist für sie ein Weg zu Gott, zum Absoluten. Tatsächlich könnte man auch sagen, die Poesie hat die Funktion des Gebets angenommen. Und das Gebet hat endlich die Form von poetischer Qualität wieder gefunden“.

Für Pater Jossua ist der viel besprochene Unglaube der Franzosen vor allem ein Kommunikationsproblem: Glaubende, Skeptiker, Atheisten, sie alle können fruchtbar miteinander debattieren, wenn sie sich als gleichberechtigte Partner anerkennen:

O TON Pater Jossua

„Ich habe begriffen: Wenn ich eine richtige Haltung einnehme der Literatur gegenüber, dann heißt das: hinhören, nicht urteilen, im Dialog nicht vorherrschen. So versuche ich es im Gespräch mit ungläubigen Schriftstellern oder Universitätsprofessoren. Damit weise ich jegliche Vorherrschaft ab. Diese Haltung der Dominanz bestimmt die katholische Kirche, aber sie nützt gar nichts“.

musikal. Zusp., Reformiertes Kirchenlied

Ein Choral aus der Frühzeit der französischen Reformation: „Nicht uns gebührt die Ehre, sondern allein dir, o Gott“.

musikal. Zusp., Reformiertes Kirchenlied,

Traditionelle Choräle werden in der Protestantischen Gemeinde „L Oratoire“  du Louvre gelegentlich gesungen. Die reformierten Christen mitten in Paris wollen ihre Wurzeln nicht vergessen; aber wichtiger ist es für sie, einen modernen evangelischen Glauben zu leben. Nicht ein frommes Getto bilden, sondern die Gemeinde öffnen, heißt hier die Antwort auf den zunehmenden Unglauben.  Das wissen die Menschen in Paris und gerade deswegen besuchen sie gern diese Gemeinde, betont Pastor James Woody:

O TON, Pasteur Woody

„Ich treffe oft Franzosen, die sich Atheisten nennen. Aber wenn man mit ihnen diskutiert, dann entdeckt man: Diese Menschen sind keine Atheisten, in dem Sinne, dass sie vollständig die Existenz Gottes ablehnen. Sie lehnen nur die religiösen Formen ab, denen sie oft begegnet sind, Wenn ich dann mit diesen Menschen über den Gott spreche, den sie ablehnen, dann kann ich nur sagen: Ich selbst glaube an diesen Gott auch nicht. Also zum Beispiele an einen „allmächtigen Gott“, an einen Gott als Sieger; an einen Gott, der auch hinter allen Ereignissen der Geschichte seine Macht ausübt. Da kann ich meinen Gesprächspartnern nur sagen: An einen solchen Gott glaube ich auch nicht“.

Für Pastor Woody ist Gott eher das absolute Geheimnis, die alles gründende und tragende Wirklichkeit, die in Worten eindeutig nicht zu fassen ist.

O TON, Pasteur Woody

„Für mich zählt zuerst die Erfahrung, die die Menschen mit der Transzendenz in sich selbst machen. Wenn ich Leute treffe, die darüber diskutieren wollen, dann sage ich ihnen nicht, was sie glauben sollen. Oder welcher Gott in der Bibel vorkommt, dem man vertrauen soll. Ich interessiere mich für den inneren spirituellen Weg meiner Besucher. Mein eigenes Gottesbild dränge ich Ihnen nicht auf. Auch mein Gottesverständnis ist persönlich gefärbt“.

Eine Gemeinde der Suchenden; eine Gemeinde, die jede Indoktrination ablehnt und Raum lässt  für individuelle Frömmigkeit. Darum sind die Gottesdienste im „L Oratoire du Louvre“ auch so gut besucht:

O TON, Pasteur Woody

„Am Sonntagmorgen im Gottesdienst setzt sich die eine Hälfte der Teilnehmer aus Mitgliedern der Gemeinde zusammen. Und die andere Hälfte besteht wiederum zu gleichen Teilen aus Leuten, die den Glauben suchen und aus Leuten, die nicht glauben. So kann man also sagen: Am Sonntagmorgen ist bei uns jeder vierte Teilnehmer ein Agnostiker“.

Und diese Menschen kommen regelmäßig, sie sind in der Gemeinde  willkommen und werden als Freunde respektiert:

O TON,Pasteur Woody

„Der feste Stammkreis der Gemeinde will keine Barrieren errichten, man will den Teilnehmern am Gottesdienst keine Etiketten anheften. In unserer Gemeinde folgen wir seit mehr als einem Jahrhundert der toleranten, der so genannten „liberalen Theologie“. Deswegen glaube ich: Der Glaube des einzelnen steht über der Doktrin. Außerdem gilt: Die erste Aufgabe der Kirche ist es, die universelle Brüderlichkeit unter den Menschen zu fördern. Wir sehen die Kirche als Institution also eher relativ. Die Kirche ist immer sekundär gegenüber der Pflicht, Menschen gut aufzunehmen, die suchen und fragen“.

Angesichts des tief greifenden religiösen Wandels in Frankreich sind etliche Pfarrer und Theologen entschlossen, die Türen der Kirche weit zu öffnen. Sie soll zu einem Ort der Begegnung werden, zu einem Platz, wo jeder Mensch vorbehaltlos willkommen ist. Denn Glaubende und Nichtglaubende haben im praktischen Alltag viel mehr gemeinsame Anliegen als man ursprünglich annimmt. Sollte es nicht unter bestimmten Bedingungen auch eine praktische  Zusammenarbeit von Glaubenden und Nichtglauben geben? Etwa zugunsten der Armen und Flüchtlinge? Diakonie und Caritas laden ausdrücklich Ungläubige zur Mitarbeit in Sozialprojekten ein. Nach zahlreichen gemeinsamen Veranstaltungen mit Theologen will der atheistische Philosoph André Comte Sponville aus Paris ganz neu das Verhältnis von Glaubenden und Nichtglaubenden bestimmen:

O TON, Comte Sponville

„Meines Erachtens sollte man keine Grenze ziehen zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden. Es gibt hingegen eine Grenze zwischen den freien, offenen, toleranten Geistern auf der einen Seite, egal, ob man da an Gott glaubt oder nicht. Und auf der anderen Seite stehen die dogmatischen, die fanatischen Geister, auch dort halten sich Glaubende und Nichtglaubende auf. Gegen die Fanatiker und auch gegen die Nihilisten sollten wir kämpfen. Das sind die Leute, die an nichts glauben, die nichts respektieren, die keine Werte, keine Regeln haben, keine Prinzipien, keine Ideale. Darum will ich allen anderen ein Bündnis vorschlagen: Wir wollen zusammen die gemeinsamen Werte der Menschheit verteidigen“.

musikal. Zuspielung, Sologesang

Ein ungewöhnliches Osterlied in der Kirche von Fontenay in Burgund. Diese mittelalterlichen Klosteranlage beherbergt keine Mönche mehr, seit vielen Jahren werden hier keine Messen mehr gefeiert. Das prachtvolle romanische Gotteshaus wird als Konzerthalle genutzt. Aber die Auferstehungs – Hymne des Sängers Iegor Reznikoff wird hier von den tausend Besuchern durchaus als inspirierender Gesang geschätzt, als ein spirituelles Ereignis, das Menschen unterschiedlicher Überzeugung vereint. Christen in Frankreich beginnen zu begreifen: An vielen unterschiedlichen Orten sind religiöse Erfahrungen möglich. Vor allem: Offene, lernbereite und tolerante Gemeinden haben durchaus Zukunft. Gott ist nicht tot. Man sollte nur beginnen ihn zu suchen, wo ER sich zeigt, inspirierend und lebendig.

 

 

Zum Geburtstag des Papstes: Ein prominenter spanischer Theologe wird verurteilt

Zum Geburtstag des Papstes: Ein prominenter spanischer Theologe wird verurteilt

Von Christian Modehn

Pünktlich zum 85. Geburtstag von Papst Benedikt XVI. wird die Öffentlichkeit von der Verurteilung eines großen katholischen Theologen informiert: Wichtige Aussagen von Prof. Andrés Torres Queiruga, einem der bedeutendsten spanischen Theologen, werden gleichermaßen von der römischen Glaubensbehörde wie von der spanischen Bischofskonferenz verurteilt: Prof. Andrés Torres Queiruga (Jahrgang 1940) arbeitete an der Universität von Santiago de Compostela und ist Autor zahlreicher international verbreiteter Bücher sowie Mitglied des Direktionskomitees der führenden katholisch – theologischen Zeitschrift CONCILIUM.

Was werfen ihm Rom und die Bischöfe vor ? Andrés Torres Queiruga „negiert den Realismus der Auferstehung Jesu Christi als ein historisches wunderbares und transzendentes Ereignis. Außerdem leugnet er die Einzigkeit und die Universalität der für das Heil nötigen Vermittlung durch Christus und die Kirche“ (zit. nach der Tagezeitung El Mundo, 31. 3. 2012).

Einmal mehr wird deutlich, wie schwer sich die römische Kirche mit Neuinterpretationen der alten Glaubenslehren tut, wie schwer es Rom fällt, die Kultur der Moderne zu respektieren. Auch aus diesem Grund sind diese Ereignisse ein Thema des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons, der ja, wie die Freunde unseres Salons wissen, vor allem philosophisch interessiert ist und theologisch besonders gern die liberale Theologie dokumentiert und fördert, als einer Theologie, die der aufgeklärten Vernunft Raum gibt.

Die Herren der Kirche in Rom sind jedenfalls fixiert auf die griechische Sprach- und Denkwelt der Antike; bezeichnend ist die bekannte äußerste Hochschätzung des Papstes für den Heiligen Augustinus und andere „Kirchenväter“ der Spätantike. Weiterlesen ⇘

Der Glaube des einzelnen ist wichtiger als alle Doktrin: Liberale Protestanten in Frankreich

Der Glaube des einzelnen – wichtiger als alle Doktrin

Liberale Protestanten in Frankreich

Von Christian Modehn

Über den liberalen Protestantismus als einer modernen, vernünftigen Glaubensform, die auch vor der Kritik an der Religion Bestand hat, haben wir im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon aus nahe liegenden Gründen schon oft berichtet. Wir wollen diese Informationen fortsetzen und ausbauen, zumal es immer noch Missverständnisse gegenüber den liberalen Theologien gibt.

In Frankreich ist innerhalb der „Reformierten Kirche Frankreichs“ (ERF, die sich bald mit den Lutheranern vereinigen wird) durchaus eine liberal – theologische Praxis lebendig.

Als Einstieg und Beginn für weitere Studien heute einige Zitate aus einem Interview mit Pastor James Woody, Pastor in der „Paroisse de l Oratoire“ in Paris, 1. Arrondissement.

Diese Gemeinde will nicht ein frommes Getto bilden, sondern die Christen dort öffnen sich für die Begegnungen mit Menschen, die sich selbst „ungläubig“ nennen, betont Pastor James Woody:

„Ich treffe oft Franzosen, die sich Atheisten nennen. Aber wenn man mit ihnen diskutiert, dann entdeckt man: Diese Menschen sind keine Atheisten, in dem Sinne, dass sie vollständig die Existenz Gottes ablehnen. Sie lehnen nur die religiösen Formen ab, denen sie oft begegnet sind, Wenn ich dann mit diesen Menschen über den Gott spreche, den sie ablehnen, dann kann ich nur sagen: Ich selbst glaube an diesen Gott auch nicht. Also zum Beispiel an einen „allmächtigen Gott“, an einen Gott als Sieger; an einen Gott, der auch hinter allen Ereignissen der Geschichte seine Macht ausübt. Da kann ich meinen Gesprächspartnern nur sagen: An einen solchen Gott glaube ich auch nicht“.

Für Pastor Woody ist Gott eher das absolute Geheimnis, die alles gründende und tragende Wirklichkeit, die in Worten eindeutig nicht zu fassen ist.

„Für mich zählt zuerst die Erfahrung, die die Menschen mit der Transzendenz in sich selbst machen. Wenn ich Leute treffe, die darüber diskutieren wollen, dann sage ich ihnen nicht, was sie glauben sollen. Oder welcher Gott in der Bibel vorkommt, dem man vertrauen soll. Ich interessiere mich für den inneren spirituellen Weg meiner Besucher. Mein eigenes Gottesbild dränge ich Ihnen nicht auf. Auch mein Gottesverständnis ist persönlich gefärbt“.

Eine Gemeinde der Suchenden; eine Gemeinde, die jede Indoktrination ablehnt und Raum lässt  für individuelle Frömmigkeit. Darum sind die Gottesdienste im „L Oratoire du Louvre“ auch so gut besucht, meint James Woody:

„Am Sonntagmorgen im Gottesdienst setzt sich die eine Hälfte der Teilnehmer aus Mitgliedern der Gemeinde zusammen. Und die andere Hälfte besteht wiederum zu gleichen Teilen aus Leuten, die den Glauben suchen und aus Leuten, die nicht glauben. So kann man also sagen: Am Sonntagmorgen ist bei uns jeder vierte Teilnehmer ein Agnostiker“.

Und diese Menschen kommen regelmäßig, sie sind in der Gemeinde  willkommen und werden als Freunde respektiert, betont Pastor Woody:

Der feste Stammkreis der Gemeinde will keine Barrieren errichten, man will den Teilnehmern am Gottesdienst keine Etiketten anheften. In unserer Gemeinde folgen wir seit mehr als einem Jahrhundert der toleranten, der so genannten „liberalen Theologie“. Deswegen glaube ich: Der Glaube des einzelnen steht über der Doktrin. Außerdem gilt: Die erste Aufgabe der Kirche ist es, die universelle Brüderlichkeit unter den Menschen zu fördern. Wir sehen die Kirche als Institution also eher relativ. Die Kirche ist immer sekundär gegenüber der Pflicht, Menschen gut aufzunehmen, die suchen und fragen“.

Copyright: Christian Modehn, Berlin

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