Sollten nicht alle Menschen zuerst Humanisten sein? Fragen zum Kirchentag 2017 an Prof. Wilhelm Gräb

Weiterdenken:  Prof. Wilhelm Gräb im Gespräch

Die Fragen stellte Christian Modehn

1. Wer das Programm des Kirchentages in Berlin (vom 24. bis 27.Mai 2017) liest, findet in der Liste „Programm im Überblick“ auf Seite 24 tatsächlich nur zwei Veranstaltungen zum „Dialog mit humanistischen Gemeinschaften“. Man glaubt zu träumen, wenn man bedenkt, dass in Berlin mindestens jeder zweite Einwohner sich konfessionslos nennt. Unter dem Oberbegriff „konfessionslos“ finden sich Menschen wieder, die aus der Kirche ausgetreten sind, Skeptiker, Atheisten oder organisierte Humanisten. Man kann also sagen, dass mindestens die Hälfte der Einwohner Berlins (und Ostdeutschlands sowieso) nicht ins direkte Gespräch des Kirchentages einbezogen ist. Warum haben offenbar die Kirchen und die meisten Theologen Angst, mit Atheisten und Humanisten ins Gespräch zu kommen, der als expliziter Dialog selbstverständlich immer wechselseitige Lernbereitschaft voraussetzt?

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Präsident Macron: Seine Spiritualität und Religion sowie seine Philosophie.

Präsident Emmanuel Macron – über seine Spiritualität und Religion und seine Verbundenheit mit der Philosophie

Siehe auch den aktuellen Hinweis vom Juli 2021: Macron – der Revolutionär? LINK

Hinweise von Christian Modehn am 8.5.2017

1. Glaube und Spiritualität

Präsident Emmanuel Macron, geboren am 21. Dezember 1977 in Amiens, hat dort die katholische Privatschule „La Providence“ („Die Vorsehung“) unter Leitung des Jesuitenordens besucht. Macron kann sich also wie etliche andere bekannte Politiker durchaus Jesuitenschüler nennen. Im Alter von 12 Jahren ließ er sich, beim Eintritt in die Jesuitenschule, (katholisch) taufen. „Das war eine persönliche Wahl, meine Familie (die Eltern sind Ärzte) war eher mit der „laizistischen Tradition“ verbunden. Die Jesuitenschule hat mich die Disziplin des Geistes und einen Willen zur Öffnung gegenüber der Welt gelehrt. Aber danach, (offenbar beim Verlassen der Schule, CM) habe ich weniger (den Glauben) praktiziert (was in Frankreich bedeutet: die Messe besucht, CM). Heute habe ich eine dauernde Reflexion über die Natur meines eigenen Glaubens. Meine Beziehung zur Spiritualität nährt weiterhin mein Denken, aber ich mache daraus kein Element, irgendetwas (politisch? CM) zu beanspruchen (élément de révendication)“, so Macron im Interview mit der katholischen Wochenzeitung La Vie, Paris, am 15. 12. 2016. Macron betont also, dass für ihn (schon damals) die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben wichtiger war als der spirituelle Aspekt. Das gilt bis heute. Macron lobt ausdrücklich die Werte, die die Caritas (Secours catholique) in ihrem Engagement verteidigt, etwa in der Unterstützung der Wohnungslosen.

Der Kirchenhistoriker Jean-Domique Durand (Lyon) sieht in den politischen Äußerungen Macrons Elemente einer christlichen Kultur, etwa wenn er vom „Wohlwollen gegenüber dem Nächsten“ spricht. Er hat die (frühe) von Offenheit geprägte Flüchtlingspolitik von Angela Merkel gelobt. Zu dem lange diskutierten Thema der „christlichen Wurzeln Europas“ meint Durand bezogen auf Macron: Er würde die „christlichen Wurzeln Europas“ nicht offiziell anerkannt sehen wollen.

Zu Papst Franziskus hat sich Macron in „La Vie“ geäußert: „Im Unterschied zu den Präsidentschaftskandidaten Fillon oder Hamon werde ich nicht eine Nähe oder eine enge Verbindung mit dem Papst fordern und suchen. Aber als politisch entscheidender Akteur hat der Papst mutige Entscheidungen getroffen, die auch mit meinen Werten verbunden sind. Besonders in der Frage der Migranten hat der Papst an die Pflicht Europas erinnert und – aus einem geopolitischen, moralischen und philosophischen Gesichtspunkt – an den Unterschied zwischen einem Migranten und einem Flüchtling“. Quelle:

http://www.lavie.fr/dossiers/invites-politique-de-la-redaction/foi-laicite-europe-emmanuel-macron-en-7-extraits-15-12-2016-78648_807.php

Sehr konservative Katholiken lehnen Macron ab, weil er für die Homoehe ist und auch über aktive Sterbehilfe diskutieren will, siehe dazu die einschlägige Zeitschrift “France Catholique”: https://www.france-catholique.fr/Macron-Evangile.html: „Emmanuel Macron a des propositions économiques qui peuvent inquiéter les Français : augmentation de la CSG qui ponctionne déjà les revenus des retraités et des autres, suppression de la Taxe d’habitation pour 80 % des foyers : il faudra bien payer autrement et ce sont les classes moyennes qui devront le faire une fois de plus. En matière de valeurs morales censées être chères aux chrétiens : la faveur pour le mariage homosexuel et la volonté de généraliser la PMA (procréation médicalement assistée) à toutes les femmes qui la demandent sont deux prises de position totalement contraires à la morale de l’Eglise catholique. Les « Chrétiens démocrates » déclarent que Jésus n’était pas attaché à la famille et en concluent sans doute que les positions relativistes ne posent aucun problème ! Or elles sont parfaitement inadmissibles au nom même d’une philosophe politique dans la ligne de Léo Strauss et au nom de la théologie morale catholique“.

2.Zur Philosophie

Interessant ist, dass Macron vor seiner Ausbildung zum Ökonom in den Jahren zwischen 1995 und 2001 Philosophie studierte und das Diplom DEA , also das „diplôme d’études approfondies“, ein Hochschuldiplom, in der Universität „Paris –X. Nanterre“, erlangte, das oft als das erste Jahr eines Promotionsstudiums angesehen wurde. Einige Philosophen, wie der zur Polemik neigende Michel Onfray, aber auch Mitglieder des Fonds Ricoeur haben sich kritisch zu der Annahme geäußert, Macron könne als Philosoph gelten und als solcher auftreten: Sie halten den Titel Macrons als eines Assistenten von Paul Ricoer für überbewertet. Es geht dabei vor allem um die Frage, in welcher konkreten philosophischen Weise Macron als Assistent des protestantischen Philosophen Paul Ricoeur arbeitete. Auch die Philosophie Professorin Myriam Revault de Allonnes hat ihre Bedenken, Macron zu deutlich als Philosophen zu bezeichnen.  Sie sagte, dass Macron wohl nur die Korrekturbögen des Buch „La Memoire, l histoire, l oubli“ von Ricoeur (als Buch 2000 erschienen) korrigiert habe. Macron behauptet auch, von dem marxistischen bzw. kommunistischen Philosophen Etienne Balibar inspiriert zu sein, auch über die intellektuelle Beziehung Macron – Balibar wird unter Philosophen gestritten. Immerhin hat sich Balibar kurz vor der Wahl am 7.5. für Macron eingesetzt. Tatsache ist, dass Macron auch für die eher linke (einst explizit christliche, personalistische Zeitschrift) ESPRIT arbeitete und zum Redaktionskomitee gehörte: Dort wird die „zweifelsfreie philosophische Zuverlässigkeit“ Macrons gelobt, so etwa vom ehemaligen Chefredakteur von ESPRIT, Olivier Mongin. Fünf Beiträge hat Macron (darunter auch Buchbesprechungen) in ESPRIT publiziert, der letzte Artikel erschien 2011. Siehe: http://www.esprit.presse.fr/article/macron-emmanuel/francois-dosse-l-histoire-9396

Als philosophisch gebildeter Politiker hat Macron auch den Philosophen Jürgen Habermas in Berlin am 16. März 2017 getroffen, die Initiative dafür ging von der „Hertie School of Governance“ aus. Habermas lobte in höchsten Töne Macron, weil er entschlossen sei, Europa neu zu gestalten. Auch Sigmar Gabriel (SPD), er kennt Macron aus seiner Zeit als Wirtschaftsminister, war bei dem Treffen dabei. Die ZEIT berichtete ONLINE am 17.3.2017 über diese Tagung: „Die Europäische Union habe seit der Unterzeichnung des Vertrags von Lissabon vor knapp zehn Jahren keine gemeinsame Erzählung mehr, so Macron. Ihr fehle ein gemeinsamer Wille, der sich auf ein klares Ziel richte. Europa vertrage aber keinen Stillstand. “Wenn Sie ein zaghafter Europäer sind, sind Sie bereits ein besiegter Europäer”… Auch den Deutschen ruft Macron damit sein “En Marche” entgegen: Vorwärts! “Man kann Wahlen gewinnen, wenn man eine Idee von Europa hat und diese verteidigt”, sagt er. Es sei das deutsch-französische Verhältnis, von dem “das europäische Momentum” ausgehen müsse. Da Misstrauen und uneingelöste Versprechen das Verhältnis der Nachbarn zerrüttet hätten, wirbt Macron dafür, zuallererst diese Beziehung zu erneuern. Dafür will er bei sich selbst anfangen und in Frankreich überfällige Reformen anstoßen”. Quelle: http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-03/emmanuel-macron-berlin-sigmar-gabriel-juergen-habermas-frankreich-wahlkampf

3. Die Trennung von Religion und Staat verteidigen

 Macron ist leidenschaftlicher Verteidiger der Laicité, also der seit 1905 gesetzlich verankerten Trennung von Religionen und Staat in Frankreich. Er sagt: „Ich will nicht, dass die Gesellschaft den hegemonialen (Macht orientierten) Versuchungen einer Religion unterworfen ist…Die Laicité erlaubt es, im öffentlichen Raum respektvoll miteinander zu leben, im Respekt der Werte der Republik. … Im öffentlichen Dienst des Staates (service public) ist es sehr wichtig, die Neutralität dieses öffentlichen Dienstes des Staates zu respektieren. Aber die Laicité hat nicht die Berufung, eine republikanische Religion zu fördern“… „Die Republik ist der magische und einzigartige Ort ,der es erlaubt, dass Menschen in der Intensität ihrer Religion leben können. Man verlangt in der Republik, dass die Leute mit ihrer Religion für sich selbst (privat) umgehen, wie sie es wollen und dass sie dabei aber in einem absoluten Respekt vor den Regeln der Republik leben. Im öffentlichen Raum verlange ich von religiösen Menschen nur eine Sache: Dass sie die Regeln (les règles), also auch die Gesetze, absolut respektieren. In seinem eigenen, tiefen Gewissen, denke ich, kann ein praktizierender Katholik meinen, dass die Gesetze seiner Religion die Gesetze der Republik übersteigen. Aber ganz einfach: In jedem Augenblick, wo sich der Katholik im öffentlichen Raum bewegt, sind die Gesetze der Republik größer und wichtiger als die religiösen Gesetze… Die Menschen können das Bedürfnis nach einer Transzendenz haben. Die Republik hat nicht gegen die Transzendenz zu kämpfen. Die Republik hat zu kämpfen, wenn ihre Werte nicht respektiert werden“. (Interview mit dem politischen Magazin Marianne, 2016)

Siehe auch: https://www.franceculture.fr/politique/aux-sources-des-idees-demmanuel-macron

COPYRIGHT: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Macron gewählt: Frankreichs Katholiken bleiben sehr rechtslastig. Zur Wahl am 7. 5. 2017

Zur Wahl in Frankreich am 7.5. 2017: Hohe Zustimmung unter Katholiken für Le Pen.

Ein Hinweis von Christian Modehn (Weitere aktuelle Informationen, auch zur Ideologie von Marine Le Pen, warum Papst Franziskus nicht explizit vor Le Pen warnte und zur Rechtslastigkeit französischer Katholiken: klicken Sie hier)

38 Prozent der so genannten praktizierenden Katholiken haben Marine Le Pen von der rechtsradikalen Partei Front National gewählt, so eine Umfrage von IFOP im Auftrag von „La Croix“ und „Le Pélerin“ am 7.5. 2017. Also: Um 4 Prozent höher ist der Anteil der praktizierenden Katholiken für Le Pen gegenüber dem Landes-Durchschnitt von 33,9 für Le Pen.

Ein Detail:

Die bloß gelegentlich die Sonntagsmesse besuchenden Katholiken haben sogar zu 46 Prozent für Marine Le Pen gestimmt. Die regelmäßig praktizierenden Katholiken hingegen „nur“ zu 29 Prozent! Damit haben viele Katholiken, die im ersten Wahlgang noch den bürgerlichen Rechten Fillon wählten, dann am 7. Mai 2017 für Le Pen gestimmt. Und von explizit warnenden Worten der Bischofskonferenz und des Papstes vor Le Pen war ja, wie wir dokumentiert haben, nichts zu vernehmen. Autoritätshörige Katholiken konnten also förmlich mit gutem Gewissen Le Pen wählen….

Für Macron haben 67 Prozent der Protestanten gestimmt, die Muslime haben zu 92 Prozent für Macron gestimmt.

Was die Wahlbeteiligung angeht:
80 % der regelmäßig praktizierenden Katholiken haben an der Wahl am 7. Mai teilgenommen; 76 % der Protestanten haben gewähltund 62 % der Muslime.

Ein Hinweis von La Croix: Cette enquête Ifop a été réalisée en ligne dimanche 7 mai, et à partir d’un cumul d’interviews du 4 au 7 mai, auprès de 4 330 personnes inscrites sur les listes électorales, extraites d’un échantillon de 4 572 personnes dont la représentativité a été assurée par la méthode des quotas. Marge d’erreur de 0,7 à 1,6 point.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Wahlen in Frankreich 2017: Rechtslastige Katholiken…

Zur Wahl in Frankreich am 7.Mai 2017 haben wir fünf  interessante Beiträge veröffentlicht. Das besondere Interesse des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons Berlin für Frankreich (wie für die Niederlande) ist bekannt. Die genannten Beiträge beziehen sich vor allem auf die Zeiten vor dem 2. Wahlgang am 7. Mai 2017.

  1. Am 4. Mai: “Es ist eine Schande katholisch zu sein”. Frankreichs Katholiken sind über die Bischofskonferenz entsetzt. Klicken Sie hier.
  2. Papst Franziskus warnt NICHT vor Le Pen. Ein Skandal. Klicken Sie hier.
  3. Zu einem neuen Dokument der französischen Bischöfe, die sich nicht entschieden gegen Le Pen aussprechen, hier: klicken Sie 
  4. Zum Wahlverhalten der Katholiken und anderer Religionen im 1. Wahlgang am 23.4.2017, bitte hier klicken.
  5. Zum ideologisch “philosophischen Hintergrund” des Front National und von Madame Le Pen (und der Nouvelle Droite) bitte hier klicken.

Copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon Berlin

Der erste Lutheraner in den Niederlanden: Der Augustiner Hendrik van Zutphen

Der erste Lutheraner in den Niederlanden: Der Augustiner Hendrik van Zutphen, später der „Bremer Reformator“ genannt.

Von Christian Modehn am 4.5.2017. (Dieser Beitrag erschien am 28. April 2017 in kürzerer Form in der Zeitschrift Publik – Forum).

Über die Bedeutung und Wirkung des Augustinermönches Martin Luther für seine usprüngliche spirituelle “Familie”, also die Mitglieder seines Ordens (O.E.S.A. ist die damalige lateinische Abkürzung, also Augustiner-Eremiten, wie der Orden mit dem Zusatz „Eremiten“ bis ca. 1970 noch hieß) ist meines Wissens insgesamt, auch in diesem Jahr des Reformations – und Luther-Gedenkens sehr wenig publiziert worden. Dabei macht schon diese sehr kleine Studie zu den Niederlanden und den dortigen Augustinern deutlich, dass der Einfluss des Reformators und Augustiners Luther schon sehr früh sehr für den AugustinerOrden bedeutend war.

In den Niederlanden hatten sich die Lehren Martin Luthers schon 1518 herumgesprochen. Seine Schriften wurden 1519 in Antwerpen und Leiden veröffentlicht. Schon im gleichen Jahr befahl Kaiser Karl V., „alle lutherischen Bücher in den Niederlanden zu verbrennen“. Es waren vor allem Augustiner, die sich nicht einschüchtern ließen und sehr früh, von ihrem Mitbruder in Wittenberg inspiriert, mit der Reform kirchlichen Lebens begannen. Ein Zentrum war das Kloster in Dordrecht (bei Rotterdam) mit ihrem Prior Hendrik van Zutphen, der den Ordensnamen Pater Johannes hatte. 1489 in Zutphen geboren, wurde er schon 1516 Leiter des Klosters. Er setzte sich sofort für die Wiederherstellung der strengen Ordenszucht ein. Der katholischen Stadtverwaltung missfielen seine „evangelischen“ Predigten, sie vertrieb ihn und vier weitere Mönche. Sie fanden 1519 Zuflucht in Antwerpen: Aber selbst dort, der eher liberalen Stadt, wurden große Gruppen reformgesinnter Augustiner verhaftet. Hendrik van Zutphen konnte nach Wittenberg fliehen, in eine Stadt, die er schon kannte: Er hatte dort schon von 1508 bis 1512 studiert und Luther kennen gelernt.

Hendrik erlebte nun, wie sich Luther der päpstlichen Androhung des Bannes widersetzte und das päpstliche Schreiben, die „Bulle“, öffentlich verbrannte: So kam es zum definitiven Bruch mit Rom. Hendrik studierte in dieser turbulenten Zeit vor allem die Theologie des Römerbriefes, sein Studium schloss er mit dem Lizenziat ab. In „73 Thesen“ entwickelte er 1521 seine eigene Theologie: Er wandte sich etwa gegen die „stille Privatmesse“, die man für Geld zum Heil der Seelen bestellen konnte. Für ihn galt: „Die Eucharistiefeier kann niemals als ein neues unblutiges Opfer Christi verstanden werden. Die Messe ist vielmehr eine zeichenhafte Mahlzeit von Glaube und Liebe“.

Luther müssen diese Thesen gefallen haben: Er ließ Hendrik von der Wartburg aus grüßen. Als Hendrik hörte, dass in den Niederlanden immer mehr Evangelische verfolgt werden, kehrte er zur Unterstützung nach Antwerpen zurück. Dort wurde er als Prediger vom Volk gefeiert: Aber die katholische Obrigkeit wollte keine religiöse Vielfalt dulden: Sie ließ die Augustiner verhaften. Hendrik wurde allerdings in höchster Not vom empörten Volk befreit. Seine Mitbrüder Johannes van Esschen und Hendrik Vos werden 1523 auf dem Scheiterhaufen in Brüssel verbrannt. Hendrik gelangte über Enkhuizen und seine Heimatstadt Zutphen nach Bremen: Dort traf er Bekannte aus Studienzeiten in Wittenberg. Seine Predigten in der St. Ansgarii Kapelle fanden viel Zuspruch, sogar die Zustimmung des Stadtrates, aber den Widerspruch des Klerus. Hendrik wurde „zum Bremer Reformator“. Dort setzte er sich für Jacobus Probst ein, den Prior des Antwerpener Augustiner Klosters: Er hatte geheiratet und suchte nun in Bremen eine neue Stelle.

Unter allen Orden waren die Augustiner am deutlichsten von der Reformbewegung Luthers betroffen. Allein in Deutschland sind 69 von 160 Augustinerklöstern aufgelöst worden. (Weitere aktuelle Hinweise zu dem Aspekt, am Ende des Beitrags).

Hendrik van Zutphen war im Oktober 1524 aus dem Orden ausgetreten. Aber „er wolle niemals vom Evangelium schweigen… solange, bis ich den Lauf dieses Lebens vollendet habe.“ Darum folgte er im November 1524 einer Einladung, in Meldorf, Dithmarschen, zu predigen. Das Volk war wiederum begeistert, aber der dortige Klerus, vor allem der Dominikaner Pater Augustinus Torneborch, sorgte schon im Dezember 1524 für seine Verhaftung: Hendrik wurde nach Heide geschleppt, dort erst halb totgeschlagen, dann ins Feuer geworfen: Weil der Körper aber nur etwas verkohlte, wurden Kopf, Hände, Füße abgeschnitten und der Rumpf unter Spottgesängen verscharrt. Am 10.Dezember 1524 wurde das Leben des ersten niederländischen Lutheraners und „Bremer Reformators“ beendet.

Luther war entsetzt, als er davon hörte. Er verfasste die Erinnerungsschrift „Historie von Bruder Heinrich von Zutphens Märtyrtode“.

Im ganzen gesehen konnte sich die lutherische Reformation in Holland nicht durchsetzen. Luther selbst hatte 1530 den Evangelischen dort empfohlen, entweder in aller Stille außerhalb der Öffentlichkeit Gottesdienste zu feiern oder zu jenen Fürsten auszuwandern, die reformfreundlich sind. „Dieser Standpunkt schließt ganz an seine Neigung an, Unterstützung bei der Obrigkeit zu suchen. Das niederländische Volk mochte das nicht. Es wandte sich eher der radikalen Bewegung der Wiedertäufer zu und dann dem militanten Calvinismus“, so der Historiker Johan Decavele.

In den Niederlanden selbst gilt als der erste, also dort getötete, lutherische Märtyrer Jan de Bakker, am 15.9.1525 wurde er verbrannt. Und, interessanterweise möchte man fast sagen, gab es eine lutherische Märtyrerin, Wendelmoet Claesdochter, sie wurde am 20. November 1527 von Katholiken verbrannt.

Nebenbei: Wer diese Geschichte konfessionell bedingter Grausamkeit, etwa im 16. Jahrhundert, bedenkt, kommt schnell zu Vergleichen der Brutalität und des Sich – Abschlachtens, die sich heute Sunniten und Schiiten antun. Man bedenke nur: Noch vor 70 Jahren haben sich Katholiken und Protestanten in Deutschland verachtet und ignoriert und bekämpft. Die ökumenische Bewegung unter den Christen gilt es auch als Friedensbewegung zu interpretieren. Gibt es eigentlich eine ökumenische Bewegung unter den verfeindeten muslimischen Konfessionen?

Ein aktueller Hinweis:

Wie stark die Mentalität des Augustinerordens davon bestimmt ist, dass in katholischer Sicht der Ketzer und Kirchengründer und Kritiker des Mönchswesens Martin Luther einmal zum Orden gehörte, ist eine offene Frage. Tatsache ist, dass der Augustinerorden seitdem nicht gerade besonders theologisch Mutige hervorgebracht hat, von den Augustinern in den Niederlanden vielleicht abgesehen. Offenbar wollte der Orden nicht beim Papst „auffallen“, mutig war hingegen der Augustiner Gregory Baum (geboren 1923 in Berlin): Er hat als Theologe das Zweite Vatikanische Konzil geprägt. Aber Gregory Baum hat später den Augustinerorden verlassen und das Priesteramt aufgegeben. Im französischen Augustinerorden, den Assumptionisten, gab es in den achtziger Jahren Professor Daniel Olivier, er war ein großer Luther-Spezialist, in meiner Erinnerung an persönliche Begegnungen war er förmlich ein Lutheraner geworden. Entsprechend groß war die Rezeption seines Denkens in der katholischen Kirche. Solche intimen Luther-Kenner wie Pater Olivier hat der Augustinerorden (OSA) nie hervorgebracht. Wie überhaupt alle Orden im Reformationsgedenken 2017 schweigen zu der Frage: Wie kann man heute trotz Luther noch Mönch und Nonne sein. Da ist absolut nichts zu vernehmen.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

„Es ist eine Schande, katholisch zu sein“: Frankreichs Katholiken sind jetzt über die Bischofskonferenz entsetzt.

„Es ist eine Schande, katholisch zu sein“. Frankreichs Katholiken sind jetzt über die Bischofskonferenz entsetzt

Ein Hinweis von Christian Modehn am 4. Mai 2017

Zwei prominente französische Katholiken sagen es offen: „Es ist heute eine Schande katholisch zu sein – bei dieser verängstigten Bischofskonferenz gegenüber dem Front National und Marine Le Pen“. Der Theologe Christian Delahaye und der Journalist Henri Tincq haben ihr Entsetzen öffentlich gemacht: Denn selbst nach der Fernsehdebatte Macron – Le Pen am Mittwoch, dem 3. Mai, ist die Bischofskonferenz nicht bereit und wohl auch nicht in der Lage, ausdrücklich vor der Wahl von Marine Le Pen zu warnen. Die Front National Führerin Madame Le Pen hatte sich tatsächlich widerwärtig in der so genannten Debatte verhalten, das ist auch bis nach Deutschland gedrungen.

Die Bischofskonferenz, also das oberste Gremium der französischen Kirche, weigert sich also immer noch, vor Le Pen zu warnen. Einzelne Bischöfe sind da etwas mutiger, das haben wir berichtet. Aber das oberste Gremium gibt sich verlogen und tut theologisch progressiv, und sagt: Dass doch die guten und braven Laien selbst entscheiden können, wen man wählen kann. Das ist prinzipiell nett und richtig. Aber dieses im übrigen so äußerst seltene bischöfliche Plädoyer fürs eigene Nachdenken und Verantwortung gilt nur in halbwegs normalen demokratischen Zeiten, wo halbwegs normale demokratische Parteien einander gegenüberstehen. Jetzt aber ist größte Not, weil Le Pen und der FN tatsächlich auf dem Sprung in die höchste Macht sind. Über diese Ignoranz der Bischofskonferenz sind etliche demokratische Katholiken empört. Sie ärgert, dass von den Bischöfen noch nicht einmal die Namen der beiden Kandidaten genannt werden. Ist das etwa vornehme Diskretion, diplomatische Verschlagenheit oder Dummheit? Wahrscheinlich gelten alle drei Haltungen. Die Bischöfe sind die einzigen, die sich mutlos zeigen, der oberste Rat der Protestanten, der Großrabbiner von Frankreich und die „nationale Föderation der Muslime in Frankreich“ empfehlen direkt und namentlich Macron zu wählen. Während die Bischofskonferenz offenbar Rücksicht auf die treuen reaktionären Katholiken nimmt, die offen für Le Pen eintreten, wie die allseits bekannte Erz-Katholikin und Pro-Life-Kämpferin und „homophobistischste“ Christine Boutin, sie predigt jetzt „die revolutionäre Stimmabgabe für Marine Le Pen“. Auch die reaktionären Kreise, die die Massen-Demonstrationen gegen die Homo-Ehe organisier(t)en, wie „Sens commun“, plädieren für Le Pen. Die „Christlich demokratische Partei“ des Monsieur Frédéric Poisson unterstützt le Pen. Es gibt also wieder ein starkes reaktionäres, nationalistisches Milieu im französischen Katholizismus, bis hin zu einzelnen rechtsextrem engagierten Bischöfen, wie die Bischöf Rey, Cattenoz oder Aillet…

Die französische Kirche ist de facto gespalten. Pluralismus ist ja für katholische Verhältnisse etwas Wunderbares. Wenn er nur vernünftig gestaltet wird, wenn also die ängstliche Bischofskonferenz nicht die einzig maßgebliche Stimme in dieser Pluralität ist. Man sieht einmal mehr: Die streng hierarchische, ausschließlich vom Klerus bestimmte katholische Kirche ist ein Hindernis für die Demokratie. Sie ist ein „Unding“, um es mal krass zu sagen. Auch deswegen laufen ja die intelligenteren Leute in Scharen aus dieser Kirche. In Frankreich sind noch 4 % praktizierende Katholiken, vor 30 Jahren waren 26 %… bald macht man in den meisten Kirchen dort das Licht aus. Nicht weil die Katholiken Atheisten geworden sind, von wegen! Es sind Leute, die diese Klerusmacht nicht mehr ertragen. Das muss man im Reformationsgedenken 2017 immer wieder sagen. Damit keine falschen Illusionen oder euphorische Stimmungen aufkommen gegenüber dem so lernbereiten Katholizismus….

Und warum plädieren die Bischöfe nicht explizit für Macron? Weil er die heiligsten Gebote dieser Kirche nicht respektiert, das ist nicht etwa der Glaube an Gott. Oberste Gebote sind: Anti-Homo-Ehe und absolutester Schutz des ungeborenen Lebens. Und diese Dogmen findet Macron nicht so dringend in dieser Welt mit ihren Problemen. Deswegen lehnen ihn die Bischöfe ab. Die Bischöfe in Spanien, Italien, in Lateinamerika denken genauso. Und in Deutschland? Vielleicht auch…

Copyright: Christian Modehn

Der grundlegende Artikel aus der katholischen (!) Tageszeitung La Croix (3.5.2017) zum Schweigen der Bischofskonferenz (!) gegenüber Marine Le Pen und dem FN: http://www.la-croix.com/Religion/Catholicisme/France/Dans-lentre-deux-tours-eveques-sous-pression-2017-05-03-1200844338

Zu Henri Tincq: http://www.slate.fr/story/144646/aujourdhui-jai-honte-detre-catholique

Zu Christian Delahaye: http://www.cathobel.be/2017/04/27/france-theologien-christian-delahaye-fustige-certains-eveques/

 

 

Krzysztof Charamsa, Theologe und Kaplan seiner Heiligkeit, legt das schwule Leben im Vatikan etwas frei

Krzysztof Charamsa, Priester und führender Mitarbeiter in der vatikanischen Glaubenskongregation, über Leben, Lieben und Lust der Glaubenswächter.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 3. 5. 2017

Der italienische Untertitel des jetzt auch auf Deutsch erschienenen Buches von Krzysztof Charamsa „Der erste Stein“ ist noch treffender: „Ich, ein schwuler Priester, und meine Rebellion gegen die Scheinheiligkeit (Heuchelei) der Kirche“. Das Buch ist tatsächlich Ausdruck einer Rebellion, des Aufstandes, der Erhebung, der Revolte. Ob diese tatsächlich ausgelöst wird, hängt auch davon ab, wie viele Theologen, Priester, Ordensleute und Bischöfe dieses Buch lesen und daraus Konsequen ziehen. Vielleicht sollten die Verlage dieses Buch jedem Bischof als Geschenk zu Pfingsten zusenden…

Auf Deutsch ist der Untertitel eher zurückhaltend „Der erste Stein“. Mit dem Untertitel „Als homosexueller Priester gegen die Heuchelei der katholischen Kirche“. Das Buch ist Ende April 2017 bei C. Bertelmann erschienen.

Es ist auch für die Interessenten des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons wichtig, weil Religionskritik ein ständiges Thema bleibt. Das Buch ist keineswegs eine bloß aufgeregte, Neugier weckende „Skandalstory“. Es bietet vielmehr die Möglichkeit, durch die Erkenntnisse eines Insiders hinter die (tatsächlich auch im materiellen Sinne vorhandenen) Festungsmauern des Vatikans zu blicken.

Dieses Buch ist ein Dokument, das diese Mauern zwar nicht einreißen wird, aber doch etwas ins Wanken bringen könnte. Es ist wichtig für alle, die die innere Verfasstheit der klerikalen Mitarbeiter an der Spitze der römischen Kirche, also in der Glaubensbehörde, verstehen wollen. Mindestens jeder zweite Priester ist homosexuell, so betont das Buch, aber kaum einer lebt das offen, verzichtet also auf seine persönliche Identität. Das gilt auch für die Kirchenzentrale. Sie wird von Männern geführt, die „scheinheilig“ sind, wie der Buchtitel sagt. Das gerade im Jahr des Reformationsgedenkens 2017 freizulegen, als seit 1517 durch den Mönch Martin Luther die Welt des zölibatären Klerus wenigstens für die evangelischen Kirchen abgeschafft wurde, ist von besonderem Reiz. Das Buch zeigt einmal mehr die jetzt auch wieder allgemeine Erkenntnis, wie wenig sich das System und die Lehren der römischen Kirche tatsächlich durch Luther, auch nur entfernt, „berühren“ oder gar verändern lassen. Alles katholische Rede von ökumenischen Fortschritten heute ist angesichts dieser Dokumente doch sehr marginal

In jedem Fall: Das Buch von Krzysztof Charamsa ist ein durchaus historisch zu nennendes Dokument. Wer einen Vergleich will: Es ist so, als würde eines der führenden Mitglieder an der Spitze einer Parteizentrale das innere Leben, etwa die Korruption und die Verlogenheit dieser Parteizentrale freilegen. Das passiert weltweit selten, weil die Karriere wichtiger ist als das Zeugnis der Wahrheit.

Krzysztof Charamsa jedenfalls hat auf seine glänzende Karriere in der römischen Glaubensbehörde verzichtet. Immerhin hatte er den Ehrentitel Monsignore erhalten und durfte sich als „Kaplan seiner Heiligkeit“ ansprechen lassen.

Das Buch zeigt, dass im Reich des Papstes Scheinheiligkeit stärker ist als die nach außen hin gezeigte Heiligkeit.

Charamsas im engeren Sinne historisch-theologischen Publikationen in italienischer Sprache von 2002 bis 2014 sind eher von einem traditionellen theologischen Konzept, etwa den Interpretationen des mittelalterlichen Thomas von Aquin, geprägt. Er ist als Konservativer, vom Katholizismus Begeisterter, zum Rebellen geworden. Es gab den Bruch, das Nicht mehr Aushalten können der ständigen Verlogenheit, das ihn zum radikalen Abstandnehmen vom System führte: Krzysztof Charamsa hat sich in aller Öffentlichkeit am 3. Oktober 2015 in Rom als schwuler Priester, als Monsignore, als Theologiedozent und führender Mitarbeiter in der Glaubensbehörde, deren Chef der Deutsche Kardinal Müller ist, geoutet und sich zu seinem Partner bekannt. Selbstverständlich wurde er danach von dem zuständigen polnischen Bischof aller seiner Ämter entbunden und als Priester suspendiert, d.h. er darf in der Sicht Roms keine priesterlichen Funktionen mehr ausüben.

Das Buch bietet viele Erkenntnisse zum Zustand der katholischen Kirche, diese Erekenntnisse können hier natürlich nicht in der gebotenen Ausführlichkeit besprochen werden. chließlich soll eine Buchkritik nicht die Lektüre ersetzen, dass die Lektüre empfohlen wird, ist klar.

Es bietet eine Biographie des aus Polen stammenden Autors.

Es berichtet über den Zustand der katholischen Kirche in Polen nach der Wende, über die maßlose hysterische Verehrung des polnischen Papstes, den Kult um seine Denkmäler usw. „Der polnische Klerus besteht aus ideologischen Manipulatoren“ (Seite 53).

Interessant und kaum zu glauben ist der Zustand der offenbar miserable Zustand der Priesterseminare in Polen, nicht nur das schlechte Essen, vor allem das schlimme Niveau der dort gelehrten bzw. eingepaukten Theologie. “Die theologischen Hochschulen, Priesterseminare also, sind große Kasernen , „in denen die Rekruten eines Heeres gedrillt wurden, das im Dienst einer restriktiven Ideologie stand“ (S. 72). Nebenbei: Diese Priester werden nach ganz Europa geschickt, um den im Westen aussterbenden Klerus zu ersetzen…

Überhaupt die Theologie, das wäre ein eigenes Thema: Man erlebt einmal mehr, dass diese dort in den Seminaren Kirchen- Lehre offenbar nur mit Mühe noch Wissenschaft zu nennen ist.

Das Buch zeigt, wie die vielen homosexuellen Priester im Vatikan sich permanent selbst verleugnen und sogar zu expliziten Feinden der Schwulen werden, bloß um nicht aufzufallen und korrekt zu erscheinen. Diese Freilegung des Lügen-Systems, in das der einzelne homosexuelle Priester und Theologe gezwungen wird, ist wohl psychologisch und religionsphilosophisch am bedenklichsten. Theologen, die sich selbst ständig belügen und keine (sexuelle) Identität haben dürfen, kontrollieren als Mitarbeiter der Glaubensbehörde jene Theologen, denen man vorwirft, gegenüber dem Lehramt zu lügen, Irrlehren zu verbreiten. Lügner kontrollieren also so genannte Lügner. Denn die angeblichen „Ketzer“ sind ja nur solche, die kreativ die Theologie etwas voranbringen wollen. Und dann verfolgt werden.

In dem Buch nennt der Autor seine Behörde, die Glaubenskongregation oft „Inquisitionsbehörde“.

Über Papst Franziskus wird oft voller Zustimmung gesprochen. Nur glaubt der Autor nicht, dass der Papst sich gegen die Macht des vatikanischen Apparates durchsetzen kann. Er berichtet, dass bei einem Kongress über die Ehe (gemeint war der Kamf gegen die Homoehe) der Papst sogar eine Rede abgelesen hat, die die konservativen Veranstalter ihm „aufgesetzt hatten“ (S. 175).

Insgesamt zeigt das Buch lang und breit, dass die Mitarbeiter der Glaubenskongregation permanent und ständig vom Thema Homosexualität wie getrieben sind, als gäbe es nichts anderes in dieser Kirche und dieser Welt. In dieser Fixiertheit zeigt sich einmal das narzisstische Verhalten dieser Kleriker. Sie kennen nur sich und die Verleugnung ihrer Identität, um Karriere zu machen, vielleicht einmal Bischof zu werden etc…

Bitter böse ist etwa ein Text, wie ein Gebet, von Krzysztof Charamsa formuliert auf Seite 177: „Gott, segne den Papst und seine Kirche. Aber Gott, halte sie fern von uns. Seine Leute (also der Klerus) können der Menschheit nicht länger den rechten Weg weisen….

An anderer Stelle ein ähnlicher Gedanke: „Das starre System der Kirche muss zerstört werden, damit sie wieder zu einer Kirche der Menschen werden kann, wie ich einer bin“ (S. 280).

Mein Coming out habe ich „der Kirche mit aller Macht ins Gesicht geschrieen“ (280). Mit diesem Buch will Krzysztof Charamsa „nur einen ersten Stein legen, einen Grundstein zu einem Leben in Freiheit“ (259). Zusammenfassend: Charamsa hat „ das Reich der Lüge hinter sich gelassen“ (Seite 281)

Fragen zum Buch:

Bei einer weiteren Auflage des Buches würde ich mir wünschen, dass Krzysztof Charamsa erklärt, warum er das Pontifikat von Papst Benedikt XVI. das „schwulste Pontifikat der Neuzeit“ (S. 165) nennt, sicher weil der deutsche Papst die alten hübschen Gewänder und roten Schuhchen wieder aus der Mottenkiste hervorholte und den Pomp liebte. Sicher auch, dass seine Texte gegen Homosexuelle vor Menschenrechts-Gerichten hätten verhandelt werden müssen. Aber warum mag Charamsa diesen Papst? Warum sagt er kein Wort zu den nun einmal überall kursierenden Erzählungen, von Zeugen belegt, Ratzinger sei selbst „betroffen“, also schwul. Das ist überhaupt nicht schlimm. Schlimm ist die Verleugnung dieser Identität, die zur Verfolgung derer führt, die eben nicht so verklemmt sind wie man selbst!

Bei einer weiteren Auflage des Buches würde ich mir wünschen, dass ausführlicher auf seine Tätigkeit als Dozent in der Universität des Ordens Legionäre Christi in Rom eingeht. Eine Seite zu dem Thema ist zu wenig über diesen immer noch einflussreichen Orden, der jetzt überlebt, ohne seinen Gründer auch nur nennen zu dürfen, nämlich den pädophilen Verbrecher Pater Marcial Maciel. Ein Orden, der förmlich vor Geld stinkt, wie mexikanische Journalisten dokumentieren. Es ist für die Unabhängkeit der Wissenschaft eigentlich ein Skandal, wenn Leute aus der Glaubensbehörde auch noch als Theologiedozenten in der Uni der genannten Legionäre Christi wie auch der Jesuiten-Universität Gregoriana tätig sind. was ist das für ein Niveau? Offenbar findet man diesen Niedergang freier wissenschaftlicher Forschung in Rom normal. Wie wäre es also, dem vatikanischen Vorbild folgend, wenn Beamte des BND Vorlesungen zur Sicherheitspolitik an der Uni halten? Oder der Innenminister als Professor einer Uni die innere Ordnung Deutschlands lehren würde…

Interessant wäre es, wenn man erfahren könnte, wie viel der so gefragte Theologe und Prälat Charamsa als ein hoher Funktionär in der Glaubensbehörde monatlich verdient hat. Woher kommt das Geld für alle diese klerikalen Diener des Systems? Denn die privaten Reisen, von denen die Rede ist, sind ja selbst mit Billigfliegern nicht ganz gratis. Und wie und wo wohnte er als Kaplan seiner Heiligkeit? Vielleicht Seite an Seite mit Kardinal Müller? Da kann man doch Klartext reden!

Dass der Autor keine Namen der offenbar scharenweise homosexuellen Priester in der Glaubenskongregation ist ein bisschen verständlich, man will sich kostspielige Prozesse ersparen. Aber einige Namen betroffener Prälaten usw. sind ja auf anderem Wege doch schon in die Öffentlichkeit gelangt. Warum diese enorme Angst?

Merkwürdig kurz fällt auch der Hinweis auf das reaktionäre polnisch-katholische Rundfunk/Fernsehimperium MARYJA aus. Mich würde interessieren, warum scheitern alle Versuche, den Gründer dieser Propaganda-Maschine, Pater Rydzyk vom Redemptoristenorden, aus dem Verkehr zu ziehen?

Auch über die theologische Fakultät in Lugano (Schweiz) hätte man gern mehr erfahren, an der Krzysztof Charamsa einige Jahre studierte. Diese Fakultät gilt als Zentrum sehr konservativer religiöser Gemeinschaften, wie dem Neokatechumenat. Auch Professoren dieser Lehranstalt, wie Manfred Hauke, er war Assistent bei dem Traditionalisten Prof. Ziegenaus in Augsburg, gehören dem sehr konservativen Flügel an.

Trotz dieser offenen und natürlich vom Autor gewünschten kritischen Fragen (das ist ja demokratische Kultur) ist das Buch durchaus ein historisches Dokument. Zum ersten Mal in der Kirchengeschichte gibt es ein „coming out“ eines prominenten „Kaplans seiner Heiligkeit“. Die traurige Geschichte der Homosexuellen, über die wir so wenig wissen, weil alle Zeugnisse immer vernichtet wurden, bekommt durch das Buch eine neue, durchaus befreiende Bedeutung.

Wird der Apparat der Kirche so dumm sein, und dieses Buch übersehen? Ignorieren? Polemisch belächeln? Schon möglich. Die Macht des Apparates ist leider immer noch gewaltig und gewalttätig. Wie viele Menschen, wie viele Homosexuelle, sind durch die perversen Verurteilungen aus Rom in ihrem Leben irritiert und zerstört worden? Wer spricht von den vielen Opfern? Wann finden Bußgottesdienste der (selbst schwulen) Kardinäle in Rom statt, in denen sie sich heftig entschuldigen, für alles Leid, das sie und ihre Vorgänger homosexuellen Menschen angetan haben und antun. Die Festpredigt sollte dann der Priester Krzysztof Charamsa halten. All das wird in diesem Jahrhundert nicht mehr passieren. Die Mauern des Vatikans sind “ewig”, und die Insassen dieses geistigen (leiblichen) Gefängnisses sind noch stolz auf diese „Ewigkeit“…

Copyright: Christian Modehn . Religionsphilosophischer Salon Berlin.