Von der Wunderkraft des Spielens. Drei Fragen an Wilhelm Gräb

Von der Wunderkraft des Spielens

Drei Fragen an Wilhelm Gräb (veröffentlicht am 2. Juni 2014)

Bei den Fußballweltmeisterschaften, wie nun in Brasilien, ist von Spiel und Spielen nur dann die Rede, wenn das Aufeinandertreffen zweier Mannschaften im Stadion gemeint ist. Ansonsten dominieren bei der WM Begriffe wie Stars und Geld, reibungsloses Funktionieren und Kampf, Stärke und Nationen. Warum macht es angesichts dieser offensichtlichen „Eindimensionalität“ dennoch Sinn, unbedingt den Begriff Spiel in seiner ganzen Breite zu bedenken und das Spielen zu pflegen? Handelt es sich beim Spielen, im ursprünglichen Verständnis, doch um mehr als um eine nette Kinderei?

Wenn Kinder spielen ist das ja keine Kinderei. Wenn Kinder spielen, entdecken sie sich selbst als die Subjekte ihres Handelns. Ja, mehr noch, sie erleben, dass sie selbst entscheidend an der Errichtung ihrer Welt beteiligt sind, dass es auf sie selbst ankommt und auf das, was sie aus den ihnen ebenso vorgegebenen wie zugleich von ihnen selbst gesetzten Möglichkeiten machen. Das Spiel ist im Grunde die reine Form des Erlebens des Lebens. Spielregeln und Spielfiguren sind vorgeben, doch gerade nicht uns unzugänglich vorgegeben. Die Spieler kennen die Regeln und können sie je nach Vereinbarung auch selbst verändern. Die Spielregeln schaffen die Bedingungen, unter denen das Spiel überhaupt gespielt werden kann. Das Spiel zu spielen heißt dann, sich frei in ihrem Rahmen zu bewegen und, auf Sieg setzend, das Beste aus den Möglichkeiten zu machen, die die Spielregeln eröffnen. Wenn wir spielen, tun wir im Grunde nichts anders als uns unter selbst gesetzten wiewohl nicht beliebig veränderbaren Bedingungen im Raum der Freiheit zu bewegen.

Das Spiel ist der Erprobungsraum der Freiheit, auch das Fußballspiel. Davon hat es seine Faszinationskraft. Die Spielregeln müssen eingehalten werden. Aber welche vielfältigen Möglichkeiten, das Spiel aufzuziehen, setzen sie in Gang!  Für den Erfolg ist die kluge Strategie ebenso entscheidend wie der persönliche Einsatz und das Können jedes Spielers. Bringt wiederum der einzelne seinen Ehrgeiz und sein Talent nicht auf mannschaftsdienliche Weise ein, wird keiner gewinnen, der einzelne ebenso wenig wie das gesamte Team.

So ist es auch im wirklichen Leben. Nur dass wir im wirklichen Leben das Spiel des Lebens nie um seiner selbst willen spielen können. Im wirklichen Leben können wir die Möglichkeiten unserer Freiheit nicht erproben, weil die Folgen unseres Handelns nicht auf den Rahmen beschränkt bleiben, die dem Spiel mit seinen Spielregeln gesetzt sind. „Das Runde muss ins Eckige.“ „Das Spiel dauert 90 Minuten.“ Diese Fußballweisheiten halten auch die Folgen der Freiheit in den Grenzen des Spiels. Das wirkliche Leben hingegen ist kein Spiel. Wir überschauen die Bedingungen, unter denen wir es zu führen haben, nie vollständig. Genauso wenig können wir seine Folgen letztlich verantworten, eben weil wir das „Insgesamt“ der Bedingungen unseres Handelns nicht kennen.

Im Spiel erleben wir das Leben wie es sein könnte, wenn es nach den Regeln gespielt würde, die wir kennen, die wir akzeptieren, auf die wir uns verständigt haben. Weil wir solche Spiele bei der bevorstehen Fußballweltmeisterschaft wieder erleben werden, wird der Funke erneut überspringen. Wir werden unser Leben gesteigert erleben. Wir werden mit unser Mannschaft mit fiebern, aber nicht nur das, uns überhaupt an schönen Fußballspielen erfreuen, an gelungenen Spielzügen, dann, wenn der Kampf ins Spiel führt, er aber dennoch den Sieg nicht zu garantieren vermag. Die WM wird das ganze Land in einen Ausnahmezustand versetzen, auch wenn wir alle wissen, dass es zugleich um Geld und Profit, um Macht und nationale Überheblichkeiten geht. Es sind eben Spiele mitten im wirklichen Leben.

Beim Spielen der Erwachsenen, etwa den „Gesellschaftsspielen“, entstehen auch Welten jenseits der Wirklichkeit. Und Utopien werden für einige Stunden spielerisch Realität. Wenn aber inmitten des Spiels Neues entdeckt und Unbekanntes respektiert wird, kann man dann nicht meinen: Im Spielen werden wir in die Transzendenz, vielleicht sogar ins Religiöse, gewiesen?

Man kann das Spiel durchaus mit heiligen Liturgien vergleichen. Denn in den Ritualen der Religion wird ebenso nach selbst gesetzten Regeln eine dem wirklichen Leben enthobene Vorstellungs- und Glaubenswelt errichtet. Die kirchlichen Gottesdienste haben heute jedoch das Problem bei sich, dass sie nicht mehr als ein gesteigertes Erleben des Lebens empfunden werden. Es kommt zumeist nicht zur leibhaften Erfahrung, dass es die uns Menschen verheißenen Möglichkeiten eines gelingenden Lebens sind, in die einzutreten die Religion uns in Aussicht stellt. In Wahrheit ist der religiöse Vollzug jedoch ein Akt der Selbsttranszendierung, der uns aber auf unsere alltägliche Wirklichkeit zurückkommen lässt – mit einem veränderten Blick auf die Dinge des Lebens.

Die Veränderung des Blicks auf die Wirklichkeit geschieht dadurch, dass die Religion uns nicht in die Bewältigung des Lebens einbindet, sondern unseren Sinn öffnet für den Sinn, dem es insgesamt folgt und von dem es sich mit jedem Atemzug getragen wissen kann. Und das ist es, was im gesteigerten Erleben des Lebens geschieht. Wir bekommen ein Gespür dafür, was es heißt, zu leben. Wir merken, wie sich das Leben, das wir haben und, ja, zielorientiert führen müssen, anfühlt. Wir bekommen einen Geschmack für das Leben. Der ist immer ambivalent, schwankend zwischen Lust und Unlust, Freude und Schmerz, Liebe und Hass, Sieg und Niederlage. All diese Ambivalenzen versuchen wir z.B. im Gebet, dem exemplarischen Akt religiöser Selbsttranszendierung, zum Ausdruck zu bringen. In all diese Ambivalenzen werden wir aber auch fühlbar, uns emotional emphatisch ergreifend, durch das Spielen hineingezogen – wenn wir selbst mitspielen, aber auch wenn wir bei der Weltmeisterschaft wieder mit unserer Mannschaft mit fiebern.

Wie in der Religion verfolgen wir im Spiel nicht die Zwecke und Notwendigkeiten des wirklichen Lebens. Und doch ist es uns ganz ernst mit ihm. „Es geht nicht um Leben und Tod, es ist viel schlimmer…“ soll Bill Shankly vom FC Liverpool einst gesagt haben. Recht hat er. Denn im Spiel erleben wir in einer Unmittelbarkeit und Direktheit die Geschicke des Lebens wie dies im wirklichen Leben nie der Fall ist, eben weil das Leben dort in seiner Ganzheit gar nicht vor uns kommt, weder sein Anfang noch sein Ende von uns bewusst erlebt werden. Nur dort, wo das Leben aus seinen Daseinsnotwendigkeiten heraustritt und zwecklos mit sich selbst ins Spiel kommt, kommt uns in unserem Gefühlsbewusstsein auf ergreifende Weise zur Präsenz, was es heißt zu leben.

So sehr auch das Spielen Kreativität und Phantasie freisetzt, so gelten doch immer – auch beim Fußball und den Spielen der WM – feste Spiel-Regeln. Die werden im Stadion von den Mannschaften oft streng respektiert. Es ist aber paradox, dass dieser Respekt vor diesen Spielregeln nicht zu einem umfassenden Fair Play im Alltag, in der Gesellschaft, führt. Macht dieser Bruch zwischen Fair Play im Stadion und unfaires, ungerechtes Handeln im Alltag, diese Form der hochgepushten WM Spiele nicht doch letztlich bedeutungslos für die Gesellschaft?

Wir wissen alle, dass die FIFA korrupt ist, das Bestechungsgelder bei der Vergabe der Spiele in Strömen fließen, dass jetzt in Brasilien die Leute auf die Straße gehen, weil – wie schon vor 4 Jahren in Südafrika – Unsummen für den Bau der Stadien ausgegeben werden, an Orten, an denen die Spielstätten nachher überhaupt nicht mehr gebraucht werden, Geld, das für infrastrukturelle Maßnahmen gerade in den schwach entwickelten Gebieten des Landes dringend gebraucht würde. Dennoch werden in Brasilien wohl alle die Spiele mit größter Spannung verfolgen. Bei uns werden sich auf der Fan-Meile vor dem Brandenburger Tor wieder Hundertausende versammeln. Die anderen werden vor dem Fernseher sitzen und ihre Freunde zur Grillparty einladen. Ich bin mir ziemlich sicher, es wird wieder ein Fußballfest werden, vielleicht kein Sommermärchen wie vor 8 Jahren, als die WM in Deutschland stattfand, aber dennoch werden wir alle – wenn nur unsere Mannschaft weit genug kommt – in eine erhöhte Form des Daseins gelangen.

Das schaffen die Spiele aus der dem Spiel eigenen Kraft – trotz unseres Wissens um die völlig überzogenen Gehälter, die die Spieler kassieren, das finanzielle Fiaskos, in das die WM die gastgebenden Länder schickt, die ausschließlich kommerziellen Interessen, die seine Veranstalter verfolgen. Gerade weil im Spiel das Leben in seiner ganzen Ambivalenz als ein Geschehen erfahren wird, in das wir selbst auf subjekthafte Weise einbezogen sind, dessen Regeln wir aus freier Einsicht zustimmen können und das in seinem Ausgang dennoch auf spannungsvolle Weise offen bleibt, bringt es uns tiefer in Kontakt mit uns selbst. Wir erleben unser Leben und werden dabei dessen gewahr, dass wir aller eigenen Anstrengung und auch allem Fair Play zum Trotz sein Gelingen nicht in der eigenen Hand haben. Dessen aber bewusst zu sein, genau das ist Religion.

Die Fragen stellte Christian Modehn. Wilhelm Gräb ist protestantischer Theologe und Professor an der Humboldt Universität zu Berlin. Sein besonderes Interesse gilt einer aktuellen “liberalen Theologie”

Copyright: Wilhelm Gräb und „Religionsphilosophischer Salon Berlin“