Das “Mystische” und das “Unaussprechliche” – Wittgensteins Einsichten

Von den Tatsachen zur Mystik
Hinweise von Christian Modehn
Anläßlich des 125. Geburtstages (26.4.) und des 60. Todestages (29.4.) von Ludwig Wittgenstein (1889-1951).

Ludwig Wittgenstein ist ein Philosoph, der „aus dem Rahmen“ üblicher Bilder vom Philosophen fällt. Aus reichem Hause stammend, verschenkt er sein Erbe. Er sucht vielfältige Lebens –und Arbeitswelten, er war u.a. Architekt und er arbeitete als Gärtner, er war Grundschullehrer und Professor, er lehrte in Cambridge und liebte die Einsamkeit in dem selbst entworfenen Haus in den Wäldern Norwegens… (Welche inhaltliche Beziehung gibt es zwischen der Hütte Wittgensteins in Norwegen und der Hütte Heideggers im Schwarzwald? Dies wäre eine spannende Frage).

Ludwig Wittgenstein legt allen Wert auf Klarheit und Eindeutigkeit der Sprache und damit des Denkens. Damit will er Wahnvorstellungen und Sinnloses als solches freilegen: „Alles, was der Philosoph tun kann, ist, Götzen zu zerstören. Und das heißt, keinen neuen Götzen, etwa in der = Abwesenheit eines Götzen =, zu schaffen“.
In einem Brief an Bertrand Russell schreibt er: „Die Hauptsache für mich ist die Theorie über das, was durch Sätze gesagt (und gedacht) wird und was nicht durch Sätze ausgedrückt, sondern nur gezeigt werden kann“.
Sinnvoll sagbar/denkbar ist für Wittgenstein nur, was sich als Tatsachen der Welt präsentiert.

In diesem Bemühen hat er kein philosophisches System geschaffen, sondern eher Essays, manche sagen Fragmente, hinterlassen, die klar Grenzen ziehen zwischen dem Sagbaren/ Denkbaren und dem Nicht Sagbaren/Denkbaren. Dieses kann die Philosophie nur „bedeuten“, also aufzeigen und sehen lassen, ohne es eindeutig besprechbar zu machen. Dieses ist das „Unaussprechbare“.

Für Wittgenstein ist das Mystische die Einsicht: Dass es die Welt gibt. Auf dieses nicht begründbare und besprechbare DASS kommt es an. Wittgenstein hat dieses DASS in das Zentrum seines Denkens gestellt, wenn er etwa von den Grenzen der empirischen Wissenschaften spricht. Naturwissenschaft kann nur das Wie der Welt beschreiben, sie kann aber das Gegebensein der Welt, dieses DASS, nicht philosophisch erklären.

„Für Wittgenstein folgt das Mystische aus der Begrenztheit von Denk- – und Sagbarkeit…. Das Mystische ist das Andere des Logischen des Denkbaren, des Sagbaren“ , schreibt Chris Bezzel, in: Wittgenstein, Stuttgart 2007, S. 75. In seinem Tractatus (6.45) schreibt Wittgenstein: „Das Gefühl der Welt als begrenztes Ganzes ist das mystische“. Es geht also um ein „gefühlvolles“ Sehen des Ganzen der Welt, dieses Ganze ist nicht mehr sagbar, sondern es kann nur „bedeutet“, also gezeigt werden, und dabei zeigt sich dieses Ganze als das Unaussprechliche.

Wenn man diese Erkenntnis auf die gelebte Form der Religion überträgt, kommt der Theologe Kurt Studhalter zu der Einsicht: „Philosophie hat zu beschreiben, wie religiöse Menschen in welchem Lebenskontext reden. Sie hat darauf zu achten, wie religiöse Ausdrücke gebraucht werden, in welchem „Sprachspiel“, in welcher „Lebensform“ (in: Ludwig Wittgensein, Junius Verlag, 2011, zur Wittgenstein Ausstellung im Schwules Museum Berlin , S. 134).
Kurt Studhalter erinnert auf Seite 135 an eine Tagebuch Notiz Wittgensteins: „An einen Gott glauben, heißt die Frage nach dem Sinn des Lebens verstehen. An einen Gott glauben, heißt sehen, dass es mit den Tatsachen der Welt noch nicht abgetan ist“.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

“Atheisten contra Theisten” ist überholt

Gott, Götter, Gotteswahn

Die »neuen Atheisten« wenden sich aggressiv gegen die Religion. Doch die klassischen Fronten sind längst von gestern

Von Christian Modehn (Dieser Beitrag erschien in der empfehlenswerten Zeitschrift PUBLIK – Forum am 22. April 2011)

Viele Menschen können der Erkenntnis des Philosophen Friedrich Nietzsche, dass Gott »tot« sei, aus eigenem Erleben nicht zustimmen. In einer Art Kontrapunkt zu Nietzsche wird vor allem in Kreisen der christlichen Evangelikalen und Charismatiker mit fundamentalistischer Bravour an der wörtlichen Auslegung der Bibel festgehalten: Gott ist dann für diese immer zahlreicher werdenden Kreise »allüberall wunderbar sichtbar«. Er wird wie ein selbstverständlicher Gegenstand dieser Welt gepriesen.

Gegen diesen naiven Glauben wenden sich die »neuen Atheisten«. Viele von ihnen wissen genau, dass es auch kritische Christen und moderne Theologen gibt, die ihren Gottesglauben differenziert und keineswegs naiv begründen. Doch halten die Atheisten diese »liberalen« Kreise für »Religion light«, die nach ihrer Überzeugung alsbald verschwinden wird und deswegen nicht der Auseinandersetzung bedarf.

Mit diesem engen Blickwinkel verbreitet zum Beispiel der philosophierende Biologe Richard Dawkins seit 2006 seine antireligiösen Slogans. Einer seiner Sprüche heißt: »Der Glaube an Gott ist eine entsetzliche Krankheit, die ausgerottet werden muss.« Mit seinem Buch »Der Gotteswahn« will er suggerieren, eine Welt ohne Religion sei die beste aller Welten. In mehr als dreißig Sprachen ist dieses Pamphlet erschienen, es hat viele Millionen Käufer gefunden. Die Wirkungen seiner »Gotteswahn«-Kampagne sind weltweit zu spüren: So schreibt The Cambridge Companion to Atheism, ein Handbuch zum Atheismus aus dem Jahr 2008: »Es gibt heute weltweit mindestens 505 Millionen, höchstens 749 Millionen bekennende Atheisten.«

Dieser neue Atheismus will sich in seiner Kritik nicht – wie der radikale Unglaube des 18. Jahrhunderts (Helvetius, Lamettrie, Diderot) – auf die gebildeten Kreise beschränken. Er will auch nicht primär die politische Unterdrückung aufheben. Vielmehr soll eine antireligiöse Mobilisierung der sich selbst als »vernünftig« bezeichnenden Ungläubigen stattfinden. »Es geht um eine säkulare Alternative zur Religion, also um eine Weltanschauung«, sagt der Philosoph und Schriftsteller Michael Schmidt-Salomon, Vorstandssprecher der Giordano Bruno Stiftung und führender »neuer Atheist« in Deutschland.

Auch wenn wahrscheinlich nur wenige die Bücher von Dawkins zu Ende gelesen haben: Seine polemischen Sprüche gegen jede Religion haben sich in vielen Köpfen festgesetzt. So starteten am 12. April zum Beispiel in Luxemburg erneut missionarisch werbende Info-Busse. Sie fahren durchs Land mit dem Motto: »Nichtreligiöse sollen stolz sein auf ein rationales und vernunftorientiertes Weltbild.« Ähnlich wie Papst Benedikt XVI. beanspruchen diese atheistischen Zeitgenossen, »die Vernunft« zu vertreten und definieren zu können, was »normal« sei. Wie sehr sich doch fundamentalistische Argumente aus unterschiedlichsten weltanschaulichen Kreisen ähneln können …

Die neue atheistische Bewegung hat zahlreiche Kritiker auf den Plan gerufen. Doch sie fanden nicht jene mediale Aufmerksamkeit, wie sie die Kontrahenten bekamen. Der britische Theologe Alister McGrath zielt ins Zentrum der Debatte, wenn er sagt: Dawkins folge einem wissenschaftlich überholten naturwissenschaftlichen Weltbild. Denn für den Zoologen seien die Naturwissenschaften »der« einzige Schlüssel zum Verständnis »der« gesamten Wirklichkeit. »In der Naturwissenschaft geht es aber gar nicht um Gott«, hält ihm McGrath entgegen, »und kann es methodisch auch nicht gehen.«

Diesen Denkfehler hätten die neuen Atheisten genauso wenig eingesehen »wie ihre Hauptfeinde, die frommen Vertreter des Intelligent Designs eines göttlichen Schöpfers«, betont ein anderer Theologe, der US-Amerikaner Philip Clayton. Die Naturwissenschaften könnten und wollten niemals »alles erklären« – auch wenn Intelligent Designer dies behaupten.

Der nicht gerade religionsfreundliche deutsche Philosoph Peter Sloterdijk kann Dawkins’ Buch nur als »Seichtheit« zur Seite legen und deswegen ignorieren. Die Philosophin Susan Neiman, Direktorin des Einstein-Forums in Potsdam, meint: »Ich finde, Religion nicht ernst zu nehmen ist eine Verachtung der Welt, in der die meisten Menschen heute leben und denken. Die Ansicht Dawkins’, religiöse Menschen seien allesamt irrationale Idioten, ist einfach selber Ausdruck reiner Ignoranz.« Der international geschätzte italienische Philosoph Gianni Vattimo geht noch weiter: »Heute gibt es keine überzeugenden philosophischen Gründe mehr dafür, Atheist zu sein oder die Religion abzulehnen.«

Ungeachtet dieser Kritik gibt es in vielen Ländern Propagandazentren für Dawkins’ philosophierende Biologie. In Deutschland ist es vor allem die Giordano Bruno Stiftung. Sie hat den »Gotteswahn« »als das beste religionskritische Buch« hoch gelobt. Ihr medial allgegenwärtiger Haus-Philosoph Michael Schmidt-Salomon propagiert unbeirrt den Naturalismus als »das Prinzip schlechthin«.

Die Dachorganisation der Atheisten und Konfessionslosen, der Humanistische Verband Deutschlands (HVD), steht den Thesen Schmidt-Salomons zwiespältig gegenüber. Einerseits ist die Giordano Bruno Stiftung mit dem viel beachteten Humanistischen Pressedienst eng verbunden. »Auf der anderen Seite ist für Humanisten der Atheismus kein ausschließlicher Bezugspunkt«, sagt Horst Groschopp von der Humanistischen Akademie in Berlin. Er weist »einen Krawall-Atheismus« zurück. Groschopp und der HVD wollen sich lediglich um die rund dreißig Prozent konfessionsfreien Bürger in Deutschland kümmern und deren Rechte vertreten; neuerdings vor allem mit der Forderung, endlich auch in Deutschland einen »Universitätslehrstuhl für Humanistik« einzurichten.

Die Kirchen haben noch kaum Konsequenzen aus der Tatsache gezogen, dass viele Argumente aus neuatheistischen Kreisen vor allem kirchenkritisch, man möchte sagen: »antiklerikal« gemeint sind. Klar ist: Nur eine authentische, materiell bescheidene, aber geistig hoch sensible kritische Kirche kann den neuen Atheisten konstruktiv begegnen. Die uralten naiven Gottesbilder sind definitiv zerbrochen. Gott kann nur als Geheimnis, nicht aber als irgendwie greifbare Tatsache ins Gespräch gebracht werden.

Doch es gibt in der Gesellschaft längst einen neuen, fest etablierten Theismus – und der heißt: Verehrung von Göttern mit unterschiedlichsten Namen: ständiges Wirtschaftswachstum, Geld, Profit, Abgrenzung, Krieg gegen die Armen. Angesichts dieser neuen Götter werden Christen selbst zu »A-Theisten«. So können sie ins Gespräch mit den »neuen Atheisten« treten. Die klassische Feindschaft zwischen »Atheisten« und »Theisten« wirkt im Blick auf diese neuen Götter veraltet.

“Das echte Leben”. Monat der Philosophie in Holland

Was ist das „echte, das authentische Leben“?
Zum 10. Mal findet in Holland der „Monat der Philosophie“ statt.
Alle Freundinnen und Freunde der Philosophie können aufatmen: Während in Deutschland die Philosophie und das Philosophieren gesellschaftlich immer noch ein eher marginales Dasein fristen, trotz einiger „philosophischer Praxen“ und einiger philosophischer Cafés: In Holland sind die Menschen von der Philosophie begeistert. Immer mehr Verlage drucken philosophische Bücher; die sehr ansehnliche Monatszeitschrift „filosofie magazine“ erscheint nun schon im 20. Jahr und hat eine Auflage von 17.000 Exemplaren, das ist für den relativ kleinen Leserkreis der Niederlande (16 Millionen Einwohner) sehr beträchtlich. Zur „Nacht der Philosophie“ im klassischen Kulturzentrum „Felix Meritis“ in Amsterdam kamen am 8. April 800 Teilnehmer zusammen, junge und ältere Menschen, in Holland geborene „Autochthone“ wie auch viele Menschen anderer Kulturen. Gäste waren u.a. Peter Bieri, Berlin und Susan Neiman, Direktorin des Einstein – Forums Potsdam. Von abends um 8 bis bis nachts um 2 wurde diskutiert und nachgedacht; ab Mitternacht sorgten Musiker für eine Auflockerung des Denkens. Der finanzielle Rahmen für solche äußerst erfolgreichen Termine scheint gesichert zu sein: In jedem Jahr wird ein eigens geschriebener philosophischer Essay unters Volk gebracht, in diesem Jahr hat die junge Philosophin Stine Jensen ein äußerst anregendes Buch über Intimität und Freundschaft durch „facebook“ geschrieben, „Echte Vrienden“ ist der Titel des 122 Seiten umfassenden Buches, es liegt stapelweise in den Buchhandlungen und kostet nur 4, 95 Euro. Im ganzen Land finden insgesamt 200 philosophische Veranstaltungen im April statt, die Themen sind alles andere als abstrakt und verstaubt, es geht um Philosophie und popmusik, um Wahrheit und Lüge, die Auseinandersetzung mit dem Tod, Philosophie und Arbeit usw… Oft sind philosophische Cafés die Träger dieser Initiative, wie etwa die Gemeinde der protestantischen freisinnigen Kirche der Remonstranten in Haarlem, die allein vier Veranstaltungen im April anbieten. Der Philosoph Marc de Kesel diskutierte dort z.B. über die Notwendigkeit des Zweifels in jeder monotheistischen Religion. Vor 10 Jahren hat dieser Monat der Philosophie bescheiden gestartet, heute ist er aus dem kulturellen Leben in Holland nicht mehr wegzudenken. Der Erfolg verdankt sich einer kleinen, energischen Gruppe von Philosophen, die das Denken aus dem Elfenbeinturm der Universitäten befreien wollen. Sie haben Erfolg gehabt! Sie haben eine Stiftung gegründet, die ohne öffentliche Unterstützung auskommt. Den diesjährigen Preis im philosophischen Monat erhielt der Philosoph Hans Achterhuis (Universität Twente), vor allem als Anerkennung für sein neuestes Buch: „De utopie van de vrije markt“. (Die Utopie vom freien Markt).

Siehe www.filosofiemagazine.nl
www.maandvandefilosofie.nl

Die Energie indigener Kultur und Religion

Die Energie indigener Kultur und Religion: Eine bedeutende Quelle des Widerstands und der Lebensgestaltung
Alfons Vietmeier schreibt aus Mexiko
“Der andere Blick”, Ausgabe April 2011

1.
Am Sonntagnachmittag des 20. März bewegen hunderttausende ihre Arme hin zur abendlichen Sonne: Diese Menschen bewegen und schütteln Hände und Arme, sie tanzen dabei in kleinen Kreisen im Reigen. Es ist genau die Stunde des Frühlingsbeginns. Zu Füßen der großen Sonnenpyramide von Teotihuacan (etwa eine Autostunde entfernt von der Megacity Mexiko) sind es etwa 50.000 Menschen nach Schätzungen der Medien und insgesamt eine halbe Million in den verschiedenen archeologischen Zonen. “Wir füllen uns mit kosmischer Energie. Diese braucht unsere Seele: Ich selbst und wir hier und unsere Gesellschaft. Denn wir alle sind schlimm entseelt”, erzählt eine junge Frau im Interview in den Abendnachrichten. “Ich bin Biologin. Unsere Gruppe hier arbeitet in der Universität und wir wissen was los ist. Überall Gewalt, unter uns Menschen und gegen die Natur! Schaut doch mal jetzt, was in Japan passiert ist! Und vor einem Jahr bei der Erdöltiefbohrung im Golf von Mexiko… Ist das Fortschritt, wenn wir Überfluss haben, immer mehr Milliardäre …sowie schädliche Energie, Katastophen …und vor allem immer mehr Müll produzieren? Der Krebs nimmt zu und vernichtet unsere Körperzellen. Auch unsere Gesellschaft insgesamt hat Krebs. Deshalb sind wir hier. Die Weisheit unserer Vorfahren, ihre Kultur und Religion erfüllt uns mit Energie!”
Wer sind diese Hunderttausende? Es ist ein buntes Gemisch aus vielen jungen Familien und Jugendlichen die eine “Event- Atmosphäre” geniessen, viele Anhänger neuer religiöser New-Age-Bewegungen sind dabei, viele Verunsichterte aus der großstädtischen Berufswelt, die “irgendwie” spüren, dass ihr Leben immer sinnloser wird. Sie finden keine reale affektiv – solidarische Alternative in ihren Kirchen; eine wachsende Szene der “Eine andere Welt ist möglich” – Bewegungen, unter ihnen auch viele Akademiker und dann natürlich auch traditionelle indigene, also “indianische” Organisationen. Und da fast alle hier zumindest “irgendwas” an “Indio – Blut” in sich haben, ist deren Kulturerbe und ihre Utopie das Verbindende.

2.
Nach den neuesten Daten des Statistischen Bundesamtes gehören von den 112 Millionen Mexikanern etwa 15 %, d.h. über 18 Millionen Personen, zu den über 50 registrierten Indio – Volksgruppen. In Wirklichkeit ist der Prozentsatz erheblich höher, wenn kulturelle und religiöse Kriterien hinzugenommen werden. Die zahlenmäßig stärksten Volksgruppen sind beheimatet in den Bundesländern Yucatan (Maya Yucateco), Chiapas (Tzotzil, etc.), Oaxaca (Zapteken und Mixteken), Veracruz und Guerrero. In der Megacity Mexico wohnen mehr als doppelt so viele Indios wie es indianische Völker in ganz Brasilien gibt. Sie überleben und widerstehen. Ihre Zahl nimmt zu, sie haben mehr Kinder als andere. Mexiko hat also nicht nur eine reiche Indio – Vergangenheit, die in Museen zu bewundern ist, sondern eine gewichtige indigene Gegenwart. Und: Die Energie ihrer Kultur und Religion ist ganz wichtig, um die schwierigen Zeiten auszuhalten und persönliche, soziale und gesellschaftliche Zukunftsperspektiven zu vitalisieren.

3.
Worin besteht diese Energie? Die indigenen Völker in Lateinamerika haben sich über Jahrtausende, selbständig und ohne Fremdeinfluss, ihre Antworten erarbeitet auf die vitalen Grundfragen menschlicher Existenz:
Wie können wir überleben? Ökologie und Ökonomie gehen Hand in Hand, Gemeinwirtschaft gibt es ohne Privateigentum, Tauschwirtschaft ohne Gold und ohne Geld, etc.
Wie können wir zusammenleben? Es gibt ein komplexes Dienstsystem an der Gemeinschaft: Jeder ist irgendwann in jedem Dienst eingespannt; für jeden Dienst gibt es eine Feder und alle Dienste zusammen ergeben den großen Federschmuck und das Recht der Teilnahme am “Rat der Weisen”.
Wie können wir dies alles mit den kosmischen Kräften verknüpfen, die unsere Existenz ordnen? Alles, was wir sind und schaffen, ist verknüpft mit dem Ganzen und alles ist durchwoben von göttlicher Energie, die immer neu Leben schafft, erhält und erneuert.
Der Mond macht die weiblichen Dimension (Monatsregel) des Kosmos sichtbar, also alles, was mit Fruchtbarkeit, Geburt und Erhalt von neuem menschlichen Leben und dem Leben der Natur zu tun hat. Es gibt einen naturbedingten Rhythmus des Jahres und des Lebens. Es ist der Weg vom Süden (tropische Lebensfülle) in den Norden (Kälte und Tod). Deshalb gebührt der “Mutter Erde” Respekt und Pflege, denn sie erhält uns. Sie darf deshalb z.B. nicht in Privatbesitz zerstückelt oder genetisch manipuliert werden. Sie wird in einer religiösen Zeremonie um Erlaubnis gebeten, das Feld zu beackern… Das Leben von Natur und Mensch ist mittels eines Mondkalenders geordnet.
Dieser Naturrythmus wird täglich durchkreuzt von der Sonne, der männlichen Dimension des Lebens. Die Sonne geht auf (wird geboren) in Osten und geht unter (stirbt) in Westen. Die Sonne wird damit zum Ordnungssymbol für den täglichen Einsatz um ein gutes und gerechtes Miteinander. Das konkretistert sich dann im sozialen und politischen System, das das Gemeinwohl garantiert. Dies wird mittels eines Sonnenkalenders geordnet.
Beide Dynamiken durchkreuzen sich täglich und bilden das “Kreuz des Lebens”. Insofern ist die göttliche Energie immer fruchtbar in der Ergänzung zweier Kräfte: Frau und Mann, Sonne und Mond, Tag und Nacht, Leben und Tod… Es gibt nur Leben – Sinn – Zukunft im Miteinander von beiden.
Die symbolische Synthese dieser Kosmovision – Philosophie / Theologie finden wir im Quetzalcoatl – Mythos die “gefiederte Schlange”: Als Schlange lebt sie in der Erde und verkörpert Leben und Tod. Und sie bekommt Federn, d.h. Himmel und Erde integrieren sich. Transzendenz in Immanenz, und umgekehrt. Wäre das nicht dialogfähig zum Thema “Christus”?

4.
Mir geht es hier keinesfalls darum, die indigene Kultur und Religion zu idealisieren. Im realen Geschichtsverlauf hat sich eine pyramidalen Mehrklassengesellschaft herausgebildet, es gab grausame Könige, Menschenopfer und Kriege.
Aber es gab vor allem auch die Eroberung durch die Spanier: Das war ein dramatischer Schock zweier Welten, Kulturen und Religionen mit brutalen Siegern und vergewaltigten Verlierern, ein noch heute andauerndes Trauma. Der große Anthropologe und Soziologe Tzvetan Todorov hat das in seiner Studie “Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen” differenziert herausgearbeitet bezüglich der Alterität, d.h. der Schwierigkeit bis Unfähigkeit, mit anderer Kultur und Religion adäquat umzugehen. Ein wirklicher interkultureller und interreligiöser Dialog auf Augenhöhe war tragischerweise damals unmöglich und ist bis heute nicht einfach. Um von Deutschland zu sprechen: Liegt hier nicht auch heute noch ein Schlüsselproblem im Umgang mit dem Islam?
“Die offene Adern Lateinamerikas”, das berühmte, beinahe klassische Buch von Eduardo Galeano ist weiterhin gültig in seiner Grundstruktur: Der Herrschaftskontext ist fast immer auf Ausbeutung orientiert: Die offenen Adern von Natur (Bodenschätze) und Menschen (Arbeitskräfte) bluten weiter aus…
Mir ist wichtig zu unterstreichen, dass in der mexikanischen Volksseele, d.h. in ihrem “kollektiven Unbewussten” (um einen Begriff von C.G. Jung aufzugreifen), die Grundelemente indigener Kultur und Religion weiterleben, aber unerklärt und ohne entsprechendes kritisch – erneuerndes Bewusstsein. Darüber gestülpt wurden die religiösen Gebräuche spanisch – katholischen Frömmigkeit des 16. Jahrhunderts und Katechismusnormen der Gegenreformation, Beides als das neue “Über – Ich”.
So entstand die typisch mexikanische Volkfrömmigkeit. Für die Menschen, insbesondere wenn sie arm, unterdrückt und ohne Schutz leben, sind religiöse Ausdrucksformen (Zeichen und Riten) notwendig, um so Vitales wie Geburt und Tod, Krankheit und Konflikten, die Freuden einer Hochzeit oder einer gelungenen Ernte mit dem Göttlichen zu verbinden und Gnade zu erfahren. Was als heilsam erfahren wurde von der ererbten Religion (und nicht direkt verboten bzw. verteufelt wurde), das wurde beibehalten. Und was von der neuen (christlichen) Religion nicht als Widerspruch zum Traditionellen erlebt wurde, das wurde integriert. Das Ergebnis ist viel Synkretistisches. Ich möchte das kurz erläutern an den beiden Ursymbolen “Mond” und “Kreuz”:
Das göttlich Weibliche als Urenergie hat sich in der Mariengestalt, der “Señora de Guadalupe” verdichtet. Sie ist “Gott und Mutter”, die immer hilft, wenn Not ist. Sie tröstet, heilt und ermutigt. Ihr Heiligtum steht auf einem vorspanischen Wallfahrtsort der “Mutter Erde” (Tonantzin). Es gibt kaum eine Familie, kaum ein Taxi, einen Markt oder oder ein Geschäft, beinahe alle verehren ihr Bild in einer Art “Herrgottswinkel”. In dieser Mariengestalt und mit ihr humanisiert sich unser familiärer und sozialer Alltag. Sicher hat das Tröstliche viel mit Verdrängung zu tun. Hier wird deshalb die Wichtigkeit der Basisgemeinden und der befreienden Erziehung (Paolo Freire) deutlich.
Das göttlich Männliche hat sich in verschiedenen Figuren des “Gekreuzigten” verdichtet: Er ist “Gott und solidarischer Bruder”. Sein Erleiden von Gewalt ist auch unsere brutale Alltagserfahrung. Er nimmt sie in sich auf und verwandelt sie in positive Energie. In ihm und mit ihm humanisiert sich unser gesellschaftliche Alltag und wächst die österliche Kraft des immer neuen und befreienden Auferstehens inmitten von Ungerechtigkeit aller Art.
5.
Die vitalen Grundfragen menschlicher Existenz bleiben, auch wenn sie neue Ausdruckformen bekommen und neue Organisationsformen benötigen.
Im Blick auf die großen ökologischen Katastrophen: Wir Menschen müssen begreifen, dass wir nicht über die Natur herrschen, um sie beliebig auszubeuten. Wir sind Teil eines umfassenderen Ökosystems und es ist dringend not-wendig, uns mit unserer “Mutter Erde” zu versöhnen.
Im Blick auf die wachsende Gewalt im alltäglichen Miteinander, unter den gesellschaftlichen Gruppen und in den soziopolitischen Strukturen: Wir Menschen müssen (statt immer mehr haben zu wollen und dies gegen alle anderen durchboxen zu müssen) erneut begreifen, dass nur im solidarischen Miteinander unsere Gesellschaft überlebenfähig ist.
Diese Neuorientierung beinhaltet radikale wirtschaftliche Umstrukturierungen und Veränderungen der entsprechenden politischen Rahmenbedingen. Diese sind nur möglich, wenn zugleich auch ein radikaler Bewusstseinswandel und damit ein Kulturwandel in der Bevölkerungsmehrheit sich vollzieht. Die verschiedenen Lebens- und Gesellschaftsbereiche müssen insgesamt und integral neu beseelt werden. Es geht dabei nicht um den in der griechischen Philosophie gestalteten Begriff “Seele”, sondern um Energie, die Natur mit Wirtschaft, Sozialkultur mit Politik, Kunst mit Religion, etc. wieder neu in positive Beziehungen bringt. Es geht um einen holistischen Neuansatz.
Wir in Mexiko besitzen sicher dafür nicht den “Stein der Weisen”. Wir erfahren jedoch einen Umschwung: Statt arrogant aufklärerisch auf die “armen, dummen, zurückgebliebenen, abergläubisch – frommen, naiven, … Indios” herabzuschauen, wird erneut deren Reichtum einer Spiritualität entdeckt, die verschiedenen Lebensdimensionen verbindenet. Sie ist für Millionen Menschen die reale Quelle, um den harten Alltag auszuhalten. Und sie ist zudem und immer mehr eine Art Vitalisierungskraft, um den Kulturwandel voranzubringen, der die reale Not wendet.
Copyright: Alfons Vietmeier, Mexiko.