Fördert die Regierung Netanjahu den Antisemitimus?

Die 28. der „Unerhörten Fragen“
Von Christian Modehn

Könnte es sein, dass die Netanjahu-Regierung in Israel in ihrem absolut unmenschllchen Umgang mit den Palästinensern in Gaza (und im Westjordanland) den allgemeinen Antisemitismus weltweit fördert? Antisemitismus in der westlichen Welt also verursacht durch Israels Politiker und durch die jüdischen Bürger Israels, die diese Politiker wählten?

Diese Frage wird in aller Vorsicht gestellt. In dem Wissen, dass gebildete Menschen Antisemitismus von Kritik an einer brutalen Regierung in Israel unterscheiden. Aber auch in dem Wissen, dass diese Unterscheidung bei sehr vielen Menschen leider nicht üblich ist. Und jetzt schwerfällt. Dass diese Regierung Israels de facto Antisemitismus erzeugt, wird verstärkt durch das Wissen: Dass Israel sich ursprünglich als ein „jüdischer Staat“ behauptet. Ein religiöser, biblischer Staat also, der, bei diesem Titel dem eigenen Anspruch folgend, gewisse grundlegende humane Prinzipien etwa der biblischen Propheten respektieren müsste! Der also dem entsprechend mehr auf Dialog mit den Feinden setzen müsste als auf permanente Unterdrückung des Feindes. Fördert also Israels Regierung den Antisemitismus in der “westlichen Welt”? Das ist wahrscheinlich!

Dies wird auch in dem Wissen gesagt, dass die Hamas Israel brutal angegriffen hat. Dies wird auch in dem Wissen gesagt, dass das übliche, angeblich biblisch begründete (aber nicht etwa christlich geltende) Prinzip der Rache „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ gegen den Feind maßvoll eingesetzt werden sollte.
Jetzt aber ist die tötende Gewalt Israels gegenüber dem Feind absolut maßlos geworden. Die Bilder des durch Isarel erzeugte Elends der Menschen in Gaza erinnern an leidende Menschen im KZ!
Hilfsorganisationen nennen das Elend der Palästinenser jetzt „die Hölle“ (Tagesschau 31.7.2025, 20. Uhr). Ist es also für bestimmte Juden normal geworden, dass jüdische Politiker die Hölle für andere erzeugen?
Nein, es gibt Widerspruch unter Juden in Israel und weltweit, aber leider bleibt der Widerspruch bisher wirkungslos. Woran liegt das? Wie weit darf Israel -Kritik durch Juden gehen? Die großartigen Studien des jüdischen Historikers Prof. Shlomo Sand (Tel Aviv) sind leider die Ausnahme, sie werden in Deutschland kaum beachtet, seine Studien verdienen weites Interesse! LINK  Kein deutscher TV Sender fragt Prof. Slomo Sand…Eine Rezension eines der Bücher von Shlomo Sand: siehe die Fußnote 1.

Gott sein Dank wehren sich gegen den Massenmord durch Israels Regierung einige vernünftige europäische Politiker. Deutsche sind bislang deutlich nicht dabei, wenn es jetzt um die Anerkennung eines Palästinenser Staates geht. Deutsche Politiker fördern also auch in dieser ihrer Zurückhaltung, Angst, Staatsräson, den von dieser Regierung in Israel erzeugten Antisemitismus? Darf man diese Situation paradox nennen? Das heißt: Deutsche Politiker (Merz und Co) fördern wieder in dieser ihrer genannten Zurückhaltung eine neue Form des Antisemitismus?

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

……..

Fußnote 1:

Shlomo Sand
Warum ich aufhöre, Jude zu sein
Propyläen Verlag. 156 Seiten. 18 €

Von Christian Modehn , erschienen in der Zeitschrift PUBLIK – FORUM  2014.

Shlomo Sand, Professor für Geschichte in Tel Aviv, bietet mehr als ein persönliches Bekenntnis. Er kann aus objektiven Gründen nicht länger Jude sein, weil er den heutigen Staat Israel ablehnt. Dabei gibt es für ihn keinen Zweifel, als polnischer Jude, 1942 in Österreich geboren, für das Existenzrecht Israels einzutreten. In dem „jüdischen Staat“ lebt er seit 1949. Aber gerade diese Definition findet er unerträglich. Denn Israel bevorzugt die Bewohner, die dem jüdischen Volk zugehören. Dabei ist es ein Mythos, so wörtlich, über die jüdische Rasse den Staat Israel zu definieren. Die „Rasse“ der Hebräer gibt es nicht. Jude, meint Sand, sei man einzig durch sein religiöses Bekenntnis. Als Atheist möchte er aufhören, als Jude zu gelten, kann es aber nicht, weil er vom Staat unaufhebbar dem „Volk“ zugerechnet wird. In dieser „Volksideologie“ sieht Sand zudem die Wurzel der verhängnisvollen Besatzungspolitik. Er plädiert für eine „republikanische Identität“ Israels mit dem absoluten Respekt der Menschenrechte und einer Zweistaatenlösung mit Palästina. Das Buch verdient intensive Diskussionen.

Warum klagen Juden, Christen und Muslime ihren Gott heute nicht an: Wegen der übelsten Zustände auf dieser Welt.

Die 27. der „Unerhörten Fragen“

Von Christian Modehn am 6.7.2025

Einst gehörte die Anklage Gottes durch die Frommen im Judentum (Hiob) und im Islam (Attar) selbstverständlich zur Spiritualität. Christen liebten es allerdings nicht so sehr, Gott anzuklagen und gegen ihn zu protestieren. Denn Er galt ihnen als „Gott der Liebe“. Über ihre Ignoranz (Hass im Antisemitismus, Kolonialismus etc.) gegenüber dem Gott der Liebe verloren die allermeisten Christen keine Tränen und keine Worte, geschweige denn formulierten sie Anklage-Gebete. Solche Gebete fehlen bis heute in christlichen Kreisen!

Wenn Juden, Christen, Muslime und ihre „Führer“ tatsächlich noch an ihren lebendig-handelnden Gott glauben, dann sollten sie doch Anklage erheben, also ihren Gott beschuldigen: „Wo bist du denn?“ Gibt es den Gott des „Bundes mit den Menschen“ etwa nicht mehr? Kümmert Er sich nicht mehr um seine Geschöpfe?

Von solchen Anklagen gegen Gott ist heute nichts zu vernehmen. Sind die Frommen mit einem fernen, untätigen Gott sogar zufrieden? Mit dem “Gott” Netanjahus und seiner super“frommen“, aber rechtsextremen Minister? Oder ist die Hamas mit ihrem genauso heftigen Allah einverstanden?

Unsere Vermutung: Vielleicht glauben die Frommen und ihre „Führer“ längst nicht mehr an einen fürsorglich handelnden, einen liebenden Gott. ER ist entschwunden. Gott handelt nicht mehr, und wird wegen seines Nicht-Handelns auch gar nicht mehr angeklagt.

Die Theologie des “Bundes Gottes mit den Menschen” ist tot, existiert nur auf den Papieren der Theologen, die Ideologen geworden sind. Es herrscht der Nihilismus?

Und was die Christen angeht: Einige Katholiken zumal klagen jetzt zurecht, allerdings völlig erfolglos ,die bürokratischen, undemokratischen Strukturen der Kirche an. Kirchen-Anklage ersetzt die Gottes-Anklage. Diese Kirchen-Anklage ist sowieso einfacher und in den Medien wirksamer und theologisch auch nicht so schwierig wie die Gottes-Anklage.

Nebenbei: Der Autor dieses Hinweises hat eine andere Antwort auf diese “unerhörte Frage Nr. 27”. Hier soll nur der Abschied von der Gottes-Anklage in dogmatischen Kreisen der etablierten Religionen religionswissenschaftlich, sozusagen von außen betrachtet, dokumentiert werden. Und als Wende in der religiösen Szene der Gegenwart gedeutet werden! Gott ist angesichts der politischen, ökologischen, sozialen Katastrophen der Gegenwart, von Menschen gemacht, nicht mehr relevant. Man beklagt Seine Abwesenheit schon gar nicht mehr.

PS:
Zur Einstimmung bitte lesen: Psalm 88 „Klage eines Kranken und Einsamen“.

Und zur Vertiefung bitte lesen: Das wichtige Buch von Navid Kermani, „Der Schrecken Gottes. Attar, Hiob und die metaphysische Revolte“, Becksche Reihe, München, 2011, 335 Seiten, 14, 95€.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Amsterdam 750 Jahre: Einst kirchlich, heute etwas spirituell und vor allem gottlos?

Amsterdam wird  750 Jahre alt. Und die Kirchen – bleiben sie jung?

Ein Hinweis von Christian Modehn am 4. Juli 2025

Ein Vorwort:
Über die aktuelle kirchliche und religiöse Situation in Amsterdam sollte auch in Deutschland gesprochen werden. Weil dort sichtbar wird, deutlicher als anderswo in West-Europa, wie umfassend und radikal der “religiöse Umbruch” dort ist, er wird „Säkularisierung“ allgemein und oberflächlich genannt. Kirchliche Traditionen sind in Amsterdam durch etliche große Kirchengebäude noch sichtbar. Aber die Zahl derer, die sich in Amsterdam mit dem Christentum „verwandt fühlen“, wie die offizielle Studie von „Onderzoek en Statistik“ (O&S, Amsterdam) die Kirchenbindung nennt, muss marginal genannt werden: Christen aller Konfessionen zusammengenommen bilden im Jahr 2022 den statistischen Wert von 11 Prozent der Bevölkerung, 13 Prozent nennen sich Muslime, 64 Prozent bekennen, ungläubig zu sein. Auch Juden, Buddhisten und Hinduisten werden in der Statistik als kleine Minderheit genannt. 9 Prozent aller “irgendwie religiösen” Amsterdamer nehmen regelmäßig an Gottesdiensten teil, im Jahr 2018 waren es noch 12 Prozent. (Quelle: Seite 145 f. in der Studie: Siehe Fußnote 1).

Hier können die Entwicklungen der vielfältigen Orte kirchlichen oder religiösen Lebens in Amsterdam nicht umfassend analysiert oder umfassend theologisch kommentiert werden. Es kommt uns darauf an, wesentliche Entwicklungen des kirchlichen Lebens in Amsterdam zur Kenntnis zu nehmen.

Der Anlass für diesen Hinweis:

1.
Amsterdam feiert – schon seit Ende Oktober 2024 – ein großes Jubiläum: “750 Jahre Amsterdam.” Am 27. Oktober 2025 ist der offizielle 750. “Geburtstag”:LINK

Im Jahr 1275 wurde die Stadt zum ersten Mal in einer Urkunde erwähnt… Seit mehr als 700 Jahren ist dann auch der christliche Glaube, sind die Kirchen, in Amsterdam präsent. Aber diese Präsenz wird seit dem 20. Jahrhundert stetig schwächer: Bei der letzten Zählung 2022 waren noch 11 Prozent der Amsterdamer Bevölkerung mit einer Kirche verbunden. Etwa 6 Prozent der Amsterdamer nennen sich katholisch, etwa 3 Prozent protestantisch und 2 Prozent evangelikal-pfingstlerisch. Um diese Auskunft zu erhalten, muss man im städtischen Büro für Statistik „O&S“ nachfragen: Wie viele der heute ca. 935.000 Einwohner sind noch mit einer Kirche verbunden? Oder, wie die Niederländer vorsichtiger sagen, wie viele sich noch „verwandt fühlen“ mit „godsdienst of levensbeschouwing“, also mit einer Religion oder einer Lebensanschauung, Weltanschauung: Dies ist eine gewiss interessante, die Beziehung zur Kirche aber eher milde ausdrückende Definition von „Zugehörigkeit“ oder „Mitgliedschaft“… Das „O&S“ Büro der Stadt Amsterdam nennt auch Zahlen zur geschichtlichen Entwicklung: Für das Jahr 2022, aktuellere Zahlen liegen noch nicht vor, also gilt: „11 Prozent der Amsterdamer fühlen sich mit dem Christentum verwandt. Im Jahr 2006 waren es 21 Prozent.“ Innerhalb von 15 Jahren hat sich die Zahl der Kirchenmitglieder halbiert. Im Jahr 1869, als offenbar zum ersten Mal nach der Konfession der Amsterdamer gefragt wurde: Da nannten sich tatsächlich 100 Prozent der Amsterdamer Kirchenmitglieder, im Jahr 1947 waren es noch 55 Prozent, 1971 waren es 46 Prozent, im Jahr 2012 38 Prozent.

Nebenbei: In Berlin sind es im Jahr 2024 noch 18 Prozent der Einwohner, die sich als Kirchenmitglieder bekennen.

2.
Bedeutende alte Kirchengebäude sind im Zentrum Amsterdams (dem „Grachtengürtel“) zu besichtigen, etwa die “Oude Kerk”: Im Jahr 1325 wurde an dieser Stelle die erste steinerne Kirche errichtet, heute werden dort sonntags regelmäßig protestantische Gottesdienste gefeiert: Und dies ist Ausdruck der kirchlichen Situation in Amsterdam: Die “Oude Kerk” ist tatsächlich bereits ein Museum und eine Konzerthalle, die kleine protestantische, aber ökumenische Gemeinde mietet für ihre Gottesdienste am Sonntag das Gebäude. Oder: Die “Nieuwe Kerk” am Dam (1408 errichtet) ist, wie der Name sagt, auch ein “Gotteshaus”, aber ein ehemaliges, falls man eine Kulturkirche ein “ehemaliges Gotteshaus” nennen soll: Sie ist eines der bekanntesten Kulturzentren der Stadt. Auch die Portugiesische Synagoge (eingeweiht 1675) und die benachbarte „Große Synagoge“ (1825) finden viel Aufmerksamkeit.

3.
Die Protestantische Kirche Amsterdams verfügt noch über 19 Gemeinden und Kirchengebäude LINK , das zentrale Kirchenbüro berichtet regelmäßig über kirchliche Veranstaltungen – auch aus Anlass des Jubiläums. LINK

Die katholische Kirche hat in Amsterdam noch 17 Pfarreien, von denen 7 für „fremdsprachige“ Katholiken bestimmt sind. Viele einstige selbständige kaholische Pfarreien wurden zu Großpfarreien zusammengefügt, wie überall in Europa, wo der Mangel an zölibatären Priestern das Gemeindeleben bestimmt, d.h. reduziert. Für die Freikirchen, Pfingstkirchen gibt es keine Gesamtübersicht der Gemeindezentren, oft sind es eher bescheidene Räume, etwa ehemalige Garagen in eher ärmeren Gegenden. Die Spaltung zwischen Reichen und Armen gilt auch unter Christen in Amsterdam. In diesen Freikirchen treffen sich vor allem Menschen aus Surinam, den Antillen, aus Afrika usw. Das heißt: Die traditionellen einst großen Konfessionen bestimmen nach wie vor das offizielle, man möchte sagen, touristische Bild in der Stadt.

Viele Kirchengebäude, errichtet seit dem 20. Jahrhundert, wurden seit ca. 1970 abgerissen, die genaue Zahl ist sehr schwer zu ermitteln. Es sind sind 20 Kirchen. Einige alte Kirchengebäude blieben in neiuer Funktion erhalten und wecken so, aufgrund des Kirchetrums etwa, den “falschen Eindruck”, es gebe noch viele “aktive, “echte” Kirchen: Einige Beispiele: Die Oosterkerk, die Posthoorn-Kerk, die Oude Lutherse Kerk, die Zuiderkerk, die Amstelkerk; die katholische St. Ignatiuskerk wurde in die Fatih-Mosee umgewandelt, die Kirche am Vondelpark ist seit langem ein Ort u.a. für opulentes Feiern. Siehe dazu die bunte Website: LINK:  Lesenswert ist in dem wichtigen Zusammenhang noch immer die Dokumentation “Herbestemming van Kerken” , Siehe Fußnote 3.

4.
Der noch ein bißchen beachtliche, sehr kleine Anteil derer, die sich heute noch katholisch in Amsterdam nennen, ist durch die Anwesenheit von Lateinamerikanern, Spaniern und Portugiesen und Polen bedingt. Aber die Teilnahme an der Messe ist wie in ganz Holland minimal. Und es sind meist sehr alte niederländische und etwas jüngere asiatische und afrikanische Priester, die noch für die regelmäßige Messfeier in den Kirchen sorgen. Genaue religionssoziologische Untersuchungen etwa zum Alter der noch Messe zelebrierenden holländischen Priester versucht die Kirxhenfphrung offenbar zu unterdrücken,  ich schätze den Alterdurchschnitt dieser Priester auf etwa 70… Ein interessantes Beispiel: In der „Onze Lieve Vrouwekerk“ finden katholische Messen unter Leitung spanischer Opus Dei Priester (!) und zu anderen Zeiten auch Liturgien der Syrisch-orthodoxen Kirche statt, eine interessante ökumenische Melange zumal fürs Opus Dei: Die finanzielle Not (bedingt durch die sehr wenigen Katholiken, die noch ihr jährliches Kirchgeld zahlen)  lehrt also auch die extrem konservative katholische Organisation Opus Dei, die Ökumene zu praktizieren. Auch die Russisch-orthodoxe Kirche hat eine ehemalige katholische Kirche „übernommen“ LINK . Auf diese Gemeinde an der Lijnbaangracht hinzuweisen ist deswegen wichtig, weil die Popen dort sehr früh schon zu heftigen Kritikern des Angriffskrieges Putins und seines „orthodoxen“ Ideologen Patriarch Kyrill von Moskau waren. LINK

5.
Für die ökumenische Bewegung der Kirchen ist Amsterdam wichtig:
Am 23. August 1948 wurde dort der „Ökumenische Weltrat der Kirchen“ (Zentrale in Genf) gegründet. Ökumene gehört zu Amsterdam! Und innerkirchliche Ökumene als Form der Toleranz der einst verfeindeten Konfessionen ist  ein christlicher Aspekt des viel besprochenen niederländischen Humanismus… Man möchte sagen:Ökumene komnnte nur Amsterdam entstehen. Immerhin: Die moderne (protestantische) Theologie spielt heute in Amsterdam noch eine große Rolle, sie wird an der „Schule für Religion und Theologie“ an der staatlichen “Vrije Universiteit” gelehrt. LINK
Neben vielen speziellen Forschungszentren ist auch das „Arminius – Institut“ der ziemlich außergewöhnlichen freisinnigen Remonstranten – Kirche dort angesiedelt, LINK
Diese Fakultät ist eine erstaunliche theologische Leistung in einem – der Konfessions- Statistik nach – gar nicht so Kirchen – und Theologie affinen Milieu.

6.
Die Entwicklung der Verbundenheit mit den Kirchen in Amsterdam wie in den Niederlanden insgesamt ist sehr komplex und kann hier nur kurz skizziert werden:
Die Gesellschaft war bis ca. 1965 in verschiedene „Säulen“, nebeneinander lebend, gespalten: Die „Säulen“ hatten den Titel reformiert, katholisch, liberal, sozialdemokratisch: Sie boten ihren Mitgliedern von der Geburt über die Schule und die konfessionell selbstverständlich nicht-gemischte Ehe … bis zum Begräbnis auf einem katholischen Friedhof ein Leben in der auch kulturellen und konfessionellen Abgeschlossenheit der jeweiligen Gruppe.
Mitte der neunzehnhundertsechziger Jahre zerbrach dieses System. Es begann auch in Amsterdam die durchaus leidenschaftliche Zeit der praktisch gelebten Ökumene: In der Katholischen Kirche der Niederlande gab es nach dem 2. Vatikanischen Konzil einen radikalen Aufbruch der Reformer, nicht nur das Zölibatsgesetz ignorierten viele Priester, sie setzten sich für die Abendmahlsgemeinschaft mit Protestanten ein in Gemeinden, die sich oft von der Kontrolle der Bischöfe befreit hatten. Es wurden also ökumenische Gemeinden, „Basisgemeinden“ und „kritische Gemeinden“ gegründet, die sich außerhalb der institutionellen konfessionellen Strukturen ziemlich mutig und rebellisch gestalteten. Ich nenne hier nur die bis heute lebendige „Dominikus Gemeinde“, LINK. , die ökumenische Basis – Gemeinde „de Duif“,  die „Ekklesia“ inspiriert von dem bekannten Theologen und Poeten Huub Oosterhuis (1933-2023). LINK . Und zu seinem Werk: LINK

7.

Der Autor dieses Hinweises hat als Journalist die kirchliche Entwicklung Amsterdams seit ca. 1976 regelmäßig beobachtet. Etliche der damals durchaus wegweisenden ökumenischen Initiativen sind jetzt verschwunden, wie etwa das Theologencafé, ein wöchentlicher Treffpunkt, eine Art theologischer Salon für Pfarrer und Pastoren aus wirklich allen verschiedenen Konfessionen! Beispielhaft damals, dem Beispiel ist kein deutsches Bistum gefolgt…Auch die sozial engagierten Wohngemeinschaft der Orden mussten – wegen Personalmangel – aufgegeben werden, etwa die Wohngemeinschaft der Kapuziner oder das Kloster der Augustinerinnen im Rotlicht-Viertel oder das der Franziskanerinnen am Rembrandt Plein, die Prostituierten Zuflucht boten; oder das poilitisch linke Franziskanerkloster in der Moses und Aaron Kirche usw. Das Aussterben der Ordensgemeinschaften kann auch einen Ausfall sozialer, menschlicher Nähe für “Menshen am Rande, ganz unten” bedeuten…Immerhin: Die Gemeinde speziell für “Drogengebraucher” gibt es bis heute, diese Gemeinde wurde viele Jahre von dem katholischen Pastor (ein Laie) Ricus Dullaert geleitet… LINK.  Eine evangelische Initiative mitten im Rotlicht – Viertel ist seit vielen Jahren die Kommunität „Oude Zijds 100“, ein offenes Haus für Menschen, die Hilfe und Unterstützung brauchen gerade im Umfeld dieses Milieus, auch diese Initiative hat die Krise der Kirchen in Amsterdam überstanden, einige wenige Basisinitiativen leben vielleicht länger als offizielle Kirchen-Zentren. LINK
Die große Kirche „Moses en Aaron“ am Waterlooplein wird jetzt als „Kirche der Barmherzigkeit” von der internationalen katholischen Laien – Gemeinschaft „San Egidio“ geleitet…

Der viel besprochene „Niedergang” der katholischen Kirche Amsterdams ist sicher entscheidend auch durch die Starrheit und Sturheit des römischen Systems, der zentralistischen vatikanischen Leitung und durch die Abwehr alles Demokratischen durch die Kirche unter den Päpsten der letzten Jahre, vor allem Johannes Paul II., bedingt. Der international anerkannte katholische Theologe Edward Schillebeeckx (Nijmegen) erklärte im NRC Handelsblad am 20. November 1999: „Der Papst (Johannes Paul II.) ist ein Alleinherrscher, er beschließt alles selbst. Das ist eine verkehrte `Betriebsleitung`. Er versammelt lauter Ja – Sager um sich“ . Und bezogen auf die autoritäre Durchsetzung konservativster Bischöfe in Holland sagt Schillbeeckx: „Jetzt kommt alle Weisheit aus Rom und die Leute imn Holland laufen aus der Kirche weg“.

Es ist aber auch entscheidend: Die traditionelle dogmatische Lehre der Kirche, die Formeln und Floskeln im Gottesdienst auch vieler protestantischer Kirchen, sorgen dafür, dass die kritischen, nachdenklichen jüngeren Menschen die Gemeinden verlassen. Dieser Aspekt der verstörenden dogmatischen Kirchenwelt in ihrer veralteten Sprache, ihrer oft rigiden Motal etc. wird viel zu selten als Hauptgrund genannt für den Abschied so vieler von den Kirchen! Davon sprechen Theologen viel zu selten! 

Amsterdam ist übrigens die einzige Hauptstadt Europas, die der extrem reiselustige (er sprach von Pilgerfahrten) polnische Papst Johannes Paul II. nie besucht hat, er wusste sicher warum: Dort gab es damals eine explizite Rom – Ablehnung auch unter vielen Katholiken. Öffentlichen Ärger wollte er sich also ersparen… Die progressiven Katholiken wurden von der Kirchenführung so lange und so heftig ausgegrenzt, bis sie keine Kraft zum Widerstand mehr hatten. Ein Trauerspiel: Rom macht eine Kirche kaputt  etwa durch die Bischofsernennungen reaktionärer Bischöfe (Simonis, Gijsen, Kardinal Eijk etc…) Dieser Aspekt wird von katholischen Autoren in Deutschland, die sich heute noch über Hollands Katholizismus äußern, oft gern „ausgeblendet“. Tatsache ist: Keine katholische Teilkirche wurde von Rom und den Reaktionären weltweit so diffamiert und kaputt gemacht, wie die niederländische Katholische Kirche in den Jahren 1970-1985. Immer ging es um die Demokratie, einen der höchsten Werte niederländischer Kultur, aber einen der größten Unwerte fürs Innenleben des Katholismus bis heute…

8.
Über 60 Prozent der Amsterdamer nennen sich jetzt, wie gesagt, unreligiös oder ungläubig. Und ihre Zahl steigt von Jahr zu Jahr. Die offizielle Statistik von „O&S“ kann als soziologische Studie für diese Entwicklung keine Antwort geben. Die Theologen und Religionswissenschaftler sind sich uneins: Etliche meinen zurecht, dass auch die sich ungläubig nennenden Menschen eine persönliche Spiritualität bewahren und pflegen, dass sie an „etwas Größeres“ glauben. LINK .
Für diese undogmatisch Suchenden und Fragenden kann die Gemeinde der protestantischen Remonstranten – Kirche in Amsterdam ein Ort des Gesprächs und der Meditation sein. LINK . Zur Solidarität dieser Gemeinde mit den Menschen in Gaza:  LINK

9.
Zur Stadt Amsterdam als der viel gepriesenen “Stadt der Toleranz” (mit einer vergleichsweise schwachen Präsenz der rechtsextremen Partei PVV von Herrn Wilders) passt es gut, dass dort eine explizit christlich – humanistische Kirche (wie die Remonstranten) und auch säkulare – humanistische Organisationen (Humanistisch Verbond) aktiv sind. Bekanntlich war die Remonstrantenkirche im Jahr 1986 weltweit die erste christliche Kirche, die Paare des gleichen Geschlechts im Gottesdienst mitten in der Kirche segnete, ob sie nun Mitglieder der Remonstranten sind oder nicht. Übrigens: Alle Gottesdienstteilnehmer, gleich welcher Konfession, snd selbstverständlich zum Abendmahl eingeladen. Zur Theologie der Gemeinde: LINK 

Bei allem Stolz auf die humanistischen Traditionen auch gegenüber Flüchtlingen (Descartes…) einst: Erst seit wenigen Jahren wird  die Verbindung der Kirchen mit der kolonialistischen Herrschaft und Unterdrückung durch die Niederlande freigelegt. Zu einer neuen Publikation zum Thema niederländische Kirchen und Sklaverei: LINK.
Eine ebenfalls humanistische, aber eher agnostisch – atheistische Glaubensgemeinschaft nennt sich „Vrije Gemeente“: Einst hatte sie in der Nähe des Leidseplein (heute das „Paradiso“) ihre Kirche, seit einigen Jahren hat man sich in einer Villa in der Nähe des Rembrandt Museums niedergelassen und bietet spirituelle und philosophische Gespräche und Vorträge an. An der „Universität von Amsterdam“ hat Prof. Wouter Hanegraaff ein einmaliges Institut zur „Erforschung hermetischer und esoterischer Philosophie“ eingerichtet, wichtig in einer Stadt, in der es zahlreiche esoterische Zentren und Buchhandlungen gibt. Ob es heute einen Dialog gibt zwischen christlich/kirchlich Glaubenden und esoterisch/New Age Glaubenden gibt, ist eine offene Frage. Das theologische Zentrum des Franziskaner-Ordens „La Verna“ in Amsterdam bemühte sich einst um einen solchen Dialog, es musste leider wegen Personalmangel geschlossen werden. Und in den 1970-1980 Jahren bemühte sich der Benediktiner Dom Kees Tholens (1913 – 2011) – er lebte als Stadtmönch im Begijn-Hof – intensiv um Gespräche mit den damals sehr stark esoterisch oder auch buddhistisch Interessierten. Zu Kees Tholens siehe meinen Beitrag „Die Kirchen schließen und die Religion lebt auf“ von 1993. Fußnote 2.

10.
Die wenigen heute noch verbliebenen Kirchengemeinden hätten eigentlich große Aufgaben, die über das unmittelbar Religiöse hinausgehen, aber dicht an den Weisungen des Weisheitslehrers Jesus von Nazareth orientiert sind: Vorausgesetzt, die Kirchengemenden sind offen und tolerant. Es wäre etwa die wichtige Aufgabe, für das seelische Wohlbefinden der Menschen in der Stadt einen Beitrag zu leisten. Die Studie von „O&S“ sagt unter Nr. 14: „ Das Glücksgefühl, das Vertrauen in die Zukunft und die Zufriedenheit mit der Regierung haben abgenommen. Junge Menschen haben oft psychische Beschwerden. Dazu kommt belastende Einsamkeit stets öfter vor und öfter als auf Landesebene.“ (Übersetzung CM). Mit anderen Worten: Wie überall in Europa wären also Gemeinden auch Orte des Lernens, der Therapie vor allem, vorausgesetzt, die dort tätigen Pastoren und Gemeindemitglieder sind selbst noch psychisch relativ stabil und kompetent…

11.
Angesichts der Altersstruktur in den Kirchen-Gemeinden ist es absehbar, dass sich in etwa 20 Jahren der Anteil der sich Christen nennenden Amsterdamer so um die 3 Prozent bewegen wird. Die noch verbliebenen Kirchengebäude werden dann schon wegen finanzieller Knappheit der Gemeinden nicht mehr als kirchliche Gebäude zu erhalten sein. Die schönen Gebäude werden verkauft und umgewandelt, aber die Kirchengemeinde mietet noch gelegentlich ihre ehemalige Kirche für ihre Gottesdienste, siehe die Erfahrungen in der “Oude Kerk”. Vielleicht wird es dann aber da und dort noch kleine Kapellen und christliche spirituelle Zentren in umgewandelten Läden und Geschäften  – vielleicht Krypten – geben, falls selbst diese bei den exzessiven Preisen für Wohnungen und Läden im neoliberalen, kapitalistischen Amsterdam noch bezahlbar sind.

Fußnote 1:
„Staat_van_de_stad“ Onderzoek en Statistiek (O&S), Gemeente Amsterdam
www.onderzoek.amsterdam.nl
redactie.os@amsterdam.nl
Eindredactie: Ellen Lindeman, m.m.v. Lotje Cohen en Jeroen Slot.

Fußnote 2: „Die Kirchen schließen und die Religion lebt auf. Beobachtungen in Amsterdam“. In: „Götter auf der Durchreise“, hg. von Hans W. Dannowski, Michael Göpfert u.a., E.B. Verlag, 1993, dort Seite 40 bis 54. Dieser Beitrag, zu Beginn der neunziger Jahre verfasst, weist u.a. auf den Benediktinerabt Kees Tholens im Begijnhof hin. Ein Zitat von Abt Tholens: „Die Kirche sollte wie eine weise Mutter sein, die ihre Kinder gehen lässt. Stattdessen umgibt sie sie mit allerlei Reichtümern und hält sie mit Regeln und Verboten klein. Auf diese Weise wirkt sie wie eine Art Kindergarten für Erwachsene, auf diese Weise werden die Menschen nicht erwachsen, auf diese Weise können sie kein umfassenderes Bewusstsein erlangen.“ (Der niederländische Text von Kees Tholens: „De kerk zou moeten zijn als een wijze moeder die haar kinderen loslaat. Maar in plaats daarvan omgeeft ze hen met allerlei rijke dingen en houdt hen klein met regels en verboden. Zo lijkt ze op een soort kinderkamer voor volwassenen, zo groeien de mensen niet uit, zo kunnen ze geen ruimer bewustzijn binnengaan.“ Quelle: https://www.ghardeman.nl/cit/citthole.htm)

Fußnote 3: “Herbestimmung van Kerken.” (Neue Funktionen von Kirchengebäuden), auch mit zahlreichen Fotos, herausgegeben vom Rijksdienst voor de Monumentensorg, Zeist, 11 Seiten, 1995.

1999 wurde von Christian Modehn das 30 Minuten – Feature, der Film  “Unter dem Himmel von Amsterdam”, im Ersten Programm der ARD (WDR) gesendet. 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

 

 

 

Die Theologie Augustins überwinden.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 10.6.2025 und am 4.8.2025 wegen der ständigen “Augustinus-Zitierei” durch Papst Leo XIV.

Ergänzung am 4.8.2025: Während der katholischen Weltjugendtage in Rom Anfang August 2025 zitierte Papst Leo XIV. ständig nette Sprüche und irgendwelche Weisheiten seines viel geliebten Meisters Augustinus aus dem 4.und 5. Jahtrhundert. Dieser Augustin sollte angesichts seiner verheerenden Lehren etwa zur Erbsünde  endlich beiseite gelassen und überwunden werden. Aber nein, den ahnungslosenen und enthusiastischen  Jugendlichen aus aller Welt wird ein “weiser” und angeblich aktueller Augustinus mit einigen hübschen Zitaten als Vorbild empfohlen. Wir halten das für einen Irreweg. Kann ein Papst nicht eher die Mitarbeit an demokratischen NGOs empfehlen als fromme und allgemeine, letztlich belanglose Ermahnungen von sich zu geben? Und es wird hoffentlich die Zeit kommen, in der sich kritische und kirchenunabhängige Historiker und Religionswissenschaftler die Mühe machen, diese Augustinus – Zitierei von Papst Leo XIV. zu dokumentieren und krtitisch zu bewerten.

Diese Reden des Papstes Leo XIV. von der “Einheit der Kirche” sind, nebenbei, eine Illusion: Die Katholische Kirche ist weltweit de facto und unumkehrbar schon jetzt  so stark auseinandergebrochen in ihrer Vielfalt, dass eine uniforme, päpstlich-fixierte Einheit nichts als ein Traum ist. Und dieser Traum, man möchte sagen diese klerikale Ideologie, sollte beendet werden zugunsten einer explizit gewollten Pluralität IM Katholizismus…Aber auch dies zusagen ist nur ein Traum angesichts der nach wie vor absoluten klerikalen Macht.

Im Juni 2025  notiert: Wir haben mit der Wahl eines Augustiners (“Sohn des heiligen Augustinus”, Selbstbezeichnung Leo XIV.) zum Papst eher Schlimmes befürchtet: Dies ist die ständige Bezugnahme auf den heiligen Augustinus, er lebte im 4. und 5. Jahrhundert. Ein moderner Heiliger? Garantiert nicht. Lassen wir ihn ruhen.  Aber leider bestätigt sich diese unsere Prognose der Augustinus Zitiererei durch den Papst  fast ständig: Den Kandidaten für Priesteramt (“Seminaristen”) empfahl Leo XIV., sich an Sprüche Augustins  zu halten und vor allem den Zölibat hochzuschätzen. Mit etwas Anstrengung sei der Zölibat doch zu leben, sagte er den 20 -25 Jahre jungen Männern, darf man das theologisch und psychologisch naiv nennen? Natürlich. LINK:

Und auch die am 25. 6. versammelten Bischöfen ermahnte er, “Vorbild” zu sein. LINK

Immer wieder wird Augustin zitiert von Papst Leo XIV.: Der Journalist und Vatikan – Spezialist der angesehenen katholischen Tageszeitung LA CROIX (Paris), Mikael Corre,  schreibt am 14.6.2025 zusammenfassend über die Form der Argumente von Papst Leo XIV.: Er hielt einen Vortrag für Priester, Mikale Corre berichtet.: Leo XIV. beendet sein Statement für die Priester, indem er den heiligen Augustinus zitiert, wie er es in fast allen seinen Ansprachen tut: Papst Leo zitierte also Augustin: “Liebt diese Kirche, bleibt in dieser Kirche, seid diese Kirche. Liebt den Guten Hirten, den sehr schönen Gatten (sic), der keine Person täuscht und nur will, dass keine Person untergeht…” (Le 12 juin, Léon XIV terminait son adresse aux prêtres en citant saint Augustin (Sermons 138, 10), comme il le fait dans presque tous ses discours. « Aimez cette Église, restez dans cette Église, soyez cette Église. Aimez le bon Pasteur, l’Époux très beau, qui ne trompe personne et ne veut que personne ne périsse…”). LINK

Wie soll theologisch diese offenbar vom Papst geteilte Priesterspiritualität aus dem 4. Jahrhundert bewertet werden? In jedem Fall ist sie nicht auf der Höhe der Theologie von heute… Nach einer Abschaffung des sinnlosen Zölibatsgesetzes klingen seine Worte jedenfalls  nicht…Wir haben unsere Meinung schon früher mitgeteilt: Zu den “Progressivsten” zählen die dem Denken des heiligen Augustin verpflichteten Theologen, also auch die Augustiner, bekanntermaßen nicht. Wegweisende moderne Theologen gehören eher anderen Orden an. Ob auch der Augustiner Papst Leo XIV. zu den eher behutsamen, durchaus das übliche Katholische unbedingt bewahrenden, auf Ausgleich und “Einheit” bedachten Augustinern gehört, ist wahrscheinlich…

Nebenbei: Kann ein Papst dieser Kirche überhaupt progressiv sein? Erst dann, wenn er selbst das Papsttum abschafft. Das könnte zumal ein Papst, dessen Mitbruder im Augustinerorden Martin Luther ist! Aber von Martin Luther hat Leo XIV. bisher nicht einmal gesprochen…

Ein Vorwort zu unserem Hinweis, einer “Provokation”: 
Heute sollten sich Christen und TheologInnen mit der Theologie des Augustinus befassen, um die Grenzen und Begrenztheiten des Theologen Augustin zu erkennen und sich auch von den Verirrungen seiner Theologie zu befreien. Augustinus mag ja einige allgemeine humane Weisheiten etwa in seinen „Confessiones“ geschrieben und etwa über die Zeit treffend philosophiert haben: Aber einzelne populäre Weisheiten wie: „Unruhig ist unser Herz, bis ruht in dir o Gott“ (das heißt: „Ruhe gibt es auf Erden nicht, auch nicht durch die Philosophie, auch nicht durch den Glauben“) bestimmen nicht das Gesamtwerk.
Dabei sind wir uns der Allmacht der Theologie Augustins bis heute bewusst, etwa auch im offiziellen „Katechismus der Katholischen Kirche“ (Vatikanstadt 1993): Dort wird Augustinus in 88 Paragraphen zitiert, häufiger als Thomas von Aquin… Nebenbei: Aus dem 20.Jahrhundert wird niemand zitiert, aus dem 19. Jahrhundert nur der Pfarrer von Ars, der zwar heiliggesprochen wurde, aber theologisch völlig ungebildet war, betonen Historiker. Der Pfarrer von Ars, Johannes Vianney, wird im Katechismus zitiert: „Der Priester setzt auf Erden das Erlösungswerk fort“…, § 1589.

Zu Augustins Aussagen über “die Frauen” siehe FUßNOTE 2.

 

Unsere Thesen:

1.
Augustinus und seine Theologie wird zweifellos im Mittelpunkt der theologischen Debatten und spirituellen Interessen der nächsten Monate und Jahre stehen: Auch eine „augustinische Bücherflut“ ist wahrscheinlich… Papst Leo XIV. ist Mitglied des Augustinerordens (OSA), er hat von Anfang an als Papst betont „Ich bin ein Sohn des heiligen Augustinus“, er spricht immer wieder in seinen Ansprachen von einigen allgemeinen Aspekten der Theologie Augustins. Und der Papst setzt sich sogar gelegentlich, im allgemeinen verbleibend, von ungewöhnlichen theologischen Aussagen Augustins ab (Fußnote 1).

2.
Es ist also Zeit, etwas näher das theologische Profil von Augustinus außerhalb von wohlwollenden Zitaten kritisch zu betrachten. Angesichts des nur riesig zu nennenden Umfangs der Schriften des Augustinus können hier selbstverständlich nur einige „Grundlinien“ seines Werkes kritisch erwähnt werden, eines Denkens, das durchaus Entwicklungen vorweist, und diese Entwicklung führt weg von großer Offenheit in jungen Jahren hin zur Strenge und Militanz im Alter als Bischof.

3.
Kurt Flasch, Philosophiehistoriker und Philosoph, Spezialist für mittelalterliches Denken, ist ein international geschätzter Kenner der Werke des Augustinus. Kurt Flaschs Studien sind deswegen wichtig, weil sie nicht kirchengebunden sind, die bekanntlich oft der „enormen Größe und Bedeutung des heiligen Augustinus“ erliegen und nur nebenbei die Grenzen seines Denkens freilegen.

4.
Kurt Flasch bietet in einigen Kapiteln seines Buch „Warum ich kein Christ bin“ aus dem Jahr 2013 ( C.H.Beck Verlag) zentrale Erkenntnisse zu wichtigen theologischen Aussagen Augustins: Die Seitenzahlen in den Zitaten hier beziehen sich auf dieses Buch. Auf die große Augustinus – Studie Kurt Flaschs „Augustin. Einführung in sein Denken“, 487 Seiten (Reclam Verlag, 1980) kommen wir später zurück, um die eher knappen Ausführungen Flaschs von 2013 zu bestätigen.

5. Zum Umgang mit der Bibel:
Augustin will in seinem Buch „De consensu evangelistorum“ („Über den Konsens der Evangelisten“) eine Harmonie der Aussagen der vier Evangelisten herausstellen. „Augustin sah die Autorität der Glaubenszeugen bedroht, wenn sie nicht mit EINER Zunge sprachen. Seine Argumentation illustriert als ihr Gegenteil die historisch – kritische Methode der Bibelauslegung.“ (S. 53). „An einer kulturell – historischen Einordnung des Bibeltextes hatte er kein Interesse.“ (Ebd.). „Augustinus konnte kein Hebräisch und kaum Griechisch verstehen“ (ebd.), er glaubte mit den Übersetzungen der Bibel ins Lateinische die Bibel kompetent auslegen zu können…

6.
Augustin war als neu-platonischer Philosoph an rationalen Begründungen des Glaubens interessiert. Aber als Begründungen, sich auf den Glauben einzulassen, waren ihm dann doch äußerliche Fakten wichtig: Etwa: Die Missionserfolge der Kirche wurden gerühmt, auch die Wunder Jesu seien ein Grund zu glauben; und die regelmäßige Abfolge der Bischöfe seit Petrus sei hoch zu respektieren. Und vor allem: „Allein seine, Augustins Kirche sei die katholische, denn selbst Häretiker nennen sie so“ (S. 64).

7.
Platon spielte in der geistigen Entwicklung Augustins eine entscheidende Rolle. Augustin lehrte: „Der Glaube an die zeitliche Offenbarung (in Jesus) ermögliche die rein geistige Einsicht. Diese bestehe in der platonisierenden Erkenntnis Gottes als dem einzig beständigen Glück der Seele“ (S. 92f.)
Wesentliches der Philosophie Platons stimme mit dem christlichen Glauben überein, meinte Augustin. Das können Christen aber erst erkennen, wenn sie von der Gnade Gottes angeleitet werden.
„Wenn die großen griechischen Philosophen noch lebten, würden sie Christen sein. Sie bräuchten an ihren Lehren nur wenige Worte zu ändern“, so fasst Kurt Flasch Augustins Überzeugung zusammen (S. 93).
Augustin übernahm also den „platonisch-universalen Theismus“ (S. 93). Platons Begriff von Gott als dem „höchsten Gut“ setzte sich dann in der Kirche durch, ebenso die platonische Überzeugung, „sinnliches Vergnügen sei der Bestimmung der Seele fürs Jenseits unterzuordnen. (S. 94). „Augustins Neu – Platonismus konzentrierte sich darauf, die Seele durch asketisches Leben zum jenseitigen Dauerglück beim rein geistigen Gott zu führen.“ (S. 94).

8.
Die radikale Lehre von der Gnade, die Gott gewährt, ist seit 396/397 für Augustin entscheidend: „Für ihn endeten nicht mehr nur alle Ungetauften im ewigen Höllenfeuer, sondern auch die Mehrheit der Christen“ (S. 87).

9.
Auf die verheerende Erbsündenlehre Augustins, haben wir schon oft hingewiesen. LINK. Mit seiner Erbsündenlehre hat Augustin das christliche Denken vergiftet und Sexualität letztlich als „Übertragungsweg“ der Erbsünde deklariert.
Kurt Flasch schreibt: „Augustinus machte aus dem Apfelbiss, den der Jesus der Evangelien nie erwähnt hatte, den Sündenfall der gesamten Menschheit und den Beginn der Teufelsherrschaft auf Erden“ (S. 196). „Augustin dachte die Erbsünde als die durch geschlechtliche Vermehrung übertragene Fortdauer der Ursünde im Paradies. Augustin ERFAND die Erbsünde, die in der Theologie vor ihm nur ein Erbschaden war, nun als wahre Schuld, als wirkliche Sünde, die auch den Neugeborenen anhafte…“ (S. 197).
Die Konsequenz: „Im Denken Augustins kommen selbst alle Getauften nicht mehr in den Himmel.“ (S. 197) Erlösung heißt dann: Der von den Sünden der Menschen erzürnte Gott (Vater) „kann allein besänftigt werden durch die Tötung seines eigenen Sohnes, des Gottesohnes, am Kreuz“ (S. 198.) Diese abstoßende Vorstellung von einem Gott, der seinen Sohn in den Tod schickt als Erlösung der Menschen wird heute noch theologisch gelehrt, hat sich aber heute de facto wohl erledigt: Gebildete Christen glauben das einfach nicht mehr…
Aber Augustinus sagt: „Wenn Gott wollte, würden alle gerettet. Aber Gott will es nicht seit Adams Sünde; er rettet aus der Masse der Sünder nur, wen er retten will. Also geht die überwiegende Mehrheit für immer verloren“ (S. 208). An dieser Stelle muss an das Fortleben dieser theologischen Ideologie etwa im Denken des Reformators Calvins erinnert werden…

10.
Kritische Hinweise zu einigen zentralen theologischen Aussagen Augustins bietet keineswegs nur Kurt Flasch. Man muss nur die ausführliche Biographie des Historikers Peter Brown (Oxford) „Augustinus von Hippo“ lesen (auf Deutsch erschienen 1982): Auch Peter Brown beschreibt den schwierigen Charakter Augustins, seine Strenge als Bischof im Kampf gegen die große Glaubensgemeinschaft der Donatisten, seinen leidenschaftlichen, polemischen Kampf gegen Andersdenkende insgesamt. Sein Kampf galt auch kompetentem gebildeten Bischöfen wie Julian von Eclanum: Er lehnte die Erbsündenlehre Augustins ab und wurde von ihm verfolgt… Die Erbsündenlehre Augustins, die Julian von Eclanum zurecht ablehnt, beschreibt Peter Browns: „Da der Geschlechtstrieb für Augustin eine permanente Strafe war, wurde er als permanente Neigung, als triebhafte Spannung dargestellt, der man widerstehen konnte, die jedoch in Tätigkeit blieb, selbst wenn sie unterdrückt wurde“ (S. 340). Und weiter: „Der Gott des Augustinus war ein Gott, der eine Kollektivstrafe für die Sünde eines Mannes (Adam) verhängt hatte“. Die Lehre des 1. Timotheus Briefes im Neuen Testament: „Gott will, dass ALLE Menschen gerettet werden“ (1 Tim. 2,4) bemühte sich „Augustin wegzuerklären… (S. 351), also beiseite zu lassen, zu ignorieren. Und angesichts der theologischen Lehren des „liberalen“, auf die Kraft der menschlichen Freiheit setzenden Theologen Pelagius wollte er seine katholische Gemeinde wie in eine Festung einsperren, um sie vor den Angriffen des Irrlehrers zu schützen.“(S. 352). Über Pelagius contra August hat Kurt Flasch in seiner Studie „Augustin. Einführung in sein Denken“ ausführlich geschrieben (S. 176 ff.): “Als der Bischof von Rom, Zosimus, den Theologen Pelagius rehabilitierte, intrigierte Augustin solange beim kaiserlichen Hof in Ravenna, bis der Kaiser intervenierte…“ Deswegen wurde Pelagius aus Rom verbannt…“ (S. 178) und seine Anhänger auf Betreiben Augustins verfolgt. Augustin gelang es mit Bestechungen die Pelagius – Freunde einzuschränken, „gegen die verbleibenden Anhänger des Pelagius mobilisierte Augustin die Staatsgewalt“ (S. 179).

11.
Man mag auch im Buch von Peter Brown einzelne Zitate und Sentenzen finden, die einen sympathischen Augustinus zeigen: Aber im ganzen war er als Bischof ein sehr polemischer Theologe in den aufgewühlten Zeiten des 4. und 5. Jahrhunderts. Und es mag ja sein, dass seine Weisungen, also seine „Regel“ zum Zusammenleben der Priester (die so genannte Ordensregel) nach wie vor allgemein gehaltene, durchaus noch inspirierende Vorschläge enthalten, aber was bleibt denn sonst noch?
Nebenbei: Dass Augustinus von seiner Herkunft her ein Afrikaner ist, wird meines Wissens oft übersehen oder vergessen. Vielleicht wäre dieser „afrikanische Augustinus“ nicht nur eine Herausforderung für die Augustinerorden (es gibt ja mehrere), etwa indem sie ihre Klöster in Europa für Flüchtlinge aus Afrika öffnen und – wie die Jesuiten – einen „Flüchtlingsdienst“ einrichten…

12.
Henri Marrou, ein „klassischer“ Augustinus- Kenner und durchaus Augustinus – Freund, schreibt über die enorme Bedeutung Augustins in den Kirchen im 17. Jahrhundert: „Er erfüllt das ganze Jahrhundert, alle zitieren, benutzen und kommentieren ihn… es wird schließlich eine Besessenheit daraus: Man wagt nicht mehr, Vorbehalt und Kritik zu äußern, der heilige Augustinus hat immer und überall recht.“ (in Rowohlts Monographie „Augustinus“ von Henri Marrou, 1984, S. 147).

13.
Hinweise von Kurt Flasch aus einem Buch „Augustin. Einführung in sein Denken“, Reclam, 1980:
Im 17. Kapitel seiner Studie spricht Flasch vom „Zwiespalt Augustins“ (S. 403 ff.). Augustin sieht „das Böse gerade bei den `guten` Taten (S. 404). „Er bestand darauf, das Höllenfeuer sei körperliches Feuer“ (S. 419). „Solche Sätze gaben dem Kirchenglauben der westlichen Christenheit eine Buchstäblichkeit und Enge, die ihn mit der (philosophischen) Aufklärung in Konflikt brachte (S. 419). Und auch dies: „Die Gewohnheiten der Gruppe (bestimmter Christen) sollte das Sprechen einzelner normieren. Vielleicht hat Augustin an keiner anderen Stelle seinen Bruch mit dem antiken Ideal freier Rede härter und folgenreicher ausgesprochen als an dieser Stelle“ ( S. 420). „Der Militärdienst wurde bei ihm unbedenklich. Augustin konnte christliches Leben und Militärdienst erbaulich in Parallele setzen“(S. 422).

14.
Papst Leo XIV. beschwört als Augustiner seit Beginn seiner Regierung ständig den Wert der EINHEIT unter den Gläubigen. Der Papst meint, Einheit sei DIE zentrale Forderung Augustins für die Kirche auch heute. Wer sich allerdings genauer anschaut, wie im einzelnen Augustin als Bischof für die Einheit unter den vielfältigen Christen in Nordafrika damals sorgte (von der großen kirchlichen Bewegung der Donatisten war schon die Rede) und seiner katholischen Kirche auch mit Druck und Zwang zum Sieg verhalf, der hat seine Zweifel an der Relevanz der augustinischen Einheits-Idee. Sie passt angesichts der Pluralität der Kulturen und Theologien nicht mehr in unsere Zeit.

15.
Die Idee einer theologischen Einheit unter den eineinhalb Milliarden Katholiken heute ist ohnehin sehr problematisch. Denn die Vielfalt der Glaubensüberzeugungen und moralischen Vorstellungen ist unter den 1,5 Milliarden Katholiken heute so unterschiedlich, dass von einer Einheit keine Rede sein kann, Einheit im Sinne von: “Wir Katholiken glauben alle das Gleiche und haben die gleichen theologischen Prinzipien etwa zur Rolle der Frauen oder der Homosexuellen in der Kirche“ . Und eine solche Einheit „Alle glauben das Gleiche und sprechen in gleichen Formeln vom Glauben“ ist nicht nur faktisch unmöglich, sondern auch theologisch nicht wünschenswert und angesichts der Vielfalt der Kulturen auch sinnlos.

16.
Über die Bedeutung der Einheitsvorstellung beim Augustiner Papst Leo XIV. wird in Zukunft noch viel debattiert und kritisiert werden, hoffentlich.

Fußnote 1:
Es ist aber beachtlich, dass der Augustinus – begeisterte Papst Leo XIV. schon am 18.Mai 2025 in seiner ersten großen, wichtigen Predigt zur Amtseinführung betonte: “Es geht niemals darum, andere durch Zwang, religiöse Propaganda oder Machtmittel zu vereinnahmen, sondern immer und ausschließlich darum, so zu lieben, wie Jesus es getan hat.“ Und der Augustiner Papst Leo XIV. machte diese Aussage noch deutlicher: „Wir sind gerufen, allen Menschen die Liebe Gottes zu bringen, damit jene Einheit Wirklichkeit wird, die die Unterschiede nicht aufhebt, sondern die persönliche Geschichte jedes Einzelnen und die soziale und religiöse Kultur jedes Volkes zur Geltung bringt.“ Das sind hoffentlich programmatische, man möchte beinahe sagen: anti – augustinische Worte. LINK https://www.vaticannews.va/de/papst/news/2025-05/wortlaut-predigt-von-leo-xiv-zur-amtseinfuhrung.html
Der Augustiner Papst Leo XIV. widerspricht der höchst problematischen Weisung des Bischofs Augustinus, man solle die unwilligen Menschen auch zwingen, den Glauben anzunehmen… Augustinus bezieht sich dabei auf das Gleichnis Jesu vom großen Gastmahl (Lukas14,23). Dieses Wort Jesu ist eine Einladung fremder Gäste zu einem Festmahl, es hat aber nichts mit zwanghafter Einfügung von Ketzern in die katholische Kirche zu tun, wie Augustinus dieses Jesuswort umdeutete. Augustinus versteht es als „Aufforderung zur Gewaltanwendung und er verwendet es neben anderen Argumenten als Beleg zur Billigung von Gewaltmaßnahmen gegen Häretiker. Das von Augustinus als dem erstem, doch nicht häufig verwendete Zitat hatte für die Ketzerbekämpfung in Mittelalter und Neuzeit verheerende Wirkung.“ LINK:

Fußnote 2:

Augustins Aussagen über Frauen:

“Ist Augustin auf eine gleichrangige Bewertung beider Geschlechter bedacht, so ändert sich das Bild bei der Frage nach dem Zweck der Erschaffung eines weiblichen Partners für Adam und den daraus folgenden spezifischen Aufgaben der Frau. Augustin: „Erschaffen wurde die Frau also für den Mann, aus dem Mann, mit ihrem Geschlecht, ihrer Formung und der Verschiedenheit ihrer Organe, die das Kennzeichen der Frau sind.“ Die Hilfsfunktion der Frau erfüllt sich ausschließlich in ihrer Rolle als Mutter. Die Frage nach möglichen Alternativen für die Rolle der Frau stellt Augustin sichtlich vor ein Rätsel: „Wenn die Frau nicht dem Manne zur Hilfeleistung, um Kinder hervorzubringen, gemacht worden ist, zu welcher Hilfe ist sie dann gemacht worden?“ Der Gedanke, Mann und Frau könnten durch freundschaftliche Beziehungen miteinander verbunden sein, erscheint Augustin als abwegig, schließlich birgt der Umgang mit Frauen stets die Gefahr der Erotisierung in sich, welche die Reinheit des freundschaftlichen Umgangs trüben könnte. Zudem implizierte der antike Freundschaftsgedanke die Freundschaft unter Gleichen, die allein die notwendige Einheit und Verbundenheit zu erbringen vermag.

Ihre anthropologische Bestimmung als Gehilfin des Mannes verpflichtet die Frau in der ehelichen Beziehung zu spezifischen Pflichten und Wesenszügen. Augustin entwirft das Sittenbild einer christlichen Ehefrau mit den wesentlichen Tugenden des Gehorsams und der Sittsamkeit im Rahmen ihrer Aufgabe als treusorgende Mutter der aus der Ehe entsprungenen Kinder.

Augustin beschränkt die Möglichkeiten weiblicher Selbstverwirklichung wie seine christlichen Zeitgenossen auf die Ehe, die Witwenschaft und die Jungfräulichkeit, wobei er stets die Superiorität der Jungfräulichkeit hervorhebt. Paradebeispiel für die Vollendung des „züchtig-frommen Frauentypus“ ist Maria, da sie sowohl das Ideal der Jungfräulichkeit als auch das der Ehefrau und Mutter in Reinform repräsentiert. An ihr wird auch die androzentrische Perspektive des frühchristlichen Frauenbildes deutlich, denn Maria erscheint nie als eigenständige Persönlichkeit, sondern stets nur in ihrer Beziehung zu einem männlichen Partner: Sie ist die jungfräuliche Mutter, die Braut Christi und die folgsame Gattin Josefs, und ihre Aufgaben beschränken sich auf ihre dienende mütterliche Funktion.

Sexuelle Enthaltsamkeit ist für Augustin aber nur dann von moralischer Bedeutung, wenn sie in dem höheren sittlichen Zweck der exklusiven Bindung an Gott und der Abwendung von allem Weltlichen gründet. Selbst eine mehrfach verheiratete christliche Frau ist für Augustin besser als eine jungfräuliche Häretikerin, da die spirituelle Virginität auch ohne die des Körpers realisierbar ist und umgekehrt.

Allerdings gibt der Autor Kiesel zu bedenken, dass Augustins Frauenbild auf dem Boden einer asketisch geprägten eschatologischen Naherwartung entstanden ist und demzufolge alle irdischen Beziehungen unter dem Aspekt der Vorläufigkeit und Zweitrangigkeit zu betrachten sind.”

Quelle: https://www.information-philosophie.de/augustinus-frauenbild.html.

SIEHE AUCH UNSEREN BEITRAG “AUGUSTIN EIN RIGIDER THEOLOGE der spätantiken Welt. veröffentlicht am 26.5.2025: LINK 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Wer stoppt das Aushungern der Palästinenser im Gaza – Streifen? Werden KZs von Israels Regierung errichtet?

Wenn faschistische Ideologie zur Realität der Regierung Israels wird. Und eine jüdische Regierung KZ ähnliche Siedlungen für Palästinenser bauen will.

Wir veröffentlichen diese 25. unserer “unerhörten Fragen” nun noch einmal als 26. der unerhörten Fragen:

Wir veröffentlichen diese “Unerhörte Frage”, weil die kaum beschreibbare tötende Gewalt des Staates Israel gegen die Palästinenser “himmelschreiend “ist, um ein biblisches Wort zu benutzen. Die aller Humanität (vom biblischen Glauben der Juden in der Regierung Israels sprechen wir schon gar nicht, sie sind offenbar Heiden geworden?)  widersprechende Tötung und die Aushungeraktion, mit dem Bau von KZ ähnlichen Anlagen für die Palästinenser, ist eine Schande des Judentums, eine Schande der der Menschheit, vor allem eine Schande, dass die kleine, demokratisch verbliebene  Welt außer Stande ist, dass Morden der Regierung Israles sofort zu stoppen. Sind die progressiven Juden weltweit,in den USA und Europa so ohnmächtig, dass sie dem Verbrecher – Regime des Staates Israel jetzt kein Stop verfügen können, indem sie dieser Regierung und diesem sich immer jüdisch nennenden Staat mit dieser Regierung keinen Dollar, keinen Euro mehr schenken?

Die 25. unserer „unerhörten Fragen“,  von Christian Modehn am 26.5.2025

Ergänzung am 15.7.2025 aus einem Beitrag des “Tagesspiegel” am 15.7.2025: Ein Interview mit dem Politiker und EX-Premier Ehud Olmert. Darin bezeichnet Olmert den geplanten Bau von Unterbringungen für viele Tausend Palästinenser durch die Netanjahu Regierung als KZ ähnliche Unterbringungen . FUßNOTE 1.

Der Hintergrund: Das Wort „aushungern“ gehört wie „ausmerzen“ und „ausrotten“ zur Sprache der Nazi – Verbrecher.

Vor allem der rechtsextreme Finanz – Minister Israels Bezalel Smotrich hat das faschistisch zu nennende Projekt „aushungern“ (store) für die Palästinenser in die Öffentlichkeit gebracht und durchgesetzt. Sogar der Beauftragte der Bundesregierung gegen Antisemitismus, Felix Klein, kritisiert jetzt öffentlich dieses Programm des Rechtsextremen Belazel Smotrich.

Der Eindruck einiger Menschen in Deutschland:
Die verhungernden Menschen im Gaza-Streifen, ihr Betteln um ein paar Reste Nahrung, ihr Leiden im einzigen verblieben, aber auch schon von Isarelis ruinierten Krankenhaus… Das erinnert deutlich an Bilder in den KZs der Nazis. Die Bilder vom Damals der KZs und vom Heute in Gaza erleben Menschen auch in Deutschland sozusagen als eine Art Überblendung, wenn nicht als Einheit.

Zur Erinnerung: Die Gründer des Staates Israel wollten diesen Staat als einen explizit jüdischen (und demokratischen) Staat. Das heißt: Verpflichtet auch den humanen Weisungen der hebräischen Bibel, vor allem der Propheten. Wie wenig gilt jetzt noch dieser Geist, diese “Spiritualität”? Die Rache Israels – wegen der Verbrechen der Hamas am 7. Oktober 2023 – wird ins absolut Maßloseste übertrieben. Dieser verrückte Spruch der Bibel: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ meint: Wenn man sich denn rächt, dann nur in GLEICHER HÖHE des Schadens, den der Täter angerichtet hat. Es ist bei diesem Denken gar nicht zynisch, seit dem 7.10.2023 die Zahl der Toten in Israel und die Zahl der Toten im Gaza-Streifen zu zählen und die Zahl der zerstörten Häuser und Hochhäuser in Israel und die Zahl der zerstörten Häuser und Hütten im Gaza-Streifen zu nennen…

Wann kommt es zum Aufstand der Demokraten in Israel gegen diese ihre faschistische Regierung? Ist die in Europa so viel gelobte „Demokratie“ Israels schon zerstört?
Europäer wissen aber nun klar zu unterscheiden: Anti-Israelismus (bei dieser Regierung dort !) hat überhaupt nichts zu tun mit Antisemitismus.
Der erste Schritt Europas zur Rettung der Verhungernden im Gaza-Streifen ist: Keine Waffen mehr für Israel … bei diesen faschistischen Politikern.

Die viel besprochene und durchaus wichtige „Jüdisch – christliche Zusammenarbeit“ (“Woche der Brüderlichkeit”!) müßte unter den aktuellen Bedingungen ab jetzt neu definiert werden. Und bei dieser (!) Regierung in Israel auch das  „Anti-israelische” (gemeint ist diese Regierung) einbeziehen.

Es gibt bekanntlich viele Juden weltweit, die gegen diese eher faschistisch zu nennende Regierung in Israel protestieren. Sie haben sich bis jetzt leider nicht durchgesetzt…

FUßNOTE 1:

Frage: Herr Olmert, der israelische Verteidigungsminister Israel Katz hat vorgeschlagen, in Gaza auf den Ruinen von Rafah eine „humanitäre Stadt“ zu bauen, in der alle Palästinenser wohnen sollten. In einem Interview mit „The Guardian“ haben Sie das mit einem Konzentrationslager verglichen. Warum?

Olmert: Ich habe gesagt, es könnte zu etwas wie einem Konzentrationslager werden. Die Initiative von Verteidigungsminister Katz sieht vor, dass mehr als 600.000 Palästinenser deportiert werden – von dort, wo sie derzeit leben, in ein Sperrgebiet, das von allen Seiten eingezäunt ist. Und das mit angeblich „humanitärer“ Absicht.

Was möchten Sie erreichen?
Ich will mit meinen drastischen Worten warnen: Die internationale Gemeinschaft wird dieses Lager, das jetzt von der Regierung in Erwägung gezogen wird, als etwas Ungeheuerliches empfinden. Zu Recht. Und sollte es tatsächlich eingerichtet werden, werden diese Vergleiche auch von anderer Seite angestellt werden. Denn weltweit kann kaum noch jemand nachvollziehen, was die israelische Regierung derzeit in Gaza macht…

Wenn Menschen im Rahmen eines illegitimen Kriegs getötet werden, muss man das trotzdem als Kriegsverbrechen bezeichnen.

Mit welcher Konsequenz?
Netanjahu und die anderen Verantwortlichen sollten für die Verbrechen verurteilt werden, die sie begangen haben. Aber das muss in Israel geschehen – entsprechend der demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung unseres Staats.

Genau die sehen Sie und viele andere Beobachter aber in Gefahr durch die Netanjahu-Regierung.
Ja. Die Regierung hat den staatlichen Institutionen und der Bevölkerung den Krieg erklärt. Derzeit versucht sie, die Generalstaatsanwältin zu entlassen. Es ist ein weiterer Schritt, um die Justiz zu schwächen, die Gewaltenkontrolle auszusetzen, die Freiheitsrechte der Bürger einzuschränken und immer mehr Macht an sich zu reißen. Wir müssen verhindern, dass unsere Demokratie weiteren Schaden nimmt.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Der Augustinermönch Papst Leo XIV. und der Augustinermönch Martin Luther

Ein Hinweis von Christian Modehn am 8. Mai 2025.

Papst Leo XIV. ist Mitglied des Augustiner – Ordens, dem auch der Reformator Martin Luther angehörte. Zu Luthers Zeiten noch „Augustiner Eremiten“ genannt.

Papst Leo XIV. und Martin Luther sind in gewisser Weise, wie es in Kirchenkreisen heißt, „Mitbrüder.“ Werden sie zerstrittene „Mitbrüder“ bleiben? Martin Luther war von 1505 -1524 Augustiner-Mönch. Seit der Zeit trug er nicht mehr die Ordenskleidung und zeigte öffentlich sein “Anderssein” als Reformator.

Ob Leo XIV. die Papstkritik seines Mitbruders Martin Luther ernst nimmt und die Ökumene als versöhnte Verschiedenheit der Kirchen und Christen voranbringt? Das wünschen sich einige an der Ökumene noch Interessierte. Ich halte es eher für unwahrscheinlich.

Papst Leo XIV. hat zwar in seiner Biografie sicher viele wichtige unterschiedliche Erfahrungen. Etwa Arme und Armut in Peru, Befreiungstheologie in Peru, Universitätserfahrungen an der Universität der Augustiner in Philadelphia USA (Villanova-Uni) sowie die Besetzung von Bischofsstühlen weltweit, organisiert von seinem einstigen „Bischofs-Ministerium“ im Vatikan…
Aber Ökumene? Vielleicht helfen etwas Gedanken des heiligen Augustinus weiter vom gemeinschaftlichen Kloster Leben in der Verschiedenheit der Mentalitäten.
Wünschen würde ich vor allem, dass ein Augustiner als Papst im 21. Jahrhundert endlich die furchtbare und falsche Erbsündenlehre des heiligen Augustinus beiseite legt, also abschafft. Aber auch das ist sogar sehr unwahrscheinlich. Dogmen werden nicht abgeschafft…Aber warten wir ab…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Menschen werden dumm gemacht – von Populisten, Autokraten und Rechtsextremen, sagt Dietrich Bonhoeffer

Der Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer über ein aktuelles politisches Übel.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 17. März 2025.

Ein Vorwort:
Der Widerstandskämpfer, der protestantische Theologe Dietrich Bonhoeffer (er wurde am 9. April 1945 von Nazis hingerichtet), hat auch einen Essay über die Dummheit geschrieben. Damit meint er: Wie umgehen mit Menschen, die kritiklos und ohne eigenes Nachdenken ideologischen Parolen von rechtsradikalen Autokraten und Nazi – Populisten folgen. Und die dabei die Demokratie stören und zerstören. Und damit auch die eigenen freien, humanen Lebensbedingungen einschränken. Aber das wissen diese Menschen gerade nicht oder sie verleugnen für sich diese Tatsache. Deswegen nennen kritische Beobachter die politische Haltung dieser Menschen dumm. Also: Nicht der ganze Mensch ist dumm, es geht um die politische Haltung der Gedankenlosigkeit als Dummheit.
Wir empfehlen die Lektüre dieses Textes von Dietrich Bonhoeffer, der unter 17. hier nachzulesen ist.

Aber wir versuchen auch, von einem aktuellen Ausgangspunkt aus die Bedeutung der immer schwierigen Reflexionen über Dummheit hervorzuheben. Dass Dummheit ein philosophisches Thema ist, steht außer Frage. Warum? Weil es zu viele dumme Menschen gibt, die es nicht wagen, „sich des eigenen Verstandes kritisch zu bedienen“, wie Immanuel Kant sagte.
………….

Dieser Hinweis hat zwei Kapitel: 

Erstens: Allgemeine philosophische Reflexionen über die Dummheit. (Nr. 1-4)

Zweitens: Die Kritik Dietrich Bonhoeffers an der politischen Dummheit. (Nr. 5- 17)

………….

ERSTENS: Allgemeine philosophische Reflexionen über die Dummheit. 

1.

Nicht zuerst Autokraten sind dumm, sie sind meist sogar sehr raffiniert in ihrer Lügenwelt. Dumm sind auch nicht zuerst die gerissenen ParteiführerInnen von rechtsextremen Parteien inmitten der noch bestehenden Demokratien. Als dumm gelten Menschen, die blind und gedankenlos diese Autokraten wählen bzw. die rechtsextremen Parteien in Demokratien ihre Stimme geben.

2.

Diese Menschen gelten als dumm, weil sie, volljährig, erwachsen, oft mit einem Reifezeugnis ausgestattet usw., also „eigentlich“ bei Sinn und Verstand sind … dann aber Politikerinnen wählen bzw. unterstützen, die – laut öffentlich zugänglichen Parteiprogrammen – die Demokratie letztlich zerstören wollen. Diese so genannten Politiker wollen den Menschen ihre freie Lebenswelt Schritt für Schritt, langsam, aber systematisch, vernichten: Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Pluralität der Kulturen im eigenen Land, … absolute Gültigkeit der Gerichtsurteile des Rechtsstaates soll es nicht mehr geben … Solche PolitikerInnen zu wählen ist manchmal auch Ausdruck von Verzweiflung und Hilflosigkeit …vor allem aber: Ausdruck dafür, dass eigenes umfassendes Nachdenken stillgelegt wurde. Und gerade dies ist der Ausdruck von Dummheit.

3.

Damit soll keineswegs behauptet werden, alle humanen Qualitäten des einzelnen Wählers dieser Parteien seien total zerstört. Nur unter dieser Bedingung meinen wir, das unterstreicht auch Bonhoeffer, diese Menschen wieder für die Werte der Demokratie und des Rechtsstaates zu begeistern, als der einzig humanen Staatsform.

4.

Es gibt längst eine philosophische Debatte über die Dummheit. (Fußnote 1). Einige Autorinnen berufen sich – eher pessimistisch – auf das Sprichwort: „Gegen Dummheit ist kein Kraut gewachsen“.

Der Philosoph Martin Seel hat in einem kleinen Essay (Fußnote 3) Dummheit kurz definiert: “Dumm verhält sich, wer von seinen eigenen geistigen und körperlichen Gaben eine allzu geringe oder nachlässige Verwendung macht.” Und Martin Seel hat eine Verbindung gezeigt zu politischer Dummheit: “Nur was ihren simpen Maßstäben entspricht, halten Dumme für vernünftig. Was in ihrem Horizont liegt, halten sie für den Nabel der Welt, was über ihn hinaus geht, erscheint ihnen abstrus oder bedrohlich. Dumme schlagen um sich, sobald ihnen zugemutet wird, sich einer komplexen Realität zu stellen” (dort S. 63).

Brecht Brecht hat 1933 geschrieben: „ Hinter der Trommel trotten die Kälber, das Fell für die Trommel liefern sie selber“, ein Hinweis auf die deutschen Soldaten im Krieg, die dem „Ruf“ des Metzgers Adolf Hitler und seiner Gesellen folgen… Von der heutigen Psychologin und Autorin Heidi Kastner (Fußnote 1) stammt die Erkenntnis, „dass Nicht – Dumme immer das destruktive Potential der Dummen unterschätzen und immer wieder vergessen, dass es sich immer und überall als kostspieliger Fehler erwiesen hat, mit Dummen gemeinsame Sache zu machen“ (S. 90 im Buch „Dummheit“). Aber: „Gemeinsame Sache“ mit Dummen zu machen ist etwas anderes als mit bestimmten rechtsradikalen Leuten das geduldige Gespräch zu suchen, um sie zur Demokratie einzuladen und zur Demokratie „zurückzuholen“… Das mag als Utopie gelten, aber sie ist unverzichtbar für die Rettung der Demokratie und: der Qualität des humanen Lebens.

……

ZWEITENS: Die Kritik Dietrich Bonhoeffers an der politischen Dummheit. 

5.

Das schwierige Thema Dummheit – vor allem in der Politik – wollen wir also vertiefen durch die Erinnerung an einen Text des Widerstandskämpfers und vielseitig begabten protestantischen Theologen Dietrich Bonhoeffer. Er wurde vor 80 Jahren, am 9. April 1945 im KZ Flossenbürg, Bayern, hingerichtet.
Bonhoeffer hat Ende 1942 für einen kleinen Kreis von Freunden einen nur privaten Text verfasst mit dem Titel „Rechenschaft an der Wende zum Jahr 1943“: „An der Wende“ zum Jahr 1943 gab es an der Ostfront heftigste Kämpfe, der Glaube an den unbesiegbaren Führer begann schon zu schwinden…
Dieser Essay besteht aus mehreren kurzen Kapiteln (der ganze Text hat im Buch 15 Seiten). Er ist eine Art philosophisch – theologische Reflexion auf den eigenen geistigen Standort: „Ohne Boden unter den Füßen“ heißt das erste der siebzehn Kapitel, es folgt „Was hält stand?“, dann „Zivilcourage, „Vom Erfolg“ und gleich danach „Von der Dummheit“. (Siehe Fußnote 2, die Seitenangaben beziehen sich auf dieses Buch).

6.

Für Bonhoeffer drängt sich die Frage auf, in welcher geistigen Verfassung sind eigentlich die meisten Deutschen, als sie Hitler ihren Führer nannten und verehrten und sich in den Krieg stürzten. Die klare Antwort Bonhoeffer: Es war die Dummheit der Deutschen, dass dieser Adolf Hitler Millionen Menschen ins Verderben führen konnte und unter anderen Opfern 6 Millionen europäische Juden vernichten ließ von Deutschen und deren europäischen Kollaborateuren….

7.

Die Überlegungen Bonhoeffers zur politischen Dummheit so vieler Deutscher – als Ausdruck ihrer Ergebenheit für einen populistisch sich gebenden Verbrecher – sind sicher auch von Einsichten Karl Bonhoeffer, des Vaters und Psychiaters inspiriert.

8.

Wir nennen hier nur einige zentrale Einsichten Bonhoeffer, die im Kontext der Nazi – Herrschaft stehen, aber darüber hinaus allgemeine Bedeutung auch heute haben, zumal wenn man auf gegenwärtige Autokraten schaut und deren dumme Gefolgschaft. Nr. 15 bietet den ganzen lesenswerten Text.

9.
Entscheidend ist für Bonhoeffer: „Menschen werden – von Politikern, Autokraten – dumm gemacht, Dummheit ist also nichts Angeborenes.“ (Das gilt etwa für die LeserInnen von primitiven Boulevard – Druckerzeugnissen, CM).
„Jede äußere Machtentfaltung (eines Autokraten, Diktators) schlägt einen großen Teil der Menschheit mit Dummheit“ (also mit blinder Verehrung dieser Verbrecher etc..)
„In Gesprächen mit dem Dummem merkt man, man hat es im Gespräch nur mit über ihn mächtig gewordenen Schlagworten, Parolen etc. zu tun.“ (S. 16).

10.

Der Dumme glaubt an Fakes, so die aktuelle Einsicht Bonhoeffer: „Tatsachen, die dem eigenen Vorurteil widersprechen, brauchen einfach nicht geglaubt zu werden, in solchen Fällen wird der Dumme sogar kritisch – wenn die Tatschen unausweichlich sind, können sie einfach als Nichts sagende Einzelfälle beiseite geschoben werden.“
Die entscheidende Warnung Bonhoeffers vor dem Dummen: „Der Dumme ist gefährlicher als der Mensch der Bosheit. Der Dumme ist mit sich selbst zufrieden, er wird sogar gefährlich…“ (S. 15).

11.
Das Wesen der Dummheit ist ein allgemeiner menschlicher Defekt, nicht ein intellektueller Defekt, also kein Mangel an bestimmtem Wissen. „Selbst intellektuell Schwerfällige sind nicht dumm“, sagt Bonhoeffer, weil sie – etwa als technisch oder mathematisch Unbegabte – eine Weisheit bewahrt haben…

12.

„Der Dumme ist (von den Autokraten, Diktatoren) in seinem eigenen Wesen missbraucht, misshandelt.“ (S, 16). „So zum willenlosen Instrument geworden, wird der Dumme auch zu allem Bösen fähig und zugleich unfähig, dieses als Böses zu erkennen“. Man würde gern diese Erkenntnis Bonhoeffers mit der Erkenntnis Hannah Arendts verbinden, die Adolf Eichmann, den Erz – Verbrecher im Nazi – Staat, als Ausdruck der Banalität des Bösen, also Ausdruck schlimmster Dummheit, interpretierte.

13.

Gibt es für Bonhoeffer eine Befreiung von der Dummheit? Er ist zunächst skeptisch: „Weder mit Protesten noch durch Gewalt läßt sich hier etwas ausrichten… Niemals werden wir mehr versuchen, den Dummen durch Gründe zu überzeugen, es ist sinnlos und gefährlich“ (S. 15). „Dabei ist der Dumme im Unterschied zum Bösen restlos mit sich selbst zufrieden; ja, er wird sogar gefährlich, indem er leicht gereizt zum Angriff übergeht. Daher ist dem Dummen gegenüber mehr Vorsicht geboten als gegenüber dem Bösen.“ (Seite 15, „Widerstand und Ergebung“, auch Fußnote 2)

14.

Und doch glaubt Dietrich Bonhoeffer am Schluss seiner Überlegung an eine innere Befreiung des Dummen, also an eine Art Reinigung des Bewusstseins. Aber die geht nicht ohne die äußere, also politische Befreiung. Erst Demokratie und Rechtsstaat sowie Sozialstaat können politische Dummheit einschränken und überwinden.
Und was die „innere Befreiung“ (vielleicht als Therapie) angeht: Da ist der Theologe Bonhoeffer überzeugt. Ohne Verbindung des Menschen mit Gott, als dem Grund des Daseins und der absoluten Stimme im Gewissen, wird geistige und seelische Befreiung von Dummheit nicht möglich sein.

15.

Dem Kapitel „Von der Dummheit“ folgt gleich die auch theologisch argumentierende Reflexion zum Thema „Menschenverachtung.“ So will wohl Bonhoeffer deutlich machen: Die Kritik an – politisch – dummen Menschen hat nichts mit definitiver Verachtung dieser Menschen zu tun.

 

16. Menschenverachtung? Ein Essay Dietrich Bonhoeffers:
Die Gefahr, uns in Menschenverachtung hineintreiben zu lassen, ist sehr groß. Wir wissen wohl, daß wir kein Recht dazu haben und daß wir dadurch in das unfruchtbarste Verhältnis zu den Menschen geraten. Folgende Gedanken können uns vor dieser Versuchung bewahren: mit der Menschenverachtung verfallen wir gerade dem Hauptfehler unserer Gegner. Wer einen Menschen verachtet, wird niemals etwas aus ihm machen können. Nichts von dem, was wir im anderen verachten, ist uns selbst ganz fremd. Wie oft erwarten wir von anderen mehr, als wir selbst zu leisten willig sind. Warum haben wir bisher vom Menschen, seiner Versuchlichkeit und Schwäche so unnüchtern gedacht? Wir müssen lernen, die Menschen weniger auf das, was sie tun und unterlassen, als auf das, was sie erleiden, anzusehen. Das einzig fruchtbare Verhältnis zu den Menschen – gerade zu den Schwachen – ist Liebe, d.h. der Wille, mit ihnen Gemeinschaft zu halten. Gott selbst hat die Menschen nicht verachtet, sondern ist Mensch geworden um der Menschen willen.

17. Der vollständige Text Dietrich Bonhoeffers „Von der Dummheit“:

Dummheit ist ein gefährlicherer Feind des Guten als Bosheit. Gegen das Böse läßt sich protestieren, es läßt sich bloßstellen, es läßt sich notfalls mit Gewalt verhindern, das Böse trägt immer den Keim der Selbstzersetzung in sich, indem es mindestens ein Unbehagen im Menschen zurückläßt. Gegen die Dummheit sind wir wehrlos. Weder mit Protesten noch durch Gewalt läßt sich hier etwas ausrichten; Gründe verfangen nicht; Tatsachen, die dem eigenen Vorurteil widersprechen, brauchen einfach nicht geglaubt zu werden – in solchen Fällen wird der Dumme sogar kritisch –, und wenn sie unausweichlich sind, können sie einfach als nichtssagende Einzelfälle beiseitegeschoben werden. Dabei ist der Dumme im Unterschied zum Bösen restlos mit sich selbst zufrieden; ja, er wird sogar gefährlich, indem er leicht gereizt zum Angriff übergeht. Daher ist dem Dummen gegenüber mehr Vorsicht geboten als gegenüber dem Bösen. Niemals werden wir mehr versuchen, den Dummen durch Gründe zu überzeugen; es ist sinnlos und gefährlich. Um zu wissen, wie wir der Dummheit beikommen können, müssen wir ihr Wesen zu verstehen suchen. Soviel ist sicher, daß sie nicht wesentlich ein intellektueller, sondern ein menschlicher Defekt ist. Es gibt intellektuell außerordentlich bewegliche Menschen, die dumm sind, und intellektuell sehr Schwerfällige, die alles andere als dumm sind. Diese Entdeckung machen wir zu unserer Überraschung anläßlich bestimmter Situationen. Dabei gewinnt man weniger den Eindruck, daß die Dummheit ein angeborener Defekt ist, als daß unter bestimmten Umständen die Menschen dumm gemacht werden, bzw. sich dumm machen lassen. Wir beobachten weiterhin, daß abgeschlossen und einsam lebende Menschen diesen Defekt seltener zeigen als zur Gesellung neigende oder verurteilte Menschen und Menschengruppen. So scheint die Dummheit vielleicht weniger ein psychologisches als ein soziologisches Problem zu sein. Sie ist eine besondere Form der Einwirkung geschichtlicher Umstände auf den Menschen, eine psychologische Begleiterscheinung bestimmter äußerer Verhältnisse. Bei genauerem Zusehen zeigt sich, daß jede starke äußere Machtentfaltung, sei sie politischer oder religiöser Art, einen großen Teil der Menschen mit Dummheit schlägt. Ja, es hat den Anschein, als sei das geradezu ein soziologisch-psychologisches Gesetz. Die Macht der einen braucht die Dummheit der anderen. Der Vorgang ist dabei nicht der, daß bestimmte – also etwa intellektuelle – Anlagen des Menschen plötzlich verkümmern oder ausfallen, sondern daß unter dem überwältigenden Eindruck der Machtentfaltung dem Menschen seine innere Selbständigkeit geraubt wird und daß dieser nun – mehr oder weniger unbewußt – darauf verzichtet, zu den sich er gebenden Lebenslagen ein eigenes Verhalten zu finden. Daß der Dumme oft bockig ist, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß er nicht selbständig ist. Man spürt es geradezu im Gespräch mit ihm, daß man es gar nicht mit ihm selbst, mit ihm persönlich, sondern mit über ihn mächtig gewordenen Schlagworten, Parolen etc. zu tun hat. Er ist in einem Banne, er ist verblendet, er ist in seinem eigenen Wesen mißbraucht, mißhandelt. So zum willenlosen Instrument geworden, wird der Dumme auch zu allem Bösen fähig sein und zugleich unfähig, dies als Böses zu erkennen. Hier liegt die Gefahr eines diabolischen Mißbrauchs. Dadurch werden Menschen für immer zugrunde gerichtet werden können. Aber es ist gerade hier auch ganz deutlich, daß nicht ein Akt der Belehrung, sondern allein ein Akt der Befreiung die Dummheit überwinden könnte. Dabei wird man sich damit abfinden müssen, daß eine echte innere Befreiung in den allermeisten Fällen erst möglich wird, nachdem die äußere Befreiung vorangegangen ist; bis dahin werden wir auf alle Versuche, den Dummen zu überzeugen, verzichten müssen. In dieser Sachlage wird es übrigens auch begründet sein, daß wir uns unter solchen Umständen vergeblich darum bemühen, zu wissen, was das Volk eigentlich denkt, und warum diese Frage für den verantwortlich Denkenden und Handelnden zugleich so überflüssig ist – immer nur unter den gegebenen Umständen. Das Wort der Bibel, daß die Furcht Gottes der Anfang der Weisheit sei, sagt, daß die innere Befreiung des Menschen zum verantwortlichen Leben vor Gott die einzige wirkliche Überwindung der Dummheit ist. Übrigens haben diese Gedanken über die Dummheit doch dies Tröstliche für sich, daß sie ganz und gar nicht zulassen, die Mehrzahl der Menschen unter allen Umständen für dumm zu halten. Es wird wirklich darauf ankommen, ob Machthaber sich mehr von der Dummheit oder von der inneren Selbständigkeit und Klugheit der Menschen versprechen.

18. Rezeption der Erkenntnisse Bonhoeffers zur Dummheit:

Die TAZ (Autor Stefan Hunglinger) zitiert in ihrem Bericht über den zerstörerischen Umgang  Trumps  mit der Demokratie in den USA auch Dietrich Bonhoeffers Reflexionen  zur Dummheit: TAZ am 15.12. 2025, Seite 16.

Fußnote 1:
Emil Kowalski, Dummheit, Eine Erfolgsgeschichte. J. B. Metzler Verlag 2. Auflage, 2022.
Heidi Kastner, Dummheit. Verlag Kremayr und Scherlau, Wien, 10. Auflage, 2022.

Fußnote 2:
 Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Gütersloher Verlagshaus, 22. Auflage 2019, S. 15.

Fußnote 3: Martin Seel, “111 Tugenden – 111 Laster. Eine philosophische Revue”. S. Fischer Verlag, 2011, der Essay über Dummhei auf den Seiten 62-64. Wir empfehlen ausdrücklich dieses philosophische Buch! LINK

Leider wird in beiden Studien nicht der Essay „Von der Dummheit“ von Dietrich Bonhoeffer diskutiert!

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin