Der Geist ist heilig: Eine kleine Philosophie des Pfingsfestes

Ein Hinweis von Christian Modehn am 30.4.2024. Überarbeiteter Beitrag von 2015, der viel Aufmerksamkeit fand.

Siehe auch: “Eine philosophische “Predigt” zum Pfingstfest”: LINK:

Siehe auch: “Pfingsten – Fest der Philosophen. Ein Vorschlag von G.W.F. Hegel”   LINK

1.
Mit dem Pfingstfest tun sich die meisten Menschen heute schwer. Auch religiöse Menschen. Und daran sind die Kirchen mit-schuld: Die bis heute in kirchlichen Kreisen übliche theologisch-spitzfindige Trennung von (bloß auf den Menschen bezogenem) „Geist“ und dem offenbar göttlichen „Heiligen Geist“ ist nicht nur problematisch. Sie ist falsch. Sie ist ein Relikt aus Zeiten, als die Kirche und ihre amtliche, herrschende Theologie die Wirklichkeit aufspaltete, in “Natürlich” und “Über-Natürlich” trennte. Dabei konnte kein Theologe erklären, was denn nun die “Übernatur” ist. Aber es wurden zwei Welten geschaffen, die eine (natürliche, angeblich heidnische) als fern von Gott befindliche Wirklichkeit; die andere, die übernatürliche Wirklichkeit, als Gnaden-Wirklichkeit: Und diese wird von der Kirchenführung verwaltet und bestimmt. Der weltweit geachtete katholische Theologe Karl Rahner SJ hat in seinen zahlreichen Hinweisen zur Gotteserfahrung immer gezeigt, dass im Wahrnehmen menschlichen Geistes (in der Einsamkeit, in der Liebe, in der Angst usw.) das Göttliche erfahren werden kann. Im menschlichen Geist, wohlgemerkt, an dem alle Menschen Anteil haben. Theologisch formulierte das Karl Rahner so: “Wir leben immer schon in einer von Gott, dem göttlichen Geist, bestimmten Wirklichkeit”. Mit anderen Worten: Der göttliche Geist ist in jedem Menschen, als menschlicher Geist, immer schon wirksam. Universell, selbstverständlich auch in allen Religionen.

2.
Die im Neuen Testament beschriebene Geschichte vom Pfingstereignis will darauf hinweisen: Auch die Gemeinde ist (nach dem Weggang Jesu von Nazareth) geisterfüllt, lebendig, kreativ. Und sie erlebt ihren neuen Optimismus als Geschenk. Sie erlebt vor allem ihre eigene Vielfalt als Gabe. Jede einzelne Sprache, d.h. jede einzelne Kultur, ist wertvoll, keine Sprache, keine Kultur darf dominieren. Alle Sprachen, alle Kulturen, haben das gleiche Lebensrecht. Der in Berlin zu Pfingsten stattfindende “Karneval der Kulturen” als Fest der Vielfalt und der Gleichberechtigung aller Kulturen, ist/war ein (fernes) Echo auf die religiösen Geschichten vom Pfingstfest. Nur wird aus diesem Fest der Viefalt eben ein “Karneval”. Und ein Karneval als Ereignis eines Tages hat keine politischen Konsequenzen für eine gelebte Politik der Vielfalt.  Hat keine Konsequenzen etwa auf die Flüchtlingspolitik, auf die Abwehr des Fremden, auf die alltäglichen (geschürten) Ängste vor dem Anderem. Der “Karneval der Kulturen” ist/war insofern bloß ein “ästhetisches”, aber kein politisches Ereignis.

3.
Schon früher lehrten Philosophen und Theologen, wie Meister Eckart, darin durchaus Thomas von Aquin folgend: Es gibt nur den einen als den einzigen Geist im Menschen. Eigentlich eine Einsicht, die in der geistvollen Erfahrung eines jeden Menschen bestätigt wird: Hat jemand schon einmal seinen “natürlichen” Geist als solchen, später aber seinen “übernatürlichen”, so genannten heiligen Geist als solchen erfahren? Der Geist als Geist ist heilig, weil er das Belebende, das Kreative, ist.
Der Geist ist das über alles Gegebene stets hinaus Weisende im menschlichen Leben; weil Geist auch Sprache ist und Poesie in ihrer unendlichen Fähigkeit des Ausdrucks und Suchens; weil Geist auch Musik ist und neue Welten erschließt; weil Geist Philosophie ist in der Suche nach jenen Zeichen, die über das Weltliche hinausweisen; weil Geist Religion (bzw. Religionen im Plural) ist in der Suchbewegung, sich von selbst gemachten Göttern zu befreien und des Namenlosen, des alles gründenden Geheimnisses inne zu werden. Weil Geist refelktierte gestaltete Freiheit ist, und Freiheit etwas Unantastbares, Heiliges, Sakrales, vom Menschen nicht Totzuschlagendes, nicht Abzuschaffendes ist. Weil mit dem Symbol Geist letztlich das Menschliche des Menschen gemeint ist, selbst wenn einzelne Philosophen, wie Nietzsche meinen, der Geist des Menschen sei dann doch noch von Trieben anhängig: Aber allein diese Erkenntnis kann kein Trieb als Trieb formulieren, dazu braucht man dann doch wieder den Geist. Er ist dann also doch größer als der Trieb… Also: Der Geist wird als der letztlich Unzerstörbare, wenn nicht Absolute erfahren, und das ermutigt zu der Hoffnung: Der allgemeine Geist, an dem jeder und jede teilhat, wird den inidviduellen Tod überdauern.

4.
Pfingsten ist also das Fest des einen, universalen Geistes. In einer aufs Materielle fixierten Welt, in der der universale Gott das Geld ist und die Banker an der Wall Street und anderswo die Hohenpriester sind, hat ein “Fest des Geistes” einen schweren Stand. Trotzdem bleibt die Erkenntnis, die tröstlicher ist als die Börsennotiz der Wall Street: Wo immer und wann immer noch geistvoll gelebt wird, in der Weise der Reflexion, des Sich-Beziehens auf den Geist, im geistvollen Miteinander, im Gestalten und “Machen” gemäß den Impulsen des Geistes… da wird das umfassend menschliche (eben geistvolle) Leben gefeiert und dem Gott des Bloß-Materiellen widerstanden. Dabei ist “geist-voll” überhaupt nicht gemeint als Eröffnung eines dualistischen Denkens, sozusagen als Absage alles Leiblichen, Erotischen usw. Das Gegenteil ist der Fall. Es gibt sicher nichts Geistvolleres als gelebte Erotik, als geistvoll gestaltete Leiblichkeit.

5.
Pfingsten will also eine geistvolle Gesellschaft. Man kann sie eine offene Gesellschaft nennen, eine solche, die ohne Überwachung und Kontrolle auskommt, eben eine Gesellschaft, die Freiheit für das höchste Gut hält und jeglichem autoritärem Verhalten Widerstand leistet. Demokraten kennen die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen ihrer Demokratie: Sie wissen, eine bessere Staatsform gibt es nicht, sie lässt sich stets entwickeln und korrigieren und sie muss vor allen Liebhabern der so einfach erscheinenden autoritären Staatsform (Diktatur) heftig und deutlich verteidigt werden.
Insofern ist Pfingsten ein Fest der Freiheit des Geistes. Da müssen sich die Kirchentüren weit öffnen, um vor allem die dogmatisch erstarrten Kirchen erst einmal selbst zu verwandeln: Weil eben alle zum Fest eingeladen sind, alle, die die Freiheit des Geistes verteidigen, Skeptiker, Agnostiker, weltliche Humanisten…Wo finden solche ökumenischen Feiern statt?

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer-Salon Berlin.

Russischer Widerstand gegen Putins Chefideologen, den Patriarchen Kyrill I.

Immer mehr Gläubige trennen sich von der Russisch-Orthodoxen Kirche und ihrem Patriarchen Kyrill I.
Ein Hinweis von Christian Modehn am 30.1.2024.

Ergänzung am 28.5.2025: Russisch-orthodoxe Geistliche und Laien veröffentlichten acht Thesen gegen den Angriffs-Krieg Russlands in der Ukraine. Die rund dreißig Verfasser wollen anonym bleiben, weil sie noch in Russland leben und Sanktionen oder Verfolgung befürchten. Der wichtige Text einer kleinen Gruppe russisch -orthodoxer Priester vor allem, die in Russland leben, wurde am 7. Januar 2025 veröffentlicht. Die Zeitschrift “Stimmen der Zeit” veröffentlicht diesen Text in ihrer Ausgabe vom Juni 2025 für alle Leser gratis! Siehe den ganzen Text unten FUßNOTE 1. 

1. Der Widerstand gegen den Putin – Patriarchen KyrillI. im Jahr 2024! 
Patriarch Kyrill I. von Moskau ist einer der heftigsten Unterstützer des Krieges Putins gegen die Ukraine. Das wurde auch auf dieser website seit Monaten dokumentiert. LINK. Und gegen Kyrill I. gibt es nun Widerstand auch im Klerus und eine zunehmende Distanz der Gläubigen von dieser Russisch-Orthodoxen Kirche. Dies ist ein Zeichen der Hoffnung. Dass dadurch auch Putins Allmacht etwas schwächer wird.

Zur Erinnerung:

“Der Bund Russlands mit der Ukraine ist gottgewollt”, so Putin in der DUMA 2012.  2013 sagt Putin in Kiew: “Gott will eine Vereinigung der Ukraine mit Russland. Kein Politiker kann sich dem Willen Gottes widersetzen”.   “Somit sah sich Putin als Schwert Gottes, Putin, dieser Mystiker, mit einem Finger auf dem Atomknopf , die anderen Finger fromm gefaltet”, so Peter Lachmann, in “Lettre International”, Herbst 2022, S. 126.

Putin wird unterstützt vom Moskauer Patriarchat, “für das auch die Grausamkeiten des Zaren niemals ein Ärgernis darstellten, weil die Zaren-Herrschaft von Gott komme, so wie die des neuen Para- Zaren Putin. Für Patriarch Kyrill hat der Krieg um das Heilige Russland metaphysische Bedeutung, die Rückeroberung der Ukraine sei eine Sache der ewigen Erlösung. Das ist das theologische Erbe von Byzanz, als dessen Erbe und Fortsetzung  die russisch-orthodoxe Kirche sich sieht”, so Peter Lachmann, ebd. (Peter Lachmann ist ein deutsch-polnischer Dichter, Essayist, Theaterregisseur und Übersetzer.)

Peter Lachmann weist in dem Beitrag auch darauf hin, dass Psychologen Putin als “notorischen Lügner” erleben. und deuten. Notorische Lügner seien “den eigenen Lügen gewissermaßen ausgesetzte Subjekte, deren Hirn anders funktioniere…Das emotionale Vakuum sei bei Putin vollkommen, das Dauerlügen werde zum Zwang” (a.a.O., S. 127).

2.
Patriarch Kyrill I. hat bekanntlich den christlichen Glauben zu einer Putin-Ideologie verfälscht. „In einem Interview mit der Exilzeitung Verstka sagte ein Priester, der seinen Namen nicht preisgeben wollte, dass seit Beginn des Krieges Kirche und Staat in ihren Ansichten fast identisch geworden sind und die Diözesanversammlungen sich in parteipolitische Veranstaltungen verwandelt haben. Laut dem Erzpriester des Erzbistums der orthodoxen russischen Gemeinden in Westeuropa, Dimitry Sobolevskiy, ist die Kirche für die meisten Russen inzwischen nur ein weiterer Teil des Staatsapparats“ (Quelle: „Demokratie und Gesellschaft“, (FES), 22.1.2024, Beitrag von Daria Boll – Palievskaya, Journalistin und Russland-Spezialistin, Redakteurin der unabhängigen Online Zeitung: Russland.news.)

3.
Etliche Priester dieser Kirche kritisieren ihren Chef, den Ideologen Patriarch Kyrill I. Seit dem Krieg Putins gegen die Ukraine haben etwa 300 russische Priester und Diakone einen offenen Brief gegen den Krieg und gegen den Patriarchen veröffentlicht. Und der Erfolg? Das Projekt „Christen gegen den Krieg“ (in russischer Sprache) hat viele Fälle der Verfolgung dieser mutigen Priester veröffentlicht. Einer der bekanntesten liberal gesinnten Geistlichen in Russland, Pater, bzw. wie man in der Orthodoxie sagt , „Vater“ Alexej Uminski von der Dreifaltigkeitskirche in Moskau, wurde am 13. Januar 2024 seines Amtes enthoben. Pater Uminski weigerte sich öffentlich das ideologisch gefärbte Gebet zu sprechen: „Gott, gib uns den Sieg durch deine Macht“: Gemeint ist natürlich der Sieg Russlands über die Ukraine. Mehr als 12.000 Russen haben in einem Schreiben an Patriarch Kyrill ihre Unterstützung für den Priester Uminski ausgedrückt. Ihm droht nun der Ausschluss aus der Russisch-Orthodoxen Kirche.

4.
Die totale Ergebenheit des Patriarchen und seines klerikalen Clans wird von Putin belohnt: Die weltberühmte „Dreifaltigkeits-Ikone“ von Andrei Rubljow wurde aus dem Museum entfernt und dem Patriarchat übergeben. Eine Aktion mitten im Winter, die die Qualität dieses alten Kunstwerkes stören und zerstören kann.

5.
Was sind die Lichtblicke im System Putin?
Innerhalb der Russisch – Orthodoxen Kirche wird der Widerspruch gegen den Ideologen Kyrill I. immer größer. Und auch das ist erfreulich: „Scheinbar so mächtig wie nie zuvor und beinahe mit dem Kreml verschmolzen, verliert die Kirche in der russischen Gesellschaft immer mehr an Ansehen“, schreibt Daria Boll-Palievskaya. „Laut den offiziellen Statistiken des russischen Innenministeriums besuchten in diesem Jahr 1,4 Millionen Menschen die orthodoxen Weihnachtsgottesdienste, verglichen mit 2,3 Millionen im Jahr 2020 und über 2,6 Millionen im Jahr 2019. Die Berufung zum Priester wird ebenfalls immer weniger beliebt. Allein im letzten Jahr mussten drei Priesterseminare schließen.“ LINK zu Daria Boll – Palievskaya.
Nebenbei: Die russischen Gläubigen, die sich von der Putin – Kirche distanzieren und trennen, können selbstverständlich ihre private Spiritualität bewahren und persönlich pflegen, dafür braucht es bekanntlich – theologisch gesehen – keine „heilige Liturgie“ in altslawischer Sprache mit Popen, die Kriegspropaganda betreiben oder in ihren Predigten harmlose spirituelle Allgemeinheiten verbreiten, fromme Floskeln halt.

6.
Man muss sich als Religionsphilosoph also freuen, dass eine politische Organisation, die sich Kirche nennt, die Russisch – Orthodoxe Kirche, immer mehr an Ansehen in der Bevölkerung verliert. Das hilft vielleicht auch, die All – Macht Putins einzuschränken.

7.
Traurig ist nach wie vor nur die Tatsache, dass der „Ökumenische Weltrat der Kirchen“ (ÖRK) in Genf noch immer nicht die Russisch – Orthodoxe Kirche aus ihrem Weltrat rausgeschmissen hat, das fordern bekanntlich seit Monaten viele kompetente Theologen. Glauben die Herren und Damen im Weltrat der Kirchen in Genf (ÖRK) im Ernst, mit Herrn Kyrill I. einen Friedens – Dialog führen zu können?

8.
Am 30. Dezember 2023 verurteilte der Generalsekretär des ÖRK, Pastor Jerry Pillay, die, so wörtlich, „Terrorkampagne“ Russlands gegen zivile Ziele in der Ukraine. Von dem Krieg Russlands gegen die Ukraine sprach Pillay nicht. Für die Welt – Ökumene in Genf handelt es sich also um Terror, nicht um Krieg. Auch nannte Pastor Pillay vom ÖRK keine Namen, nicht den Namen Putins und auch nicht den Namen Kyrill I.. Pillay sagte nebulös, man bemühe sich, „auch weiterhin nach Mitteln und Wegen zu suchen, wie der ÖRK mit und über seine Mitgliedskirchen den Dialog und den Frieden fördern und für eine Beendigung der Gewalt und Angst sorgen kann, unter der die Menschen in der Ukraine aufgrund der russischen Invasion leiden.“ (Quelle: https://www.oikoumene.org/de/news/wcc-denounces-russian-campaign-to-terrorize-people-of-ukraine)

9.
An einen Rauswurf des einstigen KGB Manns, des Herrn Patriarchen Kyrill I., aus dem eigentlich doch angesehenen ÖRK ist also gar nicht zu denken. Man bemühe sich ja im ÖRK um Dialoge, nebulös formuliert, allerdings ohne sichtbare Erfolge, wie jeder weiß.
Nach dem Ende der Putin Diktatur kann man die Russisch – Orthodoxe Kirche wieder in dieses Ökumenische Weltgremium aufnehmen. Selbst der Freund aller Orthodoxen, Papst Franziskus, spricht nach meinem Eindruck nicht mehr so vieles so Wohlwollendes (und Naives) über die Russisch – orthodoxe Kirche und seinen Patriarchen. Den der Papst sooo gern besuchen würde…

10.
Über die immer wieder viel besprochenen Dialoge mit den Russisch – Orthodoxen in den ökumenischen Gremien „vor Ort“, in den Städten, Bistümern, Landeskirchen Deutschlands hört man gar nichts. Offenbar ist man friedlich ökumenisch mit den Russen vereint? Und feiert hübsche Liturgien in alt-slawischer Sprache, wie immer schon…Auf der Website des Ökumenischen Rates Berlin-Brandenburg (OERBB.de) wird die Russisch Orthodoxe Kirche immer noch als Mitglied dieses „Rates“ erwähnt. Über den Krieg Russlands gegen die Ukraine erfährt man da überhaupt nichts…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.


Der Text oppositioneller russisch – orthodoxer Priester in Russland vom 7. Januar 2025, veröffentlicht in den “Stimmen der Zeit”, im Juni 2025, einer  Zeitschrift der Jesuiten:

Christus und dem Evangelium treu bleiben: Ein russischer Aufruf gegen den Krieg in der Ukraine.
Ein theologisches Protestdokument russisch-orthodoxer Christen aus Russland, veröffentlicht am 7.Jan. 2025.
Russisch-orthodoxe Geistliche und Laien veröffentlichten acht Thesen gegen den Krieg Russlands in der Ukraine. Die rund dreißig Verfasser wollen anonym bleiben, weil sie noch in Russland leben und Sanktionen oder Verfolgung befürchten. Johannes Oeldemann, Direktor am Johann-Adam-Möhler-Institut für Ökumenik in Paderborn und Leiter des Stipendienprogramms der Deutschen Bischofskonferenz für orthodoxe Theologen, hat den russischen Aufruf ins Deutsche übersetzt und ordnet ihn einleitend historisch und theologisch ein.
Von Johannes Oeldemann, Stimmen der Zeit 150 (2025) 415-426, Lesedauer: ca. 18 Minuten

Seit mehr als zehn Jahren – beginnend mit der Krim-Annexion und der Besetzung einiger Territorien im Osten der Ukraine im Frühjahr 2014 – befindet sich die Ukraine im Verteidigungskampf gegen russische Truppen, die die territoriale Integrität dieses jungen Staates (seit 1991) mit einer alten Tradition untergraben. Mehr als drei Jahre sind inzwischen seit der umfassenden Invasion russischer Truppen in die Ukraine vergangen, mit der Präsident Putin das Ziel verfolgt, die staatlichen Strukturen in der Ukraine vollständig zu zerschlagen und das Land in die Russische Föderation einzugliedern. Auf beiden Seiten sind inzwischen Zehntausende Soldaten getötet und Hunderttausende verletzt worden. Während in der Ukraine durch rücksichtslose Angriffe auf Wohngebiete – wie zuletzt auf die Teilnehmer der Palmsonntagsgottesdienste in der Stadt Sumy – inzwischen auch Tausende Zivilisten getötet wurden, hält sich die Zahl der zivilen Opfer in Russland in Grenzen. Dafür liegt Schätzungen zufolge die Zahl der gefallenen Soldaten auf russischer Seite etwa doppelt so hoch wie auf ukrainischer Seite. Viele russische Familien sind damit inzwischen ebenfalls „Opfer“ dieses Krieges geworden. Daher kann man sich fragen, warum es in Russland keine Proteste gegen diesen Krieg gibt.
Die Antwort auf diese Frage lautet, dass offener Protest gegen den Kurs der Regierung in Russland schlicht lebensgefährlich ist. Wer in Russland seine Stimme gegen den Krieg erhebt, wird vom Staat verfolgt, angeklagt und kommt ins Gefängnis oder – schlimmer noch – in eines der berüchtigten Lager. Kritische Medien gibt es in Russland selbst kaum noch. Die wenigen unabhängigen Zeitungen, Sender und Internetportale sind inzwischen alle ins Ausland verdrängt worden. Auch die Russische Orthodoxe Kirche unterstützt den „patriotischen“ Kampf vorbehaltlos. Patriarch Kirill hat wiederholt seine Unterstützung für Präsident Putin demonstriert und den Kampf der russischen Soldaten gar als „heiligen Krieg“ bezeichnet. In orthodoxen Gottesdiensten in Russland wird regelmäßig für den Sieg gebetet und Priester, die das Wort „Sieg“ in dem entsprechenden Gebet durch „Frieden“ ersetzt haben, wurden suspendiert. Angesichts der Unterdrückung aller oppositionellen Stimmen in Russland überrascht es umso mehr, das am 7. Januar 2025, dem Tag des orthodoxen Weihnachtsfestes in Russland, ein Aufruf russischer Priester und Laien veröffentlicht wurde, in dem diese sich mit starken Worten gegen den Krieg positionieren.
Dieser Aufruf, der von den Autoren als „Glaubensbekenntnis“ bezeichnet wird, wurde in Russland über einen Telegram-Kanal verbreitet und außerhalb Russlands von der oppositionellen „Novaya Gazeta“ publiziert. Der Text ist in acht Artikel gegliedert, die – jeweils unter Rückgriff auf biblische Zitate – auf das Gottesbild, das Verständnis des Reiches Gottes, die Würde des Menschen, die Gleichheit aller Völker vor Gott, das Leben nach den Geboten Christi, die christliche Nächstenliebe, das Verständnis von Kirche und den Dienst der Kirche an der Versöhnung eingehen. Neben biblischen Texten greift der Text, wie in der orthodoxen Theologie üblich, auch auf Zitate der Kirchenväter zurück. Bemerkenswert ist, dass auch die im Jahr 2000 publizierten „Grundlagen der Soziallehre der Russischen Orthodoxen Kirche“ zitiert werden, die maßgeblich vom heutigen Patriarchen mitformuliert wurden. Dadurch konfrontiert der Text die Kirchenführung mit ihrer eigenen Positionsbestimmung. Der Text schließt mit dem Jesaja-Zitat „Doch das Wort Gottes bleibt in Ewigkeit“ (Jes 40,8). Es dürfte kein Zufall sein, dass dies dieselben Worte sind, mit denen auch die „Barmer Theologische Erklärung“ schließt, mit der sich die Bekennende Kirche in Deutschland 1934 gegen die nationalsozialistische Ideologie positionierte.
Ist dieser russische Aufruf eine orthodoxe „Barmer“ Erklärung? Hinsichtlich seiner Intention und der Autorenschaft ist dieses russische Glaubensbekenntnis mit Barmen vergleichbar. In seiner Struktur und Sprache unterscheidet es sich zwar von der Barmer Theologischen Erklärung, entspricht damit aber viel mehr einem genuin orthodoxen Zugang zum Thema. Anders als in Barmen ist nicht bekannt, wer die Autoren dieses Textes sind. Es heißt, dass eine Gruppe von etwa dreißig Personen – überwiegend Priester, aber auch einige Laien – hinter dem Text steht. Ihre Namen sind nicht bekannt, weil das für sie und ihre Familien lebensbedrohlich wäre. Vielleicht stehen, anders als in Barmen, keine großen Namen dahinter. Dieser Text lebt nicht von der Autorität seiner Autorinnen und Autoren, sondern einzig aus der Kraft seiner Worte. Wie die Verfasser in der kurzen Einleitung schreiben, macht jede und jeder, der diese Thesen mit anderen teilt, sich ihren Inhalt zu eigen. Die Verbreitung der Thesen wird als Bekenntnisakt bezeichnet. Insofern trägt der Text – wie Barmen – Bekenntnischarakter. Ob er für die russische Orthodoxie eine vergleichbare Bedeutung wie die Barmer Theologische Erklärung für die evangelischen Christen in Deutschland erlangt, wird letztlich erst die Wirkungsgeschichte dieses Bekenntnistextes zeigen.
„Christus und dem Evangelium treu bleiben“
Ein Aufruf von Geistlichen und Laien der Russischen Orthodoxen Kirche, 
die zwar in Russland bleiben, aber den Krieg ablehnen
– veröffentlicht am 7. Januar 2025, dem Tag des Weihnachtsfestes in Russland

Dieses Glaubensbekenntnis wurde von Kirchenleuten, Klerikern und Laien, verfasst, die größtenteils in Russland leben und sich genötigt sahen, auf jegliche Hinweise auf die Autorenschaft zu verzichten. Jeder, der die hierin enthaltenen Thesen teilt und bereit ist, sie an andere weiterzuleiten, sei es mündlich oder schriftlich, öffentlich oder auf privatem Weg, kann sich als Teilnehmer an diesem Bekenntnisakt betrachten.
Die Phänomene, auf die in diesen Thesen Bezug genommen wird, haben in unserer Kirche seit langem zugenommen. Das Schweigen der Kirchenleute kann als Zustimmung oder Akzeptanz empfunden werden, und deshalb haben wir kein Recht zu schweigen.
Wir, Kleriker und Laien, Kinder der Russischen Orthodoxen Kirche – einschließlich derer unter uns, die derzeit in verschiedenen Ländern verstreut sind und anderen Jurisdiktionen angehören – glauben und bekennen, dass wir alle, unabhängig von den irdischen Umständen und den Forderungen irdischer Machthabender, aufgerufen sind, vor der Welt Zeugnis für die Lehre Jesu Christi abzulegen und immer abzulehnen, was mit dem Evangelium unvereinbar ist. Keine irdischen Ziele oder Werte können von Christen über die oder anstelle der Wahrheit gesetzt werden, die in der Lehre, dem Leben und der Person Jesu Christi offenbart wurde.

1. ÜBER GOTT: Über das Gebot „Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen“
Wir Christen glauben an Gott, „den Schöpfer des Himmels und der Erde, alles Sichtbaren und Unsichtbaren“ [Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel, Anm. des Übers.], an Gott, den „Unaussprechlichen, Unerkennbaren, Unsichtbaren, Unbegreiflichen, Ewigen, Unveränderlichen“, „vor Dem Himmel und Erde, das Meer und alles, was in ihnen ist, erbeben“ (Liturgie des hl. Johannes Chrysostomus, Ordnung des Sakraments der Heiligen Taufe).
Frappierend ist die Leichtfertigkeit, mit der nicht nur Politiker und Journalisten, sondern auch Kirchendiener den Namen Gottes in ihrer Rhetorik verwenden und dem Schöpfer des Universums unerschrocken zuschreiben und vorschreiben, auf welcher Seite Er in irdischen Konflikten zu stehen und welche der irdischen Herrscher Er zu unterstützen hat.
Dieser Gebrauch des Namens Gottes für politische Zwecke ist nichts anderes als ein Verstoß gegen das Gebot: „Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen“ (Ex 20,7).

2. ÜBER DAS REICH GOTTES: Über die Unzulässigkeit der Vermischung dessen, was „Gottes“ und „des Kaisers“ ist, sowie die Unzulässigkeit der Verwandlung der Kirche in ein Instrument irdischer Machthabender
Das Wirken Christi beginnt mit der Verkündigung des Reiches Gottes (Mt 4,17). Die Botschaft von diesem Reich ist das Herzstück seiner Verkündigung: „Sucht aber zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit“ (Mt 6,33). Christus lehrt, dass dieses Reich sich von allen irdischen Staaten unterscheidet: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ (Joh 18,36). Wir Christen sind seine Bürger: „Unsere Heimat ist im Himmel“ (Phil 3,20). Wir beten zu Gott: „Dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden“ (Mt 6,10). Weil er von diesem Reich gepredigt hatte, verurteilten die irdischen Machthaber und ihre Diener Christus zum Tode mit den Worten: „Jeder, der sich selbst zum König macht, lehnt sich gegen den Kaiser auf. […] Wir haben keinen König außer dem Kaiser“ (Joh 19,12-15).
Wir wissen, dass der Staat und die Institutionen zur Unterstützung von Recht und Ordnung in dieser Welt notwendig und unvermeidlich sind. Sie schaffen die Voraussetzungen für ein normales Leben der Gesellschaft, indem sie menschliche Aggression und Kriminalität niederhalten. Deshalb antwortet der Apostel Paulus denen, die ihn gefragt haben, dass Gott die Macht als eine Institution des Rechts und der Ordnung eingesetzt hat, die diejenigen zurückhält, die Böses tun:
„Es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott ist; die jetzt bestehen, sind von Gott eingesetzt. […] Denn sie (die staatliche Gewalt) steht im Dienst Gottes für dich zum Guten. […] Sie steht im Dienst Gottes und vollstreckt das Urteil an dem, der Böses tut“ (Röm 13,1-4).
Der Wert dieser irdischen Macht ist praktisch und vergänglich; sie ist nicht dazu da, das Paradies auf Erden zu errichten, sondern um diejenigen, die Böses tun, daran zu hindern, die Erde in eine Hölle zu verwandeln.
Ohne die praktische Bedeutung der irdischen Macht und die Pflichten des Christen gegenüber der Gesellschaft aufzuheben, unterscheidet Christus klar zwischen der irdischen Macht und dem Reich Gottes, zwischen der Beziehung des Christen zu irdischen Machthabenden und zu Gott: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ (Mt 22,21). „Den Herrn, deinen Gott, sollst du anbeten und ihm allein dienen“ (Mt 4,10). Deshalb ist jegliche Vermischung dessen, was „Gottes“ und was „des Kaisers“ ist, von Vollmachten und Aufgaben der irdischen Machthabenden mit der Macht und Herrschaft Gottes, unvereinbar mit der Lehre Christi.
Umso unvereinbarer mit der Treue zu Christus ist ein Zustand, in dem die Kirche zu einer ideologischen Abteilung des Staatsapparates wird, die als „Klammer“ [ein von der politischen Nomenklatura in Russland gern benutzter Begriff, Anm. d. Übers.] die politischen Bedürfnisse eines bestimmten Regimes bedient.

3. ÜBER DIE MENSCHENWÜRDE: Über die vorgebliche „Häresie der Menschenverehrung“ und die Unzulässigkeit, den Menschen als Verbrauchsmaterial zu missbrauchen
In der Heiligen Schrift lesen wir, dass der Mensch nach dem Bilde Gottes geschaffen wurde (Gen 1,26). Etwas Ähnliches wird in der Heiligen Schrift weder über die Nation noch über den Staat noch über eine Partei gesagt.
Wir lesen, dass Gott sich nicht schämt, die Menschen „Kinder“ und „Brüder“ zu nennen, denen er gleich wird, um sie von der Sklaverei der Sünde und des Todes zu befreien (Hebr 2,11-18). Im Glaubensbekenntnis bekennen wir, dass Gott Mensch geworden ist, „um uns Menschen und um unseres Heiles willen“. Aber weder die Heilige Schrift noch das Glaubensbekenntnis sagen uns, dass Gott Mensch geworden ist um der Größe oder des Heils einer Nation, eines Staates oder einer Partei willen.
Nach dem Wort Christi können nicht nur weltliche und soziale Regelungen, sondern sogar die wichtigsten religiösen Regelungen und Gebote nicht als Selbstzweck betrachtet werden, sondern sind um des Menschen willen da: „Der Sabbat wurde für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für den Sabbat“ (Mk 2,27).
Deshalb steht für die Jünger Christi der Mensch über jeder Nation, jedem Staat und jeder Partei – und das ist keine „globale Häresie der Menschenverehrung“, sondern eine Folge der christlichen Lehre, dass der Mensch das Ebenbild Gottes ist.
Der Missbrauch des Menschen als Instrument, als ein „Rädchen oder Schräubchen“, als Verbrauchsmaterial für den Staat oder andere irdische Institutionen ist mit der Lehre Christi unvereinbar.

4. ÜBER DIE GLEICHHEIT DER VÖLKER VOR GOTT und die Unzulässigkeit der nationalen Selbstverherrlichung
Im Neuen Testament lesen wir, dass im neuen Menschen, im Gegensatz zum alten, „nicht mehr Griechen und Juden, Beschnittene und Unbeschnittene, Barbaren, Skythen, Sklaven, Freie, sondern Christus alles und in allen ist“ (Kol 3,11). In der Welt des Neuen Testaments kann es keine Nationen geben, die Gott gefallen oder missfallen: „Gott ist nicht parteiisch, sondern in jedem Volk ist ihm willkommen, wer ihn fürchtet und tut, was recht ist“ (Apg 10,34-35).
Jede Erniedrigung einiger Völker und jede Erhöhung anderer, jede Form von nationalem Messianismus und nationaler Selbstverherrlichung ist mit der Lehre Christi unvereinbar, insbesondere jene, die unter der Losung „Gott ist mit uns!“ einem Volk das Recht zuschreibt, über das Schicksal anderer Völker zu entscheiden.
Deshalb können wir nicht akzeptieren, dass christliche Werte und Sinngehalte einer geopolitischen Agenda untergeschoben werden, einer Ideologie, die den Glauben an Christus durch den Glauben an die „russische Welt“, an die besondere Bestimmung des russischen Volkes und des russischen Staates, ersetzt.
Eine solche Verfälschung reduziert Gott auf eine nationale Gottheit, verengt die Orthodoxie auf eine nationale russische Religion und einen der Aspekte des nationalen Selbstbewusstseins. Sie zerstört die Lehre vom universalen Charakter der Kirche und führt zu einem Bruch mit anderen orthodoxen Ortskirchen. Aber die Kirche Christi ist größer als jede Ortskirche, auch als die Russische Orthodoxe Kirche.
Bei einer solchen Verfälschung wird die kirchliche Terminologie für politische Zwecke verwendet. An die Stelle der Lehre von der Einheit der Orthodoxen Kirche wird die Lehre von der „Einheit der Russischen Kirche“ gesetzt, und die Worte über die „Dreieinigkeit des russischen Volkes“, die in kirchennahen Dokumenten erklingen, passen die theologische Terminologie der heiligen Väter an die Bedürfnisse des politischen Diskurses an und geben dem politischen Konzept den falschen Anschein einer kirchlichen Doktrin.
Es ist ein Ausdruck von Hochmut und geistlicher Selbstüberschätzung, die eigene Nation als „universalen Herrscher“ [katechon – „Aufhalter“ des Antichrist, Anm. d. Übers.] zu bezeichnen, der die Welt vor dem Bösen schützt, und als „letzte Festung, die die Welt vor dem Kommen des Antichrist bewahrt“. Im Dasein jedes Volkes kämpfen Gott und der Teufel, und für jedes Volk ist der Ausgang dieses Kampfes bis zum Jüngsten Gericht unbekannt.

5. ÜBER DAS LEBEN NACH DEN GEBOTEN CHRISTI und dessen Ersatz durch den „Kampf für traditionelle Werte“
Christen sind aufgerufen, durch ihr eigenes Leben Zeugnis von den moralischen Lehren Christi abzulegen, wie sie im Neuen Testament dargelegt sind. Aber nirgendwo im Neuen Testament wird gesagt, dass Christen den „Außenstehenden“, also jenen, die keine Kirchenmitglieder sind, Werte – welche auch immer: moralische, familiäre, häusliche, politische oder religiöse – aufzwingen sollen.
Der Apostel Paulus regelt zwar die Lebensnormen der ersten christlichen Gemeinden, zwingt die Christen aber nicht, diese Normen den „Außenstehenden“ aufzuzwingen, und fordert sie darüber hinaus auf, den Umgang mit den „Außenstehenden“, die nicht nach diesen Normen leben, nicht zu brechen: „Denn sonst müsstet ihr ja aus der Welt auswandern […]. Was geht es mich denn an, die Außenstehenden zu richten? Habt ihr nicht die zu richten, die zu euch gehören? Die Außenstehenden aber wird Gott richten“ (1 Kor 5,10-13).
Selbst die wichtigsten moralischen Werte des Christentums sollen wir nicht mit Gewalt, sondern nur durch unser eigenes Beispiel verkünden.
Der erbitterte „Kampf“, um den „Außenstehenden“ die „traditionellen Werte“ durch Zwang und gerichtliche Verfolgung, repressive Gesetze und Denunziationen aufzuzwingen, ist nichts anderes als ein Versuch, den Schwund wahrhaft christlicher moralischer Werte wie Liebe, Freiheit, Mitgefühl und Barmherzigkeit im inneren Leben der Kirche selbst zu verschleiern.
Wir können eine Predigt, in der „traditionelle“ und „nationale“ Werte die Moral des Evangeliums, die Gebote Christi und Christus selbst ersetzen und verdrängen, nicht als christlich ansehen.

6. ÜBER DIE CHRISTLICHE NÄCHSTENLIEBE und deren Ersatz durch die Predigt von Gewalt und „Heiligem Krieg“
Christus sagt zu seinen Jüngern: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihnen! Darin besteht das Gesetz und die Propheten“ (Mt 7,12); „Liebt eure Feinde, segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen, und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Denn wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten […]? Seid also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“ (Mt 5,44-48).
Von den Aposteln bis zu den Asketen unserer Zeit, wie dem heiligen Siluan vom Berg Athos, haben die Nachfolger Christi bezeugt und bezeugen, welch bedeutende Stellung die Lehre von der Feindesliebe in der christlichen Ethik hat. Christus lehrt seine Jünger: „Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die andere hin! Und wenn dich einer vor Gericht bringen will, um dir das Hemd wegzunehmen, dann lass ihm auch den Mantel“ (Mt 5,39-40).
Wir wissen, dass die Anwendung von Gewalt manchmal der einzige Weg sein kann, um noch schlimmere Gewalt zu verhindern. Aber auch eine solche Gewalt, die als das geringere Übel gewählt wird, ist immer noch Gewalt, zwar ein geringeres, aber dennoch ein Übel.
Jede Predigt, die Gewalt verherrlicht, sei diese Gewalt politisch oder sozial, öffentlich oder häuslich, ist mit der Lehre Christi unvereinbar.
Der schlimmste Fall von Gewalt ist der Krieg. Wir wissen, dass Staaten manchmal gezwungen sind, Krieg zu führen, also Gewalt und Mord zu begehen, um noch schlimmere Gewalt und noch schlimmeren Mord zu verhindern. Doch auch in diesem Fall bleibt Gewalt Gewalt und Mord eine Sünde.
Wir können denjenigen dankbar sein, die – da sie sich dem Bösen widersetzt haben und dies manchmal um den Preis des eigenen Lebens – durch Gewaltanwendung noch schlimmere Gewalt verhindert haben.
Aber diese Dankbarkeit kann und darf nicht in eine Verherrlichung, Romantisierung oder Heroisierung des Gewaltaktes selbst münden. Für den Christen ist diese Dankbarkeit unweigerlich mit der Trauer darüber vermischt, dass die Gewalt in unsere Welt gekommen ist und dass sie durch Gewalt gestoppt werden musste.
Sowohl die Kirchenväter als auch das Kirchenrecht bezeugen die Sündhaftigkeit des Mordes, unabhängig von dessen Motiven. In der Regel des heiligen Basilius des Großen heißt es: „Wer seinem Nächsten einen tödlichen Schlag versetzt, ist ein Mörder, ob er nun zuerst zuschlägt oder zurückschlägt“ (Regel 43). Im Blick auf diejenigen, die bei der Abwehr eines Angriffs den Räuber töteten, schreibt Basilius vor, dass Kleriker ihres Amtes enthoben und Laien von der Kommunion ausgeschlossen werden, „denn die Schrift sagt: ‚Alle, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen‘ (Mt 26,52)“ (Regel 55). Der heilige Basilius rät, dass Soldaten, die im Krieg einen Mord begehen, für drei Jahre von der Kommunion ausgeschlossen werden sollen, „weil sie unreine Hände haben“ (Regel 13).
Die kirchliche Tradition verbietet es Priestern nicht nur, Waffen zu benutzen, sondern sie auch nur in die Hand zu nehmen, und sie verbietet es denen, die im Krieg gemordet haben, Priester zu werden.
Manchmal hören wir, dass in Bezug auf die Teilnehmer an Kriegshandlungen die Worte Christi zitiert werden: „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt“. Aber das ist eine völlige Verzerrung der Bedeutung der Worte Christi, die aus dem Kontext des Evangeliums gerissen wurden. Im Johannesevangelium sagt Christus: „Das ist mein Gebot, dass ihr einander liebt, so wie ich euch geliebt habe. Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt. Ihr seid meine Freunde“ (Joh 15,12-14). Dies ist ein Aufruf an die Nachfolger Christi, dem Beispiel des Meisters zu folgen, der sein Leben für seine Jünger, seine Freunde, hingab. Aber er gab sein Leben nicht im Krieg, indem er andere tötete, sondern am Kreuz, indem er für unsere Sünden starb. Diese Worte beziehen sich nicht auf diejenigen, die töten, sondern auf diejenigen, die getötet werden.
Es ist kein Zufall, dass sich die Prediger der Lehre vom „heiligen Krieg“ meist nicht auf das Neue Testament, sondern auf das Alte Testament berufen, und zwar genau auf die Aspekte, die die Predigt Christi als vergangen hinter sich lässt.
Einen Krieg als „heilig“ zu erklären, ist mit der Lehre Christi unvereinbar, selbst wenn es sich um einen Verteidigungskrieg handelt. Erst recht, wenn es sich um einen Angriffskrieg handelt.

7. ÜBER DIE KIRCHE CHRISTI: Über die „Vertikale der Macht“ und das Vergessen des Synodalprinzips als Entstellungen des kirchlichen Lebens
Christus sagt über Seine Kirche: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18,20).
Indem er das Leben der Kirche und die Welt der irdischen Mächte einander gegenüberstellt, sagt er seinen Jüngern, wie seine Kirche beschaffen sein soll: „Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker unterdrücken und die Großen ihre Vollmacht gegen sie gebrauchen. Bei euch soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll euer Sklave sein“ (Mt 20,25-27).
Die verschiedenen Ämter in der Kirche bedeuten nicht die Herrschaft der einen über die anderen, sondern verschiedene Arten des Dienstes, die der ganzen Gemeinde vermacht und anvertraut sind. Der Apostel Petrus schreibt: „Dient einander […], ein jeder mit der Gabe, die er empfangen hat“ (1 Petr 4,10), und fügt, an die Hirten gerichtet, hinzu: „Weidet die euch anvertraute Herde Gottes […] nicht aus Gewinnsucht, sondern mit Hingabe; seid nicht Beherrscher der Gemeinden, sondern Vorbilder für die Herde“ (1 Petr 5,2-3).
Daher ist weder die Überhöhung der Oberen noch die Erniedrigung der Untergebenen, weder die Identifizierung der Kirche mit dem Klerus, die die Laien herabsetzt, noch die Umwandlung der geistlichen Hierarchie in eine bürokratische „Vertikale der Macht“ [ein zentraler Begriff der politischen Nomenklatura in Russland, Anm. d. Übers.] mit der Lehre Christi vereinbar.
Für die orthodoxe Tradition ist es inakzeptabel, den Vorsteher zu einem „kirchlichen Autokraten“ etwa nach Art des römischen Papstes im mittelalterlichen Abendland zu machen, dessen Meinungen, Äußerungen und Entscheidungen weder einer Diskussion noch der Kritik unterliegen. Das Wort des Vorstehers ist nicht identisch mit dem Wort der Kirche.
Es ist für die Kirche nicht normal, dass das Prinzip der Synodalität weder substanziell noch wenigstens formell beachtet wird, wenn nicht einmal die vom Kirchenstatut vorgeschriebenen Bischofssynoden einberufen werden; wenn die wichtigsten Entscheidungen für das Leben der Kirche allein vom Vorsteher getroffen werden; und wenn der Widerspruch von Klerikern gegen Handlungen, Worte und die Politik ihres Vorgesetzten mit einem Meineid gleichgesetzt wird und eine Suspendierung oder Amtsenthebung nach sich zieht (eine Strafe, die das Kirchenrecht nur für die schwersten Vergehen von Klerikern vorsieht).

8. ÜBER DEN VERSÖHNUNGSDIENST als die wahre soziale und politische Sendung der Kirche
Christen sind aufgerufen, der sie umgebenden Welt durch ihr Leben und ihre Beziehung untereinander ein Beispiel zu geben – in Vergebung, Versöhnung und brüderlicher Liebe: „Wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, dann wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, dann wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben“ (Mt 6,14-15); „Wenn du deine Opfergabe zum Altar bringst und dir dabei einfällt, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass deine Gabe dort vor dem Altar liegen; geh und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder, dann komm und opfere deine Gabe (Mt 5,23-24); „Soweit es euch möglich ist, haltet mit allen Menschen Frieden“ (Röm 12,18); „Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr einander liebt“ (Joh 13,35).
Indem die Kirche Menschen verschiedener Nationalitäten, sozialer Schichten und politischer Parteien in Christus vereint, ist sie dazu berufen, der Versöhnung zwischen verfeindeten Nationen, gesellschaftlichen Gruppen und Parteien zu dienen. Christus selbst sagt über diese Mission: „Selig, die Frieden stiften, denn sie werden Kinder Gottes genannt werden“ (Mt 5,9). Die Lehre von der friedensstiftenden Mission der Kirche wird u.a. in den „Grundlagen der Soziallehre der Russischen Orthodoxen Kirche“ dargelegt, die im Jahr 2000 von der Bischofssynode angenommen wurden:
„Die Orthodoxe Kirche erfüllt ihre Mission der Versöhnung unter einander feindlich gesinnten Nationen und ihren Vertretern. Dementsprechend bezieht sie keine Stellung in interethnischen Konflikten, mit Ausnahme von Fällen offensichtlicher Aggression oder Ungerechtigkeit seitens einer der Parteien“ (Grundlagen der Soziallehre der Russischen Orthodoxen Kirche, II.4).
„Angesichts der politischen Meinungsverschiedenheiten, Widersprüche und Kämpfe predigt die Kirche Frieden und Zusammenarbeit unter den Menschen, die unterschiedlichen politischen Ansichten anhängen. Sie duldet auch verschiedene politische Überzeugungen in der Mitte des Episkopats, des Klerus sowie der Laien, mit Ausnahme solcher, die offensichtlich zu Taten führen, die der orthodoxen Glaubenslehre und den moralischen Normen der kirchlichen Tradition widersprechen“ (Grundlagen der Soziallehre der Russischen Orthodoxen Kirche, V.2).
Gerade mit dem Argument, dass die Kirche mit der Mission der Vermittlung und Versöhnung unter verschiedenen politischen Kräften betraut ist, wird das Prinzip „Kirche steht außerhalb der Politik“ begründet. Die Kirche kann nicht als Vermittlerin zwischen verschiedenen politischen Kräften dienen, wenn sie eine dieser Kräfte ausdrücklich unterstützt. „Untersagt ist die Teilnahme der Kirchenleitung und der Geistlichen, folglich auch der ganzen Kirche, an der Tätigkeit politischer Organisationen, an wahlvorbereitenden Prozessen wie etwa der öffentlichen Unterstützung politischer Organisationen, die an Wahlen teilnehmen, oder einzelner Kandidaten, an Wahlkampfwerbung usw.“ (Grundlagen der Soziallehre der Russischen Orthodoxen Kirche, V.2).
Wenn Vertreter der Kirche zum Hass gegen andere Völker und Länder aufstacheln, anstatt den Frieden zu predigen, politische Einmütigkeit predigen, anstatt zwischen den politischen Kräften zu vermitteln, Gewaltakte gegen Andersdenkende ideologisch rechtfertigen, anstatt Versöhnung zu predigen – dann ist das eine Perversion nicht nur des Grundsatzes „Kirche steht außerhalb der Politik“, sondern auch und vor allem der Mission, zu der Christus seine Jünger ruft.
Der Versuch, das kirchliche Gebet als Instrument zur Überprüfung der Loyalität gegenüber irdischen Machthabenden zu missbrauchen, die Suspendierung und Amtsenthebung aufgrund von Gebeten für Frieden und Versöhnung – das ist nichts anderes als die Verfolgung von Christen wegen ihrer Treue zum Wort Christi.
***
Wir erinnern uns, dass Christus zu seinen Jüngern sagte: „Ihr seid das Salz der Erde. Wenn das Salz seinen Geschmack verliert, womit kann man es wieder salzig machen? Es taugt zu nichts mehr, außer weggeworfen und von den Leuten zertreten zu werden“ (Mt 5,13). Wir sehen, wie die heuchlerische Kluft zwischen Wort und Tat unsere Kirche in Verruf bringt. Erinnern wir uns an die Worte des Apostels Paulus: „Du belehrst also andere Menschen, aber dich selbst belehrst du nicht? Du predigst: Du sollst nicht stehlen! Und du stiehlst? Du sagst: Du sollst die Ehe nicht brechen! Und du brichst sie? Du verabscheust die Götzenbilder, begehst aber Tempelraub? […] Denn euretwegen wird unter den Heiden der Name Gottes gelästert, wie geschrieben steht“ (Röm 2,21-24).
Doch „das Wort Gottes bleibt in Ewigkeit“ (Jes 40,8), und wir bekennen unsere Treue zu diesem Wort.
Russisches Original des Aufrufs auf: <https://telegra.ph/Hranit-vernost-Hristu-i-Evangeliyu-01-10>. Deutsche Übersetzung vom Autor dieses Beitrags.

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Kaiser Wilhelm II. und der Genozid in “Deutsch-Südwestafrika”.

Ein Hinweis von Christian Modehn zur Bedeutung Kaiser Wilhelm II. im Völkermord der Deutschen Kolonialherren in Afrika.

1.

Wir haben in zahlreichen Beiträgen auf dieser Website gefordert, LINK, dass die bekannte “Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche” in Berlin (KWG genannt) endlich einen anderen, ein würdigen Namen erhält. Die Kirchenleitung sollte sich also endlich trennen von der Bezeichnung eines so genannten “Gotteshauses” mit einem Rassisten und Kriegstreiber. Die Forderungen blieben erfolglos, es gab noch nicht einmal irgendeine Reaktion auf unsere e-mails an entsprechende kirchenleitende Büros… Es ist die Angst der Kirche vor den heutigen Hohenzollern, die sich da äußert?  Das wäre wahrlich skandalös. Die Kirche spricht heute manchmal sehr erregt über die Schande des Kolonialismus, der Sklaverei etc., sie hat aber nicht die Kraft, für sich selbst als Kirche daraus sichtbare Konsequenzen zu ziehen… Dann müßte man auch das unselige Kirche-Staat-Bündnis (der Kaiser, König, als oberster Kirchenchef) aufarbeiten…LINK

2.

Die Veränderung des Namens dieser Kirche am Breitscheid-Platz in Berlin ist unabhängig davon, dass dieses Gebäude eigentlich an Kaiser Wilhelm I. erinnern soll. Aber der Beschluss zu diesem Titel kam von Kaiser Wilhelm II. Und im übrigens ist Kaiser Wilhelm I. auch keine so hervorragende, so heiligmäßige Gestalt, dass nach ihm bis heute ein evangelisches Gotteshaus benannt werden darf.

3.

Manche LeserInnen haben uns gefragt, ob denn Kaiser Wilhlem II. wirklich so kriegstreiberisch, so rassistsich war. Ich will nun auf ein Intervies hinweisen zum Thema Kolonialismus und Kaiser Wilhelm II., das im Humboldt Forum im Juni 2023 stattfand. Da gibt es eigentlich keinen Raum mehr für Zweifel. Denn die Worte Kaiser Wilhelm II. sind bekanntlich Taten…

Der Spezialist für dieses Thema, der Historiker Prof. Jonas Kreienbaum (F.U. Berlin), sagte im Gespräch mit Alfred Hagemann (Humboldt-Forum) am 8. Juni 2023:

„Ich glaube, dass der Kaiser im sprachlichen Bereich am deutlichsten zu dem sich entwickelnden Genozid beiträgt. Er ist berühmt dafür, sehr martialisch aufzutreten – auch sprachlich – und das berühmteste Beispiel ist die sogenannte „Hunnenrede“.
Im Grunde fordert er die Soldaten auf: Macht keine Gefangenen! Bringt alle um, auf die ihr trefft, was zumindest an der Grenze zu einer genozidalen Aufforderung liegt.
Ich glaube, dass solche Aussagen bei kolonialen Militärs den Eindruck erweckt haben, an allerhöchster Stelle wird brutales, wenn nicht sogar genozidales Vorgehen toleriert, sogar gewünscht. Und ich glaube, genau auf dieser Ebene trägt der Kaiser dazu bei, einen diskursiven Rahmen zu schaffen, der diesen Völkermord denkbar und dann ausführbar werden lässt.
Zweitens kann man hinzufügen, dass der Kaiser auf einer symbolischen Ebene stark in den Völkermord involviert ist. Ich glaube, das wird nirgends so deutlich, wie wenn wir uns den „Vernichtungsbefehl“ Trothas anschauen. Der unterschreibt ihn nämlich, und das ist kein Zufall, mit der Formel „Der große General des mächtigen deutschen Kaisers“. Diese Vernichtungspolitik wird also im Namen des Kaisers durchgeführt und das ist ganz typisch für den kolonialen Kontext, wo das Deutsche Reich immer wieder in der Person des Kaisers symbolisiert wird.“

Quelle: LINK  

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin   LINK  

800 Millionen Menschen hungern heute. Das ist Mord!

Anlässlich des „Welttages gegen Hunger“ am 16. Oktober 2021

Ein Hinweis von Christian Modehn.

1.Selten hat ein deutscher Politiker, noch dazu ein CSU-Minister, so deutlich, so wahr und radikal gesprochen, wie jetzt Gerd Müller, der bald ausscheidende und sehr vernünftige Minister für „Entwicklungshilfe“ der Regierung Merkel. „Hunger ist Mord“ heißt seine Erkenntnis. Sie sollte sich wie ein Mantra überall und bei jedem festsetzen. “Eigentlich”, wenn es den Willen für eine gerechte Weltwirtschaft gäbe, bräuchte niemand zu hungern.

Besser wäre es, die sachliche Ebene „Hunger“ zugunsten der persönlichen Ebene „Hungernde“ zu ersetzen. Also zu sagen: „Hungernde werden ermordet“. Dann muss die Frage beantwortet werden: „Von wem werden denn Hungernde ermordet?“

Bei der Suche nach Antworten darauf sind wir wieder bei dem leidigen Stichwort gelandet, das so oft als Entschuldigung dient für konkretes politisches Handeln: Es ist der Begriff „Komplexität“. Natürlich ist es ein komplexes Phänomen, dass zurzeit (Herbst 2021) mehr als 800 Millionen Menschen ,vor allem in Afrika, hungern. Wie auch immer die Gründe aussehen: Eines ist klar: Hungern heißt für diese Elenden eben nicht, ein bisschen Bauchweh zu haben, weil der Magen leer ist oder, wie üblich dort, kein sauberes Wasser zur Verfügung zu haben. Hungern heißt für die 800 Millionen Menschen: Sich Im Zustand des langsamen, aber sicheren Krepierens zu befinden.

Minister Gerd Müller sagte also vor wenigen Tagen: „Hunger ist Mord, da wir dies heute ändern können“. Worte, die jeder mindestens zweimal lesen und sprechen sollte: HUNGER IST MORD, da wir dies heute ändern könnten“. Der Hunger und das Verhungern sind also kein Schicksal, ist nichts Unabwendbares, wenn auch die Klimakatastrophe eine Rolle spielt, aber die ist von Menschen vor allem im reichen Norden dieser Erde gemacht.

Gerd Müller also sagt: „Hunger ist Mord, da wir dies ändern können“. Wer ist wir? Sicher nicht die Hungernden in der Sahelzone, sondern eben wir, auch wir Europäer, auch wir Deutsche.

2. Aber WIR haben absolut andere Sorgen: Nur ein Beispiel: Der 16. Oktober ist bekanntlich der „Welttag gegen Hunger“. Wenn man abends im ZDF das Heute-Journal sieht, wird etwa 6 Minuten über das Treffen der „Jungen Union“ in Münster lang und breit berichtet und etwa 40 Sekunden über die Tatsache, dass 800 Millionen Menschen hungern. Es werden dabei die üblichen Bilder gezeigt und einfallslos wie immer werden die ZuschauerInnen zum Spenden aufgerufen. Also: Ein paar Euro locker machen, spenden und schon haben einige Hungernde eine Schale Reis. Von der Aufforderung, sich politisch zu informieren, warum denn die Anzahl der Hungernden schon wieder zugenommen hat, vor 2 Jahren waren es „nur“ 690 Millionen“, also keine Spur davon in der Nachrichtensendung. Laschet und Söder und die JU sind absolut wichtiger für uns, wir sind begrenzte Nationalisten geworden, vielleicht sogar blind für die „fernen Nächsten“, die Mitmenschen in Hunger und Dreck…Mit Spenden sollen wir also unser Gewissen beruhigen und es hinnehmen, wie gering etwa der Etat des Miniserums für „Entwicklungshilfe“ ist. Dabei ist es fraglos, dass Spenden oft eine letzte Rettung sind für die Elenden. Gerd Müller (CSU!) sagt es selbst: „Schauen Sie, allein für Rüstung werden weltweit jedes Jahr 1700 Milliarden Euro ausgegeben. Für Entwicklung nur 170 Milliarden. Dies ist ein inakzeptables Missverhältnis.“

Aber die meisten finden das normal. Weil sie auch die kapitalistische Gesellschaft normal finden und die neoliberale WirtschaftsUNordnung normal finden. Wo und wann wurde denn bei diesem Bundestagswahlkampf von Entwicklungshilfe gesprochen, welcher der so genannten Spitzenpolitiker sprach davon, setzte sich für mehr Gerechtigkeit in der kommenden Regierung? Mir ist davon nichts begegnet.

Um beim Thema „Hunger ist Mord“ bzw.: „Wenn 800 Millionen Menschen jetzt hungern, sind wir die Mörder“, die richtige Erkenntnis präziser zu fassen: Dieses Thema ein philosophisches, es muss die Frage aufgeworfen werden: Wie „wir“ denn endlich zu einem menschenwürdigen Verständnis von Gerechtigkeit auf dieser einen Welt („Mutter Erde“ ?) kommen können. Wollen „wir“ das überhaupt? Oder brauchen wir die Elenden, um unseren Wohlstand zu halten und auszubauen? Brauchen wir moderne Sklaven? Etwa doch einige Flüchtlinge aus Afrika?

Philosophisch ist eindeutig in dieser grausamen Situation: „Wir“ sind Mörder, ein schwieriger Gedanke, aber wir sind meist Mörder durch Unterlassung von wirksamer Hilfe, weil uns die eigene kleine bürgerliche oder spießbürgerliche Welt, der eigene begrenzte Horizont, der in der Merkel Regierung so heilig war, selbstverständlich geworden ist. Wer wagt das Eingeständnis: „Wir sind totale Egoisten“?

3. Wir müssen uns also angesichts der fast einer Milliarde Hungernder Menschen eingestehen: Unser Reden von Menschenrechten, von Solidarität, von Herrschaft der Vernunft etc. ist oft nur ein Ausstoßen von leeren Wort-Blasen. Denn sonst würden wir doch aufstehen und massenhaft „Fridays for hungry peoples“ organisieren und vor den Verteidigungs-, Finanz-und Wirtschaftsministerien protestieren.  Dass immer mehr so genannte demokratische Regierungen, wie in Polen, Ungarn oder jetzt in Österreich wider den Geist der Demokratie handeln und in der Korruption versinken, ist bezeichnend: Korrupte Politiker kümmern sicher eher um das nächste Staats-Bankett als um die 800 Millionen Hungernde.

Und die Kirchen in Deutschland? Vor einigen Jahren waren sie manchmal noch ein bisschen der öffentlichen sozialen und prophetischen Kritik verpflichtet, sie sind jetzt absolut mit allen ihren Missbrauchsfällen befasst oder mit synodalen Prozessen oder dem Zölibat…Woelki und Co. wurden den Katholiken viel wichtiger als die Menschenrechte! Und den Hilfswerken fällt auch nichts anderes ein, wie schon seit Jahrhunderten, als um Spenden zu betteln, also um die berühmten „Tropfen auf die heißen Steine“. Zur politisch-prophetischen Rebellion für die Hungernden sind die Kirchen in den reichen Ländern gar nicht in der Lage. Sie sind müde und schwach und geldgierig für eigene Zweck.

Es werden vielleicht politisch noch viele kluge Worte zum Hunger gesagt. Aber wir haben uns längst daran gewöhnt, dass es Untermenschen (Hungernde, „Schwarze“) und gut genährte Übermenschen bzw. Herrenmenschen, dies sind die Europäer, Amerikaner, Japaner, Saudis und andere sich islamisch – scheinheilig fromm nennende Gewaltherrscher in ihrem absoluten Saus und Braus … gibt. Die Kategorie Untermenschen contra Herrenmenschen hat ja bekanntlich schon seit Urzeiten gegolten und in der Nazizeit zum Massenmord an den Juden und anderen geführt…

In der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“ sagte Müller weiter: „Man kann kaum glauben, zu welchen Verbrechen Menschen in der Lage sind.“ In einem Flüchtlingslager in Myanmar habe er mit Frauen gesprochen, deren Babys von Regierungstruppen in brennende Hütten geworfen wurden. Im Camp von Moria lernte er Frauen kennen, die auf der Flucht vergewaltigt wurden. Im Tschad haben wir ein Krankenhaus in einem Slum besucht: abgemagerte Kleinkinder, deren Mütter sie nicht stillen konnten, weil sie selbst unterernährt waren. Die eigene Regierung hat seit Jahren keine Mittel gegeben. Und drei Kilometer weiter saß der Präsident in seinem Palast aus Gold und Marmor. Er kannte das Krankenhaus nicht und sagte, wenn man krank ist, dann fliegt man in die USA. Vollkommene Ignoranz. Er wollte öffentliche Entwicklungszusammenarbeit von uns. „Ich habe ihm gesagt, das kann er vergessen. Stattdessen unterstützen wir das Krankenhaus direkt. Da war der Präsident stinksauer und hat sich bei der Bundeskanzlerin über mich beschwert“.

4. Wie kommt man philosophisch weiter? Im Denken allein sicher nicht. Es braucht wohl eine Revolution des politischen Handelns. Aber dafür gibt es keine Subjekte. Und keinen Willen, keine „Umkehr“, unter den Reichen.

Philosophen und die wenigen noch dem befreienden Evangelium Jesu von Nazareth verpflichteten Menschen müssen sich eingestehen: „Wir sind gescheitert“: Die Philosophie als Gesellschaftskritik und die christliche Religion, in ihrem humanen, nicht gewalttätigen Kern. Sie sind gescheitert. Die Bilanz des Christentums ist – historisch gesehen – katastrophal. Das weiß jeder.

Nur wer das Scheitern eingesteht, hat die Chance, irgendwo und irgendwie neu zu beginnen. Wenn einem dazu die Kraft nicht genommen wurde…

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

 

 

 

Macron – ein Revolutionär?

Zu einem neuen Buch von Joseph de Weck

Ein Hinweis von Christian Modehn am 26.7.2021

1.
Der Untertitel des Buches „Emmanuel Macron“ zeigt von vornherein die Richtung, es geht um einen „revolutionären Präsidenten“. Autor dieses Essays, das rechtzeitig vor der Präsidentschaftswahl 2022 erscheint, ist der in Paris lebende Politologe Joseph de Weck (Jahrgang 1986). Herrscht also, 232 Jahre nach dem Beginn der Französischen Revolution, tatsächlich ein „Revolutionär“ an der obersten, äußerst mächtigen Spitze der Republik? Macron sieht sich in einem geradezu übermäßigen Anspruch, aber er kann nicht die neue Revolution vollbringen, die Bürger folgen ihm nicht… und die Europäer – bis jetzt – auch nicht. So ist die Macht des sehr energischen und sehr selbstbewussten Emmanuel Macron doch begrenzt, immer wieder gestört von den eigensinnigen Bürgern, wie etwa der berühmten Protest-Bewegung der „Gelbwesten“. Macron will ganz entschlossen, nach der Beurteilung des Politologen, die zerrissene, „gespaltene“ (S. 180) und deswegen widersprüchliche Nation Frankreich nicht etwa nur regieren, er will sie versöhnen. Ein Mammutprojekt, denn gespalten ist die Nation spätestens seit 1789. Die BürgerInnen Frankreichs sind, ohne in Klischees zu verfallen, oft sehr aufmüpfig und sozusagen ständig streikbereit, Kompromisse fallen schwer, dabei „im letzten“, was die Stabilität ihres Lebens zumal auf dem Lande betrifft, doch „sehr konservativ“ (S. 166). Macron, der Präsident will diese seine Nation versöhnen, und gleichzeitig Europa in der Gestalt der E.U. als geistige wie ökonomische Macht entwickeln und verteidigen. Seine europäische Führerrolle wird wohl nach dem Ende der Ära Merkel noch deutlicher werden. Macron ist wohl DER europäische Politiker heute und zweifellos auch nach 2022, wenn „es denn klappt“, und sich Macron gegen die sehr rechtslastige Marine Le Pen (Parteiführerin von „Rassemblement National“) durchsetzt…
2.
Es ist auch bezeichnend für das ausgeprägte Selbstbewusstsein Macrons, dass er als Titel für seine politische Programmschrift schon im November 2016, also kurz vor seiner Wahl, schlicht und unbescheiden „Revolution“ wählte. In der Taschenbuchausgabe 2017 steht der etwas milder stimmende Untertitel „Reconcilier la France“, „Frankreich versöhnen“. Keine leichte Aufgabe: „Frankreich ist im Grunde eine Gesellschaft von Anarchisten“, heißt das sehr provozierende Urteil de Wecks (S. 36), und er bezieht sich dabei auf das bekannte Zitat von de Gaulle, der daran (ver)zweifelte ein Land zu regieren, „in dem es 258 Käsesorten gibt“ (ebd.).
Joseph de Weck bezieht sich oft auf dieses „Revolutions-Buch“ von Macron. Und zeigt, dass tatsächlich die Versöhnung des in sich zerstrittenen, ideologisch wie sozialpolitisch zerrissenen Frankreich die oberste, aber äußerst schwierige Projekt des jungen Staatspräsidenten (geboren am 21. 12.1977 in Amiens) ist.
De Wecks Buch bietet keine ausführliche, chronologisch geordnete Biographie des Staatspräsidenten, nur elementare Informationen werden dazu geboten, etwa auch zu seiner Ehe (Heirat 2007!) mit seiner früheren Lehrerin Brigitte Auzière im Gymnasium der Jesuiten in Amiens (S. 23 f.).
Im ganzen stellt der Autor den Präsidenten Macron in den Kontext der aktuellen politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse. Damit werden viele Leserinnen in Deutschland zugleich wichtige Hintergrundinformationen zu der doch eher unbekannten, wenn nicht fremden Nation in der Nachbarschaft geboten.
3.
Ich nenne nur einige zentrale Stichworte, die im Essay dargestellt werden:
Macron will explizit im Auftreten, Reden, Handeln ein großer, ein intellektueller Staatsmann sein, der sich gern mit de Gaulle und dem Sozialisten Mitterrand vergleicht. Macron ist sich seiner Bedeutung sehr bewusst und er zeigt das.
Er ist verglichen mit anderen PolitikerInnen in Europa tatsächlich ein intellektueller Staatspräsident, mit einer tieferen Kenntnis der Philosophie und Literatur, seine Reden und Ansprachen haben oft den Charakter philosophischer Reflexion. PolitikerInnen in der europäischen Nachbarschaft oder in den Büros der E.U. zeigen in ihren intellektuell dürftigen Reden eher ihren eigenen, eher technokratischen Charakter.
Das ist der Anspruch: Macron will eine Politik gestalten, die weder rechts noch links ist. Dafür gibt es viele Beispiele: Er fördert die Wohlhabenden in der Steuerpolitik und erhöht aber auch die Rente der Armen ein bisschen. Er fördert die Bildung und reduziert die Klassengröße in „sozial prekären Vierteln“ auf 12 SchülerInnen. Das Gehalt der Lehrer, die es in diesen Problemgegenden aushalten, erhöht er um 3.000 Euro jährlich (S. 90).
4.
So sehr auch manche Reformen für die „einfachen Leute“ wichtig sind: Die Kritik gerade von Seiten der Linken ist heftig (S. 96). Joseph de Weck schreibt: “Ein Teil der Bevölkerung hasst den Präsidenten Macron richtig gehend, heftiger noch als Sarkozy“ (S. 159). Warum? Weil er in der Sicht der Linken doch letztlich eine Politik zugunsten der Reichen macht, selbst wenn er sich dialogfreundlich etwa mit den „Gelbwesten“ unterhält. Die Rechten und die Reaktionären, auch viele Katholiken, verachten ihn, weil er die „Ehe für alle“, also die Ehe für homosexuelle Paare, eingeführt hat. Bezeichnend ist, dass Macron mit dem niederländischen rechtsliberalen und neoliberalen Ministerpräsidenten Mark Rutte befreundet ist (S. 128).
5.
Im Ganzen ist „Macrons Image noch immer nicht fixiert“, (s. 185), viele Beobachter betonen: Man kann Macron nicht definieren, er entzieht sich förmlich einer Festlegung. Die Linken sehen das anders, wie etwa der inzwischen viel gerühmte Autor Eduard Louis (S. 163). Louis beschwerte sich sogar darüber, dass sein autobiographischer Roman „Wer hat meinen Vater umgebracht“ im Präsidentenpalast gelesen wird. Per Tweet schrieb Louis an Macron: “Sehen Sie davon ab, mich zu benutzen, um die Gewalt (des Staates gegen ausgegrenzte, arm gemachte Bürger, CM) zu maskieren, die Sie ausüben und inkarnieren…“ Worte, die de Weck eher peinlich findet… Und er schreibt weiter: „Obwohl (der tatsächlich weltberühmte linke Ökonom, CM) Thomas Piketty ähnlich denkt wie Macron, jedenfalls in Sachen Weltwirtschafts – und Europapolitik, sucht Macorn nicht die Nähe zu diesem Starökonomen“ (S. 163). Macron ist eben kein Linker, wer es immer noch weiß! Er verteidigt die „Meritokratie“ (S. 164), also das liberale (auch FDP) Motto: Leistung und viel Arbeit lohnt sich, sie erst macht aus einem Menschen einen wertvollen Menschen…
6.
Es ist auch klar, dass sich Macron einigen Thesen von Marine Le Pen angepasst hat, gerade hinsichtlich der Flüchtlingspolitik. Ihm geht es darum, Stimmen aus dem sehr konservativen Lager bei der Wahl 2022 zu sammeln, damit er stärker wird als die rechtsextreme Politikerin Le Pen. Auf die Stimmen der Linken kann Macron im zweiten, entscheidenden Wahlgang gegen Le Pen nicht zählen. Aber noch ist vieles offen und vielleicht passiert ein Wunder und die zerstrittenen Linken vertragen sich und einigen sich auf einen gemeinsamen Kandidaten bzw. eine Kandidatin.
7.
Natürlich kann der Essay von Joseph de Weck nicht alle relevanten Aspekte zu Macron und Frankreich heute ansprechen. Ich hätte mir trotzdem mehr Informationen gewünscht zu der typisch französischen Laicité, die de Weck komischerweise einmal falsch mit „laizistisch“ übersetzt (S. 167). Und die Bedeutung Macrons als Philosoph und Ricoeur – Schüler wird meines Erachtens vom Autor etwas übertrieben. LINK Und auch dies: „Gottesdiensten bleibt (der getaufte Katholik) Macron grundsätzlich fern“, schreibt de Weck auf S.18. Mag ja sein. Aber mit den Katholiken will der Katholik Macron, der Jesuitenschüler, letztlich doch in gutem Einvernehmen sein. Kürzlich besuchte er als erster Präsident überhaupt im Juli 2021 den Marienwallfahrtsort Lourdes… Natürlich offiziell nicht als Pilger, sondern als besorgter Politiker. Aber diese Visite fand nach der Veröffentlichung des Buches statt. Immerhin aber hat Macron im Juni 2018 Papst Franziskus im Vatikan zu einem einstündigen, offenbar sehr herzlichen Gespräch getroffen, er wurde zum Ehrenkanonikus der Basilika St. Johannes im Lateran ernannt, gemäß einer alten Tradition. Und noch am 21.3. 2021 hat Macron und der Papst telefoniert. Dabei gratulierte der Präsident Papst Franziskus für seine Reise in den Irak. Schwieriger gestaltet sich der Umgang Macrons mit „den“ Muslimen, sein Innenminister bezeichnete pauschal den „Islam als Problem“…Ein neues Laicité-Gesetz soll die Muslime auffordern, sich eindeutig zu den Werten der Republik theoretisch wie praktisch zu bekennen. LINK
Die Laicité, die ständig viel besprochene Trennung von Religionen und Staat, wird heute neu bestimmt im Blick auf die Muslime und ihre Gemeinden. Macron will die Integration fördern, viele meinen, es handle sich eher um eine Assimilierung „des“ Islams an die französische Republik. Deswegen schwärmt die rechtsextreme Politikerin Marine Le Pen auch von der Laicité, weil sie darin ein Instrument entdeckt hat, „die“ Muslime in Frankreich einzugrenzen mit einer Art „Nicht -Willlkommens – Unkultur“. Marine Le Pens Vater war und ist stärker antisemitisch orientiert, die Tochter als Parteiführerin ist geradezu judenfreundlich, ihre ganze Abneigung gilt nun dem Islam.
Leider wird in politischen oder soziologischen journalistischen Essays viel zu wenig die nach wie vor aktuelle Bedeutung der Religionen in Europa dokumentiert und diskutiert…
8.
Ansätze für eine politisch-theologische Vertiefung bietet de Weck, etwa auf Seite 71. Er erinnert an die sakral anmutende Inszenierung Macrons im Louvre zu Beginn seiner Präsidentschaft, er weist auf einen gewissen Heldenkult hin (sozusagen säkulare Heiligenverehrung?) und vor allem: Macron ist durchaus mit dem Gedanken vertraut, dass Franzosen manchmal eine „Praxis der religiösen Überhöhung der Republik“ (Seite 71) suchen und pflegen.
Wird dann der Präsident der Republik zu einem säkular-heiligen Nachfolger unter den Königen? Bloß: Welcher Bischof würde ihn, den Präsidentenkönig, dann salben etc.?
Fest steht: So ganz wird die säkulare, wenn nicht jetzt bereits tief säkularisierte, also auch durchaus a-kirchliche bzw. anti-kirchliche französische Gesellschaft (nur noch ca. 32 Prozent nennen sich jetzt laut Umfragen katholisch (Quelle: Le Point, 23.5.2019) dann doch nicht die Verbindungen zu einer gewissen Transzendenz los… Etwas Göttliches verschwindet offenbar nicht. Aber vielleicht verbergen sich hinter dem säkular Göttlichen doch nur Götzen?
9.
Nur ein kleiner Korrekturvorschag für die 2. Auflage: Evreux ist wahrlich, wie de Weck behauptet, keine „Pariser Vorstadt“, (S. 165), sondern Sitz der Präfektur des Départements Eure. Evreux ist 98 Km von Paris entfernt…

Joseph de Weck, Emmanuel Macron. Der revolutionäre Präsident. Weltkiosk-Verlag London-Berlin, 2021, 201 Seiten, 20 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Haiti: Der unerhörte Schrei nach Gerechtigkeit.

Über Arroganz und Gewalt der „hilfsbereiten“ Demokratien.

Ein Hinweis von Christian Modehn auf das wichtige Buch „Haitianische Renaissance“, geschrieben im April 2021.

1.
Es gibt seit mehr als einem Jahr eine absolute Fixierung auf Corona. Verständlich bei der Pandemie, aber verständlich bedeutet nicht immer auch verzeihlich. Denn die Menschen in Europa, können, falls sie den Titel Mit-Menschen ernst nehmen, niemals die Leiden vieler Millionen anderer Mit – Menschen im Süden dieser Welt ignorieren. Sie sind die Elenden und die vom Neoliberalismus Armgemachten. Wo herrscht der Neoliberalismus? Im Norden, bei uns…

2.
Haiti, das Land, in dem zum ersten Mal Sklaven der Kolonialmacht wirksam trotzten und 1804 den Titel Republik erlangten, wird immer wieder als trauriges Beispiel für die Unmöglichkeit von „Entwicklung“ erwähnt. Den herrschenden Führern dort ist das von Armut, Elend und Hunger bestimmte Leben ihrer „Mitbürger“, gelinde gesagt, egal. Und die westlichen Demokratien unterstützten und fördern diese politischen Führer, die man auch noch „Eliten“ nennt: Sie sind bestenfalls „Eliten der Korruption“. Der Westen predigt zwar „Demokratie und Menschenrechte für Haiti“, finanziert aber die korrupten Machthaber dort („demokratisch“ gewählt, oft bei einer Wahlbeteiligung von 22 Prozent … mit dem üblichen Wahlbetrug). Der jetzige Präsident Jovenel Moise klammert sich aus finanziellen Gründen absolut an die Macht, er ignoriert die Verfassung, regiert brutal, verfolgt die Opposition und so weiter. Die Unterdrückten aber stehen auf, bereiten den Aufstand vor, wird er zum demokratischen Umsturz führen? Viele hoffen es, wenige glauben es.
Jetzt, im April 2021, gibt es also Straßenschlachten. Steine und brennende Reifen blockieren die ohnehin kaum passierbaren Straßen, die Wut zumal der jungen Leute ist maßlos.

3.
In den üblichen Fernsehnachrichten „bei uns“ werden Bilder des Aufstandes in Port au Price, wenn überhaupt, maximal 40 Sekunden gezeigt. Keine Talkshow in Deutschland widmet sich dem Thema Haiti, dabei wäre dies doch mal eine provozierende „Abwechslung“, vielleicht sogar mit einer guten Einschaltquote, die doch am wichtigsten ist für alle Programm-Chefs… Aber: Haiti ist weit weg, behaupten die üblichen Ignoranten. Tatsache für die wenigen Wissenden ist: Europa und die USA sind tief in die innere politische, auch ökonomische Struktur Haitis eingedrungen, so dass diese erste Republik der Schwarzen wieder „unsere“ „europäische Kolonie“ geworden ist und uns insofern doch eigentlich sehr nahesteht.
Aber Deutschland, Europa, kapselt sich nationalistisch oder als EU ab. Es geht in der Öffentlichkeit hier fast nur um Corona, in Deutschland etwa auch noch um Laschet und Söder und Baerbock oder die Rückführung von Flüchtlingen nach Afghanistan und Syrien. Man könnte zugespitzt sagen: Die Deutschen beschäftigen sich, in den großen Medien sichtbar, fast nur noch mit sich selbst. Und um „ferne Länder“ nur dann, wenn wir mit ihnen jetzt unmittelbar ökonomisch, militärisch und außenpolitisch verbunden sind. Man könnte also von einem nationalistisch verengten Weltbild sprechen.

4.
Für Haiti heute gilt: “80 Prozent der Bevölkerung wollen nicht nur einen Regierungswechsel, sondern eine grundlegende Reform von Staat und Gesellschaft”, sagt der haitianische Wirtschaftsprofessor Alrich Nicolas von der Universität in Port-au-Prince den Lateinamerika Nachrichten. Und zahlreiche Schriftsteller stimmen dem zu, wie Evelyne Trouillot: Sie nennt die gegenwärtige Herrschaft verfassungsfeindlich, korrupt und repressiv, so in einem Beitrag für „Le Monde,“ Paris, am 15.3.2021. Dabei ist für die Gewalt der Einschüchterung durch das jeweilige Regime „gar nicht neu“, die Autorin erinnert an die blutige Herrschaft der Diktatoren Duvalier, Vater und Sohn. Die Arbeitslosenquote liegt bei70 Prozent und das Pro-Kopf Einkommen bei 350 US -Dollar. 3 Milliarden Dollar werden jährlich von Haitianern im Ausland (USA, Canada..) ins Land transferiert. Nur so können ihre Verwandten halbwegs noch überleben…Wo die 15 Milliarden Dollar Spenden und öffentlichen Gelder der USA und Europas nach dem Erdbeben 2010 geblieben sind, ist eher nur ahnbar: Die Gelder sind entweder gar nicht erst in Haiti angekommen oder sie flossen zurück zu den Reichen. Der hoch gepriesene geplante neue Freihafen Caracol wurde nie fertig gebaut, angeblich wurden dort 4 Milliarden Dollar verschleudert bzw. sie wanderten in die Taschen korrupter Bauunternehmer…

5.
Es gibt der ganzen Misere zum Trotz eine aktive Zivilgesellschaft vor allem junger HaitianerInnen, die für den Aufbau einer neuen demokratischen Regierung in einer demokratischen Kultur eintreten. Viel Beachtung verdient die hierzulande wohl völlig unbekannte Website junger AutorInnen und JournalistInnen, die regelmäßig auf https://ayibopost.com/ publizieren, in französischer Sprache und auch in der Landessprache Kreolisch. LINK
6.
Die reiche literarische Kraft und Energie haitianischer AutorInnen bietet (in deutscher Sprache) der Verlag „Litradukt Literaturverlag“ in Trier, der seit einigen Jahren zahlreiche Romane, auch Kriminalromane, und Essays aus Haiti hier zugänglich macht, zuletzt etwa den Roman „Sanfte Debakel“ von Yanik Lahens. Eine wunderbare Initiative! Es wird Zeit, dass die Literatur Haitis (wie die der anderen Länder der Karibik und Lateinamerikas) aus dem bescheidenen Nischendasein befreit wird. Das können nur LeserInnen tun, die sich bewusst für ihre große Horizonterweiterung einsetzen und die haitianischen AutorInnen lesen. Und auch fordern, dass Literatursendungen im Fernsehen, etwa das „Literarische Quartett“ oder „Druckfrisch“, nicht nur immer einen der neuesten Roman von Juli Zeh und so weiter vorstellen, sondern auch den von Yanik Lahens, Haiti. Dies ist ein Traum in einer europäischen Kultur, die sich so gern multikulturell nennt, aber extrem eurozentristisch bleibt.

7.
Jetzt bietet eine wichtige Neuerscheinung umfassenden Einblick in die politische, ökonomische und kulturelle Wirklichkeit Haitis heute. Das Buch von Katja Maurer und Andrea Pollmeier, beide mit Haiti und den engagierten HaitianerInnen bestens vertraut, hat den provozierenden Titel „Haitianische Renaissance“. Der Titel ist wohl auch als Ausdruck der Hoffnung zu verstehen: Es waren die Sklaven, die sich einst, um 1800, von der Kolonialherrschaft befreiten, und grundlegend Neues, eine Republik, anstrebten. Vielleicht gelingt es den Unterdrückten Haitianern heute, unter anderen Bedingungen, wirkliche Befreiung von den neuen Kolonialherren zu vollbringen und eine Demokratie zu gestalten. Dies wäre dann die „Renaissance Haitis“.
Dabei steht fest, dass die heutigen europäischen und amerikanischen Kolonialherren nach außen hin vorwiegend als Helfer, als paternalistische Gönner und Spender, auftreten, die alles besser wissen als das haitianische Volk selbst. Auch um dieses Problem geht es in den verschiedenen Beiträgen des Buches. Über die außerordentliche Spendenbereitschaft anlässlich des Erdbebens 2010 mit mindestens 300.000 Toten und die großspurigen Hilfsprogramme der USA und Frankreich etwa wird kritisch berichtet. Das übliche System der Hilfe verstärkt eher den politischen Status Quo, meinen di Autorinnen, sie sprechen offen über die fatale Wirkung der UN – Präsenz in Haiti, also das Einschleppen der Cholera durch UN Soldaten ins Land und die Vergewaltigungen durch UN – Soldaten. Beide Tatsachen wurden nicht umfassend aufgeklärt bzw. bestraft.

8.
Sehr erhellend wird für viele der Beitrag von Andrea Pollmeier sein über die Schuldenfalle, in die Haiti von Anfang an als freie Republik getrieben wurde. Haiti hatte sich gerade von Frankreich befreit, da musste die Republik Reparationszahlungen dem einstigen Kolonialherren leisten, sozusagen als Preis dafür, dass nicht mehr die kolonialistische Ausbeutung fortbestand (S. 26).
Wichtig auch die Hinweise des Schriftstellers Gary Victor etwa über den Rassismus unter den Bürgern Haitis: Es geht um den Rassismus zwischen der zur Herrschaft gelangten minoritären „Mischlingen“ und der überwältigenden Mehrheit der Schwarzen als den Nachfahren der Sklaven: Sie waren es ja, die einst die Rebellion gegen die Kolonialherren und ihre Kollaborateure (also die Kreolen) begannen.

9.
Leider knapp gehalten sind die Hinweise auf die geistig-psychisch zerstörerische Rolle der evangelikalen Bewegungen, die aus den USA nach Haiti importiert wurden: „Diese Evangelikalen machen aus Menschen Zombies…Es gibt für sie nur ein Ziel: Alles, was mehr oder weniger authentisch ist, sogar die Religion, zu zerstören…“ (S. 57). Falls es eine 2. Auflage gibt, was ich mir wünsche, dann bitte mehr Informationen zum Thema, auch zur Rolle der katholischen Kirche als einer Staatskirche…

10.
Ein politisches Dokument von besonderem Wert ist der Beitrag von Ricardo Seitenfus, dem brasilianischen Sonderbeauftragten für die Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS). Er arbeitete von 2009 bis 2011 in Haiti und erlebte unmittelbar, im Kreis von Diplomaten, wie die USA die Absetzung des Präsidenten René Préval zu betreiben versuchten. (137). Préval ist einer der wenigen demokratisch gesinnten und auch wohl handelnden Präsidenten Haitis gewesen. Sein Nachfolger wurde am 14. Mai 2011 Michel Martelly, bekannt u.a. als Sänger in Nachtclubs (https://de.wikipedia.org/wiki/Michel_Martelly). Seine Regierung war von Korruption bestimmt.
Ricardo Seitenfus hat wichtige Bücher über Haiti publiziert, zuletzt im Jahr 2020: „L echec de l aide internationale a Haiti“, ein ganz wichtiges Buch für alle, die Haiti besser verstehen wollen (https://www.amazon.com/-/de/dp/B089TRZNL6/ref=sr_1_1?dchild=1&qid=1619785558&refinements=p_27%3ARicardo+Seitenfus&s=books&sr=1-1&asin=B089TRZNL6&revisionId=&format=4&depth=1)

11.
Die seit Anbeginn belasteten Beziehungen zwischen Haiti und der Dominikanischen Republik werden in „Haitianische Renaissance“ angesprochen. Angénor Brutus, Vorsitzender einer Organisation zur Unterstützung von Haitianern, die aus der Dominikanischen Republik vertrieben wurden, berichtet von den tiefsitzenden Vorurteile der Dominikaner gegenüber Haiti…Von rassistischen Gesetzen dort. Aber es gab auch eine große Hilfsbereitschaft der dominikanischen Bevölkerung zur Linderung der Erdbebenkatastrophe in Haiti 2010.Tatsache ist: Nach 2011 begannen dominikanische Politiker die Haitianer in der Dominikanischen Republik zu diskriminieren, zu verfolgen und außer Landes zu weisen. „Der Rassismus gegen Haitianer ist eher Teil des Machtkampfes unter dominikanischen Politikern. Darin ist er aber eine wirksame Waffe“ (156):

12.
Interessant und für viele LeserInnen sicher neu ist der Hinweis auf das Engagement des „US – American Jewish World Service“ auch in Haiti. Von einem weltweit agierenden progressiven jüdischen Hilfswerk EXPLIZIT für Nicht – Juden ist hierzulande eher wenig bekannt. Um so besser, dass man davon erfährt! Immerhin kommen einige Millionen Dollar Spenden jährlich zusammen…Der haitianische Aktivist Nixon Boumba berichtet über seine politische Zusammenarbeit mit dem amerikanisch – jüdischen Hilfswerk an der Basis (186) und nennt einmal mehr grundlegende Tatsachen: „Die Menschen in Haiti gehen auf die Straße, weil es keine Option für sie ist, so wie jetzt weiterzuleben (188). „Sieben Millionen Menschen in Haiti gehen keiner regelmäßigen Tätigkeit nach… Es gibt keine Bildung…“ (189). Die übliche hilfsbereite Arbeit der NGOs habe in Haiti keine Aussicht, den erforderlichen strukturellen Wandel zu bewirken. Jeglicher Paternalismus müssen überwunden werden.

13.
Schlimmes Beispiel für internationale, aber letztlich höchst unvollkommene „Hilfe“ nach dem Erdbeben ist die neu errichtete, aus dem Boden gestampfte Stadt „Canaan“ bei Port au Prince, einer Ansiedlung für 300.000 Menschen, die in Hütten und Häuschen untergebracht sind. Jegliche Infrastruktur fehlt, das Wasser ist knapp, die Privatschulen teuer, das dortige Gesundheitszentrum praktisch ohne Arzt usw… (Siehe auch: https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/ueber-leichen-gehen-haiti-zehn-jahre-nach-dem-beben-li.4583). Canaan wird die „hässliche große Narbe des Erdbebens“ genannt. Nur in den biblischen Mythen von „Canaan“ floss Milch und Honig, im realen haitianischen Canaan herrschen Not und Elend. (vgl. auch: https://www.welthungerhilfe.de/welternaehrung/rubriken/krisen-humanitaere-hilfe/haiti-zehn-jahre-nach-dem-beben/canaan

14.
Es gibt in ganz Haiti für 11 Millionen Einwohner 3.354 Ärzte (Quelle:https://lenouvelliste.com/article/196624/3-354-medecins-pour-desservir-plus-de-10-millions-dhabitants).
Kuba, das so „furchtbare“ sozialistische Land, hat ebenfalls 11 Millionen Einwohner und verfügt über 95.000 (!) ÄrztInnen; Deutschland mit 83 Millionen Einwohnern hat 402.000 ÄrztInnen.

15.
Über die Bedeutung der vielfältigen religiösen Traditionen wird in dem Buch „Haitianische Renaissance“ leider viel zu wenig berichtet. Welche Rolle spielte Voodoo als Impuls für den Sklavenaufstand? Auch über die Bedeutung des Voodoo heute hätte man gern viel mehr erfahren. Und man auch hätte gern gewusst, ob wenigstens einige der offenbar in den USA oder in Canada erfolgreichen Haitianer bereit sind, tatsächlich in ihr Land zurückzukehren, nicht um Präsidenten zu werden, sondern um den demokratischen „Aufbau“ zu unterstützen.

16.
Haiti, das Land der Elenden UND der Menschen des Widerstandes, bleibt eine ständige Herausforderung, auch für Europa. Gewöhnen wir uns an die Misere dort? Solidarisieren wir uns mit den Menschen des demokratischen Widerstandes dort? Haben wir die Energie, uns für unsere Mitmenschen, etwa in Haiti, genauso zu interessieren wie für die Themen und Leute, die uns hier ständig auf dem Bildschirm begegnen und uns einreden, sie seien wichtig. Wir brauchen die Weitung unseres Blickes, unseres Interesses, unserer Solidarität. Das muss nicht immer Haiti sein, das kann auch Honduras, Jemen, Sudan, Niger, Philippinen und so weiter sein

17.
Zum Schluss ein längeres Zitat von einer der Herausgeberinnen des Buches „Haitianische Renaissance“: Katja Maurer schreibt in „Medico International“ im Jahr 2020 (Quelle: https://www.medico.de/blog/reparatur-durch-reparationen-17821)
„Über hundert Jahre lang zahlten die Haitianer*innen an Frankreich Entschädigungen für den entgangenen Gewinn aus Sklavenarbeit. Dem französischen Ökonomen Thomas Piketty zufolge etwa 30 Milliarden Euro, exklusive der bezahlten Zinsen. Piketty forderte daher kürzlich, dass die unrechtmäßig verlangten Gelder an Haiti zurückgezahlt werden. Auch von den Hereros aus Namibia gibt es an Deutschland gerichtete Entschädigungsforderungen, die bislang brüsk abgewiesen wurden. Es ist an der Zeit, eine Kampagne für Entschädigungen und Rückgabe etwa der geraubten Kulturgüter ins Leben zu rufen. Den Erklärungen gegen Rassismus müssen Taten folgen, sollen sie nicht nur wohlfeil sein. Europa muss Verantwortung für seine koloniale Geschichte übernehmen. Das hätte tiefgreifende Folgen, nicht zuletzt für unsere imperiale Lebensweise. Aber es wäre eine Reparatur, die auch uns selbst heilt“.
Katja Maurer, Andrea Pollmeier, „Haitianische Renaissance. Der lange Kampf um postkoloniale Emanzipation“. Brandes und Apsel Verlag, 2020, 226 Seiten, 19,80 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Der Tee-Weg: Eine humanistische Spiritualität?

Ein Essay von Christian Modehn, veröffentlicht am 7.4.2009. Der Beitrag wurde zuerst in der Zeitschrift PUBLIK FORUM publiziert, wegen vielfacher Nachfragen wurde er erneut publiziert.

“Der Tee-Weg gründet auf der Verehrung des Einfachen und Schönen inmitten des schmutzigen Alltags. Er umschließt Reinheit, Harmonie und das Geheimnis des Mitleidens. Die Tee-Zeremonie ist eine Verehrung des Unvollkommenen, sie ist ein zarter Versuch, etwas Mögliches zu vollenden in diesem Unmöglichen, das wir Leben nennen”. Kakuzo Okakura, einer der hervorragenden Tee-Meister Japans, beschreibt einen “Weg”, der nach japanischer Auffassung zu Ausgeglichenheit, Weiterlesen ⇘