Erich Klausener ist kein Märtyrer. Er war doch nur „kerndeutsch“ und „loyal“….

Wie Katholiken sich heute einen Nazifeind herbei phantasieren und einen „seligen Blutzeugen“ konstruieren.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 10.9.2024

Ein Vorwort:
Hier wird berichtet, wie Katholiken heute einen Nazigegner konstruieren und ihn zum „seligen Blutzeugen“, also Märtyrer im Nazi- Staat, aufbauen wollen. Ein Beispiel dafür, wie katholische Spiritualität ohne Respekt vor historischen Fakten auszukommen meint. Und das ist ein Thema der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie. Sie befasst sich auch mit dem Zustand der real existierenden Kirchen heute.

Heilige und Selige werden “gemacht” von der Kirche, siehe dazu auch den Hinweis auf den im allgemeinen Scharlatan genannten “heiligen” Pater Pio (Nr. 24), der mit seinen “Wundmalen” sehr viel Geld einspielte…Und in einem gläsernen Sarg bis jetzt be – wundert werden kann.

1.
Die rechtsextremen Parteien in Deutschland (vor allem die AFD) finden immer mehr Zustimmung. In dieser Situation fühlen sich Katholiken in Berlin ermuntert, einen katholischen „Märtyrer“ im Widerstand gegen die Nazis als Vorbild zu etablieren. Die Devise ist wohl: Wenn es bis jetzt keine prominenten Katholiken als öffentliche Widerstandskämpfer gegen heutige Nazis gibt, dann soll wenigstens in der Vergangenheit ein katholischer Nazi – Widerstandskämpfer aufgebaut und propagiert werden.

2.
Als katholische Ausnahmegestalt im Berlin der dreißiger Jahre wird Dr. Erich Klausener hervorgehoben. In katholischen Publikationen wurde er schon etwa seit 1960 immer wieder gerühmt. Deswegen wurden auch Schulen und Straßen nach ihm benannt. Jetzt also ein neue Welle der Klausener – Begeisterung, weil es einen (gar nicht „runden“) Gedenktag gibt: Vor 90 Jahren, am 30.Juni 1934, wurde Erich Klausner von den Nazis in Berlin erschossen. Er war der Führer der katholischen Laienbewegungen in Berlin, war Mitglied der Zentrumspartei und hoher Beamter in Berliner Ministerien auch noch nach der „Machtergreifung“ Hitlers.

3.
Theologisch konservative, aber einflußreiche Klausener – Verehrer wünschen und beten (in eigens erstellten Gebetsheftchen, den „Novenen“) jetzt dringend, dass ihr Vorbild vom Papst selig gesprochen wird. „Selige“ befinden sich nach katholischer Lehre in der himmlischen Welt auf der Vorstufe zur Heiligkeit. Sie dürfen aber schon im Gebet um Hilfe und Beistand ersucht werden. Die Berliner wollen und sollen wohl alsbald beten: „Seliger Märtyrer Erich Klausener stärke uns im Kampf gegen die AFD“.

4.
Die heutigen Klausener Fans verlangen die historische Deutungshoheit über diese Person, mit allem Nachdruck und übereinstimmend wird Erich Klausener zum Blutzeugen, also zum Märtyrer, aufgebaut. Dieses Verhalten kann schlicht nur ignorant genannt werden. Mit einiger Recherche hätten die Klausener – Fans wissen können, was schon vor 10 Jahren der Soziologe Prof. Ekkehard Klausa in der Wochenzeitung „Die Zeit“ über den angeblichen „Widerständler“ Erich Klausener mitteilte: „Klausener hat die teuflischen Nazimächte nicht bekämpft. Er hat sie verkannt“, das steht in „DIE ZEIT“ vom 18.Juni 2014, Seite 17. Der wissenschaftliche Beitrag hat den auf Klausener bezogenen Titel „Er lobte seine Mörder“.

5.
Aber über wissenschaftliche historische Fakten setzt sich auch der päpstliche Nuntius in Berlin hinweg. Der Botschafter des Heiligen Stuhls in Berlin, Erzbischof Nikola Eterovic, nannte Klausener am 30.6.2024, „den ersten Berliner Blutzeugen“. Das katholische Kölner DOM Radio berichtet am 30. 6.2024: „Der Apostolische Nuntius in Deutschland, Erzbischof Nikola Eterovic, hat den Politiker Erich Klausener (1885-1934) als katholischen NS-Widerstandskämpfer gewürdigt. Der päpstliche Nuntius Eterovic hofft, dass das Zeugnis des ´ersten Berliner Blutzeugen`, also Klausener, dem aktuellen Mangel an Glaube abhelfen möge“. LINK
Auch der Weihbischof von Münster, Rolf Lohmann, betonte im Juni 2034 in Recklinghausen, wo Klausener als junger Mann auch wirkte: „Seine Überzeugungen haben Erich Klausener zum Märtyrer, zum Zeugen gemacht und uns Heutigen zum Vorbild“. LINK

6.
Über die Lebensgeschichte Erich Klauseners kann man sich leicht im Internet, etwa bei Wikipedia, informieren: Hier nur so viel: 1885 in Düsseldorf geboren, kam er als Jurist 1924 endgültig nach Berlin und arbeitete zunächst als leitender Beamter im Innenministerium (für die Polizei zuständig); wegen seiner führenden Rolle auch in der zahlenmäßig starken katholischen Laienbewegung wurde er aber von der Nazi – Regierung degradiert .. und 1933 ins Verkehrsministerium versetzt. Dort war Klausener für Schifffahrt zuständig. Göhring und Himmler hielten die katholischen Laienbewegungen für gefährlich und sie identifizierten ihren Mitarbeiter in den Ministerien, Dr. Erich Klausener, mit diesen – angeblich – oppositionellen Organisationen katholischer Laien. Professor Ekkehard Klausa schreibt: „Bis zu seinem Tod fand Klausener allenfalls zu partieller Opposition gegen das Regime, indem er etwa dem Verbot katholischer Arbeitervereine und Presseorgane widersprach. Für Göring jedoch war Klausener trotz seiner loyalen Haltung den Nazis gegenüber ein Exponent des verhassten politischen Katholizismus“, so in dem genannten Aufsatz in „DIE ZEIT“.

7.
Es ist wichtig, zwei Ereignisse im Jahr 1934 zu beachten:
Am 24. Juni 1934 fand der 32. „Märkische Katholikentag“ in Hoppegarten, nahe bei Berlin, statt. Katholische Massenveranstaltungen als Ausdruck machtvoller katholischer Präsenz in der Gesellschaft organisierte Klausener mit großer Leidenschaft, „Märkische Katholikentage“ hatte er schon zuvor organisiert.
In der Veranstaltung am 24. Juni mit 50.000 Teilnehmern in Hoppegarten war Klausener als Vorgetragener gar nicht vorgesehen. Er ergriff aber spontan zum Schluss doch das Wort und hielt eine kurze Rede. Der genaue Wortlaut allerdings ist nicht überliefert.

8.
Einige zentrale Aussagen nennt der katholische Journalist Ulrich Schoe, es sind Aussagen, die von Teilnehmern überliefert und dann zusammengetragen wurden.  Klausener empfahl demnach den Katholiken, „stolz auf den Glauben zu sein“, „frohe Katholiken zu sein“. Die wahrscheinlich letzen Worte dieser spontanen Rede sollen gewesen sein: „Treu stehe der Katholik zu Volk und Vaterland, auch sein Singen und Beten sei dem Vaterland geweiht“… (S. 49). Wichtig ist der Hinweis: „Von der Veranstaltung in Hoppegarten sandten der damalige Bischof Bares UND Erich Klausener ein Telegramm an Reichskanzler Adolf Hitler mit dem Inhalt: „50.000 Katholiken des Bistums Berlin verbinden mit dem Bekenntnis ihres Glaubens das feierliche Gelöbnis treuester Arbeit für Volk und Vaterland“. Katholiken Berlins gelobten, bevormundet von Bischof und Klausener, also Adolf Hitler „treueste Arbeit für Volk und Vaterland“ (S. 50). Die entscheidende Frage ist: Warum wurde dann der Autor eines solchen Treue-Gelöbnisses gegenüber dem „Führer“ ein paar Tage später erschossen? Er war doch zuvor schon als „loyaler katholischer Beamte“ den Nazi – Chefs bekannt!

9.
Am 30. Juni 1934 wird Klausener in seinem Büro im Verkehrsministerium auf Befehl des damaligen Chefs der Gestapo, des SS – Führers Reinhard Heydrich, von dem SS – Mitglied Kurt Gildisch erschossen. Dieses Verbrechen wird von den Nazis sofort als Selbstmord Klauseners umgedeutet und öffentlich so propagiert. Die Katholiken hingegen betonen: Der streng gläubige Katholik Klausener habe niemals einen Selbstmord, eine schwere Sünde in der katholischen Moral, begehen können. Sie protestieren dagegen, dass Klausners Leiche den Verwandten und dem Bischof nicht zugänglich wurde, dass er von den Nazis in aller Eile eingeäschert wurde…

10.
Natürlich, es wurde die einzelne Person, dieser Erich Klausener, ermordet. Aber er stand in der Sicht der Nazis sozusagen als Symbol für die als politisch aufmüpfig geltende katholische Laien – Bewegung.
Darum geht es: Erich Klausener wurde „nur“ als Symbol-Figur des – in der Sicht der Nazis – kritischen Laien – Katholizismus erschossen, sie wussten ja: Politisch war Klausener eine „urdeutsche, loyale“ Person.
Erich Klausener war also kein Widerstandskämpfer, das wussten selbst die Nazis. Es ist also problematisch, dass aus dieser Gestalt dann ein Erich Klausener als seliger schon Märtyrer gegen das Nazi – Regime gemacht wird.

11.
Diese Tatsachen werden jetzt katholischerseits verschwiegen: Kurz vor seiner Rede auf dem Katholikentag in Hoppegarten am 24. Juni 1934 lobte Klausner noch im Mai 1934 in kleinem Kreis die Nazi – Herrscher. Dies berichtet der Soziologe Ekkehard Klausa, in seiner Studie für “DIE ZEIT“. Zu diesem kleinen privaten Gesprächskreis gehörte auch Domvikar Walter Adolph, ihn zitiert Ekkehard Klausa: „Erich Klausner brach noch im Mai 1934 eine Lanze nach der anderen für das Dritte Reich. In seinem Eifer und seiner Hingabe, mit der er die Sache des nationalsozialistischen Regimes verteidigte, übersah er völlig, wie der Bischof Bares immer schweigsamer wurde und Klausners Lobeshymnen wie bittere Pillen schluckte.“ Bares hatte wohl keinen Mut, gegen den Nazi – Versteher Klausener aufzubegehren…

12.
Es ist also offenbar NICHT so, wie katholischerseits jetzt gern behauptet wird, als habe sich Klausener ab 1933 bis zu seinem Tod am 30.Juni 1934 zu einem deutlichen Nazi – Kritiker entwickelt. Das ist fromme Phantasie, bestimmte Katholiken wollen jetzt unbedingt ihren Nazi – Märtyrer“!
Ulrich Schoe bietet in seinem Beitrag über Erich Klausener (in: „Miterbauer des Bistums Berlin“, Berlin 1979, S. 54) eine Art Zusammenfassung der politischen Haltung Erich Klauseners: Der Text musste moderat ausfallen, es war ja schließlich ein Buch zu Ehren des Helden Klausener… Klauseners Haltung „gipfelte zweifellos in der anfänglichen Verkennung des Satanischen, das sich in der Person Hitlers und seines nationalsozialistischen Staatsaufbaus verkörperte. Klausener irrte im Ausdeuten der Zeichen der unter dem Nationalsozialismus angebrochenen Zeit, da er voller Hoffnung war, dass das Dritte Reich und die katholische Kirche sich auf friedlichem Wege zu einer Konkordanz finden werden. (S. 54).

13.
Ulrich Schoe ist also schon 1979 deutlich: Klausener irrte, er unterschätzte das Nazis-Regime..„Diese vertrauensvolle Gutgläubigkeit (gegenüber den Nazis) mag Klausener letztlich das Leben gekostet haben“ (ebd). Sollte man „gutgläubig“ mit naiv übersetzen? Als „Kerndeutscher“ , so Schoe, war Erich Klausener jedenfalls „kein Widerstandskämpfer in dem Sinne, dass er im aktiven Widerstand gegen Hitler gestanden habe“ (S. 50). Es war vielleicht eine Art Überheblichkeit, wenn Erich Klausener darauf setzte, dass er allein „den Reichtum und die Tiefe der katholischen Welt in den neuen NS Staat einbauen könne und diesem NS Staat zu einer positiv-christlichen Zielsetzung“ verhelfe (S. 47). Ein einzelner Katholik will die Ideologie „positiv – christlich“ korrigieren…Das darf man auch gut-gläubig nennen, wahrscheinlich dsann doch  naiv, vielleicht überheblich.

14.
Hedwig, die Ehefrau Klauseners, schreibt am 21.Juli 1934, nur drei Wochen nach dem Mord durch die Nazis, an den „Sehr geehrteren Herrn Reichskanzler Hitler“ zur Verteidigung ihres Mannes: Er habe „als Beamter mit heißer Vaterlandsliebe und ganzer Treue dem Staate und seinem Führer (sic) gedient“. Ein hilfloser Versuch, den Nazi – Mördern zu widersprechen, ihr Mann, sei ein Feind der neuen Regierung (Hitlers) und ein Hochverräter gewesen. (Quelle. „Miterbauer des Bistums Berlin“, Berlin 1979, S. 51).

15.
Wichtig ist, dass in der mir bekannten Literatur keine ausführliche Äußerung Klauseners, etwa seit 1930, zugunsten der bedrohten und verfolgten Juden überliefert ist. Über Juden sagt Klausener offenbar kein Wort der Hilfsbereitschaft und Nähe. „Privat geäußerte Kritik an den Konzentrationslagern oder an dem Judenboykott ist von Klausener nicht überliefert“, schreibt Ekkehard Klause in DIE ZEIT. Im Gegenteil, Klausener sieht sich in seinem Kampf gegen die in seiner Sicht sexuelle Freizügigkeit, auch in der Darstellung der Presse, von Hitler bestätigt. Mit ihm sieht Klausener sich eins im Kampf gegen den exzessiven Liberalismus. Weil nun Liberalismus auch von einigen Juden vertreten wurde, vermutet Ekkehard Klausa, gebe es bei Erich Klausener eine Art von „kulturellem Antisemitismus“ (siehe DIE ZEIT).
Was mussten maßgebliche Staatsbeamte – wie Erich Klausener – von den schon zu seiner Lebenszeit bestehenden KZs? Vor den Toren Berlins wurde schon am 21. März 1933 in Oranienburg das erste Konzentrationslager in der Region Brandenburg errichtet, zuvor waren schon in Nohra bei Weimar und in Dachau Konzentrationslager errichtet worden… Wie überflüssig und devot musste ein Klausener sein, als er Ende März 1933 nach dem Austritt Hitlers aus dem Völkerbund dem Führer ein Grußtelegramm schickte:“ In den Schicksalsstunden der Nation treten Katholiken des Bistums Berlin in unerschütterlicher Liebe zu Volk und Vaterland geschlossen hinter den Führer und Kanzler in seinem kämpf um Gleichberechtigung und Ehre der Nation“ (Zit. Ekkehard Klausa, DIE ZEIT.) Spricht so ein Katholik, der Blutzeuge und Märtyrer werden will?

16.
Klausener lebte in einer Welt voller Feinde, noch bevor die Nazis in sein Blickfeld rückten. Es waren die Liberalen, die sexuell Freizügigen, die Sozialisten, die Kommunisten, die Atheisten, die Freidenker, von seiner Haltung zu den ja manchmal ebenfalls liberalen Protestanten ist mir nichts überliefert. Klausener lebte also in einer Stadt Berlin, deren Menschen er mehrheitlich als seine Feinde ansehen musste. Allein die Nazis, milde von ihm interpretiert, entsprachen seinen Vorstellungen von Ordnung, Familie,Moral, Gottes – Glaube usw.

17.
Die anti-liberaleHaltung verband ihn mit der Ideologie der Nazis. Die Verbundenheit von katholischer Kirchen(Führung) mit rechtsextremen Ideologien und Herrschern ist bekannt, man denke an die Nähe von Kirche und Franco – Regime in Spanien, an die Nähe vieler führender Katholiken zu Mussolini, an die Jubeltöne vieler Bischöfe und Priester zugunsten des Maréchal Pétain in Frankreich und so weiter und so weiter.

18.
Es gibt sicher auch aktuelle politische Gründe, wenn jetzt Katholiken im Osten Deutschlands, also auch im Erzbistum Berlin, sich so deutlich für Erich Klausener stark machen: Er wird als Vorbild hingestellt offenbar für alle Wähler aktueller rechtsextremer Parteien: Ihnen wird gepredigt: Klausener sei zwar auch „zuerst“ nazifreundlich gewesen, irgendwann, wann genau wird katholischer nicht belegt, offenbar ab 1933/34, habe er sich von seinen Nazi – Sympathien getrennt, und sei zum Märtyrer geworden. Auch der Berliner Erzbischof Heiner Koch schließt sich dieser Meinung wider alle Fakten an, in seiner Radio – Predigt zu Klausener am 29.6. 2024 sagte er: “Für mich ist Erich Klausener heute noch aktuell, gerade weil er sich selbst korrigieren konnte. Er hatte verstanden, dass seine anfängliche Hoffnung, mit den Nationalsozialisten zu einer Einigung und Verständigung zu kommen, ein Irrtum war. Und er hat die richtigen Konsequenzen gezogen. Fehler eingestehen und mit aller Entschiedenheit korrigieren, das ist eine Qualität, die heute mindestens genauso wichtig ist wie vor 90 Jahren.“ Diese Worte sind bestenfalls „gut gemeint“, haben aber mit Erich Klauseners durchgängiger Bindung an Elemente der Nazi – Ideologie nicht viel zu tun. Eine spirituelle, aber kontra-faktische Predigt von Erzbischof Koch also. LINK

19.
Es finden jetzt (Sommer 2024) offiziell – katholisch bestimmte Erich Klausener Gedächtnisfeiern statt. Am 27.September 2024 etwa wird im „Klausener – Saal“ (sic) des „Bundesministeriums für Digitales und Verkehr“ eine Gedenkfeier stattfinden. Der bekannte „Auto – Freund“, der FDP – Minister Volker Wissing, wird in ökumenischem Geist (Wissing nennt sich evangelischer Christ) ein Grußwort halten.
Den Festvortrag „Klausener – Katholizismus zwischen Demokratie und Diktatur“ hält der Katholische Priester und Historiker Professor Stefan Samerski: Er lehrt u.a am Priesterseminar in Berlin – Biesdorf, das von der ultrakonservativen Bewegung „Neokatechumenaler Weg“ betrieben wird. Samerski ist auch eng verbunden mit dem „Militärischen und Hospitalischen Orden des hl. Lazarus in Jerusalem“, er ist außerdem Kaplan („Capellan de merito“) des „Religiösen und Militärischen Konstantinischen Ordens vom Hl Georg mit Sitz in Madrid“. Beide Orden sind nicht gerade als Orte eines progressiven Katholizismus bekannt. Siehe die “sudetendeutsche Akademie”, gelesen am 10.9.2024. LINK:
Auf die weitere Mitgliedschaft Samerskis im „Askanischen Hausorden Albrecht der Bär“ soll nur hingewiesen werden… Die „Sudetendeutsche Zeitung“ (mit den Sudetendeutschen ist Samerski eng verbunden) berichtete über das Priesterjubiläum Samerskis am 5. Juli 2024 in der ehemaligen Friedhofskirche St. Stephan, München- Isarvorstadt.

20.
Auch der junge Theologe Mike Schuster, Mitarbeiter im erzbischöflichen Ordinariat Berlin, hat sich mehrfach über Erich Klausener öffentlich geäußert, etwa auch in der katholischen Akademie Berlin… Mike Schuster betonte dort, das Zeugnis Erich Klauseners könne heute Mut schenken, es sei ein Aufruf zur Solidarität und Toleranz und so weiter und so weiter. Mike Schuster war führend engagiert in der konservativen Jugendbewegung zugunsten Papst Benedikts XVI., damals unter dem Titel „Generation Benedikt“ werbend tätig, jetzt tritt diese Papst – Fan -Bewegung unter dem Titel „Initiative Pontifex“ auf…Mike Schuster ist offensichtlich auch mit dem Neokatechumenat in Berlin-Biesdorf eng verbunden, er hat kürzlich mit dem neokatechumenalen Regens (Chef des Hauses dort), Pfarrer Marc Anton Hell, ein langes Interview über Männlichkeit geführt, die Leitidee des Neokatechumenalen -Theologen: „Gott ist Vater, also männlich, also orientieren sich Männer an Gott – Vater…“ Das Interview erschien im Pfarrnachrichtenblatt von St. Matthias, Nr.2, 2024, das muss hier erwähnt werden, weil ja die Öffentlichkeit sehr sehr selten theologische (!) Äußerungen des Neokatechumenats überhaupt einmal lesen kann. Auch das noch: Mike Schuster hat über die St. Matthias – Gemeinde und das Pfarrnachrichtenblatt eine theologische „Studienarbeit“ von 24 Seiten verfasst und publiziert, sie wurde angenommen von der Fern-Uni Hagen. LINK

21.
Schon am 24. 6. 2024 hatte der „Freundeskreis Dr. Erich Klausener“ zu einer Veranstaltung nach Hoppegarten eingeladen, dem Ort des Katholikentages 1934. Einer der Mitwirkenden, Dr. Johannes Bronisch, lässt es sich nicht nehmen, im „Pfarrnachrichtenblatt“ von St. Matthias Berlin – Schöneberg (Ausgabe Nr. 2/2024), wieder einmal Erich Klausener als „den ersten Blutzeugen des Bistum Berlin zu rühmen (S. 22) und zu behaupten „das stand allseits fest“… was  eine falsche Behauptung ist. Und weiter schreibt Bronisch:„ Niemand wird an Klausners Vorbildfunktion zweifeln und daran, dass die von ihm verkörperten Eigenschaften auch von dringender Notwendigkeit sind.“ (S. 23). Johannes Bronisch lässt es sich nicht nehmen, auch in diesem historischen Zusammenhang die progressiven Katholiken heute heftig fertigzumachen. Denn denen mangle es an der „ vollständigen und unverbrüchlichen Einheit mit Rom und der Lehre der Kirche“, und das gelte auch, so wörtlich, für die „offensichtlich große Mehrheit der auf dem synodalen Sonderweg wandelnden deutschen Oberhirten“ (S. 24). Da wird eine Kirchenspaltung beschworen! So viel Unverschämtheit gegenüber den Bischöfen hätte sich Erich Klausener nicht erlaubt! Aber Bronisch befindet sich in dieser Kritik in guter Gesellschaft mit Dr. theol. Josef Wieneke, dem leitenden Pfarrer der St. Matthias – Gemeinde (zu dieser Gemeinde „gehörte“ einst Familie Klausener). Auch der Pfarrer polemisiert immer wieder, so auch in dem Pfarrei – Blatt Nr. 2, 2024, S. 3), gegen den synodalen Weg. In dieser Katholischen Pfarrei St. Matthias herrscht seit Jahren das Neokatechumenat vor!

22.
Zusammenfassend:
Die Erinnerung an Erich Klausener wird jetzt von sehr konservativen katholischen Kreise dominiert und erforscht. Diese Kreise wollen auf ihre Art den Ton angeben. Und einen Märtyrer und Blutzeugen konstruieren, entgegen allen Fakten. So ist unser Thema nur ein weiteres Beispiel dafür, dass der Trend des Katholizismus in Deutschland immer weiter nach rechts, ins Konservative, ins Erstarrte, Dogmatische, rutscht. Von daher hatte es auch Sinn für mich, meine Zeit diesem Thema zu widmen…

23.
Das wünschen sich einige: Viel sinnvoller wäre es, wenn das Erzbistum Berlin nicht dieser zwiespältigen Gestalt Erich Klausener so viel Energie, so viele Gottesdienste, Tagungen, Podiumsdiskussionen und damit so viel Geld etc. widmen würde: Viel dringender und intellektuell und politisch anspruchsvoller und weiterführender wäre die Erinnerung an den tatsächlichen (!!) Nazi – Widerstandskämpfer Pfarrer Max Josef Metzger, der immerhin von 1940 bis 1943 in Berlin – Wedding gelebt hat. Auch Metzger ist also ein Berliner, wenn er auch nur ein paar Jahre weniger als Klausener in Berlin lebte. Erich Klausener ist, nebenbei gesagt, auch kein „echter“ ? „Berliner“, wie gern behauptet wird, Klausener lebte (nur) 10 Jahre hier. Um so länger bestimmte dann in West – Berlin sein ebenfalls theologisch extrem konservativer Sohn, der überaus einflußreiche Prälat Erich Klausener jr, katholisches Überleben in Zeiten des reaktionär herrschenden Kardinals Alfred Bengsch (danach wurde das katholische Leben unter Erzbischof Joachim Meisner noch unangenehmer)… LINK.

1943 wurde Pfarrer Metzger wegen mutiger und deutlicher Kritik an den Nazis ins Gestapo – Gefängnis verbracht … und am 17.4.1944 hingerichtet.
Metzger ist als Priester eng mit seinem Heimatbistum aus dem Erzbistum Freiburg i.Br. verbunden, und sein Erz – Bischof Conrad Gröber stand dem von Nazis Verurteilten Metzger nicht effektiv bei (siehe dazu: „Die Kirchen im Dritten Reich“, Band 1, Fischer Taschenbuch, 1984, S. 184).
Am 17.11.2024 wird der Nazi – Gegner und tatsächliche Märtyrer Pfarrer Max Josef Metzger selig gesprochen, endlich muss man sagen, man darf gespannt sein, wie sich der heutige Erzbischof von seinem Bischofs- Vorgänger Gröber distanziert.

24.

Heilige und Selige werden von der Kirche “gemacht”, d.h auch: Sie werden konstruiert, in ihrer ungewöhnlichen, angeblich einmaligen heikigen Bedeutung erfunden. Dazu gibt es eine umfassende Studie unter dem Titel “La fabrication des saints”, erschienen in der vom französischen Staat finanzierten Reihe “Carnets du patrimoine éthnologique”, 1995, Paris, Directeur de la publication: Gérard Ermisse). In diesem Buch mit 14 Aufsätzen ist auch ein Beitrag über den berühmten heiligen Scharlatan Pater Pio in Italien. Der Titel “Contestation et fabrication d un culte. Le Cas de Padre Pio de Pietrelcina”B (Seite 91 – 102). Autor ist Christopher McKevitt, vom Department of Public Health Meicine, UMDS, London.

Der Autor der wichtigen und zentralen, leider in katholischen Kreisen wenig beachteten Studie über Erich Klausener in „DIE ZEIT“ ist der Soziologe und Jurist Ekkehard Klausa, er wurde 2014 als „ehrenamtlicher Mitarbeiter der Forschungsstelle Widerstandsgeschichte in Berlin“ vorgestellt.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Arm an Mitgliedern, reich an Immobilien: Die Kirchen, nicht nur in Berlin…

Die Finanzspekulationen der Kirchen heute: Immer noch ein Tabuthema.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 7.8.2024

Ergänzung am 24.8.2024: Eine wissenschaftliche Studie zeigt: 2,3 Prozent der Agrarfläche in Deutschland sind Eigentum der Kirchen, sie können durchaus Großgrundbesitzer genannt werden. LINK

Was die Kirchen in Deutschland an Immobilien und Boden als Eigentum haben, darüber wird jetzt intensiver geforscht. Das Thema ist wichtig, wenn man umfassend den tiefgreifenden religiösen Wandel in Deutschland, etwa auch in Berlin, verstehen will. Wir konzentrieren uns bei der Darstellung der Fakten und Beispiele vor allem auf die katholische Kirche besonders in der deutschen Hauptstadt.

1.
In Berlin lebten 2023 – laut Information des Erzbischöflichen Ordinariates vom 24.6.2024 – 275.399 Katholiken; 31.000 weniger als im Jahr 2020. An der Sonntags-Messe nahmen in Berlin 2023 noch 27.814 Personen teil, das sind 7,7 Prozent der Mitglieder der katholischen Kirche.
Die „Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz“ (EKBO) hatte Ende 2022 in der Hauptstadt 486.899 Mitglieder. Die Teilnahme am Gottesdienst wird – deutschlandweit – durchschnittlich mit etwa 3 Prozent angegeben, in manchen Bezirken Berlins werden es nach meinen Beobachtungen Gottesdienstteilnehmer sehr sehr viel weniger sein (wenn man von den überfüllten Gottesdienst an Heiligabend absieht).LINK

Jeder fünfte Berliner ist also Mitglied der beiden, einst groß genannten Kirchen. Berlin – ein christliche Stadt? War Berlin etwa früher, in der Weimarer Republik und danach, christlich? Sicher auch nicht, selbst wenn sich viel mehr Leute zu den Gottesdiensten in die großen Kirchen setzten.

2.
Das ist allgemein bekannt: Die Kirchen sind heute – nicht nur in Berlin, sondern in vielen Bundesländern – Organisationen von Minderheiten.
Die Kirchen sind, gegenüber früher, arm an Mitgliedern und TeilnehmerInnen an den Sonntagsgottesdiensten, reich aber an Immobilien und Eigentum an Boden und Gebäuden.

3.
Darüber versuchen jetzt einige Soziologen intensiver zu forschen, um Details zum Kircheneigentum freizulegen. Der TAGESSPIEGEL hat in seinem BERLIN -Teil am 2. August 2024 auf den Seiten B6 und B7 einige Erkenntnisse mitgeteilt, AutorInnen des Berichtes sind Katja Demirci und Nina Dreher. Sie weisen darauf hin, dass sich die entsprechenden Kirchen – Verwaltungen bei genaueren Nachfragen zum Thema sehr bedeckt halten und nicht allzu Konkretes in ihren Statements der Öffentlichkeit mitteilen wollen. Das Verhalten ist also nicht gerade kooperativ, Fachleute und Journalisten, die Fakten freilegen wollen, sind nicht besonders willkommen. Die Autorinnen fühlten sich in zutiefst bürokratische Verhältnisse versetzt, sie schreiben: „Antworten auf die Frage Baut die Kirche sozialen Wohnraum? – da wird bei beiden Kirchen(Behörden) auf einzelne Pfarreien verwiesen, die dann aber wiederum nicht frei sprechen kann, dürfen oder wollen“. Die AutorInnen schreiben weiter: „Jedes offizielle Statement wird intern intensiv abgesprochen, teilweise wochenlang“ (Seite B7 des „Tagesspiegel“ vom 2. 8.2024.

Die AutorInnen des Beitrags wissen natürlich, dass bei ständig sinkenden Mitgliederzahlen und damit auch wohl sinkenden Kirchensteuereinnahmen dieses Immobilien – und Boden – Eigentum den Kirchen als eine gute Vorsorge gilt für spätere, finanziell schlimmere Zeiten. Die dann noch verbliebenen Pfarrer und Prälaten müssen z.B. ihre beträchtlichen Gehälter noch weiter beziehen.
Andererseits wagen die AutorInnen am Ende die entscheidende sozialethische Frage angesichts Wohnungsnot, des Mangels an Mietswohnungen: „Wird auf den Berliner Kirchengrundstücken bezahlbarer Wohnraum gebaut? Oder wird der Profit im Vordergrund stehen?“ Mit dem Wort: „Die Hoffnung stirbt zuletzt“, d.h. die Hoffnung auf ein sozialethisches Verkaufen der kirchlichen Eigentümer stirbt zuletzt. Nicht gerade ermunternd diese Worte, sie legen nahe: Die Kirche klammert sich wie jede andere Organisation in der kapitalistischen Welt ans Eigentum. Eigentum ist heilig, heißt es ja in der klassischen kirchlichen (und kapitalistischen) Ethik. Immerhin werden vielleicht einige Theologen außerhalb Berlins das Thema hoffentlich weiter vorantreiben, wie etwa der katholische Sozialethiker Prof. Martin Schneider in Eichstätt. Er plädiert sogar ausdrücklich „für eine innerkirchliche Bewegung, die sich der Immobilienfrage annimmt“ (Tagesspiegel, 2.8.2024, Seite B6)

4.
Einige Fakten:
„In Berlin lässt sich der kirchliche Bodenbesitz aus Liegenschaftsplänen berechnen: 1206 Hektar. Das sind 1,3 Prozent der Stadtfläche oder 3,4 mal so viel wie das Tempelhofer Feld,“ berichtet der „Tagesspiegel“. Den größten Teil dieser Liegenschaften machen landeskirchlich – evangelische und römisch katholische Grundstücke aus, heißt es dort. Und weiter: „Elf Prozent aller Kirchenflächen sind für Wohnhäuser vorgesehen – fast dreimal so viel Fläche wie der rund 50 Hektar große Park Hasenheide in Neukölln.“ Und dann: „Diese 139 Hektar Wohnbauflächen der Kirchen wären laut aktuellen Bodenrichtwerten rund 1,4 Milliarden Euro wert, wie aus den Berechnungen des Tagesspiegel Innovation Labs hervorgeht. Dafür haben wir die Berliner Bodenrichtwerte für Wohnraum ausgewertet. Besonders viele Flächen gibt es ausgerechnet in den von Wohnungsnot und Mietsteigerungen besonders betroffenen Bezirke: In Friedrichshain-Kreuzberg besitzt die Kirche mit 2,9 Prozent der Gesamtfläche anteilig am meisten Boden, in Mitte am zweitmeisten“, so die „Tagesspiegel“ – AutorInnen auf Seite B 6.
Wir ziehen eine Art Bilanz des ingesamt höchst anregenden Beitrags: „Aus den beiden großen Kirchen ist bezüglich am Gemeinwohl orientierter Planungen nichts Konkretes herauszubekommen. Protestantische wie katholische Verantwortliche für dieses Thema bleiben, so wörtlich, „vage“, sie „verweisen auf den langwierigen Prozess“ (B 7). Jedenfalls gibt es in den Kirchen eine weitgehende Tabuisierung des Themas Immobilienbesitz der Kirchen“ (B7). Und auch ein echter Skandal wird im Tagesspiegel mitgeteilt: Es geht bei der katholischen Kirche wirklich eher um materiellen Profit: Beispiel: Das bistumseigene Wohnprojekt „Petruswerk“ mit seinen 2.300 Wohnungen ging Anfang der 2000 Jahre „in den Besitz des Investors Douglas Fernando (Unternehmen: Avila Management & Consulting GmbH in Potsdam) über“. Und dann diese Information: Der Unternehmer Fernando vermietet sein neues Wohnprojekt in Neukölln „mindestens zehn Euro über dem Mietspiegel für vergleichbare Wohnungen“ (B 7, letzte Spalte). Und das ist ein weiterer Skandal: „Obwohl es damals in der katholischen Kirche Berlins offenbar Zweifel gab – woher kamen Fernandos Millionen ? – verkaufte das Erzbistum an den unbekannten Unternehmer Fernando“ (B 7).
Zum Unternehmer Douglas Fernando (er stammt aus Sri Lanka und ist Dr. theol. In katholischer Theologie, berichtet DIE WELT LINK
Diese Zeitung berichtet weiter: „Die Millionen für den Kauf (der Wohnungen des Petruswerkes) kamen von einer katholischen Hausbank in Essen. Eigentümer wurde die Firma Avila Management & Consulting GmbH, die neben Douglas Fernando zu je einem Drittel den Orden der unbeschuhten österreichischen und deutschen Karmeliter in Linz und München gehört“. Auch in Österreich ist Fernando aktiv, im Verbund mit den armen „Unbeschuhten Karmeliten“: LINK
Zur Karmel-Missionsstiftung: LINK

5.
Zu Gesamt-Deutschland:
„Neben den Kirchenbauten besitzen evangelische und katholische Kirche laut eines zwei jähre alten gemeinsamen Positionspapiers deutschlandweit 142.500 Gebäude!“ Der Religionsphilosophische Salon hat vor Jahren schon zu einem noch schwierigeren Thema recherchiert: 2015 wurde mein Beitrag in PUBLIK FORUM veröffentlicht: LINK :https://religionsphilosophischer-salon.de/6355_ordentliche-orden-neue-sehr-konservative-ordensgemeinschaften-im-katholizismus_religionskritik

Es geht um das absolute Tabuthema Eigentumsverhältnisse der sich arm nennenden katholischen Ordensgemeinschaften, von Frauen und Männern. Diese Orden betteln ja förmlich unter ihren Wohltätern um Geld, oft mit viel Erfolg, sie verschweigen aber, wie hoch ihre Gewinne sind aus dem Verkauf ihrer leerstehenden Klöster. Nur ein Beispiel: Wie viele tausend Euro hat etwa der Augustinerorden erhalten für den Verkauf seiner sehr schönen Klosteranlage im badischen Schloss Messelhausen im Jahr 2013? Das wird natürlich nicht verraten. (Quelle: LINK UND: LINK
Man soll wohl glauben, dass der Gewinn durch Verkauf nur für die Pflege der vielen alten und uralten Mönche und Nonnen verwendet wird? Die sterbenden Orden sorgen sich also nur um ihre Sterbenden? Die Orden mauern noch stärker, absolut möchte man sagen, wenn man es nur wagt, nach der Finanzlage einer Ordensprovinz etwa zu fragen.
Weitere Beispiele anstelle für viele andere: In Italien erlebt man etwa, dass Teile von bestens gelegenen Klöstern,. Jetzt mindestens halbleer wegen „Nachwuchsmangel“ in Luxus – Hotels umgebaut werden, so etwa das große Kloster-Hotel „Residenz Paolo VI“ des Augustinerordens unmittelbar in der Nähe der St. Peter Kathedrale, LINK
Erwähnt werden sollte auch das Luxus – Hotel, das die Augustiner von Prag in einem Teil ihres Klosters einrichteten. LINK

Lediglich von den Eigentumsverhältnissen einiger großer Abteien in Österreich waren damals für mich einige ganz kleine Informationen erreichbar, kurz beschrieben in dem PUBLIK – Forum Artikel aus dem Jahr 2015!

6.
Das ist klar: Die ohnehin schon reichen Kirchen und Klöster wollen mit dem Verkauf ihrer leerstehenden Häuser, Kirchen und Klöster noch mehr Geld für sich selbst ansammeln, wie viel und warum darf niemand wissen. Über die riesigen Eigentumsverhältnisse (Wohnungen!) Des Vatikans in ganz Rom, ist oft geschrieben worden, aber Genaues weiß man bis heute nicht aufgrund der absoluten Verschwiegenheit der Päpste und Prälaten. Immerhin haben sie irgendwie Armut als Ideal, aber diese gilt nur theoretisch, man denke an die Luxuswohnungen der Kardinäle im Vatikan.

7.
Als Berliner will ich doch noch an einige Verkäufe und Abrisse katholischer Gemäuer erinnern:
Die schöne Kirche St. Raphael in Gatow an der Havel wurde unter der Herrschaft von Kardinal Sterzinsky 2005 profaniert, danach vom neuen Eigentümer abgerissen. Wer seitdem als Katholik in dem seit Jahren schon expandierenden Gatow noch an einer Messe teilnehmen will, muss etliche Kilometer bis nach Kladow oder Spandau fahren, laufen, radeln. Für alte fromme Menschen äußerst „angenehm“. Seelsorge sieht anders aus.

Auch das Exerzitien- und Meditationshaus „Maria Frieden“ in Kladow, Lüdickeweg 5, wurde unter der Herrschaft von Kardinal Sterzinsky verkauft, viele Jahre lagen aufgrund eigener Beobachtungen Haus und Grundstück brach. Und es gibt noch einige spirituelle Menschen, die empfinden es als Schande, wie eine Kirche, die Seelsorge angeblich so wichtig nimmt, ausgerechnet dieses wunderbar an der Havel gelegene Meditationshaus verscherbeln konnte. Hätte nicht eine Gehaltskürzung der Prälaten und Pfarrer auf Dauer denselben Effekt gebracht? Aber daran denken diese Herren nicht.
Die Kirche „St. Albertus Magnus“ in Berlin wurde 2021 geschlossen und mit ihr gleich die ganze Gemeinde.., Sollen die Katholiken doch sehen, wo sie in weiter Entfernung noch Treffpunkte haben oder Gottesdienste feiern. An Alternativen wurde offenbar gar nicht erst gedacht, um wenigstens das Gemeindehaus als Treffpunkt zu erhalten, einige Laien hätten sich wohl gefunden, dieses Zentrum zu leiten…

8.
Man beachte: Alle Kirchenschließungen und Kirchenverkäufe oder Klosterverkäufe im katholischen Raum sind immer auch begründet durch den stetig zunehmenden Mangel an Priestern. Nur wenn diese Kleriker vorhanden sind, kann eine katholische Gemeinde – nach dem Kirchenrecht – überhaupt bestehen. Das war ja einst das Verbot der Basisgemeinden in Lateinamerika: Laien dürfen keine Eucharistie feiern, angeblich hat das Prophet Jesus so gewollt, behauptet der allmächtige Klerus allen ernstes bis heute. Wer wagt es, dies verrückte Theologie einen Wahn zu nennen? Luther ist lange tot….Jedenfalls: Nur der Priester darf und kann das angeblich wichtigste in der katholischen Glaubenslehre, nämlich die Eucharistie, feiern. Ist kein Priester da, fehlt der noch so kompetenten Laiengemeinde nach päpstlichem Verständnis eigentlich alles. Darum werden Priester aus aller Welt, aus Indien, Afrika, Philippinen etc. nach Deutschland als Gastarbeiter geholt, um die Lücken im vergreisten klerikalen Betrieb Deutschland (oder Frankreichs usw.) etwas zu füllen. Wie lange dieses misslingende Lückenstopfen geht, ist fraglich: Bald werden auch junge Inder und Philippinen merken, dass der Zölibat doch nicht so menschenfreundlich/männerfreundlich ist…

9.
Zurück nach Berlin: Heute hat die katholische Kirche in Berlin seltsamerweise „Man hat ja keine Geld“, heißt es, doch viele Millionen Euro zur Verfügung, um die St. Hedwigs-Kathedrale in Berlin – Mitte umzubauen, natürlich der Staat hilft kräftig, wir haben ja die offiziell geltende (Nicht-) Trennung von Kirche und Staat. Dieser riesige Umbau wurde von kompetenten Kritikern als sinnloser Eingriff natürlich vergeblich kritisiert, zudem wurde so eine beachtlich schöne Architektur zerstört. Nun steht nach der Renovierung der Altar “ENDLICH“ in der Mitte, weil eben der Priester, der Bischof zumal, nach katholischen Verständnis absolut in die Mitte gehört. Auf ihn sollen sich alle Blicke richten, auf ihn muss man in allem Glanz der Gewänder und Mitren etc., sehen und hören… Zu den Kosten des Umbaus berichtet das „Dom-Radio – Köln: „Weiterhin geht die Diözese von Gesamtkosten für die Sanierung der Kathedrale von rund 60 Millionen Euro aus.“ Zudem wird auch das benachbarte Bernhard Lichtenberg-Haus – wohl auch als Residenz der Herren Bischöfe – für etliche Millionen umgebaut.“  LINK

10.
Repräsentanz in der Mitte Berlins nahe der Oper und der Ministerien ist für Katholiken ganz wichtig. Auch wenn dieses Kirchen – Gebäude, von Friedrich II. einst entworfen, nur noch eine winziger werdende Minderheit beglückt.
Eine katholische Kirche ist nach offizieller Auffassung ein heiliger Tempel, ein „Gotteshaus“: Wer solche Gebäude schafft und restauriert, tut etwas für explizit religiöse Gefühle wahrscheinlich, aber nicht für die Kommunikation der unterschiedlichen Menschen im Sinne der Menschlichkeit Jesu von Nazareth.

11.
Also: Glanz und Gloria werden geschaffen als Illusion: Demnächst wird auch der neu gebaute „authentische“ Turm der evangelischen Garnison-Kirche in Potsdam eröffnet, am 22. August 2024 soll dies geschehen, der Ort des Hitler – Nazi-„Tages von Potsdam“ (21.3.1933) ist also fast original wieder da. So wie ja auch das Schloß der Preußen-Könige, dieser Kolonialherren und Kriegsherren, wieder fast original nachgebaut wurde…“Schöne“ veraltete Welt „Unter den Linden“…

12.
Die Einweihung des Turms der Garnisonkirche: Das überflüssige und hoch umstrittene, öffentlich bekämpfte Projekt wird u.a. von dem evangelischen Ex- Bischof Wolfgang Huber immer unterstützt. Die Initiative für den Wiederaufbau der Kirche ging nach dem Mauerfall von EX Bundeswehroffizier Max Klaar aus, einem Rechtsradikalen, wie die TAZ am 7..8.2024 Seite 2 schreibt. Auch die CDU Frau Gründers hatte sich für das Projekt stark gemacht. Die dort bald stattfinden sollende Friedensarbeit hätte die Kirche an jedem anderen bereits bestehenden Ort gestalten können, diese offizielle Begründung für den Sinn dieses Turms ist eine Farce. Dieses ganze Gerde ist „Versöhnungsrhetorik“ wie der Architekt Philipp Oswalt schon in PUBLIK Forum ausführlich darlegte. „Das Geld, das der Rechtsextremist Klaar für die Garnisonkirche gesammelt hatte, ist über Umwege doch in den Bau des Turms geflossen“, so Oswalt in TAZ, 7.8.2024 Seite 2. Und zu allem: Präsident Steinmeier hat die Schirmherrschaft für dieses verrückte Projekt übernommen….Der Geist soll sich noch rückwärts wenden, ist das die Botschaft dieses Garnison – Kirchen – Turmes???

13.
Dieser Neubau des Turms der Garnisonkirche passt aber sicher sehr „gut“ zu den hohen Wahlergebnissen der rechtsextremen Partei AFD bei den Wahlen in Brandenburg, Sachen und Thüringen wenige Wochen später, im September 2024. Man darf gespannt sein, wie es bei der Eröffnung des Turms der Garnisonkirche gelingt, begeisterte Rechtsextreme in freudigen Wut vom Gebäude fernzuhalten.

14.

Das ist zynisch: Vielleicht gibt es bald wieder einen neuen Tag von Potsdam, etwa mit dem rechtsextremen Herrn Höcke?
Dagegen müsste die Kirche alles tun, und nicht Türme eines widerlichen Nazi-Ortes wieder aufbauen! Gleichzeitig scheinen die Kirchen entschlossen zu sein, AFD – Mitglieder aus kirchlicher Verantwortung (Pfarramt, Gemeindekirchenrat etc.) auszuschließen. Aber das ist wohl nur Symbol – Politik! So kann man öffentlich gut demokratisch dastehen…und gleichzeitig sagen, wie die katholische Kirche ganz offiziell und lautstark: Die Kirche selbst sei selbstverständlich keine Demokratie! Warum? Weil der liebe Gott keine demokratische Kirche will, behaupten die Kleriker, denen eine demokratische Kirche gefährlich werden könnte. Siehe “Synodaler Weg” in Deutschland…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Austritte aus der Katholischen Pfarrei St. Matthias in Berlin – Schöneberg: Ein Beispiel für religiösen Wandel in Deutschland.

Diese begrenzte, kleine Detailstudie ist wichtig zum Thema:
„Das – zahlenmäßige – Verschwinden der katholischen Kirche in Berlin”

Ein Hinweis von Christian Modehn.

Siehe auch den aktuellen Beitrag zum Thema, publiziert am 15.4.2024 LINK.

1. Das Gemeindeblatt dieser Pfarrei St. Matthias hat manchmal Statistiken veröffentlicht, auch zur Zahl der „Austritte“, wie es in den Heften im Amtsdeutsch heißt. „Austritte“ ist ein Begriff, der für Sachen gilt. Es wurden nicht Menschen befragt, warum sie denn austreten. Es wurde nicht mitgeteilt, wie es mit Altersstruktur der „Austritte“ bestellt ist.

2.  Ich wohne (mit meinem Freund und Partner) als Laien-Theologe der katholischen Theologie und theologisch – philosophischer Journalist seit 1989 im „Pfarrbezirk“. Im Jahr 2010 bin ich aus der katholischen Kirche ausgetreten und Mitglied einer protestantischen Kirche der Niederlande geworden.

3. In dieser seit langer Zeit von sehr konservativen Priestern geprägten Gemeinde sind seit vielen Jahren auch jüngere Priester des Neokatechumenats (aus Polen, Lateinametrika, Italien aber auch aus Deutschland) tätig. Sie haben in der Abgeschiedenheit des eigenen Priesterseminars „Redemptoris Mater“ in Berlin-Biesdorf studiert…Diese Neokatechumenalen gelten im theologischen Verständnis als Sondergruppe, manche sagen als machtvolle Sekte in der katholischen Kirche. Ohne neokatechumenale Priester gäbe es wohl kaum noch jüngere Priester im Erzbistum Berlin…LINK.

4. Ich vermute, dass viele Katholiken aus dieser Gemeinde ausgetreten sind, die der schwulen und lesbischen Community angehören. Sie haben in dem Kiez von Berlin-Schöneberg ihre Treffpunkte und wohnen auch oft in dieser Gegend. Eine besondere „pastorale Offenheit“ für Gays habe ich in der Pfarrei St. Matthias überhaupt niemals gesehen. “Sie lebt förmlich auf dem Mond”, sagte mir ein lateinamerikanischer Theologe einmal, was die völlig ignorierte „Inkulturation“ angeht. „Messe lesen“ ist die Hauptsache der drei jetzt verbliebenen Priester, sie müssen vier Schöneberger katholische Kirchen (einst „Pfarreien) mit ihren Messen versorgen. Im Eucharistiefeiern, im Messelesen, wertet sich der Klerus absolut auf … wird unersetzlich, weil ja die Messe als „das Höchste“ im Katholizismus von den Priestern propagiert wird.

5.
Die Statistik:
Die erste Statistik wurde im Gemeindeblatt im März 2013 veröffentlicht, auf S. 24:
Im Jahr 2009: 178 Austritte (bei 10.477 Gemeindemitgliedern)
Im Jahr 2010: 201 Austritte
Im Jahr 2011: 187 Austritte
Im Jahr 2012: 193 Austritte bei 9.704 Gemeindemitgliedern.
In dieser Zeit wurden insgesamt 26 „Wiederaufnahmen“ (einst „Ausgetretener“, die diese Wiederaufnahme oft aus beruflichen Gründen tun) registriert und 10 Konversionen zum Katholizismus.

Die zweite Statistik, mit einer gewissen zeitlichen Lücke, betrifft die Jahre 2017 bis 2022, veröffentlicht im Gemeindeblatt im Frühjahr 2023, S. 43.
Im Jahr 2017: 150 Austritte
Im Jahr 2018: 207 Austritte
Im Jahr 2019: 312 Austritte
Im Jahr 2020: 297 Austritte
Im Jahr 2021: 475 Austritte
Im Jahr 2022: 411 Austritte.
Das sind, von 2017 bis 2022 zusammen: 1.852 Austritte aus der Pfarrgemeinde St. Matthias, Berlin-Schöneberg.
Die Anzahl der „Wiederaufnahmen“ in diesen Jahren: 28.
Die Anzahl der Konversionen: 17 in diesen Jahren.
Die vier Schöneberger Kirchen sind nun zu einer Gemeinde zusammengefügt worden, und diese hat 16.079 Mitglieder im Jahr 2022.
Von den Gemeindemitgliedern sind 2.090 über 70 Jahre alt.

6.
Es wäre eine wichtige Aufgabe für Religionssoziologen und Mathematiker zu berechnen, wie viele Mitglieder diese Gemeinde in 20 Jahren noch zählt, berücksichtigt man einen Mittelwert der „Austritte“ und die Altersstruktur. Dann käme man – sozusagen von einem Nicht- Mathematiker hochgerechnet – auf eine Zahl der Gemeindemitglieder von ca. 7.000 Gemeindemitgliedern im Jahr 2043. Für diese geringe Anzahl – immer noch (???) mit vier Kirchengebäuden etc. (St. Matthias, St. Konrad, St. Dominikus, St. Elisabeth) – könnte dann gut ein einziger neokatechumenaler Priester – aus Polen, Italien oder Mexiko – die Messen lesen. Das könnte bei guter Gesundheit des Priesters klappen…

7.
Aber: Diese präzisen Hochrechnungen macht niemand, jedenfalls werden sie nicht publiziert. Genauso wenig wie die Anzahl der Priester in 20 Jahren, die immer noch und wohl ad aeternum alles beherrschen als unersetzliche Messeleser, ermittelt wird.
Auch das Durchschnittsalter der jetzt noch tätigen Priester wird nicht bekannt gegeben.
Es ist die Angst vor der Wahrheit, die sich da ausdrückt. Diese Wahrheit könnten die Religionssoziologie und die Mathematik, also Wissenschaften, mitteilen. Das will die Hierarchie aber nicht wissen…. So lebt der Katholizismus weiter im Nebel, aber „selbstverständlich“ in „guter Hoffnung“, hießt es.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Eine total katholische Welt… in Pfarrgemeinden in West-Berlin

Gegen das Vergessen: Ein Zeitzeuge aus den Jahren 1958-1965 erinnert sich.

Ein Hinweis von Christian Modehn, veröffentlicht am 14.2.2022

1.
Gegen das Vergessen: Das gilt auch für die „katholische Welt“ in der Mitte des 20. Jahrhunderts in West-Berlin. Wie diese Welt aussah, wie sie die Katholiken bestimmte und prägte, ist heute, zumal für die Jüngeren, nahezu unbekannt. Viele kennen heute bestenfalls den etwas „reformierten“ Katholizismus seit dem 2. Vatikanischen Konzil (1962-1965). Diese alte katholische Welt in den Pfarrgemeinden hatte für die intensiver Beteiligten und „Engagierten“ (Laien) durchaus etwas Totales, Abgeschottetes, Rund-um Betreutes…
Aus anderen Regionen Deutschlands, die zudem katholischer geprägt waren als die Diaspora-Situation in West-Berlin, könnten zweifellos viele Ergänzungen genannt werden.

Aber diese hier dokumentierte, umfassend prägende, also durchaus totale katholische Welt der  Jahre 1958 -1968, ist letztlich gescheitert, sofern man unter Scheitern die Nicht – Akzeptanz dieser religiösen Welt durch die betroffenen Katholiken (Laien) versteht. Diese Akzeptanz schwindet immer mehr, jetzt zumal, wegen der (sehr zögerlich) freigelegten “Fälle” von sexuellem Missbrauch durch Priester. Also von “Geistlichen”, “Hochwürden”, “Monsignores”, “Exzellenzen” (Bischöfe), “Patres” (also “Väter”) usw…

Diese totale katholische Welt aus der Mitte des 20. Jahrhunderts verschwindet also in Europa, um das Verschwinden zu verstehen, sollte man sich an diese “Welt” erinnern.

2.
Die folgende Liste katholischen Lebens in den Jahren 1958 bis 1968 bezieht sich auf die West – Berliner Gemeinden St. Carl Borromäus, Grunewald, und St. Ansgar, Tiergarten, vor allem.
Die meisten der hier genannten religiösen katholischen Veranstaltungen kenne ich aus eigenem Erleben, geboren wurde ich 1948 in Berlin (Ost) -Friedrichshagen. Als Kind lernte ich dort die St. Martins -Pfarrei in Berlin – Karlsdorf kennen.
Viele Informationen wurden aus familiärem Umfeld, etwa der Eltern, mitgeteilt.

Dabei wäre es noch ein eigenes Thema, an die Erfahrungen der katholischen Eltern in Berlin zu erinnern, da drehte sich auch die gesamte Freizeit (etwa in den Jahren 1920-1933) um die Teilnahme in der Gemeinde (etwa St. Sebastian, Berlin – Gesundbrunnen.)

3.
Es steht zudem fest, dass die hier mitgeteilten Informationen noch weitere inhaltliche Vertiefungen brauchen. Dies wäre eigentlich ein weites Feld für interessante kirchenhistorische oder mentalitätsgeschichtliche Forschungen.

4.
Aber die LeserInnen im Jahr 2022 bemerken schon bei dieser ziemlich umfangreichen Liste, dass diese katholische Welt bis vor kurzem noch die Katholiken bestimmen, prägen, wenn nicht beherrschen wollte. Die Betroffenen (Laien) merkten oft gar nicht, wie ihnen dadurch viel Lebenszeit, viel Lebensfreude, viel Interesse an weltlicher, politischer Kultur geraubt wurde, wie ein mögliches Engagement für politische und soziale Projekte dadurch zweitrangig wurde.

5.
Ob die Katholiken, die Laien wie die vielen Priester, die es damals noch gab, durch diese unglaubliche Fülle von religiösen Angeboten damals wirklich zu einer reifen Spiritualität fanden, ist eine offene Frage. Ich würde sie eher mit Nein beantworten. Spiritualität war nur Kirchenbindung, “Liebe zur Kirche“, wie heute noch manche ungeniert sagen. Wie kann man „die“ Kirche lieben? Christen sollen zuerst Gott lieben UND den Nächsten und sich selbst.

6.
Die folgenden Beispiele sind bewusst nicht systematisch sortiert, dadurch wird die bunte Fülle dieser katholischen Welt deutlich.

Gottesdienste und Gebetsstunden, also Veranstaltungen in der Kirche (hier vor allem die St. Ansgar Gemeinde im Bezirk Berlin – Tiergarten):

Frühmessen, bis ca. 1968 war es üblich, in vielen Berliner Kirchen sonntags die erste Messe schon um 6 Uhr anzubieten, werktags ebenso. Ich war als Ministrant oft sogar vor Schulbeginn in der Messe um 6.45 Uhr in St. Ansgar engagiert. Man stelle sich vor: Ein verschlafener Junge, 15 Jahre alt, auch die Mutter musste um 6 Uhr aufstehen, muss lateinische Verse mit dem Priester beten: Etwa: “Ad Deum qui laetificat juventum meam”, “Zu Gott (gehe ich), der meine Jugend erfreut”. Nach 20 Minuten war der Zauber vorbei: Während des 2. Vatikanischen Konzils musste ich die Lesungen auf deutach mit müder Stimme der Gemeinde vortragen, (nicht die Evangelientexte der Messe, das war Sache des Priesters). Dann das  “Ite Missa est”… 5 Personen feierten die Messe mit, manchmal 6…Und ich eilte zur Schule, fuhr mit der U Bahn mit Menschen aus einer anderen Welt…

Stille Messen, vor dem 2. Vatikanischen Konzil üblich; sie wurden in lateinischer Sprache vom Priester am Altar in ca. 20 Minuten „absolviert“. Die Messdiener mussten auf Latein den Gebeten des Pfarrers antworten, Wein und Wasser reichen für ein „Lavabo“ etc. Mit dem 2. Vatikanischen Konzil wurden diese „stillen“ , d.h. leise „brubbelnd gesprochenen oder gehauchten“ lateinischen Messen abgeschafft, die Traditionalisten (die Freunde Bischof Lefèbvres) pflegen sie bis heute.

Die Sonntagspflicht: Jeder Katholik ist laut Kirchenrecht verpflichtet, „Sonntags die Messe mit Andacht zu hören“, wie es offiziell heißt. Die Sonntagspflicht wird im offiziellen Katechismus aus dem Vatikan bis heute vorgeschrieben (§ 2180).

Die Osterbeichte, vor Ostern muss ein Katholik zur Beichte gehen. Als Beleg erhält er vom Pfarrer ein Bildchen, das die Teilnahme bestätigt. Auch die Teilnahme an der Kommunion zu Ostern wird durch ein Heiligen-Bildchen bestätigt.

Nüchternheitsgebote als Bedingung zur Teilnahme an der Kommunion in der Messe. Bis zu zwei Stunden vor Beginn der Messe hat der Priester und der Laie, der an der Kommunion teilnehmen will, nüchtern zu sein: Also keine Nahrung zu sich nehmen, nur etwas Wasser war erlaubt. Warum bloß? Der Leib Christi, in der Hostie, sollte offenbar auf einen „makellosen“ Magen stoßen…Das galt auch für Erstkommunion-Kinder bis etwa 1962, viele dieser „nüchternen“ Kinder (auch die Messdiener) wurden dann mangels Nahrung während der Messe ohnmächtig.

Heilige Stunde, eine Andachtsform, oft mit Anbetung der Hostie. Immer am Donnerstagabend vor dem Herz-Jesu-Freitag.

Herz Jesu Freitag, dies ist der 1. Freitag eines jeden Monats, mit einer besonders feierlichen Messe und der Zusage eines guten Todes bei regelmäßigem Besuch dieser Messe, meist am Abend gelesen. Nach dem Bau der Mauer durch die DDR wurde freitags in West-Berliner Kirchen die “Bistumsmesse” gefeiert, so sollte im Gebet die Einheit des Bistums Berlin real werden, sagten die Priester.

Complet, Abendgebet, oft von der „Pfarrjugend“ am Samstag-Abend gestaltet, meist sogar in lateinischer Sprache, mit werkwürdigen Bitten auf Lateinisch: Dass man gut schlafe und, so wörtlich,„nec polluantur corpora“. Diese Gebets-Bitte haben die wenigsten Jugendlichen beim Gesang verstanden: „Dass die Körper nicht durch nächtliche Pollution (Samenerguss) befleckt werden“ (war offenbar auch ein Anliegen der täglich diese Komplet singenden Mönche in den Klöstern, auch in Frauenklöstern? Das weiß ich nicht).

Novene, Gebete an neun aufeinanderfolgenden Tagen, um besondere Gnadengaben zu erbitten.

Ewiges Gebet, ein Tages – oder Wochen-Programm, rund um die Uhr sollte mindestens eine Person in der Kirche anwesend sein, um vor der Monstranz still zu beten.

Ablass Erwerben (etwa am 2.November für die Verstorbenen), trotz Luthers Kritik bis heute völlig eine selbstverständliche, auch von Papst Franziskus empfohlene Praxis in der katholischen Kirche.

Ein Triduum, drei Tage der Vorbereitung auf ein Hochfest, wie Pfingsten. Aber auch drei Tage „besondere Predigten.“ Ein Pflichtprogramm für „gute Katholiken“. „Gute Katholiken“ waren praktizierende Katholiken. Und praktizieren hieß in einem sehr begrenzten Verständnis von Praxis: An den Messen regelmäßig teilnehmen, zur Beichte gehen etc…

Volksmission „Motto: „Rette deine Seele“, Ordenspriester besuchen die Pfarrgemeinde zwei Wochen lang und predigen täglich mehrfach, meist getrennt für Männer, Frauen, Jugendliche. Dringendste Aufforderung zur Beichte (bei dem Volksmissionar).

Beichten beim fremden Beichtvater, wenn man nicht bei dem bekannten Gemeindepfarrer beichten will, der alles Private von der Familie kennt, kommt gelegentlich ein unbekannter fremder Beichtvater. An dessen „Beichtstuhl“ bilden sich dann lange Warteschlangen…Unvorstellbar, heute 2022, solche Bilder von vielen reumütigen Sündern in Deutschland noch in den Kirchen zu erleben.

Levitenamt mit feierlichem Einzug, Pfarrer, Diakon und Subdiakon zelebrieren gemeinsam das Hochamt, die wichtigste Messe am Sonntag.

Diese Levitenämter wurden oft beendet mit dem – in überfüllter Kirche – laut geschmetterten Bekenner – Lied „Ein Haus voll Glorie schauet, weit über alle Land“ (gemeint ist die römische Kirche). In der 6.Strophe dieses Liedes, in der alten Fassung bis 1975 gesungen, heißt es: „Viel tausend schon vergossen mit Heilger Lust ihr Blut, die Reihen stehen fest geschlossen in hohem Glaubensmut…“ Dieser Text stammt von einem J. Mohr 1877, in dem Gesangbuch für das Bistum Berlin „Ehre sei Gott“, die Nr.197. ” Die Reihen fest geschlossen“ …diesen Vers haben dann auch Nazis gegrölt.

Diese genannte 6. Strophe ist in dem neuen katholischen Gesangbuch „Gotteslob“ von 1975 (dort Nr. 639) nicht mehr enthalten, wie überhaupt der Text des Herrn Mohr revidiert wurde

Katholische Identität:

Das Lied „Ein Haus voll Glorie schauet, weit über alle Land“ möchte ich als katholisches „Kampflied“ bezeichnen, der Text definiert die Liebe zur Kirche als dem Haus voller Glorie. Es wurde bewusst eingesetzt gegen das protestantische „Kampflied“ „Ein feste Burg ist unser Gott“. Man beachte nur den Unterschied. In dem protestantischen Lied geht es im Text um Gottes Macht; im katholischen Lied um die römisch-katholische Kirche. Es ist diese totale Kirchenfixierung, die den Katholizismus bestimmt(e) und ihn oft in die Nähe zu einer umfassenden Ideologie rückt: Zuerst die Kirche, dann der liebe Gott.

Segensandachten, oft sonntags am Nachmittag oder am Abend gefeiert. Beten nach den Vorlagen des Gebetbuches und singen, gelegentlich werden vom Pfarrer auch fromme Texte verlesen: Das ist dann die „Christenlehre am Sonntagabend“. In jedem Fall sind Ministranten anwesend, die große Freude haben, Weihrauch zu schwenken und davon mit Freude viel zu verbrauchen.

Kreuzweg-Andachten, in den 6 Wochen vor Ostern, Betrachten der Kreuzwegbilder in der Kirche mit entsprechenden Gebeten, geleitet vom Pfarrer.

Ölbergstunden, das stille Beten am Gründonnerstag vom ca. 20 Uhr bis Mitternacht.

Rosenkranzandachten, immer möglichst täglich im Oktober, am Abend; aber auch während des Jahres oft einmal wöchentlich. Bei den stillen Messen (s.oben) beteten die TeilnehmerInnen der Messe gern den Rosenkranz, weil sie das leise gesprochene Lateinische, also die Messe selbst, nicht verstanden.

Maiandachten, Marien-Andachten oft täglich im Monat Mai, mit den merkwürdigsten und theologisch hochproblematischen Marien-Liedern. Man denke an das Lied „Maria Maienkönigin, dich will der Mai begrüßen“. Oder „Die Schönste von allen, von fürstlichem Stand“ oder „Mein Zuflucht alleine, Maria die reine, zu beten an“ (sic), „Über die Berge schallt s , lieblich durch Flur und Wald, Glöckchen dein Klang….“ (Siehe auch: „Mythos Maria“, von Hermann Kurze, München, 2014).

Müttermessen“, spezielle Werktagsmessen für Frauen und Mütter, selbst zu Wort gekommen sind sie in der Müttermesse natürlich nicht, sie waren passive ZuhörerINNEN.

Fastenpredigten, in den Wochen vor Ostern, der Fastenzeit, kamen mehr oder weniger begabte „auswärtige“ Prediger (oft Ordenspriester) in die Pfarreien und predigten intensiver und länger als gewöhnlich. Fragte ich die Leute, was denn der Inhalt der Predigt war, die Antwort: “War doch großartig.

Primizsegen, der frisch geweihte Neupriester segnet die einzelnen Gläubigen, weil ihm offenbar ganz „besondere geistliche Macht oder frische Segnungs-Energie“ zugetraut wird. Katholiken sagten mir: Für einen Primizsegen laufe ich mir die Schuhe kaputt”. Offenbar glaubte man, ein frischer Segen eines jungen Priesters sei wirkungsvoller… Katholischer Aberglaube halt.

Priestersamstag, an dem Tag werden Messen gehalten, um für Priesterberufe zu beten. Diese Gebete wurden vom lieben Gott seit ca. 1970 nicht mehr erhört: Kein junger Berliner wollte noch Priester werden, heute stammen sehr viele Priester in Berlin aus Polen, Spanien, Afrika, Indien, den Philippinen usw. Wenn von dort in absehbarer Zeit auch kein Priester mehr „aushilft“, kann „man den Laden (Katholizismus in Berlin) zumachen“, wie ein Pfarrer mir kürzlich (2021) sagte.

Nachtanbetung für Männer, sie trafen sich in Kirchen und Kapellen West-Berlin, um in der Fastenzeit von Freitagabend 22 Uhr bis Samstag 6 Uhr zu beten, zu beichten, Predigten zu hören.

Roratemessen, in der Adventszeit frühmorgens um 5 Uhr gelesene Messen, oft speziell für Jugendliche, die danach gemeinsam frühstückten bevor sie zur Schule usw. gingen.

Versehgänge: Der Priester bringt, oft begleitet von einem Ministranten, die Kommunion einem Schwerkranken und Sterbenden, der Priester „versieht“ ihn mit der Kommunion. Wer auf der Straße einen solchen Priester bei seinem „Versehgang“ traf, durfte ihn nicht ansprechen: „Er hatte den lieben Gott bei sich“, hießt die populäre Erklärung. In manchen bayerischen Kirchen war der Altar mit einem Tuch geschmückt, darauf stand: „Stille, hier wohnt Gott“. In Katholischen Kirchen dürfen die Gläubigen untereinander nur leise flüstern.

Gebotene Fast – und Abstinenztage: Ein Tag vor kirchlichen Hochfesten sollte der Katholik fasten und keinen Alkohol trinken, zu den Hochfesten zählte auch der 8. Dezember, das fest Martens Unbefleckte Empfängnis, also war der 7. Dezember einer der Fast – und Abstinenz Tage.

Der Kirchenchor: Er hält seine Proben einmal wöchentlich, in St. Ansgar wurden viele schlesische Lieder und schlichteste Messen (von Max Filke aus Schlesien) geprobt und aufgeführt an hohen Festtagen.

Der Organist (in St. Ansgar) zieht bei der Begleitung der Lieder oft alle Register, er erschlägt beinahe den Gesang der Gemeinde. Orgel als Herrschafts-Instrument. In evangelischen Kirchen versteht man trotz Orgelbegleitung meist noch den Gesang der Gemeinde.

Aushilfen durch Priester: Es gab bis ca. 1968 sehr viele Priester in Berlin, zum Teil pensioniert, zum Teil früh-pensioniert aus welchen ungenannten Gründen auch immer.Diese Priester wollten gern mal in einer Gemeinde die Messe lesen und predigen. Die Gemeindepfarrer waren also „entlastet“. In der Verwaltungszentrale, dem Ordinariat, war für jedes „Ressort“ selbstverständlich ein Priester, meist ein „Monsignore“ oder „Geistlicher Rat“ tätig. Sie wohnten oft in dem – von Laien – so genannten „Priesterpalais“, einer riesigen Villa in der Winklerstr. im eleganten Stadtteil Grunewald.Es gab in West-Berlin auch viele Ordenshäuser, das Dominikanerkloster St.Paulus in Berlin-Moabit war zeitweise geradezu überfüllt, auch mit jungen Priestern, die dann in St. Ansgar zur Messfeuer auftauchten und nach einigen Wochen wieder verschwanden (wegen eigener Eheschließungen etc.).

Veranstaltungen in den Gemeinderäumen

Beichtunterricht, Kommunionunterricht, Firm-Unterricht: Diese Unterrichtsstunden waren verpflichtend für alle, die an der Ersten Beichte mit ca. 8 Jahren, der Erstkommunion mit ca. 10 Jahren und mit ca. 12 Jahren an der Firmung durch den Bischof teilnehmen wollten. Ich erlebte diese Stunden, die sich oft über mehrere Wochen hinzogen, als Form der Indoktrination. Meine einzige als Achtjähriger: Was soll ich denn bloß dem Pfarrer im dunklen Beichtstuhl sagen? Da gab es Vorlagen, welche Sünden man denn begangen haben könnte… Man wählte aus.

Kirchenvorstand, Laien werden vom Pfarrer berufen, nach dem Konzil gewählt, um über die finanzielle Situation der Gemeinde zu wachen.

Pfarrgemeinderat, nach dem 2. Vatikanischen Konzil eingerichtetes Beratungsgremium von Laien, darunter auch Jugendlichen, die Mitglieder werden von anderen Gottesdienstteilnehmern gewählt. Erster Vorsitzender ist der Pfarrer, ohne seine Zustimmung geht gar nichts, es sei denn der Pfarrgemeinderat beschließt, eher gelbe Tulpen als roter Tulpen für den Altar zu verwenden…

Ministrantenrunde, damals nur männliche Minstranten, einmal wöchentlich eine Stunde mit dem Pfarrer, Festlegung der Ministranten-Einsätze, Liedersingen etwa: „Wilde Gesellen vom Sturmwind umweht“, Quiz. Für jedes Ministrieren erhielt der Ministrant 10 Pfennig, wurde durch eine Strichliste dokumentiert. Solange noch lateinische Messen gefeiert wurden, mussten die 10-12 Jährigen die vielen lateinischen Gebete auswendig lernen, dies wurde geübt etwa aus dem „Stufengebet“: „Ad deum, qui laetificat iuventutem meam“. Der Pfarrer brüllte dann in der Ministrantenstunde, wenn ein Junge versehentlich iuventutum sagte statt iuventutem… Welch eine eingepaukte Gebets-Entfremdung für Kinder, die in fremder Sprache des römischen Altertums beten sollten.

Katholische Pfarrbibliothek: Jede Gemeinde hatte eine eigene kleine, so genannte öffentliche Bibliothek, sie war aber nur sonntags nach den Messen geöffnet. In St. Ansgar gab es ihn der Pfarrbibliothek etwa 300 Bücher, vor allem Romane und katholische Jugendliteratur, ich konnte als einer der wenigen Leser Vorschläge zur Anschaffung von Neuerscheinungen machen.

Seelsorgestunde, zusätzlich zum Religionsunterricht in der Schule, katholische Unterweisungen imm Gemeindehaus am Nachmittag. Die Trinität würde erklärt oder die Jungfrau Maria beschworen. Über Sexualität würde kein Wort gesprochen. Auch nicht darüber, wie man sich als Kind/Jugendlicher bei Auseinandersetzungen mit den Eltern oder den Lehrern verhalten sollte.

Diese Gemeinden waren – im Rückblick – keine angenehmen „Orte“ des Lebens, des lebendigen Lebens. Manchmal dachte ich als 16 Jähriger, diese Gemeinden sind eigentlich Partei-Büros einer bestimmten Partei, Ost-Berlin war nahe für uns im Westen Berlins…

Männer – und Frauenrunde, einmal monatlich, oft Vorträge des Pfarrers zu theologischen/ideologischen Fragen.

Kolpingfamilie, Treffen für Ehepaare, die „Kolpingsfamilie“ hatte eine eigene Flagge, die etwa bei Prozessionen außen vorgeführt wurde. Gemütlichkeit war das Motto. Es gab auch katholische Arbeiutervereine, oder Katholisch-kaufmännische Vereine oder eine katholische Ärzte Gilde selbst für die katholischen Philatelisten gab es eine Gruppe in West-Berlin.

Vinzenz – und Elisabeth-Konferenz: Männer und Frauen treffen sich regelmäßig, um zu planen, welche Bedürftigen besucht und finanziell unterstützt werden sollen. Dabei handelte es sich um fast immer um „arme Katholiken“. Dies war eine Form des sozialen Engagements.

Bewegung für eine bessere Welt (gegründet von P.Lombardi SJ), Diskutieren über den Zustand der Welt. Ich erinnere mich: Eine Frau stpürzt ins Gemeindehaus von St. Ansgar, fragt: Ist hier die bessere Welt? Nein, sagt der Pfarrer, die ist in St. Canisius, bei den Jesuiten.

Weltmissionssonntag: Immer Ende Oktober gedachten die Gemeinden der katholischen Weltmission. Ich fand diesen Tag wegen des „internationalen Geistes“ als Schüler immer besonders wichtig!

Action Pater Leppich, Kreis von Aktivisten, die überall katholische Schaukästen aufstellen wollten.

Tanztee für katholische Jugendliche, damit die Jugendlichen nicht in säkulare Discos „abdriften“, sie sollen katholische PartnerInnen kennenlernen. Haben sie dann auch, manchmal schnell wieder geschieden…Aber der Pfarrer, Bernhard Schwerdtfeger, saß hinten im Raum und “passte auf”.  Um 22 Uhr war Schluss

Kreuzweg in der Stadt, katholische Männer ziehen mit einem Kreuz durch die Stadt. Vor Ostern, an einem Samstagnachmittag.

Fronleichnams Prozessionen, intensiv vorbereitet, mit Altären in den Straßen, Plätzen auch im Bezirk Tiergarten.

Autosegnungen, in Berlin, in der St. Christophorus Kirche, Neukölln. (Nebenbei: heute werden auch Handys etc. gesegnet, der Segen für homosexuelle Paare ist vom Vatikan verboten).

Die katholische Welt: Katholische Friedhöfe, katholische Krankenhäuser, katholische Schulen, katholische Gymnasien, katholische Kindergärten, katholische Buchhandlungen (Morus-Buchhandlungen in vielen Stadtteilen Berlins), katholische Ärzte für Katholiken, katholische Briefmarkengilde…: Die Totalität wird sichtbar. Es war schwer, sich dem nicht zu entziehen…

Caritas-Sammlungen: Ich beteiligte mich als Jugendlicher an der so genannten Straßensammlung, zog als den ganzen Samstag nachmittag und Abend mit einer Sammelbüchse aus Metall auch über den Ku-Damm und bettelte alle mir entgegen kommenden Passanten an. Ich war stolz, wenn dann am Sonntag aus der Büchse etwa 150 D Mark in Münzen hervorkamen.

Nicht erwähnt sind: Der “Bund Neudeutschland” (ND), die “katholischen Pfadfinder St. Georg”, der “Katholiscche Frauenbund”, der Dritte Orden des heiligen Dominikus, der Verein vom heiligen Land, der Fatima-Sühnekreuzzug, der Bund des deutschen katholischen Jugend BDKJ, das Kindermissionswerk, die Sternsinger, die Sommerausflüge der Gemeinde, der Gemeinde (Tanz) -Abend im Herbst (in der “Kongreßhalle” in Tiergarten, die “Informationsabende” über die Weltmission,  die Gespräche mit dem Pfarrer vor der krichlichen Trauung, “dem Ehesakrament”, und so weiter…

Es gab keine speziellen Bibelstunden, also keine Kreise, die sich nur mit der Lektüre und der Interpretation der Bibel befassten! Dazu waren die katholischen Pfarrer oft gar nicht in der Lage, schließlich war die historisch-kritische Bibelforschung bis ca. 1960 verboten bzw. Übel angesehen. In West – Berlin gab es EINEN speziell für Bibelfragen und das „Bibel-Werk“ zuständigen Pfarrer.

Es gab in den Jahren keine offiziellen ökumenischen Begegnungen mit den evangelischen Gemeinden in der Nachbarschaft.

Sonntags um 9.50 läuteten die Glocken der St. Ansgar Kirche und die Glocken der ca 100 Meter entfernten Evangelischen Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche gleichzeitig für die Gottesdienste um 10 Uhr. Und kein Christ kam auf die Idee, einfach mal den Gottesdienst der anderen Konfession zu besuchen.

Am Schriftenstand am Eingang der Kirche: Unglaubliche Presseerzeugnisse:
Broschüren, zum Beispiel: „Katholik, das musst du wissen“, vom Johannes
-Bund Leutesdorf. Zeitschriften: „Maria siegt“. „Hoffnung“, „Der Feuerreiter“, „Mann in der Zeit“, „Echo der Zeit“, „Petrusblatt“, „Der Jesusknabe“, „Stadt Gottes“ und so weiter

Die Anreden: Hochwürden, Herr Pfarrer XY, Herr Kaplan, Eminenz, Seine Durchlaucht (für den Vorsitzenden des ZK der Katholiken), Monsignore, Domherr, Domvikar, Geistlicher Rat, Erzpriester, Defensor Vinculi, Frauenseelsorger, Männerseelsorger.
Die Nonnen wurden als „ehrwürdige Schwestern“ genannt oder „Mutter Oberin“.

Wenn ein Kaplan sein Priesteramt aufgab und meistens dann heiratete, nannte man ihn im katholischen Milieu „einen Abgesprungenen“ oder „Abgefallenen“. Diese Abgesprungenen mussten das alte Wohngebiet verlassen, sie sollten kein „Ärgernis“ geben. Wer sich als Priester verliebt, erregt für Katholiken ein „Ärgernis“…

Ansätze zu einer Bewertung
Bis ça. 1968 nahmen von den 1.600 Mitgliedern der St. Ansgar Gemeinde in Berlin-Tiergarten ca. 500 Menschen an der Sonntagsmesse teil, dreimal wurde sonntags die Messe gefeiert. Diese Teilnahme entsprach auch kirchlichem Druck: der Sonntagspflicht!
Aber die Gemeinde bot auch Raum für allgemein menschliche, oft freundschaftliche Kommunikation. Manche nahmen wohl den Messbesuch bloß „in Kauf“, um danach noch lange Zeit mit anderen plaudern zu können, sich zu verabreden etc..

Diese starke Kirchenbindung damals hat sicher auch kulturell-soziale Gründe: Man denke an das Freizeit Verhalten damals; Gemeinde war auch ein Ort von kontrollierter, behüteter Freizeit, allerdings nicht immer, wenn man an die vielen Fälle von sexuellem Missbrauch durch Priester denkt. Darüber sprach damals niemand, auch wenn in der „weltlichen“ Presse, wie dem Tagesspiegel, gelegentlich Notizen des Missbrauchs veröffentlicht wurden. Ich erinnere mich an entsprechende kurze Meldungen aus dem Don-Bosco-Jugendheim in Berlin Wannsee (Leitung: der Salesianer-Orden, SDB), Pater von …XY wurde um 1965 aus dem Don-Bosco-Heim „versetzt wegen Unregelmäßigkeiten“, hieß es dann knapp im Tagesspiegel. Die katholische Kirchenzeitung berichtete selbstverständlich NICHT darüber…„Na ja, es menschelt halt bis zu Gott“, war die Standard – Antwort vieler Katholiken, und keiner wagte nachzufragen. Erst 2010 wurde aus diesem Don – Bosco – Jugendheim sexueller Missbrauch durch die dortigen Patres gemeldet: https://www.morgenpost.de/berlin/article103989118/Patres-sollen-Jungen-vergewaltigt-haben.html

Das Zweite Vatikanische Konzil gab den Katholiken endlich und zurecht ein Gefühl von individueller Freiheit und religiöser Wahl: Warum muss ich mich jeden Sonntag in die Kirche zur Messe setzen mit immer denselben Riten und fast schon zu Floskeln gewordenen Gebeten und den schlechten Predigten? Diese Frage stellten sich viele und entschieden sich individuell.

Heute hat die Kirche auch in Berlin die meisten Katholiken, als aktive Mitglieder, „verloren“. Die Gemeinden schrumpfen, sie werden „zusammengelegt“, kaum noch ein Pfarrer ist erreichbar, es werden Messen gelesen von den wenigen gestressten Priestern und alle wissen: In zehn Jahren bricht auch dieses System der Versorgung zusammen: Die Kirchenführer und die Laien sprechen öffentlich nicht differenziert und mit allem Wissen darüber, weil momentan der sexuelle Missbrauch durch Priester alle Debatten und Reflexionen beherrscht.

Das heutige Sterben der katholischen Gemeinden ist vor allem als ein Verlust an menschlicher Kommunikation zu beklagen. Und die Bischöfe lassen das alles zu, ohne endlich das totale Klerus-System zu beenden: Das da heißt: Nur ein Priester kann Messe feiern. Nur die Messe ist der Höhepunkt des Gemeindelebens. Solange die Kirche an diesen vom Evangelium unbegründeten Überzeugungen festhält, kann man alle Hoffnung für die katholische Kirche in Deutschland z.B. fahren lassen. Viele katholische Kirchen wurden in den letzten Jahren geschlossen, abgerissen, verkauft. Warum? Weil die Priester als “Gemeindelieter” fehlten! Oder weil die Priester zuvor nichts Vernünftiges, d.h Menschliches, Freundliches,  für die Gemeinde taten. So dass die Mitglieder halt “austraten”.  Das Ende der Kirchen – auch in Berlin – ist vor allem bedingt durch den Klerikalismus oder: protestantisch: durch den Bürokratismus. “Die Kirchen stehen die ganze Woche über leer und sind selbstverständlich bverschlossene. “Die verschlossene Kirche” wäre ein hübsches Thema für kritische Journalisten.

Die Zahl der LaientheologInnen in Berlin, die keine Arbeit in dieser Kirche fanden oder finden wollten, ist groß. Warum hätten sie nicht auch katholische Gemeinden „leiten“ können? Weil der allherrschende Klerus das nicht wollte und auch heute nicht will. Der Klerus will herrschen, allein und immer. Da hilft nur eine weitere Reformation, also NICHT etwa eine „Reform“ oder ein „Reförmchen“.

Am 2.9.2024: Ich lese, in er kathol.Zeitung “Tag des Herren” vom 1.9.2024 , dass der Erfurter katholische Bischof einem kathol.Diakon die Gemeindeleitung anvertraut hat, aber: Er darf nicht die Messe feiern! Und: Keinem Kranken das Krankensakrament reichen. usw. Das darf nur ein Priester, der aus Indien extra nach Erfurt eingeflogen wurde. Welche ein Wahn, darf man wohl sagen, oder genauso deutlich: Wie lächerlich diese Haltung.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

 

 

 

Kardinal Alfred Bengsch: Ein Bischof von Berlin, der „theologische Mauern“ errichete. Im Osten wie im Westen.

Hinweise von Christian Modehn, publiziert am 21.8.2021.

Zur Einführung:
Warum dieses Thema? Es gibt heute viel Dringenderes. Zweifellos.

Eine Neuigkeit: Joseph Ratzinger schätzte als Theologe und künftiger Erzbischof von München ganz besonders Kardinal Alfred Bengsch. Zwei sehr Konservative kannten sich schon seit dem Konzil… Siehe Nr. 17).

– Aber am Beispiel von Erzbischof und Kardinal Bengsch (1921-1979), Bischof in der geteilten Stadt Berlin, wird einmal mehr deutlich, wie ein einzelner, sich „Ober-Hirte“ nennender Kleriker eine ganze Kircheneinheit, ein Bistum, ins geistige Getto und zu einem von Angst bestimmten Glauben führen kann. Die Herrschaft einzelner, sich Macht anmaßender Bischöfe ist ja im aktuellen Fall von Kardinal Woelki (Köln) allgemein bekannt. Woelki hat in der klerikalen Arroganz viele „Vorgänger“ und „Mitstreiter“. Einer ist Bengsch, einer von vielen „Oberhirten“.

– Als Berliner, geboren in Ost–Berlin, in Berlin-Friedrichshagen, 1958 Flucht nach West-Berlin und dort Abitur sowie ein Semester Studium der ev. und kath. Theologie sowie der Philosophie an der F.U., (die Studien konnte ich in der BRD abschließen), kenne ich Bengsch, weil ich auch familiär mit dem „katholischen Milieu“ damals eng verbunden war. Mir ist es wichtig, ein Stück Erinnerungsarbeit zu leisten. Und vielleicht Aspekte deutlich zu machen, die anlässlich seines 100. Geburtstages in Jubelfeiern verdrängt werden.

Diese Hinweise sind also ein Beitrag der Religionskritik, eines Hauptthemas der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie.

1. Lobeshymnen oder die historische Wahrheit?
In diesen Wochen erinnern sich nicht nur „Katholiken an den Berliner Erzbischof und Kardinal Alfred Bengsch. Es handelt sich um einen katholischen Bischof, der das katholische „Leben“ in Berlin (-Ost wie auch -West) bestimmte und sich darüber hinaus mit seiner sehr konservativen Theologie in den Katholizismus der BRD einschaltete.

Alfred Bengsch ist, summarisch betrachtet, ein Prototyp des ängstlichen, verschlossenen, dialog-unfähigen und arroganten Bischofs. Diese Tatsachen werden hoffentlich Beachtung verdienen, wenn anlässlich des 100. Geburtstages von Bengsch, wie offiziell – katholisch üblich, die erwünschten Lobeshymnen auf den „Ober-Hirten“ angestimmt werden. Der Herder Verlag wirbt für ein neues Buch über Bengsch mit der Behauptung: „Alfred Kardinal Bengsch gilt bis heute als einer der prominentesten und beliebtesten Oberhirten des Erzbistums Berlin“. Prominent war er auf seine Weise; aber als sturer Dialogverweigerer, kann er da als beliebt gelten? Bei einigen theologisch eher anspruchslosen Gläubigen vielleicht, die sich an Bengschs Predigten erbauten, die ganz auf die traditionelle Masche der klassisch-konservative Innerlichkeit und des bloß spirituellen Trostes setzten.

2. Bengsch wird Bischof – eine Art „Notlösung“
Alfred Bengsch wurde am 10. Februar 1921 in Berlin-Schönberg geboren, zum „Weihbischof“ in Berlin mit Amtssitz in Ost-Berlin wurde er 1959 von Papst Johannes XXIII. ernannt. Zum maßgeblich leitenden Bischof des Bistums Berlin wurde er drei Tage nach der Errichtung der Mauer, also am 16. August 1961, ernannt. Er war also in einem für katholische Bischöfe extrem jugendlichen Alter, er war 40 Jahre alt. Diese Ernennung ist begründet vor allem in der Abberufung des in West-Berlin lebenden Bischofs Julius Döpfner, er wurde Erzbischof von München-Freising. Und Bengsch war da eine schnelle „Lösung“, manche sagen, er wurde verantwortlicher Bischof, weil der Papst „sonst niemanden hatte“.

3. Bengsch repräsentierte die so genannte Einheit des Bistums Berlin
Bischof Bengsch „residierte“ in Ost -Berlin mit dem dortigen kirchlichen Verwaltungsapparat („Ordinariat“), hatte aber die Möglichkeit als einer der wenigen DDR- Bürger regelmäßig nach West-Berlin einzureisen und den aufwendigen, parallelen Verwaltungsapparat im Ordinariat West (wie viele Priester waren damals eigentlich nur „Verwaltungsbeamte“?) sowie die Gemeinden zu besuchen. Das muss noch einmal betont werden: Bengsch war als Bischof in der DDR auch für die Katholiken im freiheitlich und demokratisch geprägten West-Berlin zuständig. Und auch das ist wichtig: Die von kirchenoffizieller Seite bis heute viel beschworene und gerühmte „Einheit des Bistums Berlin“ nach dem Mauerbau am 13.8. 1961 repräsentierte de facto und als leibhaftige Einheit Bischof Bengsch allein: Er war einer der wenigen regelmäßigen, von der DDR-Regierung akzeptierten, Ost-West-Pendler. Natürlich besuchten einige Katholiken aus dem West-Berlin privat auch den Ostteil, aber offizielle Begegnungen in den Ost-Gemeinden fanden nicht statt.
Am 13. Dezember 1979 ist Erzbischof Bengsch in Berlin verstorben.

4. „Eine markige Persönlichkeit“?
Über weitere Details seines Lebens kann man sich über wikipedia usw. informieren. Hier geht es darum, wie es sich gehört, kritische Hinweise zum theologischen und kirchenpolitischen Denken Bengschs zu skizzieren. Denn es ist nicht unwahrscheinlich, dass anlässlich des 100. Geburtstages von Bengsch eher Lobeshymnen angestimmt werden als objektive Beobachtungen. Ein Text der Katholischen Akademie Berlin vom Sommer 2021 nennt Bengsch etwa eine „markige Persönlichkeit“, was immer das „markig“ bedeuten mag. Und die Akademie fährt fort: „Er hat bis heute bleibende Spuren hinterlassen“. Wohl wahr, von diesen „Spuren“ handelt dieser Hinweis, es sind – schon jetzt zusammenfassend formuliert – Spuren, die die Katholiken in West-Berlin, in einer Stadt in der „freien Welt“, ins Getto führten, in eine geistige Verkrampfung und Abgeschlossenheit, die spiegelbildlich der Mentalität der DDR-Führung durchaus entspricht. Insofern wäre es eine ausführliche Studie wert zu zeigen, wie Bischof Bengsch in seinem Verhalten des rigiden Regierens die DDR-Mentalität der Herrschenden belebte.

5. Nur Bengsch kennt das „unverkürzte Evangelium“
Eine gewisse Leitlinie der Interpretation des Denkens und Handels von Bengsch bietet sogar eine offizielle katholische Deutung: 1980 wurde im katholischen St. Benno-Verlag in Leipzig das Buch „Der Glaube lebt“ veröffentlicht, darin schreibt das katholische DDR- Autorenteam sehr ehrlich: „Kardinal Bengsch war kein progressiver Bischof“ – mit der sehr treffenden Ergänzung: „falls es so etwas gibt. Im Schubladendenken … ist er einwandfrei im Fach konservativ gelandet, und das noch nicht einmal gegen seinen Willen“ (S. 135). Dieser konservative und ängstliche Theologe Bengsch hatte sich übrigens als seinen Wahlspruch gewählt: „Helfer eurer Freude“. Gemeinte war selbstverständlich bei ihm immer die „innerliche Freude“ der dogmatisch korrekt Glaubenden. Das wahre Motto Bengschs war eher das von ihm häufig verwendete Wort: „Ich will die Lehre der Kirche UNVERKÜRZT lehren“. Wobei er von sich selbst, durchaus arrogant, meinte, das unverkürzte, also das ganze und das authentische Evangelium zu kennen: Pluralismus der Meinung schloss diese Überzeugung aus. Bengsch allein bestimmte, was „unverkürzt“ bedeutet…Davon wird noch zu sprechen sein.

6. Die Häretiker suchen und bestrafen.
Zur theologischen und kirchlichen Laufbahn Alfred Bengschs: In den neunzehnhundertfünfziger Jahren konnten Priester der DDR noch an bundesdeutschen theologischen Fakultäten promovieren, so auch Alfred Bengsch. Er erwarb 1956 an der Universität München bei dem katholischen Dogmatiker (und auch später noch explizit konservativen Theologen) Michael Schmaus seinen Dr. theol. Das Thema der Promotionsschrift ist: „Heilsgeschichte und Heilswissen bei Irenäus von Lyon. Eine Untersuchung zur Struktur und Entfaltung des theologischen Denkens im Werk „Adversus Haereses, „Gegen die Häretiker“.
Das Thema hat keine aktuelle Bedeutung, damals schon nicht, also 10 Jahre nach Kriegsende und der von Nazis betriebenen Vernichtung des europäischen Judentums! Da hätte man sich ja auch Relevanteres vorstellen können für einen jungen Theologen aus dem geteilten Deutschland. Aber nein, es musste ein Theologe und ein so genannter „Kirchenvater“ des 1. Jahrhunderts sein, Irenäus von Lyon, über den schon 1956 sicher mindestens 20 Studien vorlagen. Irenäus von Lyon lebte von 135 bis 200. Die Abgrenzung des wahren Glaubens von den Meinungen der Häretiker (bei Irenäus waren es die so genannten Gnostiker) prägte das Denken von Bengsch also von Anfang an.

7. Die grundlegende “Weichenstellung” im Denken von Bengsch
Das ist für das Verständnis entscheidend: Bischof Bengsch lehnte als Teilnehmer des 2. Vatikanischen Reform- Konzils (1962-1965) das entscheidende und grundlegende Konzilsdokument „Die Kirche in der Welt von heute“, auch „Gaudium et spes“ genannt, ab. Am 7. Dezember 1965 fand nach langen und heftigen Debatten die Schlussabstimmung statt: 2.309 Ja-Stimmen standen 75 Nein-Stimmen gegenüber. Mit Nein hatte auch Bischof Bengsch von Berlin gestimmt. Unter der verschwindenden Minderheit der Nein-Sager befanden sich die berühmtesten reaktionären Bischöfe damals, in dieser Gesellschaft bewegte sich also Bengsch offenbar guten Gewissens. Die „Neinsager“ lehnten eine dialogbereite Kirche ab, sie wollten überhaupt nicht, dass sich die Kirche als „Hort der absoluten Wahrheit“ auch lernbereit mit den modernen Denkweisen auseinandersetzen muss. Bekanntlich wurde selbst der Dialog mit Atheisten vom Reformkonzil mit absoluter Mehrheit gutgeheißen. Von dieser Wegweisung des Reformkonzils wollte Bengsch nichts wissen. Die Konsequenz war: Bengsch lehnte den Dialog mit der säkularen, atheistischen, sozialistischen Welt ab, genauso wie dies auch der spätere Traditionalist und „Piusbruder“ Erzbischof Marcel Lefèbvre tat oder der reaktionäre brasilianische Erzbischof Geraldo Sigaud svd. Er war führendes Mitglied der bis heute bestehenden internationalen reaktionären Bewegung „Für Tradition, Familie und Privateigentum“. Bischof Sigaud ist nachweislich der heftigste Feind des Propheten Erzbischof Helder Camara gewesen. Die reaktionären Kreise sammelten sich während des Konzils im „Coetus Internationalis Patrum“, also dem „Internationalen Bund der Väter“, (leibliche Väter waren sie wahrscheinlich nicht). Zu diesem Kreis gehörte auch der große Gegner von Papst Johannes XXIII. :Kardinal Alfredo Ottaviani, Chef der damaligen „Inquisitionsbehörde“. Ob Bengsch zu diesem reaktionären „Coetus“ als Mitglied gehörte, ist für mich nicht eindeutig. Der einstige Pressesprecher des Bistums Berlin, Dieter Hanky schrieb in der offiziellen Bistumszeitung „Petrusblatt“: „Bengschs Bedenken, mit denen er sich zwar nicht allein, aber in einer kleinen Gruppe (also doch dem genannten „Coetus“?, CM) befand, galten vor allem jenen Textstellen, von denen er glaubte annehmen zu dürfen, dass sie vor allem von kommunistischen und anderen atheistischen Regierungen zum Schaden der Kirche missbraucht werden könnten… Als dann das Konzilsdokument, die Konstitution Kirche in der Welt von heute, wenn auch in einigen Punkten verbessert, mit großer Mehrheit vom Konzil angenommen wurde, schrieb Erzbischof Bengsch am 22. November 1965 in tiefer Sorge einen ausführlichen Brief an Papst Paul VI., in dem er ihm die Gründe für seine Ablehnung der Konstitution darlegte. Zu seiner großen Überraschung bat ihn der Papst am 6. Dezember zu einer Privataudienz, in der er den Papst noch einmal beschwor, der Konstitution in dieser Form die Zustimmung zu versagen. Er befürchtete Folgen in den Ländern hinter dem Eisernen Vorhang, wo die Verteidigung der religiösen Werte der Kirche als Widerstand gegen den gesellschaftlichen Fortschritt gewertet würde. Es war umsonst“. (Petrusblatt 12. Dezember 1999). Gott sei Dank, muss man sagen, sonst hätte Bengsch die ganze Kirche noch weiter ins Getto geführt…

8. Die katholische Kirche einmauern, im Osten wie im Westen.
Das Nein zu einem Dialog mit der säkularen, atheistischen Welt hat Bengsch als Bischof von Berlin Ost wie Berlin West fortgesetzt und durchgesetzt. Zusammenfassend lässt sich sagen: So, wie sich die DDR in Berlin mit einer Mauer umgab, so umgab Bengsch auch die katholische Kirche in der DDR mit einer Mauer. Seine Mauer-Abschottungs-Ideologie setzte er auch in der Kirche in West-Berlin rigoros durch.

9. Bengsch baut katholische Mauern in der DDR
Über Bengschs durchgängiges Bemühen, die katholischen Kirche in der DDR mit einer geistigen Mauer zu umgeben, sind etliche prägnante historische Studien erschienen. Ich erwähne nur die eher summarische Darstellung von Clemens M. März in dem Buch „Unser Glaube mischt sich ein. Evangelische Kirche in der DDR“, Ev. Verlagsanstalt Berlin 1990. Der Titel des Beitrags von Clemens M. März nach dem Mauerfall, 1990 geschrieben: “Aus dem Winterschlaf erwacht: Befreit zur Katholizität“ Seite 111-120). März zeigt: Die katholische Kirche in der DDR „distanzierte sich ostentativ von jeglicher gesellschaftlichen Mitarbeit“ (S. 115). Die DDR sollte nach Bengschs Meinung soweit es nur geht ignoriert werden,“ die Kirche flüchtete sich in die Katakombe“ (S. 117). Die offenen, weiterführenden Einsichten der Diözesansynode von Meißen (1969-1971) wurden von ihm unterdrückt. „Sie wurden von Bengsch der Ketzerei verdächtigt“ (S. 116) … Da haben wir schon wieder Bengschs Suche nach Ketzern (Häretikern), eine Leidenschaft seit seiner Doktorarbeit. Der katholische Theologe in Leipzig, Dr. Wolfgang Trilling, spricht sogar von einer „Liquidierung der Synode in Meißen“ durch Bengsch, siehe Trillings wichtigen und sehr erhellenden Beitrag in der Festschrift für Johann Baptist Metz „Mystik und Politik“ (Mainz 1988), Seite 324.
Im ganzen, meint auch der Autor Clemens M. März, habe Bengsch „das selbstgewählte Getto“ gepflegt (S. 118) „indem die katholische Kirche auch dort schwieg, wo sie, analog zum mutigen Eintreten der evangelischen Kirche, für Freiheit und Menschenrechte, hätte reden müssen“ (S. 117).
Zu demselben Ergebnis in der Einschätzung von Bengschs Wirken in der DDR kommt der schon genannte katholische Theologe und Professor für Bibelwissenschaftler Wolfgang Trilling (Leipzig). Er hat seinen Beitrag in der oben genannten Festschrift für Johann Baptist Metz „Mystik und Politik“ (Mainz 1988) unter den Titel gestellt „Kirche auf Distanz“ (Seite 322-332). Man darf sagen, dass dieser theologisch-historische Beitrag über die katholische Kirche in der DDR, in Leipzig verfasst 1987, stimmungsmäßig auch von einem „heiligen Zorn“ Trillings auf das katholische System bestimmt ist: “Nicht Produktivität, Phantasie, Experiment, Kritik, Freimut mit den neuen Partnern auf den verschiedenen Ebenen (der DDR) werden von Katholiken erwartet und als christliche Verhaltensweisen empfunden, sondern Gemeinsamkeit, ja gar Geschlossenheit, Zusammenhalt der kleinen Herde…“ (S. 324)… „Die Konstitution des Konzils Kirche des Konzils in der Welt von heute wurde in der DDR faktisch nicht rezipiert…es ging keine belebende Wirkung von ihr aus“ (S. 325). Und Trilling weist darauf hin, dass sich „katholische Jugendliche vielfach evangelischen Gruppen angeschlossen hatten, in denen die Friedensthematik z.B. leidenschaftlich diskutiert wurde“ (S. 328). Summa summarum schreibt der katholische Theologe Wolfgang Trilling: „Die gegenwärtige Lage, die durch das Fehlen jedes Instrumentariums innerkirchlicher Öffentlichkeit (synodale Einrichtungen, eigene Laienverbände…) verschärft wird, ist grotesk und in der Weltkirche singulär. Dennoch: Was uns nottut, ist eine entschlossene Abkehr von dem bisherigen Weg“, so (S.331). Über Trillings Widerspruch gegen den „Bengsch-Kurs der Abschottung“ hat auch Theo Mechtenberg in der Trierer Zeitschrift „Imprimatur“ (Heft 3, 2018) geschrieben. Die katholische Kirchenzeitung in den neuen Bundesländern, Ost-Deutschland, „Tag des Herrn“, berichtete am 11.4. 1999 von einer Tagung, auf der der Erfurter Historiker Jörg Seiler über die Beziehung der katholischen Bischöfe zu den jungen Katholiken mit “Gewissenskonflkten“ berichtete, es ging also um die Frage: Was denken die katholischen Bischöfe vom Dienst als Bausoldat oder von Totalverweigerern. Besonderen Einfluss dabei hatte der Berliner Erzbischof Alfred Bengsch: „Er sah direkte Interventionen in der Frage der Wehrpflicht als Gefährdung des relativ ruhigen Staat-Kirchen-Verhältnisses an.“ Die Auseinandersetzungen um die Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen überließ man der evangelischen Kirche“, so der Journalist Matthias Holluba in „Tag des Herrn“.

10. Bengsch und sein „Maulkorberlass“
Der schon genannte Autor Clemens M. März erwähnt zur „politischen Dialogverweigerung Bengsch auch den so genannten „Maulkorberlass von Bengsch“ vom 1. Juni 1977, der den Priestern wie auch den Laien der DDR verbot, politische Aktivitäten auszuüben! Bengsch betonte sogar: „Das kirchliche Amt (also Bengsch selbst, CM) als gültiges Zeichen der Einheit und die prophetische Freiheit (was meint der Bischof denn damit?, CM) verlangen, kein wie auch immer geartetes politisches Engagement einzugehen“ (S. 117). Dadurch hatte sich die katholische Kirche der DDR auch vom Friedensengagement distanziert. Die „friedliche Revolution“ von 1989 war institutionell tatsächlich nur von der Evangelischen Kirche unterstützt und gefördert. 1990 wird dann der neu ernannte Bischof Georg Sterzinsky in einem Interview mit der „WELT“ (1.2.1990) vorsichtig und ein bisschen selbstkritisch bekennen: „Wir Katholiken der DDR hätten unsere Solidarität mit jungen Oppositionsgruppen deutlicher zum Ausdruck bringen müssen“ (S. 119). Um den Titel des Beitrags von Clemens M. März etwas zu variieren: 1990, nach dem die Mauer gefallen war, war die seit Bengsch in den Winterschlaf verfallene katholische Kirche im Osten Deutschlands ein bisschen erwacht…

11.Eine Mauer soll auch West-Berliner Katholiken einschließen
Die Mauer und das eingemauerte Denken hatte Bengsch so tief verinnerlicht, dass er auch die Katholiken in West-Berlin in eine geistige, theologisch engstirnige Mauer einsperrte, was er auch mit aller Bravour in West-Berlin durchsetzte:
Keine katholische Pressefreiheit
Der Redakteur der katholischen Kirchenzeitung in West-Berlin, “Petrusblatt“, Günter Renner, hatte es 1967 gewagt, einen kritischen Leserbrief gegen eine Entscheidung der katholischen Verwaltungsbehörde, des Ordinariates in West-Berlin, zu publizieren. Etwas Normales für eine freie Presse in einer freien Stadt. Die Verwaltungs-Prälaten waren jedoch empört und setzten alles in Bewegung, um den fähigen und bei den meisten Lesern beliebten Redakteur Pfarrer Renner abzusetzen. Viele Zeitungen, auch katholische Blätter in der BRD, zeigten sich verärgert über diese Entscheidung. Selbst die mit der CDU eng verbundene Berliner Morgenpost aus dem eigentlich immer kirchlich wohlgesinnten Hause Axel Caesar Springer protestierte. Die Medien forderten Bengsch auf, Pfarrer Renner als Redakteur weiter arbeiten zu lassen, aber vergebens. Bengsch war entschieden gegen umfassende und normale Pressefreiheit innerhalb der katholischen Kirche. Wieder eine erstaunliche Parallele zur Pressefreiheit in der DDR. Dieses Denken in einem Freund-Feind-Schema ist formal gesehen die gemeinsame Mentalität von Bengsch und der DDR-Führung.
Also musste der Redakteur Pfarrer Renner seinen Posten aufgeben, „er werde mit seinem kritischen Arbeiten den einem Diözesanblatt gestellten Aufgaben nicht gerecht“, hieß es. Nachfolger von Pfarrer Renner wurde damalige, mit Bengsch eng verbundene Ordinariatsräte und konservative Theologen wie Wolfgang Knauft oder Erich Klausener. Sie machten aus dem Petrusblatt eine katholische „Prawda“ oder „Neues Deutschland“. Aus einem dialogbereiten Blatt wurde ein offizielles „Organ“. Dagegen wehrte sich kurze Zeit ein kritisches Wochenblatt, mit dem Titel „Der Christ“ (Auflage 5.000). Bengsch nannte diese Zeitschrift wörtlich, so berichtete der SPIEGEL 1968, auf seine „freundliche“ Art „ein Käseblatt“. Aus Mangel an Geld musste „Der Christ“ bald verschwinden. Kirchensteuer-Gelder erhielten nur die offiziellen Propaganda-Blätter wie das Petrusblatt. (Über die Kirchenpresse im geteilten Berlin siehe auch: https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/259675/christliche-gemeinschaft-im-geteilten-berlin)
Was die publizistische Wirkung angeht: Bengsch genießt noch heute wegen seiner rigorosen Haltung als Konservativer viel Achtung, etwa in dem reaktionären Monatsblatt aus Regensburg mit dem Titel „Der Fels“, dort ein Beitrag von Bengsch im Dezember 2013.

12. Keine katholisch- theologische Wissenschaft in Berlin
Über die Mauer, die Bengsch um die katholische Kirche in West-Berlin zog, wären viele Beispiele zu nennen: So gab es etwa überhaupt kein katholisch-theologisches Institut, also keine theologische Forschung, die den Namen verdient. Das wirklich winzige „Seminar für katholische Theologie“ an der Freien Universität stand zwar in der Nähe des FU Hauptgebäudes, dem Henry Ford Bau, es stand aber geistig völlig am Rande, spielte überhaupt keine Rolle im kulturellen und religiösen Leben der Stadt. Der Leiter dieser „Klitsche“, wie wir Studenten damals das winzige Seminar für katholische Theologie nannten, war seit 1956 Prof. Marcel Reding (aus Luxemburg), ein stiller, zurückhaltend-netter gebildeter Priester, der auch etwas Bengsch-kritisch war, aber nur hinter vorgehaltener Hand. Redings Lebenswerk war die Marx-Interpretation im Lichte des mittelalterlichen Theologen Thomas von Aquin. Dann dozierte dort noch der Moral-Theologe und Jesuit Waldemar Molinski, mit dem sich heftige Debatten ergaben etwa über den Willen einiger Studenten, eine ökumenische, also eine gemeinsame katholisch-evangelische Studentengemeinde zu gründen. Diese ökumenische Initiative wurde unterdrückt. Ökumene war überhaupt nicht Bengschs Interesse. Er benutzte evangelische Kirchengebäude auf dem Lande, in Brandenburg, wenn denn kein „katholisches Gotteshaus“ zur Verfügung für die kleine Gemeinde. Aber das war es…
Eine katholische Akademie in West-Berlin, die diesen Namen verdiente, wie etwa die 1957 gegründete Katholische Akademie in München, gab es zu Bengschs Zeiten nicht. Das so genannte“ katholische Bildungswerk“ war ein Einmann-Betrieb mit Pfr. Fassbender, die Sendungen über Kirchen in der ARD Anstalt SFB wurden von Ordinariatsräten streng beobachtet und kritisiert. Demokratische Meinungsvielfalt war ein Horror für Bengsch, dies wollte er seinen Untertanen einbläuen. Prälat Klausener in West-Berlin hatte die Bengsch-Theologie völlig verinnerlicht: „Demokratie ist in der katholischen Kirche abzulehnen, vielmehr ist dem kirchlichen Amt Vertrauen und Gehorsam geboten“, zitiert der katholische Politologe Manfred Krämer in seiner Studie „Kirche kontra Demokratie?“ (München, 1973, S. 46). Dr. Manfred Krämer war ein geradezu leidenschaftlich kluger Vorkämpfer für eine moderne katholische Kirche auch in West-Berlin, aber ist mit seinem Engagement selbstverständlich gescheitert … und leider viel zu früh verstorben…

13. Mit Stasi-Methoden in der Kirche arbeiten
Dem SPIEGEL war es in Heft 26 des Jahres 1969 ein Bericht wert: Kardinal Bengsch folgte Stasi-ähnlichen Methoden und konnte deswegen einen theologisch gebildeten Kaplan in der West-Berliner Gemeinde St. Bernhard in Dahlem vertreiben. Konkret: Ein Bengsch-freundlicher Katholik hatte heimlich – wie die Stasi – die „theologisch-modernen“ Predigten von Kaplan Hebler mitgeschnitten und die Kassetten dem Kardinal bzw. seinen Prälaten zugeschickt. Sie hörten die Mitschnitte ab und … Kardinal Bengsch entfernte Kaplan Hebler aus der Gemeinde. Der SPIEGEL hat sogar den Tonband-affinen Katholiken genannt, es war ein gewisser Alfons Ryzlewicz. Er also förderte, sicher nicht allein, mit seinem orthodoxen Eifer die Absetzung Heblers … wieder einmal wegen „Häresieverdacht“. Der SPIEGEL berichtet: Hebler wurde ins Bischöfliche Ordinariat (West) zitiert, „wo er fünf Stunden lang auf Fragen einer fünfköpfigen Kommission antworten musste. Zwar tranken die geistlichen Herren dabei Tee mit dem Beschuldigten, doch diesem war angesichts der gegen ihn erhobenen Vorwürfe der »private Ton« eher lästig. Denn er wurde u.a. beschuldigt, er habe den Gottesdienst zum Ort des Protestes gemacht und »engagierte politische Erklärungen« in die Verkündigung gebracht usw… Tatsächlich wurde Hebler dann von Bengsch nach dem Rausschmiss aus der Gemeinde ein „Studienurlaub“ gewährt… Der bekannte, an der FU von moderaten Demokraten sehr geschätzte Katholik, der Politologe Prof. Alexander Schwan, sprach von Hebler als einem der wenigen, die „zu den erschreckend wenigen Predigern in Berlin gehörten, die … einem Großstädter die Verkündigung Jesu Christi heute noch nahezubringen und bedeutsam zu machen vermögen«. Viele Dahlemer Katholiken protestierten gegen die Entscheidung Bengschs und sandten dem Kardinal einen entsprechenden Brief, aber sie erhielten keine Antwort.
Bengsch und die „68 er Bewegung“
Interessant ist auch die Ignoranz Bengschs und der Prälaten in West-Berlin im Umfeld des Mai 68. Als der Studentenführer Rudi Dutschke am 11.4. 1968 am Kurfürsten Damm 141 Opfer eines Attentates wurde, das er nur schwerstkrank überlebte, berichtete das Petrusblatt recht knapp über „Osterzwischenfälle“ (dieser Titel erinnert an die Sprachregelung des „Neuen Deutschland“ der SED). Und weil einige Demonstranten auf dem Kurfürsten Damm ein Kreuz in der Hand hatten und es hoch hinaus wie eine Mahnung in die Öffentlichkeit streckten, schrieb Prälat Erich Klausener im „Petrusblatt“: „Junge Leute nehmen das Kreuz für sich in Anspruch. In ihrem Sendungsbewusstsein fühlen sie sich als Vollstrecker der Geschichte“. Das Kreuz, so der Prälat, gehöre in die Hände der Kirche, nicht der Aufständischen! Und der Prälat kritisierte dann die Demonstranten weiter, „weil sie einen moralischen Absolutheitsanspruch haben, der nur von wenigen erhoben wird“. Als einige katholische Studenten Flugblätter über den Mai 68 in der Sankt Canisius-Kirche (Charlottenburg) verteilten, wurden sie sofort rausgeworfen. Das Petrusblatt berichtete, dass der dort aufhaltende Erzbischof Bengsch ausdrücklich die Annahme dieses Flugblattes verweigert hätte, weil er sich ja auf die Feier des Pontifikal – Amtes in dieser Kirche vorbereiten musste…(In diesem Absatz zitiere ich aus meinem Beitrag in dem Buch “Zwischen Medellin und Paris. 1968 und die Theologie“, der Titel meines Beitrags: „Der Traum ist vorbei“. Edition Exodus, Luzern/Münster, 2009, S. 11-24).

14. Die Idee vom „unverkürzten Evangelium“
Alfred Bengsch, Bischof und dann auch Kardinal, liebte es, seine eigene überragende Rolle als einzig kompetenter Interpret der Lehre Jesu Christi zu definieren: „Ich will das unverkürzte Evangelium predigen“. Dabei predigte er immer sein auf katholisches Getto verkürztes Evangelium, ohne jeden Respekt für Pluralität auch in der Kirche, Meinungsfreiheit, intellektuelles Niveau. Bekanntlich gibt es im Neuen Testament schon theologische Pluralität….Bengsch aber war von seinem „unverkürzten Evangelium“ absolut und unerschütterlich überzeugt. 1966 fanden sich Westberliner Katholiken noch in der riesigen Deutschlandhalle und füllten geduldig den Raum. Da bezog sich Bengsch auf Kritik und Vorwürfe, die sich gegen sein Kirchenregiment wandten und er fuhr dann in der ihm eigenen Leidens-Mine fort: „Ich werde das alles eher ertragen, als dass ein einziger junger Mensch in meinem Bistum mir vorwerfen sollte, er wäre in die Irre gegangen, weil ich zu feige gewesen wäre, das unverkürzte Evangelium Gottes zu predigen“.
Tatsächlich hat sich, von außen betrachtet, Bengschs unverkürztes konservativ-rigides und nur auf innere Gefühle setzendes Evangelium nicht durchsetzen können. Ab 1968 begann der große kirchliche Abbruch, auch quantitativ gesehen, des West-Berliner Katholizismus. In Bengschs Sicht sind dann also doch viele „in die Irre gegangen“, weil sie schlicht und einfach aus der Kirche austraten. Und daran ist nicht nur irgendeine diffuse säkulare Mentalität „schuld“, wie Kirchenführer oft sagen, sondern auch das rigide Kirchenregiment des Berliner „Ober-Hirten“ und seiner Getreuen. Viele West-Berliner Katholiken haben sich aus der von Bengsch errichten katholischen Getto-Mauer befreit… und sind spirituell als freie Menschen eigene Wege gegangen.

15. Ein eigenes Bistum West-Berlin mit einem freien Bischof für eine freie Metropole.
Es wurde nie ernsthaft diskutiert, ob nicht doch ein eigenes Bistum West-Berlin letztlich für die betroffenen Katholiken hilfreicher gewesen wäre, weil sich dann eine eigene Form katholischen Lebens in einer demokratischen Stadt hätte entwickeln können. Bekanntlich hat die Evangelische Kirche in Berlin zwei Bischöfe gehabt, einen im Osten, einen im Westen. Dadurch konnten die Protestanten frei und auf die unterschiedlichen Verhältnisse unterschiedlich reagieren.
Aber die Fixierung auf die Einheit des Bistums Berlin war ein Wahn, weil, wie gesagt, Bengsch allein diese Einheit als Grenzgänger repräsentierte. Bengschs Nachfolger Bischof Joachim Meisner (bis 1989) war für West-Berliner auch alles andere als ein Lichtblick. Auch er herrschte in einer rigiden Herrschaft, ohne Sinn für theologische Pluralität und Meinungsfreiheit. Auch Meisner hat viele interessierte Katholiken West-Berlins aus dieser Kirche herausgeführt. Auch Meisner dachte in den undemokratischen Kategorien der DDR-Führung. LINK.

15. Gegen die „Schlipspriester“
Ich will mit einer kleinen persönlichen Erinnerung an Bischof Bengsch diese Hinweise beenden. Als Berliner Katholik habe ich als Jugendlicher diesen Berliner Bischof mehrfach erlebt. Eine Szene in einem Gemeindehaus werde ich nicht vergessen, als der Bischof an der Krawatte eines jungen Priesters zerrte und an dem Schlips hin – und herzog und dann brüllte: „Sie Schlips-Priester“. Ich hatte mich so gefreut, dass sich katholische Priester wie andere Männer ein bisschen „normal“ kleiden. Bengsch wollte auch die eindeutige klerikale Kleiderordnung. Und einmal saß ich in einer Runde des katholischen „Primanerforums“ (Leitung der Jesuit Pater Lachmund), da kam Bengsch kurz in den Raum, eilte von einem Jugendlichen zum anderen, schüttelte die Hände, fragte eigentlich desinteressiert kurz nach dem Namen und der Zugehörigkeit zu einer Gemeinde… und verschwand. „Der ist aber gar nicht freundlich“, sagte ein Freund am Tisch. Ich konnte dem nur zustimmen.

16.
Bengsch war die falsche Person an diesem exponierten Platz Ost – und West – Berlin. Sein kardinaler Fehler: Er hat zusätzlich zur DDR-SED-Mauer noch katholische Mauern in beiden Teilen der Stadt gebaut, er war in dieser theologischen Enge und Angst-Besessenheit der offiziellen DDR/SED Mentalität nicht ganz unähnlich. Und er hatte geradezu Lust, Dissidenten zu verfolgen und zu bestrafen, und ließ, wie oben gezeigt, Stasi-Methoden in der Kirche zu. 

17.

Ratzinger ein Freund von Bengsch:

Der Theologe Joseph Ratzinger war mit dem konservativen Bischof und Kardinal Alfred Bengsch (Berlin) eng befreundet.
Ein kirchengeschichtlicher Hinweis von Christian Modehn am 9.1.2023.

Erzbischof Heiner Koch, Berlin, vermittelte am 9.1.2023 in der Johannes Basilika in Berlin – Kreuzberg Erkenntnisse besonderer Art: Sie zeigen, dass Joseph Ratzinger, Konzilstheologe, mit Erzbischof Alfred Bengsch lange Zeit schon vor dem Konzil eng freundlich verbunden war und mit ihm theologisch übereinstimmte. Bengsch war bekanntlich ein konservativer Gegner des Konzilsbeschlusses „Kirche in der Welt von heute“. Ratzinger war von 1968 bis 1977 Professor in Regensburg, in der bewussten Nähe des sehr konservativen Bischofs Rudolf Graber.

Erzbischof Koch sagte also am 9.1.2023:

„Um ein Haar wäre Joseph Ratzinger, unser verstorbener Papst emeritus Benedikt XVI., ein „Berliner“ geworden. Der Grund dafür war
– was zu-nächst paradox klingt – seine Ernennung zum Erzbischof
von München und Freising im Jahr 1977. Seit fast einem
Vierteljahrhundert war Ratzinger zu diesem Zeitpunkt bereits
persönlich, theologisch und geistlich eng mit Alfred Bengsch
verbunden, dem damaligen Bischof von Berlin. Vier Tage nach seiner
Ernennung durch Papst Paul VI. richtete Ratzinger an Bengsch einen
Brief, in dem er ihn zur Weihehandlung einlud. Aber zuvor legte er ein
Geständnis ab: „Einen Augenblick“ lang habe er nämlich, so schrieb
er, darüber nachgedacht, ihn, den Berliner Kardinal, zu bitten, dass er
ihm das Weihesakrament spende. Seine Begründung ist das
Bekenntnis einer tiefen Freundschaft: Es sei, so Ratzinger, „in allen
Wandlungen der Zeit“ zwischen ihnen beiden „die innere Nähe des
Denkens und des Wollens“ geblieben, die schon von ihren ersten
Begegnungen an der Münchener Universität an bestand. Für
Ratzinger rührte diese Nähe „von der gemeinsamen Berufung und
dem sie tragenden Glauben her.“

Quelle: stefan.foerner@erzbistumberlin.de Nachricht vom 9.1.2023.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Mai 68 in West – Berlins katholischer Kirche: Anlässlich des Mordanschlags auf Rudi Dutschke

Eine Erinnerung von Christian Modehn, lebte damals in West- Berlin

Der „Mai 68“ fand in der katholischen Kirche West – Berlins überhaupt nicht statt. Diese Kirche lebte wie auf dem Mond, ängstlich und an die CDU und damit de facto an das Springer Imperium gebunden. Die Bistumszeitung „Petrusblatt“ verbreitete in diesem Jahr (wie auch sonst) keinerlei theologische Hilfen, „die Zeichen der Zeit“ (2. Vatikanum) zu verstehen. Unter Führung eines theologisch ungebildeten und konservativen Klerus wurden die West – Berliner wie dumme Schäfchen gehalten und kritische Stimmen wurden abgewürgt.

Dies ist der nüchterne historische Befund zur Frage: West – Berlins Katholiken und der Mai 68.

Anlässlich des Mordanschlags auf den wegweisenden Inspirator der Studentenbewegung Rudi Dutschke am 11.4. 1968 in West – Berlin mache ich den ersten Teil meines Beitrags zugänglich, der 2009, verspätetet, aber immer noch anlässlich des 40 jährigen Gedenkens an den Mai 68 erschienen war. Das Buch hatte den etwas merkwürdigen und nicht attraktiven Titel „Zwischen Medellin und Paris“ (im Verlag Edition Exodus). Das Buch, 260 Seiten, wurde von Kuno Füssel und Michael Ramminger herausgegeben. Es hat meines Wissens keinerlei öffentliche Beachtung oder Diskussion gefunden, es erschien wohl zu spät (2009) oder die Themen waren für den insgesamt betulichen deutschen Katholizismus zu „rebellisch“. Schade eigentlich, angesichts der Arbeit, die sich 16 Autoren für dieses Buch gemacht haben.

In einem zweiten Teil meines Beitrags habe ich als Mitglied eines katholischen Ordens ab Herbst 1968 und einige Jahre danach noch das ebenso völlig unbeachtete Thema „Das Kloster und der Mai 68“ geschrieben. Dazu folgen später einige Hinweise. Ich empfinde es als eine Schande, dass in der neueren (Kirchen)Geschichtsforschung das Thema „Klöster und Mai 68“ völlig vergessen ist. Da sind die Franzosen viel weiter. Man denke an das großartige Buch „à la Gauche du Christ“, ed. Du Seuil, Paris….. CM.

Mein folgender Bericht kann nicht darauf verzichten, auch persönliche Erfahrungen einzubeziehen.

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Ich habe als Berliner im Februar 1968 an einem staatlichen Gymnasium in Berlin – Wilmersdorf Abitur gemacht. Von der familiären Tradition her gab es immer eine starke Verbindung mit der katholischen Kirche, die hier als verängstigte Diaspora Kirche erlebt wurde. Weil zum Bistum Berlin auch weite Teile der DDR gehörten, wurde von offizieller Seite immer Wert darauf gelegt, die Kirche in West – Berlin als geschlossene, monolithische Einheit zu gestalten. „Die Reihen fest geschlossen“ war sozusagen oberstes katholisches Prinzip, um der verhassten DDR als geschlossene, unbesiegbare Formation gegenübertreten zu können. Von daher waren Kritik und Pluralismus Begriffe, die in der katholischen Kirche West – Berlins keine Bedeutung haben durften. Das ist der wichtige Ausgangspunkt.

Ich hatte mich schon als Schüler trotz dieser bedrückenden Verhältnisse intensiv für Fragen der Religionen und der Philosophie interessiert, so dass ich es kaum erwarten konnte, im Sommersemester 1968 an der Freien Universität Berlin (FU) zu studieren. Die Vorlesungen von Helmut Gollwitzer waren meine erste intensive Begegnung mit einem Theologen. Der Protestant Gollwitzer las im Audi Max der FU über „Revolution und Reich Gottes“, er hatte damit genau das einzig treffende Thema gewählt, das die jungen Menschen damals leidenschaftlich interessierte: Wie ist es möglich eine gerechtere Gesellschaft und einen humaneren Staat zu gestalten? Wie kann die Dominanz des allen (heiligen) Geist tötenden Kapitals überwunden werden? Wie kann die seelische und sexuelle Repression in den Familien und den Gemeinschaften (auch den Kirchen) gebremst werden? Was hat dieser Kampf um Befreiung mit dem Glauben an das absolut zentrale Symbol „Reich Gottes“ zu tun? Ich sehe noch genau, wie sich Helmut Gollwitzer oft im Audi Max den Weg bahnen musste, um überhaupt aufs Podium und ans Mikro zu kommen. Es herrschte eine unglaubliche Spannung, eine Art Energie des Interesses, der leidenschaftlichen Anteilnahme an diesem theologischen Denker. Der Saal war überfüllt, Unterbrechungen des Vortrags waren von Gollwitzer ausdrücklich erwünscht, Diskussionen danach selbstverständlich. Seine hektographierten Thesen zur jeweiligen Vorlesung waren schnell vergriffen. Für mich, katholisch sozialisiert, waren diese Vorlesungen eine „Offenbarung“, weil deutlich wurde: Wichtig ist nicht die Kirche, wie von katholischer Seite immer wieder eingeredet wurde (und wird). Entscheidend ist vielmehr der aktive Einsatz auf der Linie der biblischen Reich Gottes Botschaft. Herbert Marcuse, wohl der wichtigste und einflussreichste philosophische Denker des Studentenaufbruchs, war damals häufig Gast in der FU. Er zeigte, dass sich in den Befreiungsbewegungen der dritten Welt und unter den rebellischen Gettobewohnern der USA sowie innerhalb der Studentenopposition die „Große Weigerung“ ankündigt, die dann zu einer Begrenzung des Kapitalistischen Systems führen kann. Helmut Gollwitzer suchte das Gespräch mit Marcuse. In diesen Diskussionen erlebte ich auch zum ersten Mal eine freie Aussprache über die verschiedenen gleichberechtigten Formen der Sexualität. Abgesehen von den bis heute prägenden Verbindungen mit dem Denken des FU Philosophen Wilhelm Weischedel waren diese Wochen im Frühling und Sommer 68 in West – Berlin für mich bestimmend. Gleichzeitig erlebte ich, wie sich in diesen Wochen voller Lebendigkeit und voller Suchen nach Alternativen gerade der Berliner Getto – Katholizismus weiter versteinerte. Bei einem Empfang katholischer Abiturienten durch Erzbischof Bengsch im Februar 1968 sagte dieser den jungen Leuten: „Christsein bedeutet nicht die Einstellung, gesellschaftlichen Fortschritt durchzusetzen, sondern eine persönliche Verbindung mit Christus“. Soll man diese Äußerung eines Bischofs etwa fromm nennen, eines Bischofs, der sich bekanntermaßen beim 2. Vatikanischen Konzil gegen den Dialog mit der Welt (im berühmten Dokument „Über die Kirche in der Welt von heute“) ausgesprochen hatte und damit zum reaktionären Flügel des Konzils gehörte.

Ich habe vor wenigen Wochen noch einmal den Jahrgang 1968 der offiziellen katholischen Kirchenzeitung West – Berlins, des wöchentlich erscheinenden „Petrusblattes“, durchgesehen: Die Studentenrevolte, die ja ein entscheidendes Zentrum in West – Berlin hatte, fand dort eigentlich nicht statt. Die Ausgabe vom 12. Mai 68 (als alle Welt von der Studentenrevolte sprach) berichtet das Petrus – Blatt weltfremd wie immer auf der ersten Seite über den „Weltkongress der katholischen Presse“! Die Ausgabe vom 26. Mai bringt auf Seite 1 eine „spannende“ Reportage über Radio Vatican, selbstverständlich wird in Fortsetzung der Roman „Begegnung mit einem seltsamen Priester“ (von I. Silone) weiter abgedruckt. Man glaubt zu träumen, wenn man die sich dort dokumentierende Abgehobenheit und Ignoranz betrachtet. Über den evangelischen Theologen Helmut Gollwitzer oder Bischof Kurt Scharf ist natürlich niemals ein Wort gefallen. Die Konzilserklärung zur Ökumenischen Interessiertheit und Zusammenarbeit war offenbar unbekannt. Von den bewegenden Ereignissen in Paris in diesen Tagen im „Petrusblatt“ kein Wort. Da hätten dann die Berliner Katholiken erfahren, dass der Dominikanerpater Jean Cardonnel schon im März 1968 Fastpredigten in dem Konferenz – Saal „Mutualité“ gehalten hat über „Evangelium und Revolution“. Darin sagte er: “Erfolgreiches Fasten könnte ein Generalstreik sein, der die Mechanismen eines unterdrückerischen Systems beendet“. Der Generalstreik kam zwar, aber nicht das gewünschte Ende des Kapitalismus…Die katholische Wochenzeitung „Témoignage Chrétien“ kritisierte zwar die Gewalt einiger studentischer Kreise, verurteilt aber gleichzeitig aufs Schärfste die brutalen Polizeimaßnahmen“. Der Pariser Erzbischof Francois Marty gab die Parole aus: „Gott ist nicht konservativ“.

Im Berliner Katholizismus konnte man und wolle man sich dieser Position nicht anschließen: Als der Studentenführer Rudi Dutschke am 11.4. 1968 am Kurfürsten Damm 141 Opfer eines Attentates wurde, das er nur schwerstkrank überlebte, berichtete das Petrusblatt recht knapp über „Osterzwischenfälle“ (dieser Titel erinnerte mich an die Sprachregelungen des „Neuen Deutschland“ der SED). Weil einige Demonstranten auf dem Kurfürsten Damm ein Kreuz in der Hand hatten und es hoch hinaus wie eine Mahnung in die Öffentlichkeit streckten, schrieb Prälat Erich Klausener: „Junge Leute nehmen das Kreuz für sich in Anspruch. In ihrem Sendungsbewusstsein fühlen sie sich als Vollstrecker der Geschichte“. Das Kreuz, so der Prälat, gehöre in die Hände der Kirche, nicht der Aufständischen! Und der Prälat kritisierte dann die Demonstranten weiter, „weil sie einen moralischen Absolutheitsanspruch haben, der nur von wenigen erhoben wird“. Das Petrusblatt, darüber freuten sich die allermeisten Leser, war nicht nur aufseiten der damaligen Kirchenpartei, der CDU, sie stand auch den Ideologien des Springer Konzerns nahe. Als einige katholische Studenten Flugblätter über den Mai 68 in der Sankt Canisius Kirche (Charlottenburg) verteilten, wurden sie sofort rausgeworfen. Das Petrusblatt berichtete stolz, dass Erzbischof Alfred Bengsch ausdrücklich die Annahme dieses Flugblattes verweigert hätte, weil er sich ja auf die Feier des Pontifikal – Amtes in dieser Kirche vorbereiten musste…In der Katholische Studentengemeinde versuchten einige Unentwegte, Formen der Mitbestimmung der Studenten durchzusetzen, aber darüber wurde nicht objektiv berichtet. Wichtigster Kämpfer in diesen Monaten war der Politologie Student Manfred Krämer, er versuchte vergeblich die Diskussionen rund um den Mai 68 auch in das „Katholisch-theologische Seminar“ an der FU zu tragen. Der dortige Lehrstuhlinhaber Prof. Marcel Reding hatte sich zwar mit Karl Marx beschäftigt, aber eine Konkretisierung marxscher Ideen war ihm dann doch ein bisschen zu viel…. Später wurde von Manfred Krämer ein katholisch-demokratischer Arbeitskreis gegründet, eine kritische Kirchenzeitung mit dem Namen „Dialogikus“ erschien, aber von Dauer waren diese Bemühungen um kritische Gegeninformation nicht. Mit dem hoch gebildeten damaligen Studentenführer Manfred Krämer hat das Petrusblatt 1968 kein Interview veröffentlicht. Kritiker hatten in der Berliner Kirche nichts zu sagen. Erst als die römische Jesuitenzeitung Civilita Cattolica Ende Mai „die“ Jugend in ihrem Wunsch nach Veränderung sanft verteidigte, wurde diese Meldung als Meldung unkommentiert abgedruckt. „Journalismus“ war so nichts anderes als Gehorsam gegenüber Rom.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin