Exzentrisch, asketisch, spirituell: Zum 100. Todestag des Komponisten Erik Satie am 1. Juli 2025

Ein Hinweis von Christian Modehn am 28.6.2025

1.
An Erik Satie (17.5.1866 – 1.7.1925) erinnern: Den Musiker und Komponisten, den Menschen, den so viele für skurril und rätselhaft hielten und halten, der aber auch so viele begeistert mit seiner Musik …. des minimalen Klangs, der irritierenden Einfachheit, der Mißachtung üblicher musikalischer Regeln. Satie zeigt sich immer wieder als eigenständiger, Ungewohntes und Ungehörtes schaffender Komponist, er ist keiner „Schule“ verpflichtet und verzichtet auf brillante oder schillernde musikalische Effekte… darüber ist viel geschrieben worden. Wir zitieren nur den einen Satz: „Die aufscheinende Skepsis Saties gegenüber etablierten Vorstellungen vom musikalischen Kunstwerk hat spätere Künstler bis hin zu John Cage nachhaltig beeinflusst.“ Zitat siehe: LINK.

2.
Wir wollen auf den Esoteriker hinweisen, und dazu gehört auch: an den eher unbekannten Kirchengründer Eric Satie erinnern. Zunächst in enger Verbindung mit den esoterischen „Rosenkreuzern“ suchte Satie seinen eigenen Weg: Er verließt diese Gemeinschaft und gründete 1893 seine eigene Kirche und gab ihr den etwas schwierigen und durchaus mysteriös klingenden Titel: „Église Métropolitaine d’Art de Jésus Conducteur“, „Metropolenkirche der Kunst von Jesus dem Lenker“. Kirchen zu gründen war in Frankreich keine Seltenheit: Intellektuelle, Schriftsteller und Künstler wollten sich vom herrschenden dogmatischen und weithin monarchistisch gesinnten Katholizismus absetzen und gründeten eigene Kirchen-Gemeinschaften. Satie zeigt sich also nicht nur in seinen Kompositionen, auch in seiner Kirchen-Gründung und seiner Messe als mutiger, Konventionen sprengender Individualist. Siehe auch Fußnote 1.

3.
Es gehört zum exzentrischen Charakter Erik Saties, dass er das einzige Mitglied seiner Kirche blieb und wohl auch bleiben wollte; er gab zwar sein Gemeindeblatt heraus, aber er fand keine Mitglieder und wollte wahrscheinlich auch keine um sich sehen in seinem Haus, der „Kirchenzentrale“ in Arcueil bei Paris. Aktuelles Foto: LINK.

4.
In diesem spirituellen Erleben komponierte er um 1895 eine von ihm selbst so bezeichnete „Messe der Armen“, weil er sich selbst als Asket, als Künstler „am Rande“ verstand. Satie hatte offenbar für sich selbst ein Gelübde der Armut ausgesprochen, einer Armut, die er selbst in seinem Lebensstil zeigte.
Mit der ihm vertrauten mondänen Welt von Montmartre und ihren Vergnügungen hatte er offenbar gebrochen. Olivier Messiaen hat diese Messe zuerst aufgeführt. Sie enthält von den üblichen Gebeten (den „Ordinarien“) der römisch – katholischen Messe lediglich das Kyrie, hingegen aber auch Gebete, etwa speziell „für die Reisenden und die Seeleute in Todesgefahr“ und zum Schluß auch ein „Gebet für meine Seele“. Diese Satie – Messe hat den Untertitel, offenbar an Gott adressiert: „Intende Votis supplicum“, „Sei bedacht auf das Flehen des Gebetes.“

5.
Die spirituelle Prägung Eric Saties könnte uns inspirieren, seine Musik, seine Klaviermusik, etwa die „Gnossiennes“ auch als Ausdruck einer ungewöhnlichen, nicht – dogmatischen Frömmigkeit zu hören und zu verstehen. Und musikalisch ins Meditieren zu kommen.

Fußnote 1: LINK

Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon

Das Bode- Museum in Berlin als ein heilender Ort.

Wenn Museen mehr sind als „Orte der Besichtigung“
Ein Hinweis von Christian Modehn.

1.
Das religiöse Erleben in Europa verändert sich weiter: Jetzt wird in Berlin das prächtige „Bode-Museum“ als Ort der ganzheitlichen Heilung entdeckt und als solcher gestaltet. Museen, einst (nur) Orte der Bewahrung und Besichtigung alter oder neuer Kunst, im Schlendern ein bißchen neugierig begangen, entdecken nun eine durchaus neue , ungewöhnliche kulturelle und explizit therapeutische Aufgabe, eine ungewöhnliche „Mission“ könnte man sagen.
In einem Raum des Bode-Museums können es sich die BesucherInnen auf eigens bereitgestellten Kissen bequem machen, sie sollen die Bilder und Skulpturen längere Zeit betrachten, danach die Augen schließen, in ihr Selbst, die Seele, hinein hören, meditieren, Abstand nehmen vom Alltag und die heilende Kraft einer Madonna oder einer Buddha-Statue wahrnehmen… und – nach längerer Pause im Museum – beschwingter den Heile-Raum verlassen…Zum Bode-Museum: LINK

2.
Ein Saal des Bode-Museums – zunächst, vielleicht werden es noch mehr ? – ist eine Stätte seelischer Beruhigung und möglicherweise Selbstheilung: Kunst soll die mentale Gesundheit verbessern, heißt der Auftrag. Voraussetzung ist: Im Museum selbst einüben, langsamer zu leben, bedächtiger zu sehen, Kontemplation im Museum also. Die Räume des Bode-Museums sind dafür gut geeignet. Kunst soll seelisch Belastete, Kranke, trösten, sagen die Verantwortlichen, die mit kompetenten medizinischen Einrichtungen, wie der Charité in der Nachbarschaft, zusammenarbeiten. Allerdings, berichtet Hanno Rautenberg in DIE ZEIT (28.Mai 2025, S. 43), wird als Heilungsprozess im Bode-Museum vor allem die Heilung der individuellen Seele angestrebt. Dass die Begegnung mit Kunst immer auch zur Mobilisierung der Veränderung der meist miserablen Welt führen sollte, wird dabei offenbar eher als zweitrangig angesehen. Aber welche Kunst heilt? Wer wählt nach welchen Kriterien heilende Kunst für sein Museum aus? Spielt dabei dann doch Kunst aus der explizit religiösen (auch christlichen) Welt eine Rolle? Anders gefragt: Könnten wir auch politisch konnotierte Bilder von George Grosz oder Edvard Munch (“Der Schrei”) als Impuls zur seelischen Heilung wahrnehmen?

3.
Rautenberg meint auch, im Bode – Museum werde im Rahmen dieser „Kunsttherapie im Museum” ein „Glaube ohne Gott“ befördert: Offenbar ein transzendentes Schweben ohne Ziel (Göttliches, Ewiges). Was möglich, aber nicht in jedem Fall so eingeschränkt gestaltet werden muss.
Der protestantische „liberale Theologe“ Friedrich Schleiermacher in Berlin war einer Verteidiger der „Kunst-Religion“: In seinen „Reden über die Religion“ von 1799 spricht er von Kunst – Religion, wenn „der Kunstsinn für sich allein übergeht in Religion“ (166 f), etwa wenn ein Kunstwerk den Betrachter, Hörer, Leser gleichsam aus eigener ästhetischer Kraft dazu bringt, „sich über das Endliche zu erheben“ (167). Zur Kunstreligion: FUßNOTE 1.

4.
Nun also: Museen als Tempel der seelischen Heilung. Wenn daraus ein Trend wird, was nicht auszuschließen ist, wenn denn die Kuratoren der Museen diese Kompetenz weiter entwickeln: Dann wird bildende Kunst heilsam; Musik gibt es schon seit langem als Therapie in Gruppen oder auch als individuelle Therapie der Musik-Erlebenden, Hörenden: Auch Literatur ist seelisch heilsam, eine entsprechende Forschungs-Richtung hat sich längst etabliert. LINK. Und Hegel hat sogar gewagt zu sagen: (Seine) Philosophie sei Gottesdienst, so in “Vorlesungen über die “Philosophie der Religion”, Suhrkamp, Bd. 16, dort S. 28. In unserem Beitrag die Nr 19. im LINK 

5.
Die Kirchen und ihre dort stattfinden Gottesdienste können auch aufgrund der aktiven Präsenz von anderen, also der Gemeinschaftserfahrung, und der Riten und Symbole, ebenfalls heilende Orte sein. Grundsätzlich mag das gelten. Aber die oft sehr  schnell „absolvierten“, in der offiziellen Sprache: „zelebrierten“ Messen in katholischen Kirchen haben wohl nur sehr bedingt einen heilsamen, beruhigenden Charakter. Die zwanghaft immer gleiche Gestalt der Liturgie in der Messe hat etwas Lähmendes, man möchte sagen für TeilnehmerInnen Langweiliges. Es sind sozusagen Theateraufführungen, die immer derselben Struktur folgen. Die Teilnahme an diesen Messen (wie an den klassischen evangelischen Gottesdiensten, ebenfalls in starrem Ritus) nimmt bekanntlich ständig ab, ein Beweis, dass diese Veranstaltungen von sehr vielen Christen als nicht mehr heilsam erlebt werden.
In jedem Fall haben die Kirchen nun durch die „heilenden Museen“ etwas Konkurrenz bekommen. Schon komisch: Die Kirchengebäude in Deutschland, zumal die protestantischen, sind außerhalb der Gottesdienste meist verschlossen, aber sonst gratis zu betreten. Die „heilenden Museen“ haben feste Öffnungszeiten und verlangen Eintrittsgebühren: Aber dorthin gehen viele Menschen gern. Eine Mode? Gewiss nicht: Die heilenden Museen sind wohl ein weiterer Beleg für den tiefgreifenden religiösen Wandel in Europa. Und nebenbei: Die Verantwortlichen in den Museen heißen Kuratoren. Der Priester in den katholischen Gemeinden etwa heißt „Kuratus“, in Frankreich „curé“. Vielleicht wird es Zeit, dass sich der Kurator und der Kuratus, also die KuratorInnen und PfarrerInnen, auch die Curés, zusammensetzen und Gemeinsames und Trennendes austauschen. Viele Kirchenbesucher, Touristen in Scharen der Kathedralen, erleben die „Gotteshäuser“ ja längst als Museen, in denen sie sich fremd fühlen und so fragte man mich in Berlin kürzlich in einer Kirche: Wer hängt denn da am Kreuz? Etwas mehr Bildungsarbeit in ihren Kirchen als Museen während der Woche und am Sonntag täte gut. Zu “Rezeption” der nun wieder restaurierten Dorfkirchen in Brandenburg: LINK.

6.
Wer das Bode – Museum besucht sollte nicht versäumen, die Ausstellung „Der Engel der Geschichte“ anzuschauen und sich danach, davor, wie auch immer, in einen philosophischen Text Walter Benjamins genau zum Thema vertiefen. LINK

FUßNOTE 1:

Die „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ (1797 sind Gemeinschaftsprodukt von Wilhelm Heinrich Wackenroder (1773–1798) und Ludwig Tieck (1773–1853), dieses Buch “kann als die erste und wichtigste Programmschrift der Kunstreligion gelten (wenngleich der Ausdruck selbst noch fehlt). In Aufsätzen eines fiktiven Mönchs wird darin geschildert, wie verschiedene Protagonisten von Werken der Musik oder der bildenden Kunst (namentlich von den Renaissancekünstlern Dürer, Michelangelo, Raffael und Leonardo) in einen Zustand der Erhebung versetzt werden, der unverkennbar Züge religiöser Kontemplation trägt, auch wenn dabei bestimmte christliche Glaubensinhalte keine konstitutive Rolle spielen.” Quelle: LINK

Sehr viel ausführlicher hat sich der “liberale Theologe” Prof. Wilhlem Gräb (+ 2023) in seinem Buch “Vom Menschsein und der Religion”, Tübingen 2018, auf den Seiten 247-303 zum Thema “Kunst und Religion” geäußert. LINK 

Copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

 

 

 

 

 

Augustinus, ein problematischer Heiliger, ein rigider Theologe der spätantiken Welt

Hinweise von Christian Modehn am 26. Mai 2025

Siehe auch unseren Beitrag zur Theologie Augustins: “Für eine Befreiung von der Theologie Augustins” vom 10.6.2025: LINK

1.
Mehr als ein paar kritische theologische und philosophische Stichworte zum Denken Augustins (354-430) (und den nach ihm benannten Ordensgemeinschaften) werden hier nicht mitgeteilt. Sie laden ein, weiter zu studieren. Das riesige Werk von Augustinus umfasst 26.000 Buchseiten und 5,2 Millionen Worte: FUßNOTE 1.  Augustin war und ist einer der großen, der viel zu oft zitierten, viel zu oft studierten Theologen der Kirchen. Luther und Calvin schätzten ihn, Blaise Pascal und Karl Barth, um nur etwas die Wirkungsgeschichte anzudeuten. Man möchte sagen: Theologisch konservative Theologen waren mit Augustinus eng verbunden. Augustinus – klingt immer konservativ, innerlich, elitär.

2.
Dieser Hinweis wird publiziert, um vor einer neuen spirituellen Begeisterung für die Theologie und Spiritualität Augustins zu warnen. Denn es ist mehr als wahrscheinlich, dass angesichts des Papstes Leo XIV., Mitglied des Augustinerordens, (OSA, dies ist die die offizielle Abkürzung dieses Ordens) bald Sentenzen und Florilegien oder Ähnliches aus dem Gesamtwerk Augustins allüberall erscheinen. Zuletzt legte der große Philosoph und ehemalige Jesuit Ladislaus Boros ein spirituelles Augustin – Lese- Buch vor: „Aufstieg zu Gott“, Olten, 1982.

3.
Papst Leo XIV. hat in seinen ersten Ansprachen stets sehr nachdrücklich auf den heiligen Augustinus verwiesen. Er nannte sich sofort als Papst „ein Sohn des heiligen Augustinus“, was insofern mit einer leichten Ironie zu verstehen ist, denn der heilige Augustinus selbst hatte einen leiblichen Sohn mit Namen Adeodat, „der von Gott Gegebene.“ Der Name der Mutter, mit der Augustinus viele Jahre zusammenlebte, ist weder von ihm noch einem Zeitgenossen überliefert. Ein Beispiel für die Geltung von Frauen? Monika, die katholische Mutter Augustins, wurde von ihrem Sohn immer wieder erwähnt und sehr verehrt. Zu Adeodat: Fußnote 2.

4.
Es ist aber sehr beachtlich, dass der Augustinus – begeisterte Papst Leo XIV. selbst schon am 18.Mai 2025 in seiner ersten großen, wichtigen Predigt zur Amtseinführung betonte: “Es geht niemals darum, andere durch Zwang, religiöse Propaganda oder Machtmittel zu vereinnahmen, sondern immer und ausschließlich darum, so zu lieben, wie Jesus es getan hat.“ Und der Augustiner Papst Leo XIV. machte diese Aussage noch deutlicher: „Wir sind gerufen, allen Menschen die Liebe Gottes zu bringen, damit jene Einheit Wirklichkeit wird, die die Unterschiede nicht aufhebt, sondern die persönliche Geschichte jedes Einzelnen und die soziale und religiöse Kultur jedes Volkes zur Geltung bringt.“ Das sind hoffentlich programmatische, man möchte beinahe sagen: anti – augustinische Worte. LINK

Der Augustiner Papst Leo XIV. widerspricht also der höchst problematischen Weisung des Bischofs Augustinus, man solle die unwilligen Menschen auch zwingen, den Glauben anzunehmen… Augustinus bezieht sich dabei auf das Gleichnis Jesu vom großen Gastmahl (Lukas14,23). Dieses Wort Jesu ist eine Einladung fremder Gäste zu einem Festmahl, es hat aber nichts mit zwanghafter Einfügung von Ketzern in die katholische Kirche zu tun, wie Augustinus dieses Jesuswort umdeutete. Augustinus versteht es als „Aufforderung zur Gewaltanwendung und er verwendet es neben anderen Argumenten als Beleg zur Billigung von Gewaltmaßnahmen gegen Häretiker. Das von Augustinus  verwendete Zitat hatte für die Ketzerbekämpfung in Mittelalter und Neuzeit verheerende Wirkung.“ LINK:

5.
Damit ist eine nicht akzeptable Überzeugung Augustins erstmal durch päpstliches Wort hoffentlich erledigt und in die Archive verbannt. Die Frage aber bleibt, wie wird der Augustinerpapst Leo XIV. mit anderen problematischen theologischen Äußerungen seines Meisters Augustin umgehen. Augustiner sind eher Theologen der Mitte, des Ausgleichs, nicht der radikalen Veränderung: Luther war in dieser (!) Hinsicht anders…

Grundlegendes gilt für alles Augustinus – Studium: Kurt Flasch, der große Philosoph und Augustinus – Kenner und Augustinus – Forscher, hat zum richtigen Verständnis Augustins darauf hingewiesen: Erst nach der Taufe Augustus im Jahr 387 liegen uns Texte Augustins vor. Bis zum Jahr 397 war Augustin dem freien, vernünftigen philosophischen Denken (etwa Ciceros) eng verbunden. Er respektierte den menschlichen Willen, sah im menschlichen Verstand die Garantie der humanen Selbständigkeit.

Im Jahr 397 hingegen verfasst Augustin seine Schrift, die er dem Mailänder Bischof Simplician widmete: „Quaestiones ad Simplicianum“, „Fragen an Simplicianus.” Damit will er betonen: Es gibt eine Korrektur des eigenen theologischen Denkens bei ihm: hin zu einer rigiden Theologie der durch Gottes Gnade Erwählten. Kurz vor seinem Tod verfasst Augustin seine Revisionen zum eigenen Gesamt – Opus, „Retractationes“ genannt. In der Schrift von 397  entwickelt er seine zentrale Lehre von der göttlichen Gnade: Sie wird von Gott einigen Erwählten gewährt, vielen aber nicht. So wurde charakteristisch für Augustins Verständnis der Kirche: “Die grundlos freie Berufung einer kleinen Anzahl von Menschen zum ewigen Heil…“ (Kurt Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter, Reclam Verlag, 2020, S.40).

6.
Erbsünde:
Zu dem Thema ERBSÜNDE, einem entscheidenden Mittelpunkt der Theologie des Bischofs Augustinus, hat der religionsphilosophische Salon schon etliche Essays vorgelegt. Und dabei an die verheeren Folgen dieses Dogmas erinnert: LINK. Dabei haben wir uns vor allem auf die zahlreichen gründlichen Studien des unabhängig forschenden Philosophen und Philosophiehistorikers Prof. Kurt Flasch bezogen. Wir plädierten damals für die Abschaffung des Dogmas der Erbsünde: Denn die sogenannte Erlösung durch Jesus Christus lasse sich auch ohne diese leib – und sexfeindliche Erbsünden-Lehre Augustins entwickeln und verstehen. Augustinus hat seinen theologischen Gegner, Bischof Julian von Eclanum, aufs heftigste bekämpft…(Fußnote 3)
Wir wollen hier zum Thema Thema Erbsünde einige persönliche Worte Kurt Flaschs zitieren, aus einem Interview, das die Redakteurin im Deutschlandfunk, Christiane Florin im Jahr 2021, mit ihm führte: Zuerst erinnerte Kurt Flasch daran, dass nach den ausführlichen Studien der Paulusbriefe Augustins Überzeugung verstärkt wurde: Der Mensch sei verworfen, wegen der Erbsünde. Und dann sagte Flasch, nicht ohne Erregung bei diesem seinem Spezial-Forschungsthema: „Also ich kritisiere den Gott, der eine tyrannische, antihumanistische Wendung nimmt. Das ist bei Augustin so. Der späte Augustin ist antihumanistisch – wegen seiner Erbsündenlehre. Die `Augustinisten“ (die Pro – Augustin argumentierenden Forscher, CM) waren sauböse gegen mich. Das kann man schon sagen – und mit den merkwürdigsten Mitteln. Allein schon deswegen, weil ich Augustin als einen sich entwickelnden Mann dargestellt habe, als einen, der verwirft und selbst als Irrtum bezeichnet, was er bis 397, also schon im reifen Alter, gelehrt hatte. Nicht nur seine heidnische Zeit, sondern gerade seine frühchristliche Zeit hat er verurteilt. Und er hatte dann diesen Willkürgott, wie ich sage, also diesen Welttyrannen. Ja, die Augustinisten waren böse auf mich“. LINK

7.
Weltgestaltung
„Ein konkretes Programm christlicher Weltumgestaltung gar im Sinne einer Anleitung zur Ergreifung der politischen macht durch die Kirche, gar auch den Bischof von Rom, lag Augustins Denken fern“ (Flasch, Das philosophische Denken… S. 52). Augustins Buch „Der Gottesstaat“ enthielt keine Geschichtsphilosophie und keine politische Ethik. Aber das Buch verstärkte die Tendenz, den Sinn des Lebens im Jenseits zu suchen und alle irdischen Instanzen diesem jenseitigen Sinn unterzuordnen. Die irdischen Vertreter des jenseitigen Lebenssinns, also der Klerus, profitierte von dieser Instrumentalisieren des gesamten irdischen Lebens. (Ebd. . 55).

8.
Auch das Thema „Augustinus und die Frauen“ zeigt einen problematischen und heute nicht mehr vermittelbaren Augustinus. Eine Konferenz des Augustinus – Instututes des Ordens in Würzburg hatte im Jahr 2004 über „Augustins Wertschätzung der Frau“ veranstaltet. Die evangelische Theologin Larissa Carina Seelbach fasste ihre Ausführungen zusammen: „Obwohl Augustin die Unterordnung der Frau im Rahmen der etablierten Rollenverteilung nicht aufgeben wollte und an keiner Stelle eine radikale Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse forderte, erkannte er jedoch immerhin die geistige Ebenbürtigkeit der Frau. Denn für die Gottebenbildlichkeit des Menschen als «homo» trägt die reale körperliche Erscheinungsform von Mann und Frau und das soziale Gefälle zwischen beiden ja nichts aus. Die Gottebenbildlichkeit findet sich nicht im Körper, sondern im Geist von männlichen und weiblichen Menschen gleichermaßen. Folgendes lässt sich festhalten: Augustin vereinte in seiner Theologie seine persönliche Wertschätzung gegenüber Frauen mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen seiner Zeit samt deren Forderung nach weiblicher Unterordnung. Wegweisend ist, dass der einflussreichste Denker der Alten Kirche die Frau in ihrem Verhältnis zu Gott gleichgestellt sah. Gemessen am heutigen Verständnis von Gleichberechtigung wirken Augustins Bemühungen allerdings kaum bahnbrechend. Es bleibt jedoch kurzsichtig, das Frauenbild des Kirchenvaters auf ein Motto wie „Die Last mit der Lust“ bzw. „Ein Leben zwischen Lust und Liebe“ zu reduzieren. Aus seiner Zeit heraus hat Augustin ganz Entscheidendes für ein neues Verständnis der Gleichwertigkeit von Mann und Frau geleistet, denn er bestand auf der damals durchaus bahnbrechenden Feststellung: „Das weibliche Geschlecht ist ja kein Gebrechen, sondern Natur.
Eine wohlwollende Interpretation … im Augustinus – Institut des deutschen Augustiner…   LINK :

9.
Der Orden:
Hinsichtlich der Beschreibung der spezifischen Spiritualität des Augustinerordens bleiben die Erklärungen aus dem Orden selbst und auch von dem Augustinus- Fan Papst Leo XIV., der selbst etliche Jahre als oberster Prior den Orden leitete, eher sehr vage: Immer wieder wird auf das gemeinsame Leben der Ordensbrüder verwiesen, auf den Respekt der verschiedenen Begabungen, die Suche nach Einheit bei aller Verschiedenheit der Charaktere usw. Dabei wird auch daran erinnert, dass Augustinus nicht der Gründer des Ordens ist, der Orden wurde erst Mitte des 13. Jahrhunderts von Päpsten (!) gegründet und nach dem Vorbild der Franziskaner und Dominikaner als Bettelorden organisiert.

10.
Der Augustinerorden und der Augustiner Martin Luther
Der Reformator Martin Luther war Mitglied des Augustiner Ordens, damals noch offiziell „Augustiner Eremiten“ genannt. Die Zustände in den meisten Klöstern im 16. Jahrhundert, nicht nur bei den Augustinern, waren bekanntlich alles andere als vorbildlich, kein Wunder, dass viele Mönche die von Luther eröffnete Freiheit nutzten und das Kloster verließen und – wie Luther selbst – heirateten. Dadurch kam es zur Schließung vieler Klöster. Man kann sich als Beobachter nicht des Eindrucks erwehren, dass die Augustiner – etwa in Deutschland – darunter litten und leiden, dass ausgerechnet aus ihrem Orden in katholischer Sicht die Kirchenspaltung geschah. Deswegen sind sie angesichts der Hierarchie theologisch nicht die Mutigsten, Fortschrittlichsten. Luther als Erneuerer der Christenheit zu sehen unf so zu verkünden, liegt ihnen fern. Und der Orden OSA erklärt selten, warum es zwei Augustiner – Reform-Orden aus dem 16. Jahrhundert (bis heute) gibt: Die “Augustiner – Rekollekten” (OAR) und die “Augustiner- Barfüßer” (OAD). Weil der Orden OSA selbst in Spanien höchst reformbedürftig war.
Der Generalobere des Augustinerordens (OSA) in Rom, Pater Alejandro Moral, nahm 2017, im Luther – Gedenkjahr, Stellung:Der Augustinerorden bewertet die Reformation durch sein früheres Mitglied Martin Luther kritisch. Der Wittenberger Theologe habe sich nicht nur persönlich von den Augustinern abgewandt, sondern das Ordensleben an sich “mit aller Kraft verdammt” und eine Massenflucht aus den Klöstern mitbefördert. “Der Schaden für den Orden und das religiöse Leben in Deutschland war enorm”, schreibt der Generalprior des Augustinerordens, Alejandro Moral Anton, in einem Beitrag der Vatikanzeitung “Osservatore Romano.“
Der Augustiner – Orden habe “keinen Grund, den Beginn der Reformation vor 500 Jahren zu feiern, aber sicher, an ihn zu erinnern”, so Pater Moral. Der Ordensobere verwies auf “positive Aspekte”, die daraus entstanden seien – wie die Aufwertung des Individuums, die zentrale Stellung der Bibel und eine volksnahe Liturgie, aber auch die Entwicklung des Gemeinsinns und eine “gesunde Laizität”. Auch ein zentraler Punkt in Luthers Denken, die Gnade in der Rechtfertigungslehre, liege “in der augustinischen Linie“. Luther habe zweifellos eine “religiöse Krise” ausgelöst. Diese habe den Grund “zwar nicht für einen Laizismus, aber für den Prozess der Säkularisierung und der Geburt eines neuen Europa” gelegt. Der Ordensobere betonte zugleich, Luther habe bis 1521 mit “Martin Luther, Augustiner” unterzeichnet, bis 1524 sein Ordensgewand getragen und bis ans Lebensende Gewohnheiten seines Klosterlebens beibehalten. (veröffentlicht am 26.10.2017  katholisch.de).

Dass sich Augustiner innerhalb der Ökumene für eine versöhnte Verschiedenheit der verschiedenen Kirchen einsetzen ist also – bis jetzt – nicht bekannt. Sie studieren lieber höchst ausführlich das uralte Opus ihres Meisters Augustinus auch in einem eigenen Institut in Rom. Muss man ja machen: Aber ist der “Blick in die Vergangenheit” am dringendsten?

11.
In Deutschland gehören noch 32 Priester dem Augustinerorden an, in Österreich sind es drei, in Holland vielleicht noch fünf, das Durchschnittsalter wird offiziell nicht genannt. Die belgische Augustinerprovionz konnte ihr Überleben retten durch die Einreise von jungen Augustinern aus Togo und Benin, sie sind heute in Belgien bestimmend. Zentrum des Ordens in Deutschland ist Würzburg: Dort haben sie vor einigen Jahren ihre große Kirche ganz neu gestaltet, und das verdient Anerkennung. LINK
Auch wenn im Augenblick kein deutscher Augustiner als „bekannter Theologe“ oder als „Augustinus-Forscher“ hervortritt: Sehr sympathisch und für katholische Verhältnisse durchaus mutig ist, dass zwei Würzburger Augustiner sich explizit der katholischen Bewegung „Outinchurch“ für einen gerechten Umgang mit homosexuellen Priestern, Ordensfrauen, Pastoralreferenten usw. angeschlossen haben.
Der bekannteste aus Deutschland stammende Theologe des Augustinerordens war übrigens der Berliner Gregory Baum (1923-2017), der als Jude in Kanada konvertierte und dort dem Orden beitrat, später aber wieder austrat, und in einer letzten Publikationen in Montréal sich – endlich wie einige dort sagen – als queer outetete. Gregory Baum war auf dem 2. Vatikanischen Konzil tätig in der Kommission „Dialog mit Juden“. LINK

12.

Man mag es  augustinische “Ausgewogenheit” und “Liebe zur Mitte” und “Wohlwollen gegen alle” nennen, wenn jetzt bekannt wird: Papst Leo XIV. schickt den bekanntermaßen extrem reaktionären Kardinal Sarah, den expliziten Papst – Franziskus FEIND,  zu volkstümlichen folkloristischen Feierlichkeiten zu Ehren der heiligen Anna in die Bretagne. Wenn das so weitergeht… LINK zu Sarah in der Bretagne:  LINK zum reaktionärsten aller Reaktionären Kardinal Sarah.

Fußnote 1:
Das hat der Historiker Prof. Otto Wermelinger, Fribourg, 1982, mitgeteilt, vielleicht ist der Umfang der Augustinustexte jetzt noch größer geworden. Quelle: Orientierung, Jesuitenzeitschrift, Zürich, 1982, Seite 249).

Fußnote 2:
„Sohn des heiligen Augustinus“. Ein gewagtes Wort für Leute, die wissen, dass Augustinus vor seiner Bekehrung zum katholischen Glauben, in einer heterosexuellen, 13 Jahre dauernden Beziehung lebte, sein wirklicher. Sein leiblicher Sohn hieß „Adeodat“, d.h.: der von Gott – Gegebene.
Adeodat starb 390 im Alter von 18 Jahren. Er wurde wie sein Vater Augustinus 387 in Mailand getauft. Seine „Lebensgefährtin“ wurde von der damals schon katholischen Mutter Augustins, Monnika, nach Afrika zurückgeschickt, sie wollte ihren Sohn – mütterlich besorgt – lieber mit einer katholischen Frau verheiraten. Aber das gelang nicht. Sexualität war dann Augustins Sache nicht mehr. Er wurde Priester und dann Bischof von Hippo in Nordafrika, im heutigen Algerien Anaba. .
Im Augustiner – Orden wurden Adeodat und seine Mutter eher verdrängt: „Das Schweigen über Adeodat und seine Mutter, eine Konkubine, rührte möglicherweise daher, dass sie auf erschreckende Weise an die relativ ungezügelte Lust Augustins in seinen frühen Jahren erinnerten – etwas, das auch von christlichen Schriftstellern über Jahrhunderte hinweg übergangen wurde. Zu diesen Autoren gehörten Mitglieder des Ordens des Heiligen Augustinus, die Augustinus als Vorbild für das Leben in einer religiösen Gemeinschaft darstellen wollten und nicht als jemanden, der fehlbar sei.“ Quelle: LINK         Nebenbei: Immerhin nannten sich im 7. Jahrhundert zwei Päpste Adeodat.

Fußnote 3: Zum Kampf Augustins gegen seinen theologischen Gegner Bischof Julian von Eclanum: Siehe die wichtuge Studie :”Kampfplätze der Philosophie. Große Kontroversen von Augustin bis Voltaire”, von Kurt Flasch, dort die Kapitel I und II, Verlag Vittorio Klostermann, 2008, S. 11- 42.

Die in unserer Sicht beste kurze Einführung zu Augustin: Kurt Flasch, „Einführung in sein Denken“. Reclam Verlag, 1994, 480 Seiten, leider nur noch antiquarisch zu haben.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Der Gott des Marktes hat gesiegt. Von Pepe Mujica, Uruguay.

Pepe Mujica, ehem. Staatspräsident Uruguays, über die Krise der Menschheit im Kapitalismus. Dieser grundlegende Beitrag wurde im November 2013 im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon von Christian Modehn publiziert.

Vorwort: José Mujica war Staatspräsident Uruguays von 2010-2015. Er wurde zurecht immer wieder der ärmste Staatspräsident der Welt genannt, da er 90 % seines Einkommens sozialen Projekten spendet. Pepe Mujica wurde 1935 in Montevideo geboren, am 13. Mai 2025 ist er dort gestorben. Siehe den wichtigen Beitrag der TAZ anläßlich des Todes von Pepe. LINK:

Pepe Mujica hielt auf der 68. Vollversammlung der Vereinten Nationen im September 2013 diese nach wie vor bemerkenswerte Rede.
“Wir haben unsere alten, spirituellen Götter geopfert und den Tempel dem Gott des Marktes überlassen. Nun organisiert dieser Gott uns Wirtschaft und Politik, Leben und Alltagsgewohnheiten. In Raten und per Kreditkarte finanziert er uns den Anschein von Glückseligkeit. Konsum scheint der Sinn des Lebens zu sein, und können wir nicht konsumieren, sind wir frustriert, fühlen uns arm und ausgeschlossen. Wir verbrauchen und hinterlassen Abfall in solchen Mengen, dass die Wissenschaft meint, wir bräuchten drei Planeten, wenn die gesamte Menschheit leben wollte wie ein Mittelschichts-US Amerikaner.

Unsere Zivilisation basiert also auf einer verlogenen Versprechung. Der Markt stilisiert unseren heutigen Lebensstil zur allgemein gültigen Kultur, obwohl es niemals für ALLE möglich sein wird, diesen angeblichen „Sinn des Lebens“ zu finden. Wir versprechen ein Leben der Verschwendung und Freigiebigkeit und stellen es zukünftigen Generationen und der Natur in Rechnung. Unsere Zivilisation richtet sich gegen alles Natürliche, Einfache und Schnörkellose. Aber das Schlimmste ist, dass uns die Freiheit beschnitten wird, Zeit zu haben für zwischenmenschliche Beziehungen, für Liebe, Freundschaft und Familie; Zeit für Abenteuer und Solidarität, Zeit, um die Natur zu erforschen und zu genießen, ohne dafür Eintritt zu zahlen. Wir vernichten die lebendigen Wälder und pflanzen anonyme Wälder aus Zement; Abenteuerlust begegnen wir mit gepflegten Wanderwegen, Schlaflosigkeit mit Tabletten, Einsamkeit mit Elektronik …

Können wir überhaupt glücklich sein, wenn wir uns dem zutiefst Menschlichen entfremdet haben? Wie benommen fliehen wir vor unserer eigenen Natur, die das Leben selbst als letzten Grund für das Leben definiert und ersetzen sie durch, nur dem Markt dienliche, Konsumorientierung. Und die Politik, ewige Mutter des menschlichen Schicksals, hat sich längst der Wirtschaft und dem Markt unterworfen.
Nach und nach ist Selbsterhalt zum Ziel von Politik geworden, weshalb sie auch die Macht abgab und sich einzig und allein mit dem Kampf um Regierungsmehrheiten beschäftigt. Kopflos marschiert die Menschheit durch die Geschichte, alles und jedes kaufend und verkaufend, Mittel und Wege findend, selbst das Unverkäufliche zu vermarkten. Es werden Marketingstrategien für Friedhöfe und Beerdigungsunternehmen, ja selbst für das Erlebnis Schwangerschaft erdacht. Vermarktet wird von Vätern über Müttern, Großeltern, Tanten und Onkeln bis hin zur Sekretärin, Autos und Ferien, alles.

Alles, alles ist Geschäft. Marketingkampagnen fallen sogar über unsere Kinder und ihre Seelen her, um über sie Einfluss auf die Erwachsenen nehmen zu können und sich ein zukünftiges Terrain abzustecken.
Der Mensch unserer Tage taumelt zwischen Finanzierungsverhandlungen und routinierter Langeweile wohl klimatisierter Großraumbüros hin und her. Ständig und immer träumt er von Urlaub, Freiheit und Vertragsabschlüssen, bis eines Tages sein Herz zu schlagen aufhört und „Tschüss!“… Sofort wird es einen anderen Soldaten geben, der das Maul des Marktes füllt und die Gewinnmaximierung sicherstellt.
Die Ursache für die heutige Krise liegt in der Unfähigkeit der Politik begründet. Die Politik hat nicht begriffen, dass die Menschheit das Nationalgefühl noch nicht überwunden hat und sich nur schwer davon lösen kann, denn es ist tief verankert in unseren Genen.

Dennoch ist es heute notwendiger denn je, den Nationalismus zu bekämpfen, um eine Welt ohne Grenzen zu schaffen.
Die größte Herausforderung heute ist, das Ganze im Blick zu haben. Doch die globalisierte Wirtschaft wird nur von Privatinteressen einiger weniger gesteuert, und jeder Nationalstaat hat nur seine eigene Stabilität im Blick. Als wäre das nicht schon genug, werden die produktiven Kräfte des Kapitalismus auch noch gefangen in den Tresoren der Banken, die letztendlich der Auswuchs der Weltmacht sind.
Veränderungen sind dringend notwendig, setzen aber voraus, dass das Leben und nicht die Gewinnmaximierung kursbestimmend wird. Ich bin allerdings nicht so naiv zu glauben, dass Veränderungen leicht zu erreichen wären. Uns stehen noch viele unnötige Opfer bevor. Die Welt von heute ist nicht in der Lage, die Globalisierung zu regulieren, weil die Politik zu schwach ist.

Eine Zeitlang werden wir uns an den mehr oder weniger regionalen Abkommen, die einen Freihandel vorgaukeln, beteiligen. Dann wird sich zeigen, dass sie in Wahrheit von notorischen Protektionisten erdacht wurden. Wir lassen uns trösten von wachsenden Industrie- und Dienstleistungszweigen, die sich der Rettung der Umwelt widmen. Gleichzeitig wird die skrupellose Gewinnsucht zum Wohlwollen des Finanzsystems weiter existieren. Weiterhin werden Kriege stattfinden, die Fanatismus schüren, bis endlich die Natur unserer Zivilisation Grenzen setzt. Vielleicht sind meine Vision und mein Menschenbild grausam, aber für mich ist der Mensch die einzige Kreatur, die in der Lage ist, gegen die Interessen der eigenen Spezies zu agieren.

Die ökologische Krise des Planeten ist die Konsequenz des überwältigenden Triumphs menschlichen Strebens. Die ökologische Krise wird dem menschlichen Streben aber auch ein Ende setzen, wenn die Politik unfähig ist, einen Epochenwechsel einzuläuten.“

Übersetzung: Anne Nibbenhagen (Christliche Initiative Romero)
Quelle: Magazin presente 4/2013 „Kaufst du noch oder denkst du schon? Konsumethik im Wandel“ der Christlichen Initiative Romero (CIR)

Über Pepe Mujicas Beziehung zum Glauben, zu Papst Franziskus: LINK:
….
Der Beitrag „ Pepe Mujica und der christliche Glaube“ (von Moriam Diez)  vom 18.Mai 2025: LINK.

Barcelona. Domingo, 18 de mayo de 2025. 05:30

“Dios no existe, pero ojalá me equivoque”. José (Pepe) Mujica, el ateo más conocido de Uruguay, ha muerto a los 88 años, solo pocas semanas después del papa Francisco, a quien admiraba a pesar de no comulgar con su manera de entender la vida.
En Uruguay, el país con menos personas creyentes de toda América, el expresidente era un referente moral que encarna los valores más radicales de la propuesta cristiana: la mayor parte del dinero que cobraba lo daba a caridad (el 90%), era el icono de la austeridad y vivía con total desprendimiento.
Uruguay es secularizado. En su país no existe Semana Santa (se llama la Semana del Turismo) ni Navidad (tiene el nombre de Día de la Familia). Para Mujica, creer no era una opción, se decía no creyente, pero si le preguntabas te decía que le gustaría tener fe, pero que no podía. Además, su visión de las religiones no era benévola y las tildaba de “arrogantes”.
El expresidente era un referente moral que encarna los valores más radicales de la propuesta cristiana: la mayor parte del dinero que cobraba lo daba a caridad, era el icono de la austeridad y vivía con total desprendimiento
Sin embargo, mantenía palabras positivas para el cristianismo de los orígenes, pero “el auténtico”, el de las pequeñas comunidades que partían el pan y la vida, pero no su posterior evolución, que detestaba. La persona de Jesús para Mujica era un “militante político que llevó el sentido de la igualdad y el amor a la vida”.
Mujica era una brújula de valores: “Pagamos con el tiempo de nuestras vidas: en realidad no compras con dinero, compras con el tiempo de tu vida”. Nadie como él ha encarnado el pasaje de Antonio Machado de ir “ligero de equipaje” cuando se acabe el paso por esta vida.
Su agnosticismo no le impidió visitar el Vaticano. Lo hizo en dos ocasiones y siempre con el papa Francisco, con quien mantenía una fuerte conexión. La primera fue en 2013, cuando era presidente y el pontífice acababa de ser escogido papa. Y la segunda audiencia tuvo lugar hace 10 años. Últimamente, habían quedado (el papa Francisco y su mujer Lucia, que era quien hablaba por teléfono) en que buscarían un momento porque Mujica y el papa Bergoglio tenían “un mensaje” para los jóvenes. La reunión no se celebró, pero una persona joven lo tiene fácil estudiando el perfil de estos dos latinoamericanos para adivinar hacia donde iba su discurso, alejado de falacias materialistas y centrado en aquello que verdaderamente importa.

Kultur darf sich niemals abschotten. Dialog und Austausch müssen gelten.

“Kultur. Eine neue Geschichte der Welt”: Ein provozierendes Buch von Martin Puchner.

Ein Hinweis von Christian Modehn, veröffentlicht am 5.5.2025.

1.
Martin Puchner, Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft in Cambridge, USA, hat dort 2023 sein Buch „Culture“ vorgelegt: In den 15 Kapiteln seines Buch (auf Deutsch „Kultur. Eine neue Geschichte der Welt“) zeigt Puchner, dass die Kultur bzw. die Kulturen etwas Aufregendes, Anregendes, ganz neu zu Entdeckendes sind – zumal angesichts der nationalistischen Starre und Enge sowie der fundamentalistischen Fixierung heutiger konservativ – populistischer Regierungen und „Bewegungen“…
Marin Puchner stellt sein Thema gut dokumentiert und leicht zugänglich vor, voller überraschender Einsichten, man möchte sagen: durchaus „spannend“ beim Lesen.

2.
Der Autor befreit in den 15 Kapiteln – den in sich abgeschlossenen Essays – von der Vorstellung, eine Nation „besitze“ ihre Kultur. Oder: Kultur sei etwas Fertiges und Abgekapseltes. Genauso falsch ist: Als Kultur könne nur die von etablierten Kulturmanagern geförderte und staatlich unterstützte „hohe Literatur“ oder die „klassische Oper“ und das „große Schauspielhaus“ usw. gelten.
Jede konkrete Kultur – etwa eines Landes, eines Sprachraums etc. – ist Resultat von Begegnungen mit anderen Menschen und deren Kultur. Die eigene Kultur ist ein mühsam erworbenes, immer weiter zu entwickelndes Resultat von Lernbereitschaft und Innovation: Nur sie ermöglichen die Zusammenfügung unterschiedlicher Kulturen zu einer dann eben neuen oder erneuerten Kultur. Und die wird dann ihrerseits selbstverständlich wieder von anderen rezipiert und auch umgeformt.

3.
Martin Puchner schreibt: „Kulturen gedeihen auf dem Boden der freien Verfügbarkeit von vielfältigen Formen des Ausdrucks und der Sinnstiftung, von Möglichkeiten und Experimenten. Und in dem Maß, in dem Kontakte mit Fremden diese Optionen erweitern, fördern sie die Produktion und Entfaltung von Kultur“. Dagegen neigen die auf Exklusivität und Reinheit (der eigenen Kultur) bedachten national begrenzten Leute mir ihrer „volksbezogenen“ Kultur dazu, kulturelle Alternativen auszuschließen, Möglichkeiten des Austauschs zu begrenzen und darüber zu wachen, dass derlei Experimente nicht zu weit getrieben werden. (siehe S. 379).

4.
Diese ängstliche offizielle Kulturpolitik ist heute weithin an der Macht, sie entspricht der konservativen und populistischen Wende in den sich Demokratie nennenden Staaten. Dieses enge Verständnis von Kultur als eigene „Kulturpolitik der Abwehr“ muss in Beziehung gesetzt werden zur aktuellen Politik der „Schließung der Grenzen Europas und der USA“ für Fremde, Ausländer, für Flüchtende zumal. Diese Schließung der Grenzen wird von Martin Puchner zwar nicht aktuell angesprochen, aber seine Position ist deutlich: Auf diese Weise “verarmen geistig“, so Puchner, die konservativen und populistischen Menschen und ihre Kulturpolitiker. An die „geistige Verarmung“ sollten sich der neue deutsche Innenminister Dobrindt und sein Meister Merz stets erinnern, die AFD wird dazu sicher nicht in der Lage sein: Die neuen Grenzkontrollen lassen uns in Europa, in Deutschland, auch geistig und kulturell weiter verarmen, sie sind bereits Ausdruck geistiger Armut. Denn die strengen Grenzkontrollen und Zurückweisungen und Rückweisungen und Abschiebungen sind auch kein Ausweg, keine wirksame Hilfe angesichts der umfassenden, auch materiellen Armut und das Elend in den vom Kapitalismus arm gemachten Ländern des globalen Südens.

5.
Hier können die 15 Essays des Buches nicht im einzelnen vorgestellt werden. Gemeinsam ist allen: Sie beschreiben die Lebendigkeit von Kultur, wenn sie aus Begegnungen mit anderen Kulturen, oft nicht ohne Konflikte, entstehen. Von Nofretete über Platon und König Ashoka und dann weiter zu der christlichen Mystikerin Hildegard von Bingen und den Pariser Salons vor der Französischen Revolution handeln etwa die Studien des Buches. Sie zeigen an ausgewählten Beispielen, dass die Geschichte der Kulturen der Welt nur als Austausch, Begegnung und Konflikt zu verstehen ist.

6.
Ein Beispiel: Zurecht erinnert Martin Puchner daran: Die Revolution der Sklaven auf Haiti (damals französisch Saint Domingue genannt) und ihre erkämpfte Unabhängigkeit im Jahr 1804 wurde „als ein bedeutendes Ereignis in der Weltgeschichte lange Zeit ignoriert“ (S. 293). Ein bißchen Nachhilfe zu diesem Thema bietet das Kapitel des Buches: Deutlich wird: Die Sklaven dieser französischen Kolonie ließen sich von den politischen und philosophischen Ideen der Aufklärung und der Französischen Revolution inspirieren, sie verachteten also nicht pauschal jene „europäischen Ideen“, bloß weil sie aus der „weißen Welt“ der „weißen Herrscher“ stammten. Damit ist deutlich: Der Ort des Ursprungs für allgemein gültige Prinzipien hat mit ihrer universellen Geltung nichts zu tun! Die Sklaven Toussaint Louverture und Dessalines, um nur zwei der Befreier Haitis zu nennen, haben die Ideen der Aufklärung „für ihre Zwecke nützen können“. Freilich wurde der Weg in die Freiheit und Unabhängigkeit Haitis sofort von den Kolonialmächten mit allen Mitten bekämpft. Afroamerikanische Schriftsteller und antirassistische Schriftsteller äußerten sich im 19. Jahrhundert in „lobenden Tönen“ über den Befreier Toussaint Louverture (ebd.). Auch Hegel sprach schon lobend über die Befreiungstat der schwarzen Sklaven, wie die Philosophin Susan Buck – Morse in ihrer Studie „Hegel und Haiti“ (Suhrkamp, 2011) gezeigt hat. Im ganzen hatte die haitianische Revolution viele Feinde unter den Kolonialmächten. Aber auch die innenpolitischen Repressionen nach der haitianischen Revolutionen müssen beachtet werden. Ein glückliches, d.h. für alle Haitianer menschenwürdiges Leben hat die Revolution leider nicht erzeugt, davon spricht Martin Puchner nicht. Die Befreiung Haitis und die Gründung der Republik schon im Jahr 1804 (!) ist jedenfalls nicht nur an internen Streitereien eher gescheitert, Schuld war vor allem die nach wie vor kolonialistische und rassistsiche Haltung Europas und der USA gegenüber Haiti bis heute, gegenüber den „Schwarzen“…

7.
Ein zweites Beispiel: Einzelne Kulturen schaffen sich ihre Identität durch Mythen oder Erzählungen, in denen die Übernahme kultureller Güter und Werte der „anderen“ beschrieben wird. Der Autor spricht von einer „Aufpfropfung fremder Kulturen auf die eigene Kultur bzw. auch von Kulturtransfer (S. 175). Und er berichtet ausführlich über diesen lange dauernden Prozess der „Aufpfropfung“ am Beispiel der Orthodoxen Kirche Äthiopiens, sie ist seit dem 4.Jahrhundert in dem Land schon lebendig. Gerade für jene, die an der Geschichte des vielfältigen Christentums interessiert sind, ist der Essay bedeutsam , er hat denTitel „Die Königin von Äthiopien heißt die Diebe der Bundeslade willkommen“ (S. 171 ff.). Es geht um die Mythen und Erzählungen: Die Königin von Saba sei in den Besitz der „heiligen“ „Bundeslade mit den Tafeln der 10 Gebote des Moses“ (gelagert im Tempel zu Jerusalem) gekommen. Der grundlegende äthiopische Text dazu ist die Erzählung „Kebra Nagast“, die bis heute eine große Rolle in Äthiopien spielt. Der Besitz dieser „Bundeslade“ ist förmlich der Mittelpunkt äthiopischer Kultur und der äthiopisch orthodoxen Kirche. „Die Schrift „Kebra Nagast“ räumt ein, dass die eigene äthiopische Kultur von einer anderen Kultur (dem Judentum) abstammt, sie verkündet dann aber die eigene Überlegenheit“ (S. 179).
In Jamaika suchten die Bewohner (ehemalige afrikanische Sklaven) eine Quelle ihrer Identität: Einer der führenden Köpfe in dieser Suche nach Identität war derGewerkschafter und Publizist Marcus Garvey. „Er machte Äthiopien mit seiner uralten Geschichte und Schrifttradition zu einem wichtigen Bezugspunkt für Jamaikaner.“ (S. 188). Die Jamaikanische Rastafari – Bewegung hat sich auf äthiopische Traditionen bezogen. „DieRastafari-Bewegung müsste als ein glänzendes Beispiel für einen Transfer mit einer Verschmelzung verschiedener Kulturen gelten. Die Nachfahren von Sklaven aus Afrika mussten sich eine Vergangenheit erschaffen, die ihnen eine andere Zukunft als die von den europäischen Kolonialherren angebotene verhieß.“(S. 189).
Der Autor fordert, die Erzählung „Kebra Nagast“ als einen wichtigen Text im Kanon der Welt-Literatur anzuerkennen.“ (S. 190).

8.
Für philosophisch Interessierte der Hinweis auf ein mir besonders wichtiges und aktuelles Kapitel des Buches: „Als Bagdad zu einem Speicher der Weisheit wurde“ (S. 149 ff.) Tatsächlich interessierten sich muslimische Herrscher und Gelehrte in Bagdad im 9. Jahrhundert und noch etliche Jahre länger für die Philosophie der „heidnischen Griechen“, vor allem für Aristoteles. Es wurde in Bagdad eine große Bibliothek errichtet, ein so genannter „Speicher der Weisheit“, der umfangreiche Raum zur Pflege und Bewahrung astronomischer, mathematischer, medizinischer und eben auch philosophischer Texte. Es handelte sich vor allem um Übersetzungen aus dem Griechischen ins Arabische. Die – auch christlichen – Übersetzer und die muslimischen Herrscher „waren zu dem Schluss gelangt, dass sich die in der Vergangenheit (Griechenlands) gewonnenen Erkenntnisse für die eigene Gegenwart nutzen ließen.“ (S. 155). Damals galt stark die Weisung des Korans, dass das Streben nach Wissen und Philosophie eine religiöse Pflicht für jeden Muslim ist. (S. 157). „Aus fremden Kulturen zu schöpfen, das wussten diese Übersetzungsprojekte, kann eine reichhaltige Quelle der Stärkung sein.“ (S. 159). Und dann die entscheidende Erkenntnis. „Die Araber waren die eigentlichen Erben der griechischen Antike.“ (ebd.). Der Philosoph Ibn Sina (980-1037), im Westen Avicenna genannt, spielte dabei eine entscheidende Rolle. Was war Bagdad damals nur für eine kulturell bedeutende durchaus tolerante Stadt!
Später wurden alle technische Errungenschaften Europas – bis zu den modernsten Waffen – in der muslimischen Welt übernommen: Aber es waren nur die Technik und die Naturwissenschaft, nicht aber die allgemein und universal geltende Philosophie der Menschenrechte. Die schönsten Autos in diesen sich religiös nennenden Staaten der arabischen Welt durften Frauen nicht selbständig fahren… Es ist die fundamentalistisch verstandene muslimische Religion, die den umfassenden Kulturaustausch bis heute behindert und stört und manchmal zerstört.

9.
Martin Puchner zeigt, wie Kulturen eines bestimmten Landes, einer Region, paradoxerweise möchte man sagen, überleben konnten: „In China blieben buddhistische Schriften und Statuen erhalten, obwohl sie zu den vorherrschenden konfuzianischen und taoistischen Sitten und Gebräuchen im Gegensatz standen. So wie griechische Philosophen in Bagdad posthum weiterlebten, obwohl sie keine Gefolgsleute des Propheten Mohammed gewesen waren“.“ (S. 378 – 379). Kulturgüter blieben also erhalten, obwohl sie den „Besitzern“ dieser kulturellen Zeugnisse nicht nur als befremdlich , sondern auch als Bedrohung erschienen. Diese „Besitzer“ ihnen befremdlich erscheinender Kultur waren eben keine „Puristen und Puritaner“, wie Puchner schreibt (S. 379). Nur Fundamentalisten praktizieren die  Zerstörung der ihnen fremd und feindlich erscheinenden Kulturen ihrer eigenen Länder. Man denke an die Kulturzerstörungen des Islamischen Staates oder an die Fundamentalisten der Kulturrevolution Maos, oder auch an den Kampf der Nazis gegen die ihnen „entartetet“ erscheinende wertvolle Kunst wie auch an die Bücherverbrennungen der Nazis. Dem gegenüber wirkt der „Index der Verbotenen Bücher“ der Päpste noch eher bescheiden. Der Index (das Lektüreverbot von etwa 6000 Büchern für Katholiken) wurde von Papst Paul VI. tatsächlich erst am 15. November 1966 (!) abgeschafft.

10.
Das Buch “Kultur“ von Martin Puchner zeigt in den 15 ausgewählten Kapiteln tatsächlich eine „neue Geschichte der Welt“, wie der Untertitel heißt. Die Erkenntnis wird gefördert, dass Dialog und Lernbereitschaft unter den verschiedenen Kulturen immer schon stattgefunden haben und hoffentlich heute weiter stattfinden – früher nicht ohne Konflikte und Erfahrungen von Leid und Einschränkungen, heute sicher auch nicht. Aber Dialog und Lernen der verschiedenen Kulturen voneinander ist anders nicht möglich.
Nur diese Lernbereitschaft als Offenheit im Respekt der gleichen Würde aller Kulturen weist den Weg in eine humanere Zukunft. Abschotten und sich mit rigiden Gesetzen abgrenzen sind der falsche, der inhumane Weg einer populistisch, das heißt immer auch egoistisch werdenden Welt des reichen kapitalistischen Nordens. Die Menschen – Welt muss die gemeinsame Welt der gleichberechtigten Menschen (und der zu bewahrenden Natur) in der Vielfalt werden.

Martin Puchner, „Kultur. Eine neue Geschichte der Welt“. Klett-Cotta Verlag Stuttgart, 2025, 428 Seiten, 35€. Aus dem Amerikanischen Übersetzt von Enrico Heinemann.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer-Salon.de. in Berlin.

Die richtige Erkenntnis … und nichts wird besser?

Über das schwierige Verhältnis von Philosophie und Praxis
Ein Hinweis von Christian Modehn am 25.4.2025

1.
Wie kommen wir von unserer Erkenntnis, etwa einer Evidenz, wie sie sich im „Kategorischen Imperativ“ ausdrückt, zur Praxis, zur Tat, die der Erkenntnis entspricht? Also von der Erkenntnis zu einem neuen Lebensentwurf und einer neuen Praxis unseres Lebens?

2.
Diese wichtige Frage wird auch in der Psychologie und der Gehirnforschung diskutiert. Dazu später ein Hinweis. Und in den christlichen Theologien wird auf unser Thema nach wie vor die Antwort des Augustinus (und Luthers) verbreitet: Es sei die Erbsünde, die den Menschen unfähig mache, das Richtige und Gute, das Erkannte, dann tatsächlich auch zu tun. Allein die göttliche Gnade könne zum richtigen Handeln führen. Der Mensch als „natürlicher“ Mensch sei hilflos, deswegen bleibe auch in der gestalteten Welt – letztlich – alles beim Alten. Weil aber die Erbsünde, historisch und theologisch nachgewiesen, eine klerikale Ideologie ist, lassen wir diesen Aspekt hier beiseite. LINK.

3.
Viele Politiker haben zwar die Demokratie als Theorie im Kopf. Sie folgen dieser aber nicht umfassend in ihrer politischen Praxis. D.h.: Sie reden von Demokratie, wollen aber – verschwiegen – etwas ganz anderes, etwa: sich bereichern, ihr Ego stärken, Karriere machen, das Gemeinwohl ignorieren. Die rechtsextremen Feinde der Demokratie haben wenigstens diese eine „Tugend“: Sie sagen offen, dass sie die Demokratie zerstören wollen. Dieser Wahn führt unter Demokraten heute aber nicht zu wirksamen Attacken gegen Rechtsextreme. Die Lust am Untergang der Demokratien verbreitet sich wie eine Epidemie. Aber das ist auch ein anderes Thema.

4.
Die geistig – seelische Erstarrung als Ursache der Abwehr richtiger Erkenntnisse findet sich bei sehr vielen Menschen. Das, was ider Vernunft als das Bessere und Richtige aufscheint, steht in Konkurrenz zum dem, was wir immer schon tun, aus Gewohnheit, Tradition, geistiger Nachlässigkeit. Bei unserem Thema geht es also auch um die Konkurrenz zweier Lebensentwürfe: Der eine Lebensentwurf ist der immer schon gelebte, angeblich bewährte, angeblich vorteilhafte. Der andere Lebensentwurf hat nur den Charme einer Verheißung, nämlich besser, richtiger, vernünftiger zu handeln und nicht nur all dieses „Schöne und Wahre“ zu denken. Es geht also um die eine Forderung: Lass das Alte hinter dir und tu das Neue, die Verheißung des Besseren und Vernünftigen. Diese Forderung kann entstehen, weil einige die alte, fixierte Lebenspraxis selbst als falsch, als zu eng erleben und dabei gedanklich dem Überschreiten des Gegebenen folgen. Transzendieren nennt man das. Aber: Nicht alles Neue ist automatisch das Bessere, sondern nur das Vernünftige, das Humane. Es gibt Normatives in dieser Debatte. Nicht jede Alternative ist richtig und gut, siehe die AFD, die das wichtige Wort Alternative in den Schmutz zieht. AFD sollte eher AZD heißen: „Alternative zur Demokratie.“

5.
Ein Blick in die Geschichte der Philosophie: Die hellenistischen Philosophen haben in ihren Werken und ihrem Leben explizit „Anleitungen zur individuellen Lebensbewältigung“ gegeben, also Hinweise zu einem besseren, wahren Leben, wie Heinrich Niehues – Pröbsting, Spezialist für hellenistische Philosophie, gezeigt hat. (Fußnote 1). Die hellenistischen Philosophen wollten also in diesem „Reformprogramm“ eine Art „philosophische Psychotherapie“ fördern als Voraussetzung für eine neue Praxis. Diese Erkenntnis verdankt sich dem großen Philosophen und Philosophiehistoriker Pierre Hadot (1922 – 2010), er hat in zahlreichen wichtigen Studien den praktischen Charakter der hellenistischen Philosophie hervorgehoben: Philosophien seien keine theoretischen, abstrakten Konstrukte, sondern „Anleitungen zu humanen Lebensformen.“ „Im Hellenismus versteht sich die Philosophie der Hauptsache nach als Anleitung zum glücklichen Leben, sie ist Kunst des Lebens, Kunst als ein Können, das auf Wissen beruht..“, schreibt Heinrich Niehues – Pröbsting im Sinne Pierre Hadots. Nebenbei: Von Hadot ließ sich auch Michel Foucault inspirieren.

6.
Philosophie als Therapie verstehen: Viele Philosophen vom 3. Jahrhundert vor Christus bis ins 4. Jahrhundert nach Chr. waren überzeugt: Es gibt eine „Krankheit der Seele“: Und die sei bedingt „durch falsche Vorstellungen, die zu den beunruhigenden Affekten führen.“ Die falschen Vorstellungen entstehen etwa in dem Unvermögen, bei der Macht der Gefühle Wichtiges und Unwichtiges im Leben nicht unterscheiden zu können. Auch die Angst erzeuge falsche Vorstellungen, oder die Meinung, „man bedürfe des Luxus oder der Erfüllung seiner eitlen Ansprüche auf Anerkennung“ (Fußnote 2). Vor allem Epikur lehrte die Kraft vernünftiger Unterscheidung: Er empfiehlt die Selbstgenügsamkeit.
Für die Stoiker gilt als philosophische Therapie: „Die Affekte sollen erst gar nicht aufkommen. Die Stoiker sind von der Macht der Vernunft über die Affekte grundsätzlich überzeugt.“

7.
Es ist für diese Philosophen die Macht der Vernunft und des Arguments, die einen Weg weist in ein glücklicheres Leben: das ist ja das Ziel der „individuellen philosophischen Lebensbewältigung.“ (Fußnote 3).

8.
Die Pythagoreer entwickelten als eine der wichtigen „philosophischen Schulen“ eine Art „Katechismus“, der die praktischen Lebensregeln zusammenfasste. Dazu gehörten auch Speisevorschriften (vegetarische!) oder Empfehlungen für die Gestaltung der Sexualität. Am wichtigsten ist für Pythagoreer das Gebot, täglich eine „Selbstprüfung“ zu gestalten: „Worin fehlte ich? Was war meine richtige Tat? Was war Unterlassung? Wenn du Schlechtes tatest, dann schilt dich, wenn du Gutes tatest, dann freu dich.“ (Fußnote 4).
Die Stoiker übernahmen diese Selbstprüfung als wichtige Übung, sie sollte zu einer neuen glücklicheren Lebensform führen. Nebenbei: Die Christen ließen sich davon anregen und haben dann die Gewissenserforschung eingeführt, die zur Erkenntnis von Sünden anregte und zur Praxis der Beichte ihren Höhepunkt (und Abschluss) fand.

9.
Um die philosophische Erkenntnis des Guten im Geist fest zu verankern, empfahlen einige „Schulen“, wie die Stoiker und die Epikureer, das Auswendiglernen zentraler philosophischer Erkenntnisse der eigenen „Schule“. Man könnte sagen: Eine Art Verhaltenstherapie zur vernünftigen Gestaltung des eigenen Lebens war intendiert. Damit verbunden war eine starke Forderung der eigenen gedanklichen Leistung, sie sollte dann den Willen bestimmen und tatsächlich eine neue Praxis im Leben einleiten.
Aber der einzelne fand in den philosophischen Schulen der Epikureer oder Stoiker praktische Hilfe, neue Wege zu gehen, vor allem durch den gedanklichen Austausch oder das lebendige Vorbild der anderen, die zur Schule, man könnte sagen, zur Gemeinde“, gehörten. Ohne die gleichgesinnten anderen, die Mitglieder der „Gemeinde“, kann eine neue, bessere Lebenspraxis nur schwer gelingen.

10.
Ein Stück Wirkungsgeschichte: Viele christlichenMönche und Einsiedler,, Wüstenväter genannt, übernahmen vom 3. bis 6. Jahrhundert auch diese aus der Philosophie stammende Übung der häufigen Wiederholung bestimmter Sätze der Weisheit, die sie natürlich der Bibel entnahmen. Bis heute wird in der christlichen Spiritualität diese Übung des häufigen Aussprechen von Weisheit – Sätzen während des Tages „Ruminatio“ genannt, das lateinische Verb ruminare bedeutet tatsächlich „wiederkäuen“. „Das Wiederkäuen gab den Mönchen die Gewissheit, in der Gegenwart Gottes zu leben und sich dieser Gegenwart bewusst zu sein, ohne lange Gebets – und Meditationszeiten dafür einzuplanen“, schreibt der katholische Theologe Thomas Dienberg in seinem Buch „Spirituelle Atempausen“, KBW Verlag 2025. Er empfiehlt heute diese Übung den Christen. Sie soll zur „christlichen Alltags – Praxis“ anleiten. Ob dabei spürbar und sichtbar neue Lebensentwürfe entstehen, die auch politisch wirksam sind, ist eine offene Frage.

11.
In den hellenistischen Philosophien gilt die Überzeugung: Soll es zu einer Verbesserung der politischen und sozialen Verhältnisse kommen, dann muss zunächst und vor allem der einzelne Mensch den eigenen Geist, die eigene Vernunft, kennen und pflegen. Bevor es zu Strukturveränderungen kommt, muss der einzelne und mit ihm die Gruppe, die „Gemeinde“, selbst das gute und wahre moralische Leben leben. Nur durch die Vernunft erneuerte Menschen können die neue Gesellschaft gestalten.
Eine Erinnerung an die jüngste Vergangenheit: Der Kommunismus in Russland ist sicher auch daran gescheitert, dass die Akteure, Herrscher und Funktionäre niemals an der eigenen seelischen und geistigen Verfasstheit und Mentalität kritisch gearbeitet haben. Dazu weitere Überlegungen in Fußnote 7.

12.
Die Forderung, Philosophie als Therapie zu gestalten, gilt auch für zeitgenössische Philosophen des 20.Jahrhunderts, neben Karl Jaspers auch für Ludwig Wittgenstein. Seine Spätschriften sind dabei wichtig. Bekannt ist sein Beispiel von der „Fliege, die im Fliegenglas gefangen ist und keinen Ausweg findet.“„Was ist dein Ziel in der Philosophie“, fragt Wittgenstein in den „Philosophischen Untersuchungen“, § 309. Seine Antwort: „Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen.“ Philosophie sollte hilfreiche Auswege zeigen … um besser, d.h. wahrer und frei zu leben! Darin sind durchaus Anklänge an die genannten Überzeugungen hellenistischer Philosophen deutlich. In seinen „Philosophischen Untersuchungen“ (§ 133) sagt Wittgenstein: „Es gibt nicht eine Methode der Philosophie, wohl aber es gibt Methoden, gleichsam verschiedene Therapien.“ Ähnlich auch die kurze Erkenntnis in § 255 : „Der Philosoph behandelt eine Frage: wie eine Krankheit.“ Philosophieren kann heilsame Entwicklungen freisetzen. Diese Verfehlungen im Leben sind vor allem begründet im falschen Gebrauch der Sprache und der Grammatik.

13.
Pierre Hadot hat darauf hingewiesen, dass Wittgenstein sein eigenes radikales Fragen und Denken niemals als eine Art Schlusspunkt verstanden hat. Es gibt keine absolute Wahrheit, kein absolut gültiges Heilmittel. Und darin ist wohl auch das stets Unfertige jeder neuen Lebenspraxis begründet: Weil es denn vollkommenen Gedanken, die vollkommene Einsicht nicht gibt und geben kann, kann es auch bei allem guten Willen keine vollkommene neue Praxis geben. Hadot spricht von dem „inachèvement“, der Unvollendetheit, des philosophischen Denkens, die Auswirkungen auf die Praxis sind entsprechend: Sie ist unvollendet und unvollständig. Es ist also die Unvollkommenheit des einzelnen, einen vollständigen oder sogar vollkommenen Gedanken zu fassen entscheidend. (Hadot, Fußnote 5.)
Aber diese unüberwindbare Einschränkung darf niemals die Anstrengung verhindern, ein besseres, humaneres Leben zu denken. Und: Durch die Übungen der philosophischen Vernunft können fixierte alte, auch inhumane Einstellungen erschüttert und ansatzweise überwunden werden.

14.
Auf aktuelle Forschungen zum menschlichen Gehirn muss deswegen hingewiesen werden: Der Autor und Philosoph Stefan Klein hat in seinem Buch „Aufbruch“ (Fußnote 6) gezeigt: „Der Unwille zur Veränderung (der Lebenspraxis) wurzelt im Gehirn. Weltbilder, die unser Handeln bestimmen, folgen nicht Argumente; ihre Anziehungskraft beruht auf der Ökonomie der neuronalen Datenverarbeitung. Entscheidend ist die kognitive Flexibilität“.
Trotz dieser Dominanz „neuronaler Strukturen“, die eine Veränderung der Lebenspraxis behindern, ist auch die Macht der Ideologien zu respektieren. Ideologien können antihumane (etwa rassistische) Vorstellungen sein oder eben auch humane, etwa zur Solidarität auffordernde Ideen. Die Ideologien erscheinen oft in Gestalt von bestimmten Weltbildern. Und sie können den Geist der
Menschen fixieren und Veränderungen abwehren. Dies ist die wichtige Erkenntnis der Forschungen zum Gehirn: „Weltbilder (Ideologien) spiegeln nicht nur, sie bestimmen auch, wie ein Gehirn funktioniert… Ideologien zielen auf die Transformation der menschlichen Natur.“

15.
Das Bemühen der Philosophen, Formen humaner Lebenspraxis zu beschreiben und vorzustellen und Erkenntnisse in Praxis zu führen, bleibt nach wie vor gültig. Die richtigen Ideen können zu „einer gewissen Transformation der menschlichen Natur“ (Stefan Klein) beitragen. Die Gene sind also nicht allmächtig. Der alte Trott der unreflektierten, angeblich etablierten und fixierten Lebensführung kann unterbrochen und korrigiert werden: Durch philosophische Argumente.

16.
Natürlich zeigt sich in diesem Denken ein Rest von Optimismus, der sich dem Geist der philosophischen Aufklärung verdankt.

………………………….

Fußnote 1: Heinrich Niehues – Pröbsting, „Die antike Philosophie“, Fischer Taschenbuch, 2004. S. 188.

Fußnote 2: ebd. S. 189 und 190.

Fußnote 3: ebd. S 187.

Fußnote 4:
 Ein Zitat aus dem grundlegenden Werk von Paul Rabbow, bei Niehues – Pröbsting, S.155, dort Fn 246).

Fußnote 5: Pierre Hadot, „La Philosophie comme manière de vivre“, Editions Albin Michel, Paris. 2001, S 192.

Fußnote 6: 
Stefan Klein, „Aufbruch. Warum Veränderung so schwerfällt und wie sie gelingt“, S. Fischer Verlag, 2025. Die Zitate von Stefan Klein sind dem Tagesspiegel, Ausgabe vom 14.4.2025, Seite 10-11 entnommen.

Fußnote 7:
Die Sowjet – Kommunisten etwa haben den alten (etwa aus der Zarenzeit stammenden) Ungeist der Gewalttätigkeit, der Verachtung von Mehrheitsentscheidungen, von Minderheiten usw. nicht aufgegeben können und wollen. Die Utopie eines eigentlich nur human zu denkenden Kommunismus blieb für die Führer und ihre Kollaborateure nichts als lügnerische Theorie.
Wer sich das Verhältnis von Theorie und Praxis in der klassischen orthodoxen kommunistischen Partei – Ideologie anschaut: Da wurde von einem einfachen Schritt von der Theorie zur Praxis gesprochen: Etwa: Die in der Theorie – Debatte (am „grünen Tisch“) gewonnenen Parteitagsbeschlüsse sollten unmittelbar als solche von den Werktätigen umgesetzt werden: „Vorwärts mit den Beschlüssen des VII. Parteitages“, hieß es dann. Dabei waren schon die Analysen der Theorie am „grünen Tisch“ der Parteibonzen falsch. Sie ignorierten die geistige Bereitschaft ihrer Untertanen, die Beschlüsse überhaupt ernst zu nehmen, geschweige denn freiwillig zu realisieren…
Eine Theorie kann nur dann Impulse für das Tun, die Praxis geben, wenn sie selbst als Theorie eng verbunden mit der schon vorhandene Praxis der Menschen in der Gesellschaft und im Staat ist. Und von dieser erkannten und gemeinsam kritisierten Praxis können dann neue Wege der Praxis gelingen.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Karfreitag: Alles Ewige, alles Wahre ist vernichtet.

Hegels Interpretation des Karfreitag … weltlich, säkular verstanden.
Ein Hinweis von Christian Modehn am 14.4.2025.

1.
„Gott selbst ist tot“: Dieser provozierende Satz gehört tatsächlich zur klassischen christlichen Spiritualität. Er steht im Zentrum am Karfreitag, beim Gedenken an den Kreuzestod Jesu von Nazareth, der dann freilich in der üblichen, orthodox genannten Formel als „Gottes-Sohn“ gedeutet und verehrt wird.

2.
Wir wollen die spirituelle Erkenntnis Satz „Gott selbst ist tot“ weltlich, also auch politisch, neu verstehen. Damit wollen wir auch der Forderung des Theologen und Nazi – Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer entsprechen: „Wir müssen es riskieren, anfechtbare Dinge zu sagen, wenn dadurch nur lebenswichtige Fragen aufgerührt werden.“ (Brief aus dem Nazi – Gefängnis Tegel am 3.8.1944). Und am 16.7.1944 notierte er die inzwischen bekannte, aber bis jetzt nicht realisierte Forderung einer „nicht-religiösen Interpretation der biblischen Begriffe“…Zu Bonhoeffers Provokationen: LINK.

3.
„Gott selbst ist tot“- dieser Satz ist wohl für klassisch Fromme befremdlich: Denn Gott kann doch gar nicht sterben, behaupten sie. Und darum haben sie den Satz „Gott selbst ist tot“ auch relativiert: Es war ja „bloß“ Gottes Sohn, Jesus Christus, der am Kreuz gestorben ist. Der Kreuzestod Jesu ist eine geschichtliche Tatsache, im Unterschied zur Auferstehung Jesu von den Toten, diese ist kein historisch nachweisbares Faktum.

4.
Wie fanden Christen zu der Erkenntnis „Gott selbst ist tot“? In Zeiten schlimmsten Leidens, der Trostlosigkeit im Dreißigjährigen Krieg, hat der Jesuit Friedrich von Spee (1591-1635) ein Gedicht bzw. Kirchenlied verfasst , die ersten Worte heißen: „O Traurigkeit, o Herzeleid, ist das denn nicht zu klagen! Gottes des Vaters einzig Kind wird zu Grab getragen.“
 Weitergedacht hat der protestantische Pfarrer und Dichter Johann Rist (1607-1667), als er im Jahr 1641 in einer zweiten Strophe den Inhalt radikalisierte: „O große Not! Gottes Sohn liegt tot, am Kreuz ist er gestorben…“.. Das Lied ist Teil des evangelischen Gesangbuchs (von 1993).

5.
Bis heute aktuell interpretiert und gedeutet wurde diese theologische Überzeugung „Gottes Sohn ist tot“ von dem Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831). Und Hegel weist uns den Weg zu einer weltlichen, säkularen Interpretation des Karfreitag – Satzes „Gott selbst ist tot“.

6.
Hegel hat in seinen mehrfach gehaltenen „Vorlesungen zur Philosophie der Religion“ in Berlin (1818-1831) im Blick auf den Karfreitag gelehrt: „Gott ist gestorben. Gott ist tot.“ Und Hegel übersetzt dann den Begriff Gott in weltliche Wirklichkeiten: Hegel fährt fort: „Dieses ist der fürchterlichste Gedanke, dass alles Ewige, alles Wahre nicht ist; dass die Negation selbst in Gott ist; der höchste Schmerz, das Gefühl der vollkommenen Rettungslosigkeit, das Aufgeben alles Höheren ist damit verbunden“ (Suhrkamp, Theorie Werkausgabe, Band 17, S. 291).

7.
Hegel spricht also davon, dass der Tod Gottes (bzw. des Sohnes Gottes) ein Ereignis ist, das als „Aufgeben alles Höheren“ übersetzt wird. Und das heißt konkret: „Alles Ewige, alles Wahre“ ist nicht mehr, es existiert nicht mehr, ist verschwunden, Ewiges und Wahres haben keine Bedeutung. In dieser grundstürzenden Erfahrung des Zusammenbruchs entsteht der „fürchterliche Gedanke und das Gefühl der „vollkommenen Rettungslosigkeit“, wie Hegel sagt. Der Tod Gottes ist also, Hegel folgend, säkular und neu als der Zusammenbruch der humanen Welt zu verstehen.

8.
Karfreitag sollte also der Tag der Besinnung auf den Zusammenbruch der humanen Welt sein. Und dies ist die heutige Weltsituation, die nicht Resultat eines Naturereignisses ist: Es sind vielmehr Menschen, die diesen Zusammenbruch aus freier Entscheidung betreiben: Menschen, die die Klimakatastrophe erzeugen und nicht umfassend korrigieren und bremsen können oder wollen. Es sind Menschen, die Mord und Zerstörung zu ihrem politischen Geschäft machen. Es sind Menschen, die Diktatoren und Autokraten und andere Verbrecher an die Macht wählen, in den USA, in Russland, in Israel, in Ungarn, in Indien und so weiter. Es sind Menschen, die in noch funktionierenden Demokratien die Feinde der Demokratie wählen, etwa die Partei AFD, die Rechtsextremen in Frankreich und den Niederlanden. Es sind Menschen, die als Lobbyisten einflußreich genug sind, um eine Reichensteuer, Millionärs-und Milliardärs-Steuer, politisch zu verhindern. Sie wäre ein Ausdruck der gerechten, d.h. der sozialen Demokratie. Dies wird von sich noch dreist „christlich” nennenden Parteien auch in Deutschland verhindert.

9.
Der Philosoph Hegel hat den Zusammenbruch der humanen Welt, der im Ereignis des Todes Gottes am Karfreitag angezeigt wird, im Rahmen seiner Philosophie dann wieder „aufgehoben“, d.h. in eine positive Denkrichtung verwiesen durch den religionsphilosophischen Gedanken der Auferstehung. Aber Hegel kommt das Verdient zu, überhaupt den Tod Gottes in aller Tiefe gedacht zu haben.

10.
Wichtig ist für uns in dem Versucht einer „weltlichen Interpretation des Karfreitags“: In seiner „Phänomenologie des Geistes“ (1807) bietet Hegel schon eine säkulare, vernünftige und nicht-religiöse Antwort auf die Frage: Wie kann der Mensch dem Tod, in unserem Beispiel auch dem Tod Gottes, begegnen?
In der Vorrede zur „Phänomenologie des Geistes“ (Seite 36 in der Suhrkamp – Ausgabe, Band 3) bezieht sich Hegel auf die Kraft des menschlichen Geistes – auch dem Tod gegenüber. Hegel schreibt: „Nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das den Tod erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Der Geist gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Macht ist der Geist nicht, indem er von dem Negativen wegsieht … sondern der Geist ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei dem Negativen verweilt. Dieses Verweilen ist die Zauberkraft, die das Negative in das Sein umkehrt.“

11.
Dem Negativen ins Angesichts schauen: Das kann angesichts des genannten „Zusammenbruchs der humanen Welt“ bedeuten: Nicht nur schauen, nicht nur das Elend betrachten, sondern aktiv eintreten für die Rettung der Theorie betreiben, nicht nur ins Ästhetische sich zurückziehen, es geht um aktives „Verweilen“ beim Negativen, dem drohenden Tod. Dieses aktive Verweilen hat dann, wie Hegel schreibt, die „Zauberkraft, das Negative ins lebendiges, konstruktives Sein“ zu verwandeln. Diese Kraft, dem Negativen standzuhalten, kann von Hegel wie eine als Metapher „Zauberkraft“ genannt werden: Aber bei diesem Begriff „Zauberkraft“ spielt nichts Esoterisches , Wunderbares eine Rolle, sondern es wird nur das Überraschende formuliert: Einzig die „verweilende“, kritische Analyse der Verhältnisse, kann das „Negative in das Sein“, also in Leben, verwandeln. So kann der „Zusammenbruch der humanen Welt“ vielleicht noch aufgehalten werden.

12.
Karfreitag – weltlich, säkular verstanden, sollte also auch ein Tag des Gedenkens werden an die Widerstandskraft des Geistes, an die kritische Kraft der Vernunft angesichts der genannten miserablen Verhältnisse. Wahrscheinlich wird sich diese Widerstandskraft auf Dauer nur mobilisieren lassen, wenn sie selbst sich gegründet weiß in einem absoluten alles gründenden Sinnhorizont. Ein Gedanke, der dem Religions-Philosophen Hegel wichtig war. Und uns im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin noch immer ist.

13.
Unser Thema könnte natürlich weiter vertieft werden mit Hinweisen auf Nietzsche, etwa auf die Rede von „Gott ist tot“ in der „Fröhlichen Wissenschaft“ (Nr. 125). Siehe Fußnote 1.
Uns interessiert sehr die Erkenntnis Nietzsches, am Schluss dieses Absatzes Nr. 125 formuliert: „Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?“ Diese Frage haben die Kirche bis jetzt unbeantwortet gelassen. In dieser These, „Kirchen als Grabmäler Gottes“, sollte an die Mitschuld der Kirchenleitungen und der Christen erinnert werden am genannten „Zusammenbruch der humanen Welt“: Weil die Kirchenleitungen und die Frommen sich nachweislich ums Dogmatische und Spirituelle vor allem kümmerten und eben nicht um das auch politische Ziel der gerechten humanen Welt für alle. Theologisch nennt man dieses Ziel „Reich Gottes“. „Jesus verkündete das Reich Gottes … und gekommen ist die Kirche“, sagte sehr treffend der große französische Theologe Alfred Loisy (1857-1940). Er wurde von der römisch katholischen Kirche exkommuniziert.

 

Fußnote 1.

„Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: „Ich suche Gott! Ich suche Gott!“ – Da dort gerade viele von denen zusammenstanden, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. Ist er denn verlorengegangen? sagte der eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? – so schrien und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. „Wohin ist Gott?“ rief er, „ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unsern Messern verblutet – wer wischt dies Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere Tat – und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!“ – Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, daß sie in Stücke sprang und erlosch. „Ich komme zu früh“, sagte er dann, „ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Taten brauchen Zeit, auch nachdem sie getan sind, um gesehen und gehört zu werden. Diese Tat ist ihnen immer noch ferner als die fernsten Gestirne – und doch haben sie dieselbe getan!“ – Man erzählt noch, daß der tolle Mensch desselbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur dies entgegnet: „Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?“

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