Edvard Munch in Chemnitz: Die Angst wahrnehmen, ausdrücken! Und überwinden?

Über den großartigen Katalog zur Munch Ausstellung in Chemnitz
Ein Hinweis von Christian Modehn am 29.8.2025

1.
Es ist sehr treffend, dass ausgerechnet in Chemnitz, Sachsen, eine große und bedeutende Ausstellung über ANGST gestaltet wird; sie ist bis zum 2. November 2025 in den „Kunstsammlungen Chemnitz“, Theaterplatz 1, zu besichtigen. Chemnitz hat das große Glück, 2025 eine „Kulturhauptstadt Europas“ zu sein. Und der Höhepunkt ist zweifellos die große Präsentation von etwa 90 Arbeiten des norwegischen Malers Edvard Munch, etwa 50 weitere Werke heutiger Künstler führen die Erfahrungen der ANGST über Munch hinaus … und ins Nachdenken.

2.
Es ist irgendwie auch ein merkwürdiges Zusammentreffen, dass DER moderne Maler der Angst, Edvard Munch, einige Zeit (1905 und 1926) in Chemnitz lebte. Und Tatsache ist auch, dass die Menschen in Chemnitz – wie überall auf unterschiedliche Weise – spezielle Erfahrungen mit Angst haben: Im „realen Sozialismus“ der DDR die Angst der Opposition vor der Stasi. Und dies in einer Stadt, die 1953 nach Karl Marx benannt wurde, mit der monumentalen Marx-Büste bis heute im Zentrum der nun wieder Chemnitz genannten Stadt. Karl Marx hat übrigens, wissenschaftlich erwiesen, mit der Stasi (oder dem KGB) so wenig zu tun wie die Ketzerverfolgung der Kirchen mit dem Evangelium Jesu von Nazareth.

3.
Seit einigen Jahren, nach der so genanten Wende, haben demokratisch gesinnte Chemnitzer eine ganz andere Angst, Angst vor den Aggressionen der verschiedenen rechtsextremen und rassistischen Parteien, wie der AFD: Sie gilt in Sachsen ganz offiziell als „gesichert rechtsextrem“, sie kann aber weiter Demokratie zerstören…Wird aus der Wende von 1989 die Wende Richtung 1933? Dies auch in Chemnitz eine begründete Angst. Die Erinnerung an die gewalttätigen Ausschreitungen der Rechtsextremen im Herbst 2018 in Chemnitz sind hoffentlich noch allen im Gedächtnis. Ebenso wichtig aber auch der bis heute lebhafte Widerstand von Basisgruppen der mehrheitlich noch demokratisch gesinnten Bürger von Chemnitz gegen die Rechtsextremen.

4.
Erst wer diese Zusammenhänge wahrnimmt, kann seine Freude ausdrücken, dass nun, 2025, Edvard Munch nach Chemnitz zurückgekehrt ist mit 90 seiner wichtigen Werke. Wer die Ausstellung in Chemnitz nicht besuchen kann, sollte den großartigen Katalog zur Ausstellung (erschienen im Hirmer – Verlag) studieren, die Bilder betrachten und sich vor allem von den Autoren der sechs erhellenden Essays zu der Frage anregen lassen: Warum können gerade Edvard Munchs Gemälde, seine Graphiken, den Umgang mit Angst inspirieren und vielleicht aus der Angst herausführen?

5.
Zweifellos ist Edvard Munch einer der wichtigsten Maler der Moderne. Und einige seiner Arbeiten , vor allem „Der Schrei“, (1893), gehören geradezu zum „kulturellen Gedächtnis“ sehr vieler Menschen. Angst, Einsamkeit, Verlorenheit sind die Stichworte der eigenen Lebenserfahrungen, die Munch zum Ausdruck bringt. Diana Kopra betont in ihrem Beitrag: dass die Angst im Werk von Edvard Munch stets zugegen“ sei (S. 172). Und dass Munch wesentliche Bedeutung heute darin besteht, „das existentielle Zittern der Angst ausgehalten zu haben.“ Munch sagt: „Ich male nicht, was ich sehe, sondern was ich gesehen habe“ (in dem genannten Buch S. 161), also was er selbst im Leiden seiner Seele „gesehen“ hat. Und Munch ist überzeugt: Die Darstellung der ANGST ist nicht nur die Darstellung seiner eigenen ANGST, sondern sie berührt alle Menschen – in ihrer jeweiligen Lebensangst. In den 1930 Jahren sagt er: „In meiner Kunst habe ich versucht, mir das Leben und seinen Sinn zu erklären. Ich hatte auch die Absicht, anderen zu helfen, ihr eigenes Leben zu verstehen“ (zit. S. 161).

6.
Wir weisen auf den Beitrag des Psychoanalytikers und Psychiaters Borwin Bandelow hin, er hat seinem Essay den Titel gegeben: „Edvard Munch – die Angst des Genies“. Zwei wichtige Zitate:. „Seine Kunst ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie Schmerz und Angst als Quelle von Kreativität genutzt werden können.“ „Nicht trotz, sondern wegen seiner zerbrechlichen Seele gilt Munch als einer der bedeutendsten Maler in die Geschichte“ (S.26).

7.
Edvard Munch war kein politischer Künstler! Seine Arbeiten zeigen in die Seele und ihre Ängste. Sind sie deswegen heute, für Chemnitz und andere Städte, Regionen, mit starker Präsenz rechtsextremer Menschen und deren Parteien, eher irrelevant? Wir meinen: Sicher nicht: Denn Munch fordert Menschen auf, die seine Kunst betrachten und nicht nur flüchtig mal hinsehen, die zerrissene und kranke Welt der eigenen Gedanken und der eigenen Seele wahrzunehmen. Und diese Situation anzuerkennen. Dann kann eine Heilung geschehen, auch eine Heilung der irrigen rechtsextremen Bindungen.
8.
Werden die rassistischen und rechtsextremen Menschen und ihre Parteien in Chemnitz und anderswo diese ihre eigene seelische Zerrissenheit und Krankheit erkennen und anerkennen und mit Hilfe von Psychotherapie bearbeiten und möglicherweise heilen? Werden diese rechtsextremen Menschen überhaupt die Kunst Edvard Munch in Chemnitz betrachten und wahrnehmen? Offene Fragen! Genauso wie die Frage: Werden die auf andere Weise von Angst geplagten demokratischen Bürger Inspirationen von Edvard Munch erhalten? Machen Munch Arbeiten Mut zum Leben, Mut zum Kämpfen für die Menschenrechte, die Demokratie? Vielleicht auch nur in der Hinsicht: Die eigenen Ängste anzunehmen und dabei, in aller reflektierten Schwäche, TROTZDEM Ja zu einem menschenwürdigen Leben für alle in einer Demokratie zu sagen… auch wenn die Feinde dieser Demokratie so stark sind und sich weigern, in eine heilende Psychotherapie ihrer verirrten Seelen einzutreten. Erst wenn auch Rechtsextreme erkennen, dass sie seelisch und geistig krank sind und Therapien brauchen, kann Demokratie gelingen. Das heißt ja nicht, dass alle, die sich in Europa Demokraten nennen (oder “Republikaner” in den USA) seelisch und geistig gesund, geschweige denn vernünftig  sind…

9.
Der ausgezeichnete Katalog bietet alle Essays auf Deutsch und auf Englisch, er hat 336 Seiten mit 170 Abbildungen in Farbe sowie eine Liste der in Chemnitz ausgestellten Werke, zudem bietet das Buch eine ausführliche Daten – Biographie zu Edvard Munch (und einen biographischen Essay).

Der Katalog zur Ausstellung:
”Edvard Munch – Angst”
: Herausgegeben von Kerstin Drechsel, Diana Kopka, Florence Thurmes, Hirmer Verlag
, 336 Seiten, 170 Abbildungen in Farbe
, Klappenbroschur, 50 Euro.

Über die MUNCH -Ausstellung in Berlin, siehe unseren Hinweis: LINK 

Über Edvard Munch, seine Spiritualität und die norweglische Staatskirche, siehe unseren Hinweis: LINK 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Wenn rechtsextreme katholische Milliardäre kirchliches Leben bestimmen …

Ein Hinweis zur aktuellen politisch – religiösen Entwicklung in Frankreich
Von Christian Modehn am 13.8.2025

1.
Zwei reaktionäre, rechtsradikale und libertäre Milliardäre versuchen mit ihrem sehr reichlichen Geld, mit ihren entsprechenden Netzwerken und Auftritten in den “Social-Media” das Leben der katholischen Kirche in Frankreich zu prägen und für die Zukunft zu bestimmen. Die ersten erfolgreichen Schritte dieser Herren werden wissenschaftlich dokumentiert. Wichtig ist: Diese Milliardäre unterstützen die immer stärker werdende rechtsextreme Partei „Rassemblement National“ (Le Pen). Und ihre geförderten kirchlichen Projekte sind mindestens „rechtsextrem affin“. Ein Ende dieser gefährlichen Entwicklung ist kaum absehbar: „Der Katholizismus in Frankreich ist dabei, sich neu neu zu ordnen rund um die großen Mäzene.“, schreibt die immer um Objektivität bemühte katholische Tageszeitung „La Croix“., Paris am 11. Juni 2025.

2.
Selbst die immer unbedeutender und kleiner werdende katholische Kirche in Frankreich braucht Geld. Sie überlebt seit 1905 („Trennung von Kirchen und Staat) ohnehin nur von Spenden der „Kirch-Gänger“ und paradoxerweise auch von der finanziellen Unterstützung des Staates: Die manchmal in Deutschland noch „laizistisch genannte“ Republik zahlt einen Großteil des Erhaltes derjenigen Kirchengebäude, die vor 1905 gebaut wurden. Und die „République laique“ (das bedeutet nicht: laizistisch!) unterstützt seit Jahrzehnten mit Milliarden die in katholischer Sicht immer noch so wichtigen katholischen Privatschulen. Offenbar erwarten der Staat und seine Politiker, dass dort die Kinder aus „gutem Hause“ eine entsprechende und durchaus privilegierte Ausbildung erhalten. Den Unterricht in der sehr turbulenten Banlieue mit den vielen Armen und Ausländern überlassen Kirche wie Staat gern den „öffentlichen Schulen“. (Fußnote 1)… aber dies ist ein anderes Thema.

3.
Wir legen hier Fakten vor, die in der demokratischen Presse Frankreichs seit einigen Monaten dokumentiert werden, vor allem beziehen wir uns auf einen wichtigen Aufsatz des Soziologen Pierre Louis Choquet in der Kulturzeitschrift Zeitschrift ESPRIT (Paris), man fragt sich, warum solche wichtigen erhellenden Aufsätze nicht auf Deutsch erscheinen.  (Fußnote 2).

4.
Es geht hier um zwei reaktionär- katholische Milliardären mit starker Bindung an rechtsextreme Parteien und rechtsextremes Denken.
Über den in Frankreich so genannten „Medien – Zaren“ Vincent Bolloré haben wir auf dieser website schon ausführlicher berichtet. LINK.
Zur Erinnerung: Durch sein breites vielfältiges Medien – Imperium von Paris -Match, über den Radiosender Europe 1, die Sonntagszeitung Journal du Dimanche bis zu seinem Fernsehsender CNews verbreitet er auch seine eigene, sehr konservative Theologie. Wenig informierte Leser und Zuschauer werden verführt zu denken: Was Herr Bolloré da an Katholizismus präsentiert, sei DER katholische Glaube.

5.
In der französischen, noch demokratischen Presse wird seit einigen Monaten vermehrt auch auf den katholischen Unternehmer Pierre-Eduard Stérin hingewiesen. Er ist Milliardär, „Libertarien“, wie man in Frankreich „Libertäre“ nennt (der argentinische Staatspräsident Milei ist libertär, auch sehr viele Herrschaften aus der Trump – Clique in den USA sind es). Dabei hat Stérin auch enge Verbindung zur rechtsextremen Partei „Rassemblement National“. Der Soziologe Pierre Louis Choquet schreibt in dem schon genannten Beitrag von „Esprit“: „Sterin will die extreme Rechte unterstützen in ihrem Kampf um die Macht etwa durch sein ideologisch – umfassendes Projekt `Péricles`. (Zu Péricles Fußnote3). Der Unternehmer verbirgt nicht seine Feinschaft gegenüber den Flüchtlingen, und er zögert nicht zu erklären: Flüchtlinge aufzunehmen nützt nichts“ (Übersetzung CM).
Was etlichen noch wachen und kritischen Katholiken Sorgen macht, ist die – natürlich bischöflich – gar nicht kontrollierbare – Auswahl der Wohltätigkeit Stérins für konservative katholische Institutionen: Wer spendet, kann spenden, wem und für was er will, das gilt noch überall. Es sind bei Stérin etwa Häuser für schwangere Frauen in Not (Titel „La Maison de Louise“), für den Erhalt von Heiligenfiguren in der Öffentlichkeit („Calvaires“) oder kleiner Dorfkirchen auf dem Lande.
Zu der großen Menge seines Geldes ist Stérin durch die Restaurant – Reservierungs – Website „La Fourchette“ gekommen oder durch seine „SmartBox“, eine Art Geschenk-Tasche. Er steht jetzt an der Spitze eines Investmentfonds, der ein Vermögen von einer Milliarde 300 Millionen verwaltet. Sein Vermögen hat er einem „Stiftung – Fonds des Gemeinwohls“ übertragen. 80 bis 120 Millionen Euro aus seinem Gewinn spendet er pro Jahr für Projekte – seiner politisch-katholischen Wahl – immer für „das Gemeinwohl“, wie er sagt. Stérin wird in diesem Herbst auch aus eigener Initiative eine katholische Privatschule nur für Jungen eröffnen, ganz seinem konservativen pädagogischen Konzept entsprechend.

Die viel beachtete, kirchenunabhängige französische Internetzeitschrift “Streetpress” hat am 6.3.2025 einen Beitrag veröffentlicht mit dem Titel “Wie der Milliardär der extremen Rechten Stérin die Websites katholisch – reaktionärer Influencer überschwemmt”, Autor ist Nicolas Sonnet. LINK Er weist auf das weite Netzwerk Sterins hin, erinnert an die von ihm organisierten “Nächte der Influencer” im offiziell katholischen “Collège des Bernardins” in Paris (eine Art “Katholische Akademie”). Schon mehrere solcher “Nächte” der wechselseitigen Unterstützung katholischer Rechtsextremer gab es schon, “um gemeinsam mehr zu erreichen in der Evangelisierung”, im Sinne der genannten Herren. Der Einfuß Stérins reicht bis in die Ordensgemeinschaften: Der junge Dominikaner Paul André d Hardemare ist ein äußerst erfolgreicher Prediger in den Sozialen Medien, er ließ sich einige Zeit lang von Stérin finanzieren, nimmt auch an den Wallfahrten der reaktionären Katholiken nach Chartres teil. “Jedes Jahr organisiert Stérin auch die “Nächte des Gemeinwohls”, dies sind Abende der “caritativen Versteigerungen” nach us-amerikanischer Art, dabei kommen viele führende Industrielle (“Patrons”) zusammen, ebenso die alte Aristokratie, Aktivisten katholoischer  Hilsvereine sowie Politiker aus rechten und rechtsextremen Parteien. Mit dem Ziel: Vereine zu finanzieren, die sich in der Galaxiedes Konservativen bewegen.”

6.
Für die katholische Kirche in Frankreich ist die überdimensionale Spendelust der reaktionären Katholiken eigentlich ein großes Problem.
Denn die Kirche in Frankreich kämpft tatsächlich um ihr spirituelles wie damit zusammenhängend um ihr materielles Überleben. Sie hat seit Jahren einen miserablen Ruf aufgrund der zahllosen Fälle von schwerem sexuellen Missbrauch  auch durch z.T. “ultra-prominente” Priester, wie den als “heiligmäßig“ verehrten Sozialapostel Abbé Pierre 1912-2007. Die Zahl der Gottesdienst-Teilnehmer geht (deswegen?) ständig zurück, der französische Klerus vergreist, die kleinen Gemeinden können nur durch die Anwesenheit afrikanischer oder asiatischer Priester noch halbwegs „versorgt“ werden. Angesichts dieses Niedergangs katholischen Lebens gehen auch die Spenden der „normalen“ Kirchgänger zurück. Deswegen sehen sich die Bischöfe gehalten, gute Kontakte mit den staatlichen Behörden auch in der Provinz zu pflegen, also auch mit Politikern aus der rechtsextremen Partei „Rassemblement National“. Sehr bald könnte diese Partei die Regierung in Paris stellen, das ist eine begründete Prognose von Politologen. Die katholischen Bischöfe waren so klug bzw. vorausschauend – raffiniert, bei den letzten Wahlen, die überwältigende Wahlerfolge der Rechtsextremen auch im katholischen Milieu brachten, den Mund zu halten und schon gar nicht allzu kritisch gegen Rechtsextrem zu werden… Einige der Rechtsextremen sind ja nach außen hin sehr fromm, sie machen zu Tausenden Wallfahrten nach Chartres, loben die alte lateinische Messe (nicht nur bei den traditionalistischen Pius – Brüdern!) und als Politiker schätzen sie die Kirchengebäude als Orte des nationalen Gedenkens der nationalen Traditionen, oder sie fördern die katholischen Schulen, dort sollen schließlich christliche, aber vor allem gut – bürgerliche Werte der „anständigen Leute“ (so verstehen sich die Rechtsextremen) gelehrt werden. Und dann gibt es da noch entscheidend die reaktionären katholischen Milliardäre, die ihre Form des Katholizismus ungeniert nach außen in ihren Medien vorstellen und propagieren oder Projekte fördern, die ihrer eigenen begrenzten Theologie entsprechen. Diese Herrschaften darf die Kirchenführung nicht verärgern, sie bringen noch Geld, das heilige Geld zum Überleben der insgesamt so tief ramponierten Kirche.
Die Kirche Frankreichs als verschwindende Minderheit driftet also, „not – gedrungen“ möchte man sagen, immer weiter nach rechts: Die wenigen jungen Priester in Frankreich, die am liebsten in langen Talaren durch die Straßen laufen, stammen denn auch aus dem „gut-bürgerlichem konservativen Milieu“ der Stadt Versailles…Und einzelne Bischöfe, wie in Toulouse oder Angers, sind so unverschämt, wegen sexuellen Missbrauchs verurteilte Priester jetzt mit offiziellen Aufgaben im Bistum zu betrauen. Der moralische Niedergang auch des hohen Klerus erlebt einen neuen, ganz anderen Höhepunkt. Darüber berichtet etwa die ausgezeichnete online Zeitung GOLIAS: LINK.

7.
Der Soziologe Pierre Louis Choquet fasst in der schon erwähnten empfehlenswerten Zeitschrift ESPRIT (gegründet von dem Philosophen Emmanuel Mounier, LINK) die Situation zusammen: „Aufgrund ihres großen Finanz-Vermögens versuchen diese Milliardäre die Kirche neu zu positionieren auf einer antimodernen und Pro – Business Ebene.“ Und in seiner Fußnote 21 schreibt der Autor: „Es gibt in der Kirche Herrschende und Beherrschte“. Und er meint: „Die Milliardäre sind längst zu den herrschenden Laien geworden, es sind ja in der Kirchensprache „Laien“, die da die Kirche auf ihre Weise im Sinne des Rechtsextremen durch ihr Geld bestimmen wollen. Eine einst vielleicht noch in Kirchen-Kreise naive Freude über die „Aktivität von Laien“ muss also doch sehr differenziert werden.

8.

Der Soziologe Pierre Louis Choquet beendet seinen Essay über die katholischen rechtsextremen Milliardäre mit dem Aufruf an die christlichen Gemeinden, “den unheilvollen Einfluss der `frommen Milliardäre`zu “kontern” (contrer auf Französisch). Deren identitäre Religiosität erscheint als ein Symptom des Aufruhrs unserer Epoche”. Heute investieren diese Milliardäre “nur” in ihre Medien oder in ihre sozialen Werke und beeinflussen die pastorale Arbeit der Kirche. Und in Zukunft? Darum fragt Pierre Louis Choquet in dem ESPRIT Aufsatz: “Was wird diese Leute dann hindern, wenn die Spenden für die Kirche durch die Gläubigen immer kleiner werden, so dass diese Milliardäre  dann auch die Priesterseminare und die theologischen Lehrstühle an den katholischen privaten Universitäten finanzieren?” … Und in ihrem theologisch – reaktionären Sinne dort theologisch eingreifen! Wird das Geld und die rechtsextreme Ideologie dieser Herren dann die Kirche vergiften? Man hat den Eindruck, dass die Verantwortlichen in der Kirche (nicht nur Frankreichs) an diese Zukunft nicht zu denken wagen.

Fußnote 1:
80, 5 Millionen Euro gab die französische Republik für den Erhalt der Kirchengebäude kürzlich aus. Und 10 Milliarden Euro hingegen beträgt die staatliche Unterstützung für die Privatschulen, die allermeisten sind katholische. Quelle: Siehe Fußnote 2.

Fußnote 2:
Der Beitrag wurde in der Zeitschrift „Esprit“ im September 2024 veröffentlicht. Der Titel „L Eglise catholique face à la montée de l extreme droite“. Die Zahlen in Fußnote 1 stammen aus diesem Aufsatz, dort die Fußnoten 3 und 4.

Fußnote 3:
„Péricles“ ist ein Think – Tank aus einer Mischung von Libertärem, Liberalem und sehr konservativ – Katholischem. Inspiriert wurde Péricles von der reaktionären „Heritage Foundation“ in den USA, auch zu Victor Orban in Ungarn gibt es enge Verbindungen.
Der Name „Péricles ist ein Acronym für Patriotes / Enracinés / Résistants / Identitaires / Chrétiens / Libéraux / Européens / Souverainistes), also: Patrioten, Verwurzelte, Widerständler, Identitäre, Christen, Liberale, Europäer, Souveränisten. Das heißt: Dieser Think – Tank ist nationalistisch, gegen LGBT, euroskeptisch, gegen Einwanderung usw… Siehe dazu den ausführlichen französischen Wikipedia-Beitrag:LINK.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

PhilosophInnen verändern die Philosophie … und die politischen Zustände!

Ein wichtiges Buch über „Frauen, die das Denken der Moderne geprägt haben“
Ein Hinweis von Christian Modehn am 10.8. 2025

1.
Es ist ein allgemeines Vorurteil: Es gibt keine Philosophinnen. Schlimmer noch: „Philosophie ist nichts für Frauen.“ Man muss nur den Beitrag „Philosophinnen“ in Wikipedia anschauen: Da werden mindestens 180 Philosophinnen seit der Antike genannt…

2.
Jetzt ist ein Buch erschienen, das sich gut eignet, Philosophinnen kennen zu lernen: Und zwar mit dem Fokus: „Rebellinnen der Philosophie“. Und der Untertitel des Buches grenzt den zeitlichen Rahmen ein: „Frauen, die das Denken der Moderne geprägt haben“. Autorin ist die Philosophin Kristin Gjesdal, sie stammt aus Norwegen und lehrt seit einigen Jahren an der „Temple University“ in Philadelphia, USA. Die Philosophie des 19. Jahrhunderts ist vor allem ihr Schwerpunkt.

3.
Kristin Gjesdal bietet in ihrem neuen Buch keine trockene, abstrakte Geschichte der PhilosophInnen. Sie berichtet über 11 rebellische Philosophinnen in ihren Seminar-Veranstaltungen an ihrer Uni, sie berichtet also von philosophischen Frauen, die sich gegen alle Einschränkungen wehrten, die schon aufgrund ihres „Frauseins“ von der Männerwelt vorgegeben waren. Die Frauen gaben in ihren philosophischen Texten ihrer Rebellion gegen Frauenverachtung, Rassismus, Kolonialismus, Faschismus ihren reflektierten Ausdruck, viele Aspekte ihrer Kritik sind gültig bis heute.

4.
Kristin Gjesdal erzählt also anschaulich von ihren Seminaren zum Thema „Philosophinnen“, spricht von den Fragen und Problemen der StudentInnen, erläutert eigene Schwierigkeiten angesichts mancher Aussagen ihrer Protagonistinnen, stellt aber immer klar und lebendig die Position der Philosophinnen vor: Sie nennt selbst ihr Buch „populärwissenschaftlich“ (S. 285). Tatsächlich bietet sie doch zahlreiche Hinweise zum Weiterlesen, Weiterforschen.

5.
In dem 332 Seiten umfassenden Buch werden vom 18. Jahrhundert (Madame de Stael) bis ins 20/21. Jahrhundert (Angela Davis) 11 Philosophinnen vorgestellt: Germaine de Stael, die bislang weniger bekannte Karoline von Günderrode, dann Bettina Brentano von Arnim, Hedwig Dohm, Anna J. Cooper, und, was erstaunlich ist: Clara Zetkin und Rosa Luxemburg, sowie danach Lou Salomé, Gerda Walter, Simone de Beauvoir und auch Angela Davis (geb. 1944), sie ist als „Aktivistin“ auch oder gerade deswegen Philosophin geworden.

So unterschiedlich die philosophischen und politisch -ethischen Erkenntnisse dieser Frauen auch sind. Sie haben auch literarisch gearbeitet und veröffentlicht, oft Romane geschrieben, was dazu führte, dass in der Männer bestimmten Philosophie und Feuilletonwelt diese Philosophinnen „nur“ als Literaten hingestellt wurden. Alle Philosophinnen mussten sich gegen die Männerwelt behaupten.

6.
Hier können alle der elf „rebellischen Philosophinnen“ im einzelnen nicht vorgestellt werden.

Der Beitrag über Germaine de Stael (1766-1817) zeigt: Sie hat seit ihrem 20. Lebensjahr über Philosophie geschrieben, und auch ihre Romane („Corinne“, „Mirza“…) sind von philosophischen Reflexionen bestimmt. Madame de Stael ist auch wegen ihres „Bestsellers“: „Über Deutschland“ (1814) weltweit bekannt. Aber Kristin Gjesdal zeigt die politische Kritik Madame de Staels etwa zum Kolonialismus und zur Sklaverei. Über die vorgestellten und diskutierten Philosophinnen werden keineswegs „Lobeshymnen“ verbreitet: Madame de Stael etwa „war blind gegenüber ihren eigenen Privilegien“ in der reichen Clique von Paris.

LeserInnen zumal in den USA oder der BRD, die unter antikommunistischen Ideologien denken lernten, wird es verwundern, auch die deutsche Kommunistin Clara Zetkin (1857-1933) in der Reihe der Philosophinnen zu finden. Sie war die Freundin der Philosophin und Politikerin Rosa Luxemburgs. Aus ethischer Haltung zugunsten der Gerechtigkeit fand sie zur Philosophie und zur politischen Aktion. Sie verfasste Texte zur Frauenbefreiung, zum „Frauenstimmrecht“, kurz vor ihrem Tod schrieb sie noch einen antirassistischen Aufruf „Rette die Scotsboto Boys“: Zu Unrecht wurden neun afroamerikanische Männer zum Tode verurteilt, Clara Zetkin legte den Fall als Ausdruck von Rassenwahn der US – amerikanischen Gesellschaft und des Staates frei. Der international Frauentag ist ihre „Erfindung“… Bereits Anfang der 1920er-Jahre sprach sie von den Gefahren
des Faschismus. „Die extreme Rechte verspreche breiten Bevölkerungsschichten das Blaue vom Himmel, versuche aber im Wesentlichen, gute Bedingungen für einige wenige zu schaffen“, so referiert Kristin Gjesdal: „Dem Faschismus müsse mit Stärke begegnet werden , betont Zetkin und nicht mit physischer Gewalt, sondern mit organisiertem Widerstand“ (S. 147): Sozialdemokratischer Politik gegenüber war Clara Zetkin kritisch eingestellt: „Sozialdemokratie auch à la Sanders in den USA heute wäre für Zetkin und Rosa Luxemburg purer Revisionismus, also eine politische Haltung, die das Versprechen einer klassenlosen Gesellschaft zugunsten des Wunsches nach schrittweiser Verbesserung innerhalb der kapitalistischen Ordnung aufgegeben hat“, meint die Autorin (S. 147).
PS: Viele Clara Zetkin Straßen wurden nach der Wende in der ehemaligen DDR umbenannt, in 10 Orten in den „neuen Bundesländern“ gibt es noch Clara Zetkin Straßen. Und : Einige Bücher Clara Zetkins sind noch antiquarisch zu haben…

Uns freut es besonders dass der Philosophin und Sozialistin Rosa Luxemburg eine eigene Seminarstunde gewidmet war und dass Rosa Luxemburg damit in einem Kapitel ansatzweise gewürdigt wird. Rosa Luxemburg, 1871 geboren, wurde 1919 von preußischen Freikorps auf brutalste Weise ermordet. Über die Rolle der Berliner SPD in diesem Zusammenhang hat Sebastian Haffner Wesentliches und Treffendes gesagt! Was viele bis heute ignorieren: Für Rosa Luxemburg ist Sozialismus (damit ist nicht der „Sozialismus“ der SPD gemeint) wesentlich demokratisch. Dass eine Partei, die Bolschewisten Lenins sich anmaßt, die Interessen des Volkes zu vertreten, lehnt Rosa Luxemburg ab. Auch das bekannteste Werk Rosa Luxemburgs „Die Akkumulation des Kapitals“ von 1913 wird im philosophischen Seminar der „Temple University“ diskutiert (s. 165). „Mit ihrer Verteidigung der Macht des Volkes gegenüber der Macht der Partei gilt Luxemburg als Wegbereiterin eines humanistischeren Marxismus“(S. 172). Wir finden es bedauerlich, dass wie so in Publikationen über Rosa Luxemburg die spirituelle Interessiertheit der Sozialistin nicht erwähnt wird. Siehe deswegen unseren wichtigen Beitrag zu „Die Spiritualität der Rosa Luxemburg“: LINK.

Auch auf Angela Davis (geb. 1944 in Birmingham, Alabama, USA) als Philosophin weist das Buch hin. Sie studierte in Frankreich, und als sie 1963 von der Tötung von drei Mädchen in einer Kirche ihrer Heimatstadt durch den Ku-Klux-Klan hörte, kehrte sie in die USA zurück, dort traf sie den marxistischen Philosophen Herbert Marcuse. Angela Davis studierte Philosophie, in Deutschland etwa nahm sie an Vorlesungen von Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas teil.
Aber sie hat ihre philosophische akademische Karriere aufgegeben: Sie engagierte sich politisch für die Menschenrechte, wurde wegen ihres politischen Engagements aus der Uni entlassen. „Heute ist Davis eine wichtige Denkerin, deren Werke auf den Leselisten vieler amerikanischer Universitäten stehen, sie ist das bekannteste Gesicht der Linken im US-Imperium“ schreibt Kristin Gjesdal (S. 256). „Angela Davis kann und muss philosophisch gelesen werden“ (S. 259). „Sie beschreibt, wie rassistische Vorurteile eine Art erfahrungsspezifisches a priori bilden, also etwas, das schlichtweg alle Erfahrungen charakterisiert. Eingebettet in Körper und Geist bilden rassistsiche Vorurteil dann den Hintergrund, vor dem die Welt uns erscheint“ (S. 260).

7.
Das Buch „Rebellinnen der Philosophie“ zeigt, dass gerade Frauen, auch gerade weil sie unterdrückt wurden und sich befreien mussten, einen neue Dimension in die Philosophien bringen. Sie lehren: Philosophie ist kein Selbstzweck. Sie hat das Ziel, vom eigenen erlebten Leben und dem Denken inmitten dieses Lebens zu einer umfassenden politischen – befreienden Praxis zu führen… um die Welt (hoffentlich) gerechter zu gestalten. Das letzte Kapitel im Buch „Auf eigenen Beinen“ sollte mit besonderer Aufmerksamkeit gelesen werden: Da reflektiert eine Philosophin über die Bedeutung der Philosophie heute, über ihre Erneuerung und Öffnung … durch das Denken von Frauen.

Kristin Gjesdal, „Rebellinnen der Philosophie. Frauen, die das Denken der Moderne geprägt haben“: Eicbborn Verlag, 2025, 322 Seiten, 24 €. Die Übersetzung aus dem Norwegischen: Sarah Schmidt. Das Buch ist zuerst in Norwegen im Jahr 2024 erschienen!

Copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Gefährliche Erinnerung: Die Arbeit von „Memorial“ in Russland und anderswo

Ein Hinweis auf ein wichtiges Buch

Von Christian Modehn am 3.8.2025

1. „Erinnern ist Widerstand:“ Das Motto von „Memorial“, der wichtigen NGO, gegründet in Russland. Eine Basisinitiative von Menschen, denen die Geltung der universellen Menschenrechte am wichtigsten ist: „Memorial“ legt die Verbrechen der russischen Diktatoren frei! Gibt den vielen tausend Ermordeten und Gequälten der Verbrechen Stalins sowie der folgenden Diktaturen bis zu Putin die Menschenwürde zurück, die Würde: einen Namen zu haben, nicht vergessen zu sein. Die kritische Erinnerung dient dem einzigen Zweck: Nie wieder diese Menschenquälerei durch Diktaturen. Nie mehr totalitäre Gewaltherrschaft.

2.
 Memorial ist eine in demokratischen Staaten und unter Demokraten hoch angesehene NGO. „Memorial“ studiert und dokumentiert in aller Objektivität seit mehr als 30 Jahren die Verbrechen der Sowjetherrschaft. Und Putin, der absolute Machthaber der Russischen Föderation, hat genau verstanden: Strukturen totalitärer Herrschaft werden durch die kenntnisreichen und widerständigen Mitarbeiter von „Memorial“ selbstverständlich auch in seinem Herrschaftsbereich freigelegt. Deswegen löste Putin die NGO „Memorial“ im Dezember 2021 auf, zwei Monate vor seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine. Am 10. Dezember 2022 erhielt die NGO “Memorial” den Friedensnobelpreis,  „Memorial“ hatte 80 Arbeitskreise in vielen Städten Russland.

3. 
Heute ist die Arbeit von Memorial in Russland sehr schwierig. Die Ergebnisse der aktuellen dortigen Recherchen werden im Exil publiziert.

In Berlin wurde „Memorial e.V.“ gegründet. LINK.
 Wichtig ist auch das große Angebot von Podcasts durch Memorial LINK:

4.
 Wer den Widerstand gegen das Sowjetimperium und die folgenden Diktaturen dort verstehen will, muss sich also mit Memorial befassen. Der C.H.Beck Verlag legt jetzt ein Buch vor, 14 Autorinnen bewerten einige Aspekte der Geschichte von Memorial und nennen den aktuellen Stand der Forschung und Dokumentation. Wir empfehlen das Buch ausdrücklich! Es umfasst 192 Seiten, darunter (auf mehr als 40 Seiten) kommentierte „Bilder und Fotos aus der Memorial-Sammlung“. Sie beziehen sich auf Kunst und Literatur, unter qualvollen Bedingungen in den Lagern entstanden, sowie auf Fotos der ersten öffentlichen Kundgebungen von „Memorial“ in Russland 1988. Die HerausgeberInnen des Buches “Memorial”: Irina Scherbakowa engagiert sich als Gründungsmitglied von Memorial im Exil weiter für die Arbeit Erinnerung und das Eintreten für Menschenrechte, Filipp Dzyadko und Elena Zhemkova sind als Gründungsmitglieder von Memorial in Russland jetzt in Berlin tätig.

5.
 Der Titel „Erinnern ist Widerstand“ ist sehr treffend gewählt, angesichts der von Rechtsextremen seit Jahren schon verspotteten Erinnerung – Kultur! Wer sich an die Verbrechen nicht nur in Russland erinnert, sondern weiter denkend auch an die Verbrechen gegen die Menschheit, verursacht von Staaten, Kulturen, Religionen, Parteien, legt das Negative frei, indem er auch einen Vorschein und Ausblick auf eine bessere, d.h. humane und demokratische Zukunft ermöglicht.
Die Erinnerung ist geistige wie seelische Arbeit, aber auch körperliche Arbeit… bedingt durch die weiten Reisen zu den Orten der Verbrechen und den Recherchen dort! Das Tätigkeit – Wort Gedenken erhält etwa bei Walter Benjamin die Zuspitzung des „Ein-Gedenkens“. Und damit ist wohl gemeint: Das Erinnerte sollte der Mensch in seinen eigenen Geist hin-ein-nehmen, also nicht bloß oberflächlich etwas Vergangenes zur Kenntnis nehmen, also nicht bloß historisch – faktisch an Daten und Namen erinnernd denken, sondern sie ein-gedenken, also das Erinnerte mit dem eigenen Geist eng verbinden, es in den eigenen Geist, ins eigene Leben, in die eigene Gefühlswelt hineinnehmen… und Sich Hineinversetzen…Es ist wohl diese Form des Ein – Gedenkens, die dem Erinnern durch die „Memorial“ Arbeit die wahre Bedeutung gibt.
Ein einzelner kann natürlich nicht überall und zu allen Themen Erinnerungsarbeit leisten. Jeder und jede kann nur an einer Stelle, an seinem Ort, seine Erinnerungsarbeit wählen, zu Russland eben oder zu anderen Diktaturen und autoritären Herrschaftsformen oder zu Religionen und Konfessionen, die im Fundamentalismus der Gewalt versinken.

6.
 Das neue Buch aus dem C.H. Beck Verlag dokumentiert die Rede von Jan Rachinsky anläßlich der Verleihung des Friedensnobelpreises am 10. Dezember 2022 in Oslo. Rachinsky legt allen Nachdruck darauf: Es sei das Gefühl und die Erkenntnis der bürgerlichen Verantwortung, die Menschen zur Memorial Erinnerungsarbeit führen. Es geht um die Verantwortung dafür zu sorgen, dass die leidenden und vernichteten Menschen früherer Generationen nicht dem Vergessen preisgegeben werden, „denn der Mensch empfindet seine Einheit mit vorangegangenen Generationen“ (S. 43). Interessant ist für mich, dass in einigen Beiträgen der „Memorial“ MitarbeiterInnen auf den Philosophen Karl Jaspers verwiesen wird als philosophischen Inspirator…

7.
 Irina Scherbakowa, Mitbegründerin von „Memorial“, berichtet ausführlich über den „Kampf für das Erinnern“. In den 35 Jahren der aktiven Präsenz in Russland konnten die MitarbeiterInnen von Memorial „Informationen aus Geheimarchiven öffentlich zugänglich machen und die Schicksale hunderttausender Staatsterror – Opfer aufklären…In einer Reihe von Städten wurden an Orten von Massengräbern Gedenktafeln und Gedenkzeichen für die Opfer politischer Repressionen angebracht… Das Archiv, das Memorial in den Jahren seiner Tätigkeit aufgebaut hat, umfasst hunderttausend Dokumente …Im Herbst 2021 wurde das Hauptgebäude von „Memorial“ in Moskau von Putin geschlossen, typischerweise ließ der Diktator die Eingangstür mit Handschellen verschließen! Und auch dies: Stalin erlebt in der russischen Gesellschaft seit Jahren wieder ein Come-back…In Berlin setzt Memorial seine Arbeit fort, in Paris befindet sich das Memorial Menschenrechtszentrum, es unterstützt die politischen Gefangenen…

8.
 Nur einige Hinweise zu einigen der 12 AutorInnen, die „Memorial“ kommentieren.
Alida Assmann bezieht „Memorial“ auf Repressionen außerhalb Russlands, sie nennt die Protestbewegung der „Mütter und Großmütter von der Plaza de Mayo“ in Buenos Aires gegen die Militärjunta. „Die Frauen haben für die Menschenrechte gekämpft und die Junta zu Fall gebracht, obwohl sie unbewaffnet waren und die Zivilgesellschaft repräsentierten…Ihre politische Macht lag in der Erinnerung an die Verbrechen der Militärjunta“ (S. 94).

Der Historiker Karl Schlögel zeigt, dass die Erfahrung von Terror und Gewalt in der Gegenwart die junge Generationen sensibel machen sollte für die Gewaltherrschaft, die frühere Generationen ausübten bzw. erleiden mussten. Schlögel hofft, dass durch diese intensive Konfrontation mit früheren Verbrechen „eine apolitisierte und apathische Gesellschaft aus ihrer Gleichgültigkeit herausgerissen wird.“ (S. 98).

Aus der Erfahrung des Leidens und der sinnlosen Gewalt (etwa durch den Diktator Putin) könnte dann im westlichen Europa der Wille zum Widerspruch und zum Widerstanden stehen. Eine Hoffnung!
Auf den Unterschied zwischen Widerstand und Resistenz macht Filip Dzyadko aufmerksam: Widerstand ist für ihn das direkte radikale und auch gewaltsame Vorgehen gegen eine Diktatur. Resistenz hingegen kann sich in verschiedenen noch „milderen“ Formen des Widerspruchs äußern, etwa durch öffentliche Kritik, durch sozialen Ungehorsam, Verweigerung, Ablehnung der Kooperation mit Behörden der Diktaturen…

Auch der Schriftsteller Jonathan Littell (Autor des Romans „Die Wohlgesinnten“) ist mit „Memorial“ verbunden durch seinen Einsatz zugunsten der Menschenrechte in den Tschetschenien Kriegen. Littell meint ziemlich provokativ, dass die heute inszenierten Kriege in der Ukraine, in China, in Israel usw. ablenken von der noch größeren Katastrophe, der „Zerstörung des Planeten durch die Menschheit, die sich im System des Kapitalismus verstrickt hat, in dem wir alle leben.“ ( S.160). Littell meint also, die heutigen Kriege, verursacht von Gewaltherrschern, seien so etwas wie Ablenkungsfaktoren: Sie lenken ab von dem größten aller dringenden Probleme: der Klimakatastrophe (S. 164). Tatsächlich ist das Interesse der Herrschenden an der Verhinderung der Klimakatastrophen jetzt weltweit zurückgegangen. Und fast alle großen Medien sprechen ständig  von Putin, Trump, Xi , der Hamas oder Netanjahu… Littell sagt: „Ich bin keineswegs überzeugt, dass unser Planet im Jahr 2100 noch geeignete Lebensbedingungen bieten wird. ..Ich habe keine Hoffnung, sie geht mir gegenwärtig vollkommen ab“ (S. 165, 164.).

9.
 Der „Tagesspiegel“ hat ein ausführliches Interview mit einem der Mitbegründer von Memorial publiziert: mit Oleg Orlow. Er wurde am 27.2. 2024 wegen eines Anti-Kriegs-Artikels zu zweieinhalb Jahren Lagerhaft verurteilt. Im Rahmen eines Gefangenenaustausches kam er fünf Monte später frei. Er betont, jetzt in Freiheit, in Berlin: Als 2021 Memorial „vom russischen Staat offiziell liquidiert wird, können Menschenrechtler nur noch in losen Vereinigungen tätig sein. Die Kollegen in Russland sammeln und registrieren wieder Informationen über die Menschenrechtslage in Russland. Veröffentlicht werden diese Daten aus Sicherheitsgründen dann von uns aus dem Ausstand heraus. Vor Ort bieten wir nach wie vor Rechtsbeistand für die Opfer staatlicher Repressionen an…“. („Tagesspiegel“ 1. August 2025, Seite 12.)

10.
 Solange es Menschen gibt, die so stark indoktriniert werden, dass sie sich aus Passivität, Faulheit, Bequemlichkeit die menschenfeindliche autoritäre Führung eines Führers wünschen, wird es immer Verfolgung und Unterdrückung der Mensch gebliebenen Menschen geben; wird es Lager geben, die zur umfassenden Vernichtung der so genannten Widerspenstigen, der Demokraten und Verteidiger der Menschenrechte bestimmt sind. Man fragt sich deshalb, ob nicht die Idee der „Memorial Arbeit“ als einer Basis – Initiative von Demokraten (und nicht von Historikern allein) überall wirksam werden sollte.
Die Geschichte der katholischen Kirche z.B. wird nicht umfassend nach Memorial- Art untersucht: Alle die verfolgten, gequälten und verbrannten Ketzer und Hexen, alle ohne großen Namen, alle die gemarterten Irrlehrer, die selbständig und ungehorsam Frommen, alle kirchlich Unterdrückten … sie werden bisher im großen Graben der Vergessenheit belassen. Sie finden keine Erwähnung in den großen Studien der Kirchengeschichte. Sie liebt ohnehin die großen Helden und Heiligen viel mehr als die „kleinen Leute“ in ihrer eigenen Art, ihren Glauben trotz aller Klerus-Herrschaft zu leben. 
Die vielen Namen der seelisch und körperlich Gequälten, der Mißhandelten und Getöteten, müssten natürlich auch in anderen Religionen freigelegt und öffentlich gemacht werden, etwa in der Religion der Muslime oder der Hindus oder der Buddhisten usw.
Die Philosophie und die Arbeitsweise von „Memorial“ sollte “universell” werden, wenn sich denn die Kirchenhistoriker auf diese Arbeit einlassen und vor allem in den Gemeinden entsprechende Memorial – Arbeitsgruppen entstehen. Die langsame und sehr restriktive Öffnung der Archive des Vatikans, auch der einzelnen Diözesen und vor allem der kritisch völlig unerforschten Zentralen der katholischen Ordensgemeinschaften ist bezeichnend.
Eines Tages werden auch die vielen tausend Namen der Missbrauchsopfer durch den Klerus veröffentlicht werden wie die vielen tausend Namen der klerikalen Täter.
Die „Memorial“ – MitarbeiterInnen in Russland waren auch mit heftigem Widerstand konfrontiert bei ihren Recherchen in den Lagern und Zentralen der Kommunistischen Partei usw. Diese mühevolle Arbeit kann katholische „Memorial“ – MitarbeiterInnen „trösten“, wenn sie denn etwa ihre umfassende Freilegung der Erinnerung zur weiter „vergangenen“ oder auch aktuellen Kirchengeschichte beginnen.

11. „Die Wahrheit wird euch frei machen“ sagt Jesus von Nazareth (Johannes-Evangelium 8.Kap., Vers 32). Eine treffende und aktuell bedeutsame Erkenntnis, die allerdings die meisten Hierarchen, Autokraten und alle Führer fürchten, auch in den Kirchen, selbstverständlich auch in den orthodoxen Kirchen, etwa im Patriarchat von Moskau: Dort herrscht der ehemalige KGB Mitarbeiter und Putin Freund Patriarch Kyrill als Kriegstreiber. Und … mit diesen Kirche will sich der Papst unbedingt in einer „Einheit“ zusammen schließen.
Die Kirchen haben Angst vor der Wahrheit, die frei macht. Denn durch die Freilegung von historischer Wahrheit könnten sich die Akteure sinnvollerweise auch von der Kirche als Institution befreien und … trotzdem Christen bleiben! Das würde das Ende dieser Institution befördern, die sich als katholische Kirche bekanntlich selbst und voller Stolz bis heute explizit als „nicht – demokratisch“ definiert; vielleicht will sie jetzt ein bißchen „synodal“ werden, aber ohne eine wirkliche Synode, d.h. ein Parlament mit Mehrheitsentscheidungen der Gleichberechtigten, einzuführen.

Die Adresse: “Memorial e. v. Deutschland”: Greifswalder Str. 5, 10405 Berlin

Memorial. Erinnern ist Widerstand“. C.H. Beck Verlag München, 2025, 192 Seiten, 25 €.

Copyright: Christian Mohn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Fördert die Regierung Netanjahu den Antisemitimus?

Die 28. der „Unerhörten Fragen“
Von Christian Modehn

Könnte es sein, dass die Netanjahu-Regierung in Israel in ihrem absolut unmenschllchen Umgang mit den Palästinensern in Gaza (und im Westjordanland) den allgemeinen Antisemitismus weltweit fördert? Antisemitismus in der westlichen Welt also verursacht durch Israels Politiker und durch die jüdischen Bürger Israels, die diese Politiker wählten?

Diese Frage wird in aller Vorsicht gestellt. In dem Wissen, dass gebildete Menschen Antisemitismus von Kritik an einer brutalen Regierung in Israel unterscheiden. Aber auch in dem Wissen, dass diese Unterscheidung bei sehr vielen Menschen leider nicht üblich ist. Und jetzt schwerfällt. Dass diese Regierung Israels de facto Antisemitismus erzeugt, wird verstärkt durch das Wissen: Dass Israel sich ursprünglich als ein „jüdischer Staat“ behauptet. Ein religiöser, biblischer Staat also, der, bei diesem Titel dem eigenen Anspruch folgend, gewisse grundlegende humane Prinzipien etwa der biblischen Propheten respektieren müsste! Der also dem entsprechend mehr auf Dialog mit den Feinden setzen müsste als auf permanente Unterdrückung des Feindes. Fördert also Israels Regierung den Antisemitismus in der “westlichen Welt”? Das ist wahrscheinlich!

Dies wird auch in dem Wissen gesagt, dass die Hamas Israel brutal angegriffen hat. Dies wird auch in dem Wissen gesagt, dass das übliche, angeblich biblisch begründete (aber nicht etwa christlich geltende) Prinzip der Rache „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ gegen den Feind maßvoll eingesetzt werden sollte.
Jetzt aber ist die tötende Gewalt Israels gegenüber dem Feind absolut maßlos geworden. Die Bilder des durch Isarel erzeugte Elends der Menschen in Gaza erinnern an leidende Menschen im KZ!
Hilfsorganisationen nennen das Elend der Palästinenser jetzt „die Hölle“ (Tagesschau 31.7.2025, 20. Uhr). Ist es also für bestimmte Juden normal geworden, dass jüdische Politiker die Hölle für andere erzeugen?
Nein, es gibt Widerspruch unter Juden in Israel und weltweit, aber leider bleibt der Widerspruch bisher wirkungslos. Woran liegt das? Wie weit darf Israel -Kritik durch Juden gehen? Die großartigen Studien des jüdischen Historikers Prof. Shlomo Sand (Tel Aviv) sind leider die Ausnahme, sie werden in Deutschland kaum beachtet, seine Studien verdienen weites Interesse! LINK  Kein deutscher TV Sender fragt Prof. Slomo Sand…Eine Rezension eines der Bücher von Shlomo Sand: siehe die Fußnote 1.

Gott sein Dank wehren sich gegen den Massenmord durch Israels Regierung einige vernünftige europäische Politiker. Deutsche sind bislang deutlich nicht dabei, wenn es jetzt um die Anerkennung eines Palästinenser Staates geht. Deutsche Politiker fördern also auch in dieser ihrer Zurückhaltung, Angst, Staatsräson, den von dieser Regierung in Israel erzeugten Antisemitismus? Darf man diese Situation paradox nennen? Das heißt: Deutsche Politiker (Merz und Co) fördern wieder in dieser ihrer genannten Zurückhaltung eine neue Form des Antisemitismus?

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

……..

Fußnote 1:

Shlomo Sand
Warum ich aufhöre, Jude zu sein
Propyläen Verlag. 156 Seiten. 18 €

Von Christian Modehn , erschienen in der Zeitschrift PUBLIK – FORUM  2014.

Shlomo Sand, Professor für Geschichte in Tel Aviv, bietet mehr als ein persönliches Bekenntnis. Er kann aus objektiven Gründen nicht länger Jude sein, weil er den heutigen Staat Israel ablehnt. Dabei gibt es für ihn keinen Zweifel, als polnischer Jude, 1942 in Österreich geboren, für das Existenzrecht Israels einzutreten. In dem „jüdischen Staat“ lebt er seit 1949. Aber gerade diese Definition findet er unerträglich. Denn Israel bevorzugt die Bewohner, die dem jüdischen Volk zugehören. Dabei ist es ein Mythos, so wörtlich, über die jüdische Rasse den Staat Israel zu definieren. Die „Rasse“ der Hebräer gibt es nicht. Jude, meint Sand, sei man einzig durch sein religiöses Bekenntnis. Als Atheist möchte er aufhören, als Jude zu gelten, kann es aber nicht, weil er vom Staat unaufhebbar dem „Volk“ zugerechnet wird. In dieser „Volksideologie“ sieht Sand zudem die Wurzel der verhängnisvollen Besatzungspolitik. Er plädiert für eine „republikanische Identität“ Israels mit dem absoluten Respekt der Menschenrechte und einer Zweistaatenlösung mit Palästina. Das Buch verdient intensive Diskussionen.

Philosophieren im Urlaub: Arbeit oder Erholung?

Ein Plädoyer fürs Philosophieren – auch in den Ferien
Von Christian Modehn am 27.7.2025

1.
Einige Stunden in der Ferienzeit als Philosoph(In) zu erleben, ist vielleicht ein ungewöhnlicher Vorschlag. Der Einwand kommt gleich: Ist denn nicht Philosophie etwas Anstrengendes, ist sie also in gewisser Hinsicht Arbeit? Und wollen wir uns Arbeit zumuten im Urlaub, der doch eher von der Lust am Nichtstun und Spiel, von der Lust an der Entspannung und Faulheit bestimmt sein sollte!
Vielleicht kann aber Philosophie zur Erholung beitragen, wenn man sie als eine besondere Form des Spiels versteht, des Gedankenspiels, als Freude am Fragen, am Zweifeln, am genauen Hinschauen und Verweilen … und als Freude darüber: Durch eigenes Nachdenken etwas mehr Klarheit im Leben erlangt zu haben. Diese Art, Heiterkeit und Klarheit durch eigenes Nach – und auch Voraus- Denken zu finden, nennen wir Philosophieren.

2.
Vorweg, um elementar für Klarheit zu sorgen: Philosophieren hat nichts zu tun mit Grübeln oder Phantasieren oder Tagträumen, was oft gemeint ist, wenn es in der Öffentlichkeit heißt: „Darüber könnte man lange philosophieren“. Etwa, ob der Verbrecher Putin irgendwann einmal selbst seine Kriege beendet…Philosophieren wird so zu etwas Irrealem, Utopischen, Spinösen, Zweifelhaften.

3.
Hingegen ist philosophieren die Praxis der Philosophie. Wie musizieren, bereits schon Klavier- oder Violine-Üben die Praxis der Musik ist. Ohne elementares Philosophieren gibt es keine Philosophie. Nun hat nicht jede(r) Philosophierende die Begabung oder die Zeit, seine Gedanken als „philosophisches Buch“ zu veröffentlichen. So wie auch nicht jeder, der Mozarts Sonaten übt, automatisch im Konzertsaal auftreten wird. Der Unterschied ist nur: Klavierspielen kann nicht jeder (lernen), hingegen Philosophieren ist eine Möglichkeit, die jedem und jeder gegeben ist. Man muss sie nur entdecken. Sie eröffnet auf ungeahnte Art grundlegende Erfahungen des Daseins. Ein Mensch kann unmusikalisch sein, der Mensch ist aber niemals unphilosophisch oder besser: “nicht-philosophierend”!

4.
Philosophieren ist etwas Elementares im Menschen, immer Gegebenes, Geschenktes, oft “schlummernd”, aber immer “aufzuwecken”. Bekanntlich ist der Mensch kein Tier wie etwa ein Hund oder ein Schwein, sondern ein, wie begrenzt auch immer, vernünftiges Wesen der Freiheit. Philosophieren als Leben des Geistes und der Vernunft geschieht immer: Und diese Erkenntnis stellt sich ein, wenn man wahrnimmt, dass jede unserer Entscheidungen Ausdruck unserer eigenen, oft gar nicht thematisierten Philosophie ist.
Ein Beispiel, und es ist ziemlich banal: Ob ich mir für 300 Euro eine Opernkarte für die schon dreimal gehörte „Entführung aus dem Serail“ kaufe oder ob ich diese 300 Euro einer Welthungerhilfe spende oder eine Gruppe von FreundInnen und Fremden (!) zum Essen einlade. In dieser Entscheidung zeigt sich meine Präferenz für bestimmte Werte, zeigt sich, was mir im Augenblick wichtig ist. Da wird mein philosophischer Lebensentwurf mir bewusst.

5.
Dabei wird deutlich: Wir Menschen entkommen sozusagen dem Philosophieren nie, wir sind ins Denken unüberwindbar immer förmlich eingelassen, jede Entscheidung ist Ausdruck unseres Lebensentwurfes. Selbst unsere Frage nach dem Wetter, kann eine philosophische werden, wenn uns bewusst wird: Warum sprechen wir mit anderen so gern übers Wetter? Fällt uns nichts anderes ein?

6.
Und wie ist es nun im Urlaub? Philosophieren beginnt dann etwa mit der Frage: Will ich mir wie seit 3 Jahren bei mir üblich die 40 Grad im Juli in Griechenland in einem überfüllten Hotel wieder zumuten? Mich dem Streß des Fliegens aussetzen und durch diese Form des Reisens die klimaschädlichste Art jeglicher„Fortbewegung“ überhaupt wählen? Oder will ich es wagen, in meiner nahe oder weiten Nachbarschaft, in kühleren Regionen hoffentlich, spazieren zu gehen, einmal in Ruhe die Umgebung und vielleicht die Museen kennenzulernen, vor allem die Natur dort zu erleben oder in Ruhe zu lesen … und eben … zu philosophieren. Und das heißt: In einem ruhigen Raum oder inmitten der Natur die Fragen zuzulassen, die sich dann wie von selbst aufdrängen: Warum ist die jetzt erlebte Ruhe und Stille eigentlich so hilfreich und wohltuend in meinem Leben? Warum berührt mich die Natur in ihrer steten Wandlung? Was bewegt mich da eigentlich etwas schon zu finden? Ist es die Schönheit der Blumen? Oder ihre Vergänglichkeit? Fühle ich mich eins mit der Natur? Was bedeutet deren Werden und Vergehen eigentlich? Jetzt bin ich im Urlaub unterwegs, aber bin ich nicht in Wahrheit immer unterwegs? Aber immer anders unterwegs, bloß: wohin denn? Was ist eigentlich mein Ziel? Wenn ich diese sich aufdrängenden Fragen zulasse, sie bedenke, also reflektierend hin – und herdrehe, an manchen Eindrücken und Erkenntnissen zweifle, dann bin ich schon mitten im Philosophieren.

7.
Aber ist dieses Philosophieren im Urlaub denn nun Arbeit, Denkarbeit? Das Sortieren der Begriffe, das Abwägen der sich mir aufdrängenden Argumente, ist tatsächlich eine Art Arbeit, sie verlangt Konzentration und Mut zur Abwehr jeglicher Ablenkungen. Aber ich verlange niemals von mir, im Urlaub philosophierend, einen langen Essay über Grundprobleme, etwa den Sinn des Lebens im allgemeinen, zu schreiben. Eine definitive Antwort auf die Frage: Was ist Wahrheit? werde ich auch im Urlaub nicht finden. Sich an diese Themen im Urlaub von 3-4 Wochen zu wagen, wäre anstrengende Arbeit, Denk – Arbeit, verbunden mit Lektüren, vielen Fach – Gesprächen, dem Setzen von Fußnoten usw.

8.
Aber zur Ruhe kommen, innehalten, die Umgebung betrachten, die Natur wahrnehmen, ihr in Stille (Kontemplation)  begegnen; eine gotische Kathedrale oder eine Barockkirche betrachten und neugierig erleben und nicht nach drei Minuten wieder verlassen, weil man eine „Sehenswürdigkeit“ abhaken kann auf einer so gfurchtbaren “to-do-Liste” im Urlaub: Es gibt eine “alternative” Tätigkeit im Urlaub und sie ist ein Vergnügen, keine Arbeit. Die ist ein zweckfreies Verhalten, ohne Leistungsdruck, ohne den üblichen “Zeitdruck”, ohne Kontrolle durch einen Chef etc.… Im Philosophieren bin ich völlig frei, mir bislang ungewöhnliche Fragen zu stellen und dabei förmlich aus der Zeit herauszutreten.  Wenn ich in einer Barockkirche zur Ruhe komme: Kann mich die Bilderwelt erdrücken, die Frage lass eich zu: Warum sieht man überall Darstellungen der „Jungfrau Maria“. Ist Maria vielleicht doch eine geheime Göttin im Katholizismus?

9.
Die Auswahl der Themen inmitten eines philosophierenden Alltags im Urlaub  ist endlos. So weit und bunt wie das Leben, so vielfältig wie das Leben des Geistes, der Vernunft und unserer Gefühle. Philosophieren lebt nur von dem Mut, sich seine eigenen Gedanken zu machen und auch vorläufige Erkenntnisse, wenn nicht vorläufige Wahrheiten wie ein Geschenk des Nachdenkens anzunehmen. Für Kant war das philosophische Denken auch eine Frage des Mutes! (“Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen”).
Nur ein Mensch, der selbst philosophiert, wird mit anderen dann auch philosophieren wollen und können. Dialoge der Philosophierenden können inspirierend sein, am besten in kleinem Kreis, wenn man einander respektiert und auch das Zuhören schätzt oder die  „Denkpausen“ des Schweigens nicht als peinlich deutet. Absolute Wahrheiten wird man auch dann nicht entdecken, aber die Vielfalt der Blickwinkel respektieren und aus die eigene begrenzte Sichtweise gegen eine andere natürlich auf andere Art auch begrenzte Sichtweise tauschen, die alsbald aber auch überwunden wird…im Philosophieren.

10.
Manche „philosophierende Anfänger“ sagen mir: Wie sehr es ihnen Denk – Freude bereitet, in der deutschen Sprache einige tatsächlich in die Tiefe führende Worte und Begriffe mit neuem Erstaunen wahrzunehmen und dann philosophierend „auseinanderzunehmen“.
Immer wieder wird dann das Verb „Aufheben“ genannt, das sich als „hoch-heben“, aber auch „ungültig machen”, aber auch als „bewahren“ zeigt. Hegel liebte das Verb aufheben sehr.
Oder: Wiederholen: Ich hole etwas wieder …hole es in meine Gegenwart hinein. Oder auch: Ich repetiere eine alte Erkenntnis, wiederhole übend ein Klavierstück. Oder: Ich besorge, hole mir, etwas Verlorenes wieder…
Oder man denke an das Verb gedenken, das etwa bei Walter Benjamin die Zuspitzung des Ein-Gedenkens erhält. Und damit kann gemeint sein: Das Erinnerte in den eigenen Geist hin-ein-nehmen, also nicht bloß oberflächlich etwas Vergangenes zur Kenntnis nehmen, also bloß historisch – faktisch an Daten denkend gedenken, sondern eben ein-gedenken, d.h. das Erinnerte mit dem eigenen Geist verbinden, das Erinnerte in den eigenen Geist, ins eigene Leben, in die eigene Gefühlswelt hineinnehmen… Sich hineinversetzen….

11.
Oder man philosophiere gerade bei einem Aufenthalt als Tourist im Ausland über „den Fremden“. Wenn ich über die deutsche Grenze gehe, bin ich im Ausland. Dann bin ich in der Fremde, bin ich ein Fremder. Früher mietete man in Pensionen „das Fremdenzimmer“. Aber auch innerhalb Deutschlands, meiner “Nicht – Fremde”, kann ich schnell in der Fremde sein und zum Fremden werden: Ich fühle mich entsetzlich fremd unter religiösen Fundamentalisten aller Konfessionen und Religionen, ich fühle mich absolut fremd unter klassischen Nazis und den nur noch auf die Machtübernahme sinnierenden Nazis der AFD. Fremd können mir auch einige Familienmitglieder werden. Und dann folgt eine andere philosophierende Wahrnehmung: Wer Fremde, etwa Flüchtlinge, als die Anderen, die „nicht zu mir/uns gehören“, in „meinem“ Land als Bedrohung erlebt und diese Menschen rausschmeißen will, vergißt: Dieser nationalistische Feind aller Fremden ist selbst fast überall – auch in seiner eigenen Selbstwahrnehmung – ein Fremder. Wer dann noch weiter denkt, dem zeigt sich wie eine politische Forderung: Es kommt darauf an, Gesellschaften und Staaten so zu gestalten, in der alle Menschen human und gleichberechtigt leben können, im Wissen, dass jeder und jede eigentlich fast immer  fremd oder befremdlich ist: Zunächst ist jeder Mensch ein Fremder, durch Verständnis und Toleranz kann jeder remde zum Freund werden.
In dieser ungerechten Welt ist es üblich, dass es “wertvolle Fremde” gibt, also finanzstarke Fremde, zu denen die Europäer oder die Nordafrikaner gehören, die weltweit explizit als Fremde auftreten können und dann auch erwarten, dass sie im Gastland etwa in Peru oder Ghana als Menschen gut behandelt werden. Nur haben diese „wertvollen Fremden“ sich mit ihrem Geld das Recht erobert, ohne Mühe wieder aus den Ländern des globalen Südens , Peru oder Ghana, ausreisen zu können. Die „demokratischen“ Gesetze der „wertvollen Fremden“ verbieten es aber ihren Gastgebern im globalen Süden, ihrerseits problemlos zu reisen und sich in der Fremde niederzulassen.

12.
Auch das ist zentral beim Philosophieren im Urlaub: Es ist die überraschende Kraft der menschlichen Vernunft: Wir denken etwas, und und gleichzeitig schaut unsere Vernunft auch noch begrifflich auf unser Denken und ihr Resultat: Und stellt die Frage: Stimmt das Wahrgenommene und Gedachte und Erkannte? Unser philosophierendes Denken korrigiert sich also von selbst, man muss es nur zulassen, um immer wieder neue Wahrheiten zu entdecken.

So wird unser Leben zu einem Unterwegssein … zu immer neuen Erkenntnissen oder auch Wahrheiten, die vielleicht umgriffen sind von dieser bleibenden Wahrheit: Der Mensch sollte nie stagnieren, sich nie fixieren. Er sollte also immer ein Reisender sein. Die Alten, die religiösen Menschen zumal, sagten: Der Mensch ist immer ein Pilger.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Exzentrisch, asketisch, spirituell: Zum 100. Todestag des Komponisten Erik Satie am 1. Juli 2025

Ein Hinweis von Christian Modehn am 28.6.2025

1.
An Erik Satie (17.5.1866 – 1.7.1925) erinnern: Den Musiker und Komponisten, den Menschen, den so viele für skurril und rätselhaft hielten und halten, der aber auch so viele begeistert mit seiner Musik …. des minimalen Klangs, der irritierenden Einfachheit, der Mißachtung üblicher musikalischer Regeln. Satie zeigt sich immer wieder als eigenständiger, Ungewohntes und Ungehörtes schaffender Komponist, er ist keiner „Schule“ verpflichtet und verzichtet auf brillante oder schillernde musikalische Effekte… darüber ist viel geschrieben worden. Wir zitieren nur den einen Satz: „Die aufscheinende Skepsis Saties gegenüber etablierten Vorstellungen vom musikalischen Kunstwerk hat spätere Künstler bis hin zu John Cage nachhaltig beeinflusst.“ Zitat siehe: LINK.

2.
Wir wollen auf den Esoteriker hinweisen, und dazu gehört auch: an den eher unbekannten Kirchengründer Eric Satie erinnern. Zunächst in enger Verbindung mit den esoterischen „Rosenkreuzern“ suchte Satie seinen eigenen Weg: Er verließt diese Gemeinschaft und gründete 1893 seine eigene Kirche und gab ihr den etwas schwierigen und durchaus mysteriös klingenden Titel: „Église Métropolitaine d’Art de Jésus Conducteur“, „Metropolenkirche der Kunst von Jesus dem Lenker“. Kirchen zu gründen war in Frankreich keine Seltenheit: Intellektuelle, Schriftsteller und Künstler wollten sich vom herrschenden dogmatischen und weithin monarchistisch gesinnten Katholizismus absetzen und gründeten eigene Kirchen-Gemeinschaften. Satie zeigt sich also nicht nur in seinen Kompositionen, auch in seiner Kirchen-Gründung und seiner Messe als mutiger, Konventionen sprengender Individualist. Siehe auch Fußnote 1.

3.
Es gehört zum exzentrischen Charakter Erik Saties, dass er das einzige Mitglied seiner Kirche blieb und wohl auch bleiben wollte; er gab zwar sein Gemeindeblatt heraus, aber er fand keine Mitglieder und wollte wahrscheinlich auch keine um sich sehen in seinem Haus, der „Kirchenzentrale“ in Arcueil bei Paris. Aktuelles Foto: LINK.

4.
In diesem spirituellen Erleben komponierte er um 1895 eine von ihm selbst so bezeichnete „Messe der Armen“, weil er sich selbst als Asket, als Künstler „am Rande“ verstand. Satie hatte offenbar für sich selbst ein Gelübde der Armut ausgesprochen, einer Armut, die er selbst in seinem Lebensstil zeigte.
Mit der ihm vertrauten mondänen Welt von Montmartre und ihren Vergnügungen hatte er offenbar gebrochen. Olivier Messiaen hat diese Messe zuerst aufgeführt. Sie enthält von den üblichen Gebeten (den „Ordinarien“) der römisch – katholischen Messe lediglich das Kyrie, hingegen aber auch Gebete, etwa speziell „für die Reisenden und die Seeleute in Todesgefahr“ und zum Schluß auch ein „Gebet für meine Seele“. Diese Satie – Messe hat den Untertitel, offenbar an Gott adressiert: „Intende Votis supplicum“, „Sei bedacht auf das Flehen des Gebetes.“

5.
Die spirituelle Prägung Eric Saties könnte uns inspirieren, seine Musik, seine Klaviermusik, etwa die „Gnossiennes“ auch als Ausdruck einer ungewöhnlichen, nicht – dogmatischen Frömmigkeit zu hören und zu verstehen. Und musikalisch ins Meditieren zu kommen.

Fußnote 1: LINK

Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon