Abelard oder die (Ohn-) Macht der Vernunft … im Mittelalter

Über die aktuelle Bedeutung des Philosophen und Theologen Petrus Abelard
Ein Hinweis von Christian Modehn

Ein Vorwort: Warum an Abelard erinnern? Weil er als Theologe schon im Mittelalter allen Wert darauf legte: Die Vernunft des Menschen ist entscheidend im Studium der Dogmen und Kirchenlehren:  „Der Mensch kann nur glauben, was er zuvor verstanden hat. Und es ist lächerlich andere zu lehren, was sie nicht verstehen können“ (Zitat von Abelard, siehe Fußnote 1.)

1.
Für das „Mittelalter“ haben Etiketten und Klischees („dunkel“, „unterentwickelt“, „abergläubisch“…) keine vorrangige Geltung. Die Jahrhunderte zwischen Altertum und Renaissance, „Mittelalter“ genannt, sind von lebendiger Vielfalt, das „Licht“ (die Vernunft) setzt sich langsam durch, gegen die Finsternisse des (Aber)-Glaubens…
Das gilt besonders für die Philosophien. Der Plural Philosophien muss betont werden: Thomas von Aquino war keineswegs der einzige maßgebliche oder einflußreiche Denker, das behaupten manchmalTheologen, zumal katholische. Streit, Debatte, und damit Ketzereien waren selbstverständlich.

2.
Wir wollen an Petrus Abelard erinnern, den Philosophen und Theologen, der traditionelle Lehren nicht gehorsam wiederholte, der den Zweifel pflegte und Kritik lobte; und vor allem: Der eine neue Interpretation des Christentums vorlegte: Ein Beispiel: Die Vorstellung von einem himmlischen Vater – Gott, der seinen Sohn (Christus) dem Kreuzestod zur „Erlösung der Menschheit“ überlässt, lehnte Abelard ab.

3.
Mit dem französischen Philosophen Petrus Abelard (geboren im Jahr 1079 in Le Pallet, in der Nähe von Nantes, gestorben am 21. April 1142 bei Chalon-sur-Saone) machte die „Weltgeschichte einen Ruck!“ Er war “einer erfolgreichsten Neuerer in der Geschichte der Philosophie“ und auch der Theologie: Diese Bewertung ist für einen der großen Kenner mittelalterlicher Philosophien, Prof. Kurt Flasch, nicht zu hoch gegriffen. So schreibt er in seinem Buch „Kampfplätze der Philosophie“ (Frankfurt M., 2008, S. 139 bzw. 131): „Durch Zweifeln kam Abälard zum Forschen, durch Forschen zur Wahrheit“, (S. 129), „er dachte die Wahrheit als etwas, das noch zu finden ist“ (ebd.). Probleme mit der Kirche, die auch damals glaubte“, „die Wahrheit zu besitzen“, waren für ihn damit „vorgrammiert.”

4.
Literarisch Interessierte kennen Abelard von den Korrespondenzen mit Héloise, seiner Gebliebten. Heute haben Forscher ihre Zweifel, dass Abelard Autor dieser Liebesbriefe ist. Es empfiehlt sich, schreibt Kurt Flasch, vorerst „Abelards philosophisches Werk ohne Zuhilfenahme des Briefwechsels mit Héloise zu interpretieren“. So schreibt Flasch in seiner umfangreicher Studie „Das philosophische Denken im Mittelalter“ (Reclam, 4. Auflage, 2020, S. 241). Über die tragische Liebesbeziehung Abelard – Héloise gibt es bekanntlich viele literarische, durch Phantasie angereicherte Zeugnisse, auch von Rousseau.
Tatsache ist, ohne hier eine umfangreiche Biographie zu präsentieren: Der Onkel der Héloise, der angesehene Priester Fulbert, duldete die Liebesbeziehung nicht: Héloise zog sich dann in ein Kloster zurück. Nach allerhand Querelen ließ Fulbert den Abelard überfallen und entmannen: Und der Ärmste zog sich dann als Mönch ins Kloster St. Denis zurück, das er bald aber wieder verließ: Er hatte ein sehr bewegtes, unruhiges Leben zwischen der Universität Paris und Klöstern als den Zufluchtsorten vor seinen vielen theologisch – konservativen Gegnern, wenn nicht Feinden. Dennoch ist die Fülle seiner Werke voller neuer Ideen erstaunlich. Da spricht ein Denker, der mit der philosophischen Vernunft auch die theologischen Lehren untersucht, interpretiert und neu formuliert. Die Übergänge zwischen Philosophien und Theologien waren im Mittelalter eher selbstverständlich.
Das – lateinisch verfasste – umfangreiche Werk des Philosophen und Theologe Abelard ist erhalten.
Er war ein radikaler Erneuerer…, deswegen wurde er von einflußreichen konservativen Autoritäten kritisiert und verleumdet, wie Bernhard von Clairvaux oder Wilhelm von Thierry. In einem „Konzil“ von Sens (in Burgund) wurde ihm im Jahr 1140 noch der Prozess gemacht, er galt dann als Häretiker, meinte der Papst. Abelard wollte in Rom widersprechen, starb aber auf der Reise dort hin.

5.
Dabei waren viele Lehren Abaelards, die im Konzil von Sens (1140) verurteilt wurden,  in heutiger kritischer theologischer Sicht durchaus treffend und inspirierend.

– „Der Heilige Geist ist die Seele der Welt.“ Das heißt: Dies ist eine  „Definition“ des “heiligen Geistes” in der Welt  durchaus modern und hilfreich.

– „Der freie Wille aus eigener Kraft reicht aus, um etwas Gutes zu bewirken.“ Das heißt: Die Aussage bezieht sich auf die „Schöpfung“ des Menschen durch Gott. Und Gott hat dem Menschen einen freien Willen gegeben und die Vernunft, deswegen kann der Mensch sich frei entschieden, Gutes zu tun und gut zu sein.

– „Christus hatte nicht den Geist der Gottesfurcht.“ Das heißt: Christus war als „Menschensohn“ auch Gott gegenüber frei und erkannte: Gott ist Liebe, er ist kein Tyrann, der willkürlich immer noch ins Weltgeschehen eingreift …

„Die Macht der Priester, zu binden und zu lösen, wurde nur den Aposteln gegeben und nicht ihren Nachfolgern.“ Das heißt: Der Klerus, Papst, Bischöfe usw. maßen sich an, so Abelard, von Gott dazu bestimmt zu sein, über das Wohl und Wehe und Heil der Menschen zu entscheiden.

– „Äußere Handlungen machen den Menschen weder besser noch schlechter“. Das heißt: Abelard legt allen Nachdruck darauf: Der ethische Wert einer Handlung eines Menschen wird nicht im äußeren Tun sichtbar. Der ethische Wert des Menschen ist die innere, seelische Qualität, das Reflexionsvermögen, der gute Wille. (Quelle: https://www.pierre-abelard.com/)

6.
Ein modern Philosoph und modern zu nennender  Theologe war Abelard aber sicher noch nicht, selbst wenn er den Wert der Erkenntnis des einzelnen Menschen auch in der Ethik anerkannte. „Abelard löste den Schein auf, als sei ethisches Handeln nur Konformität mit objektiven Regeln… Er hob hervor, dass die innere Zustimmung allemal in unserer Macht steht“, schreibt Kurt Flasch in „Das Philosophische Denken im Mittelalter“ , S. 251.

7.
In seiner Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie lehrte er, für mittelalterliche Verhältnisse eher unüblich, dass Gott einzig Liebe sei: „Der Gott Abelards sah sein eigenes Interesse darin, von dem Menschen frei geliebt und von ihnen als seinen Freunden, nicht seinen Knechten, verstanden zu werden“ (S. 252). Aber, hier wie in anderen theologischen Themen, hat sich Abelard nicht durchgesetzt, betont Kurt Flasch. „Weder Thomas von Aquino noch Luther folgten ihm…Sie kontaminierten seine Ideen mit den Vorstellungen, die er hatte überwinden wollen.“ ((S 253).

8.
Trotz dieser Probleme und der eher geringen Rezeption seiner Vorschläge: Abälard hat im Mittelalter als ein verfolgter Außenseiter, hoch gebildet und unter Studenten sehr geschätzt, „eine neue Variante des christlichen Denkens geschaffen“, sagt Kurt Flasch. Abelard setzte sich für den Dialog mit Juden und Arabern ein. „Es war Abelards Überzeugung, dass die göttliche Weisheit, die zweite Person der Trinität, auch die nichtchristlichen Denker inspiriert habe. Auf dieser Grundlage begann Abelard die Tradition friedvoller (irenischer) Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie …so gelang es bald, ein neues Konzept für das Verhältnis zu Islam und Judentum zu entwickeln“, schreibt Flasch (S. 253) , ein Konzept, das man als „natürliche“, mit dem Menschen als Menschen schon mitgegebene Religion bezeichnen könnte.
Und Kurt Flasch kann zurecht nicht darauf verzichten zu betonen, wie sehr Luther in seiner Theologie (auch des Antisemitismus) „weit unter dem Niveau Abaelards, Bulls und Nikolaus von Kues stand. Luther verlöre sofort, wenn man ihn mit mittelalterlichen Autoren auch nur mittleren Ranges vergliche (S. 681 in Reclam Buch)

9.
Über die Wirkungsgeschichte dieses ungewöhnlichen mittelalterlichen Denkers wäre zu sprechen: Manche Verbindungen zum Denken Hegels könnten sich andeuten: Für Hegel war seine eigene Philosophie mit der Theologie eng verflochten: Seine Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie habe als Philosophie die gleichen Inhalte wie die Theologie, betonte er, nur: Seine Philosophie sage eben den Glauben in Begriffen aus, sie hebe dadurch den anschaulichen Glauben ins begriffliche Denken auf…In seiner „Geschichte der Philosophie“ geht Hegel nur kurz auf Abelard ein. Mittelalterliche Philosophien waren nicht der Schwerpunkt Hegels.

10.
Papst Benedikt XVI. erwähnte in seiner „Generalaudienz“ vom 4. November 2009 Abelard im Zusammenhang bzw. im Vergleich mit dem viel konservativeren Mönch Bernhard von Clairvaux. Über Abelard sagte Benedikt XVI.: „Er bestand darauf, die Absicht des Subjekts als einzige Quelle für die Beschreibung der Freundlichkeit oder Bosheit moralischer Handlungen zu betrachten und so die objektive moralische Bedeutung und den Wert von Handlungen zu vernachlässigen: gefährlichen Subjektivismus. Dies – wie wir wissen – ist ein sehr aktueller Aspekt für unsere Zeit, in der Kultur oft von einem wachsenden Trend zum ethischen Relativismus geprägt zu sein scheint: Nur das Selbst entscheidet, was im Moment gut für mich wäre.“ (Quelle: https://www.vatican.va/content/benedict-xvi/de/audiences/2009/documents/hf_ben-xvi_aud_20091104.html)

11.
Es tut gut, an so genannten „eckigen Gedenktagen“ innezuhalten und sich auch bislang eher unbekannten Philosophen und Theologen zuzuwenden. Dabei wird deutlich, wie sehr unsere „übliche Bildung“ allzu sehr fixiert ist auf groß gemachte Größen, also auf Sieger und deren „runde Gedenktage“, diese groß gemachten, dogmatisch oder politisch korrekten Größen sind solche, die sich durchgesetzt haben, weil die Herrschaft, auch die Kirchenherrschaft, mit diesen bequem für die eigenen Ziele der Herrschaft umgehen konnte. Mit Abelards Erfolg hätte die Macht des Klerus auf Dauer keinen Bestand gehabt, die freie, auch theologische Forschung und Wissenschaft hätte sich früher durchgesetzt, die dumme, von Zweifeln völlig unberührte Machtgier der Päpste, etwa eines Bonifaz VIII., hätte keine Chancen gehabt. Mit einer gewissen geschichtsphilosophischen Melancholie endet also dieser „eckige Gedenktag“ an Petrus Abelard.

12.
Und heute? In Abelards Geburtsort Le Pallet bei Nantes wurde 1978 ein „Kulturverein Abélard“ gegründet, der auf seiner website zahlreiche Essays und Hinweise zu dem bedeutenden, aber in Frankreich sehr viel mehr als in Deutschland bekannten Philosophen und Theologen bietet. Allein der unterschiedloiche Umfang der wikipedia Beiträge zu Abelard auf Französisch und auf Deutsch ist erstaunlich. In Frankreich sind Straßen und Schulen nach Abelard benannt. Der “Kulturverein” in Le Pallet empfiehlt u.a. auf seiner website auch einen  Spaziergang durch Paris auf den Spuren Abelards…

Fußnote 1:
Zit. In „Histoire de la France religieuse“, Tome 1, dirigé par Jacques le Goff. Edition du Seuil, Paris, 1988, s. 342-343. Den Beitrag verfasst André Vauchez.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

Voltaire zeigt: Der christliche Glaube sollte sich von vielen Dogmen befreien.

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Gibt es einen einfachen, also einen weithin von Dogmen befreiten und von der Vernunft begründeten christlichen Glauben? Der Philosoph Voltaire ist davon überzeugt und er setzt sich in seinen Büchern dafür ein, meist in Auseinandersetzung mit dem dogmatischen Denken des Philosophen Blaise Pascal.
Es lohnt sich, Voltaires Erkenntnissen zu folgen. Gerade heute, wo die Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche in Europa aufgrund eigenen Versagens verschwindet und spirituell Fragende von den vielen Lehren, Moralprinzipien und Dogmen zurecht nichts mehr wissen wollen…

2.
Ich beziehe ich mich auf das neue Buch des bekannten Philosophiehistorikers und Philosophen Kurt Flasch: „Christentum und Aufklärung. Voltaire gegen Pascal“ (2020). Es ist in vielfacher Hinsicht anregend und wichtig, es ist sozusagen eine viel ausführlichere Studie als der Essay: „Voltaire gegen Pascal“ aus dem Buch von Flasch „Kampfplätze der Philosophie“ (2008), dort die Seiten 331 – 347.
Um die durchaus aktuellen Gedanken Voltaires vorzustellen, muss an einige grundlegende Erkenntnisse, „Voraussetzungen“, erinnert werden, die Kurt Flasch in seiner neuen umfangreichen Studie vorstellt.

3.
Grundsätzlich gilt für den Philosophiehistoriker Flasch: Voltaire als Atheisten zu verstehen ist falsch (S. 412). Diese populäre, oberflächliche Deutung ist bis heute in kirchlichen Kreisen noch gängig, dieses Vorurteil verhindert eine für die Kirchen gefährliche, aber fruchtbare Auseinandersetzung mit Voltaire. Er war aber auch kein „Deist“, also ein Denker, der an einen fernen, an der Welt desinteressierten „Uhrmacher – Gott“ glaubt .
Voltaire war nicht nur Theist, (also bezogen auf einen transzendenten Gott, der sich um seine geschaffene Welt kümmert), sondern er war Christ, ein Christ allerdings der besonderen, der kritisch reflektierten Art. „Voltaire hat intensive theologiegeschichtliche Studien betrieben“ (S. 364). „Er hat das Wissen von Lorenzo Valla, Erasmus, Servet, Fausto Sozzini, Denis Pétau und Richard Simon zusammengefasst“ (S. 412), also das Wissen der bekannten Humanisten und historisch – kritisch forschenden Theologen und Bibelwissenschaftler im 16. Und 17. Jahrhundert. Diese genannten Wissenschaftler erschütterten das klerikale und machtvoll durchgesetzte System des veralteten üblichen Wissens. Sie wurden also an den Rand der damaligen Wissenskultur gedrängt, wenn sie nicht sogar als „Irrlehrer“ verfolgt wurden.
Aber „dieses Wissen hat Voltaire gegen Pascal zur Geltung gebracht. Er versuchte, den Grundbestand des Theismus zu sichern, indem er ihn von der Metaphysik auf die Moral herüberzog“ (ebd.). Flasch weist darauf hin, dass dieser Ansatz dann von Immanuel Kant eine ausführliche Vertiefung fand, als dieser Religion in der praktischen Vernunft gegründet wusste.
Noch einmal: Voltaire ist ein theistischer Christ der besonderen, der modernen Art. Jedoch: „Die Dogmen der Welterschaffung, der moralischen Weltregierung und der Gottebenbildlichkeit des Menschen hat er nie aufgegeben, ebenso wenig die christliche Ethik in einer nicht-augustinischen Interpretation“ (402). Voltaire hat sozusagen die Zahl der glaubenden Hypothesen reduziert, er hat dadurch die Menschheit entlastet von allerhand mysteriösem Ballast.
Voltaire weiß, in welchem tiefen geistigen Umbruch er lebt, er will ein vernünftiges Christentum bewahren. „Voltaire hielt das Christentum für gesellschaftlich wünschenswert, sogar für unentbehrlich (290). Und das ist etwas ganz anderes als das leidenschaftliche religiöse Engagement Pascals: Flasch schreibt: „Pascal rettete das Christentum indem er allen blutgetränkten mythologischen Tiefsinn, den er bei Moses, Paulus und Augustin finden konnte, zur Aktualisierung des Christentums aufbot. Vom Irrationalsten (=Erbsünde, C.M.) und Unmöglichen lenkte er dunklen Glanz auf den dogmatischen Altbestand“ (291).

4.
Voltaire will also, wie Pascal hundert Jahre zuvor, den christlichen Glaubens „retten“, so wörtlich Kurt Flasch, und zwar gegen andringende Freigeister und Atheisten, aber auch vor den maßlosen dogmatischen Ansprüchen der Hierarchen und ihrer Theologen. Pascal hatte dies noch auf seine Art etwa in den Notizen, den „Pensées“ versucht. Aber er hatte keinen Respekt vor der historischen Kritik der Bibeltexte oder der philosophischer Religionskritik. Pascal hatte sich absolut an das theologisch wie historisch – kritisch unbegründbare „Mysterium der Erbsünde“ gebunden, die Erbsünde rückte in den Mittelpunkt seines Denkens. „Er machte sie zur zentralen Idee des Christentums“ (S. 414). Die Verdorbenheit der ganzen Menschheit und die Teilhabe nur weniger Erwählter an der Gnade im Sinne des späten Augustinus war für Pascal entscheidend, er wollte das von ihm gedeutete totale Elend der Menschen durch Bezug auf das ideologische Konstrukt Erbsünde des späten Augustinus verstehen. Darin folgte Pascal auch der Bindung an Augustin, die die Reformatoren Luther, Calvin und später auch der katholische Bischof Jansenius bzw. die Jansenisten über alles pflegten und liebten.

5.
Mit vielen Argumenten und Belegen spricht Kurt Flasch auch in seinem neuen Buch von seiner wissenschaftlichen Abwehr der Erbsünden – Ideologie des Augustinus, die sich verheerend auswirkte in der Kirchengeschichte, nicht nur bis zu Pascal, sondern darüber hinaus. „Voltaire ruft Pascal zu, seine Argumentation (bezogen auf die Allmacht des Konstrukts Erbsünde) schaffe Atheisten“ (S. 415). Denn sie mache den Glauben lächerlich, indem behauptet wird: Später Geborene sollen schuldig sein an der Schuld eines Früheren, nämlich des Herrn Adam. Und diese Schuld solle sich durch alle Zeiten aller Völker im „Geschlechtsverkehr“ übertragen. Und überhaupt: Nur wenige Christen werden von diesem Zornes – Gott gerettet. Die meisten sind die „massa damnata“, die verurteilte Masse derer, die zur Hölle bestimmt sind von Gott persönlich.
Was für ein Grauen wird da behauptet, auch durch Pascal. Er mag ja hübsche Sätzchen zitierfähig über das Wesen des Menschen geschrieben haben seinen „Pensées“, aber etwas zynisch gesagt: Wäre er doch bloß nur Mathematiker geblieben…Ohne ihn hätte das Christentum vielleicht einen erfreulichen Anblick erhalten.
Die offizielle dogmatische Lehre von der Erbsünde ist für Voltaire also ein Konstrukt, ein Willkürakt, den Bischof Augustin gegen besser informierte Theologen (wie Bischof Julian von Eclanum) mit Gewalt durchsetzte.
Auch darauf hat Kurt Flasch seit Jahren nun auch in anderen Studien hingewiesen. Wird seine Forschung beachtet? Ich fürchte nein, wenn man nur z.B. bedenkt, dass dem „berühmten“ Eugen Drewermann nichts anderes einfiel, meine Abweisung der Erbsündenlehre in einem Essay für Publik – Forum als „atheistisch“ zu disqualifizieren. LINK
Es ist also immer die alte Leier, die Kirche glaubt, nur Kraft der Erbsünde bestehen zu können, was in diesem System so falsch ja nicht ist: Denn, so die Dogmatik, von der Erbsünde werden Menschen allein durch die Taufe befreit. Die Taufe aber spendet einzig der Klerus. Also ist der Klerus unverzichtbar, der Erbsünden-Erfindung sei Dank, besonders dir, lieber Augustin.

6.
Hier geht es um etwas anderes, genauso Wichtiges:
In seinem genannten neuen Buch befasst sich Flasch mit den hoch gebildeten italienischen Theologen und Reformatoren Sozzini, vor allem mit Fausto Sozzini(1539-1604) und Lelio Sozzini (1525-562). Um diese Reformatoren, die das klassische Trinitätsdogma aus guten Gründen, wissenschaftlich, historisch begründet ablehnten, bildeten sich Gruppen von Gläubigen, die dann Sozzinianer genannt wurden bzw. Polnische Brüder, weil sich die Sozzininis nach Polen flüchten konnten, das damals relativ tolerant war. Dort errichtete diese christliche Gemeinschaft eine viel beachtete Hochschule in Raków. Bekannt ist der polnische Theologe und Philosoph, der Sozzinianer Andreas Wissowatius (Andrzej Wiszowaty) (1608 in Filipów – 1678 in Amsterdam).
Die Sozzinianer bzw. die „Polnischen Brüder“ waren im Studium der christlichen Traditionen schon weiter als Pascal, „sie kannten die Vielfalt der historischen Wirklichkeit aufgrund ihrer Quellenstudien“ (158). Flasch bevorzugt in seinem neuen Buch die Schreibweise „Socinianer“, ich bleibe bei der üblichen.
Es ist wichtig, dass Flasch auf die Wirkungsgeschichte der Sozzinianer auf die Arminianer hinweist. Arminianer ist bekanntlich eine ältere Bezeichnung für die bis heute in den Niederlanden vor allem bestehende humanistische freisinnige christliche Kirche der Remonstranten (vgl. etwa S.352)
Flasch betont eine „Affinitiät“ Voltaires zu den verfolgten Sozzinianern: „Sie sahen Gott … als den Vater aller Menschen, also nicht nur einer Kirche, schon gar nicht mit Jansenius und Pascal als Gott nur der Auserwählten (S 366).

7.
Eine Art Zusammenfassung:
Kurt Flasch zeigt in seinem neuen Buch, wie Voltaire das Christentum und damit die sich „orthodox“ nennenden christlichen Kirchen von vier Dogmen befreite. Sie hätten, so Voltaire, keine Begründung in der Bibel, vor allem im Neuen Testament. Das alles ist keine „theologische Spielerei“! Voltaire betont: Diese Dogmen sind gefährlich, wenn sie gesellschaftlich und politisch gelebt werden.
Diese vier Dogmen sind:
Der Glaube und das Dogma, dass die Bibel wörtlich unmittelbar von Gott selbst stammt, die so genannte Verbalinspiration der Bibel.
Der Glaube und das Dogma, dass Gott eine Trinität ist, bestehend aus drei Personen und dass Jesus von Nazareth ewig-gleich mit Gott-Vater ist.
Der Glaube und das Dogma, das alle Menschen durch die Schuld des einen Manne, Adam, schuldig wurden (Erbsünde) und dass Jesus von Gott (dem liebenden Vater ?) zu einem Sühneopfer am Kreuz zur „Erlösung“ bestimmt wird.
Der Glaube und das Dogma, dass nur einige wenige wegen der Erbsünde von Gott zur Erlösung vorherbestimmt sind.

8.
Kurt Flasch kommentiert lapidar mit Voltaire: „Da ist kein Glaubensartikel dabei, der nicht Bürgerkrieg verursacht hat“ (S. 422). „Die endlosen (dogmatischen) Wortgefechte wurden Kriegsgründe. Nicht das Christentum war abzuwählen, sondern diese vier dogmatischen Unruheherde und die immer noch kampfbereiten Konvulsionäre“ (also Ultrafromme, charismatisch sich begeistert fühlende Christen, die ihren Glauben in Zuckungen und allerhand Geschrei ausdrückten, C.M.) (422).

9.
Kurt Flasch hält sich mit Aktualisierungen seiner Studien zurück. Am Ende seiner großen Studie „Christentum und Aufklärung“ (2020) deutet er seine Skepsis an: Die Kirchen werden sich wohl kaum für den Weg des einfachen und vernünftigen, von Voltaire beschriebenen Glaubens einlassen. Eigentlich bräuchte die moderne Welt ein anderes Christentum als das herschende. Aber das Christentum, also die großen, sich machtvoll gebenden Kirchen, sind alt geworden, starr, können sich nicht aufraffen zu einer dogmatischen Säuberung ihrer ewig mitgeschleppten Lehren. Die allermeisten Kirchen sind erstarrt, haben Angst vor Neuerungen auch dogmatischer Art, weil dies de Eingeständis eines Irrtums gleich käme. Aber dogmatische Irrtümer gibt es in der Ideologie der römischen Kirche nicht, alles einmal definierte Glaubensgut der Dogmen bleibt, auf Teufel komm raus möchte man sagen.

10.
Was bleibt? Daran denken, dass es noch kleine undogmatische christliche Kirchen gibt. Oder: Den eigenen spirituellen Weg allein oder in kleinen Gruppen gehen. Oder: Voltaire lesen oder eben auch die großartigen Studien von Kurt Flasch. Für ihn wie für uns ist Augustin alles andere als ein Heiliger, in seinen letzten 30 -40 Lebensjahren hat er die Kirchen bleibend vergiftet … mit seinem Erbsünden – Wahn. Manche Erkenntnisse aus seinen literarisch so schönen „Confessiones“ bleiben natürlich bedenkenswert.

Kurt Flasch, „Christentum und Aufklärung. Voltaire gegen Pascal“, Verlag Vittorio Klostermann, 2020, 436 Seiten, 49 Euro.

Von Voltaire empfehle ich als Einstieg das „Philosophische Wörterbuch“, das bei Reclam jetzt neu erschienen ist.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Johann Gottlieb Fichte: Vor 200 Jahren gestorben

Wir erinnern gern an Johann Gottlieb Fichte, anläßlich seines 200. Todestages. Und wir haben den Eindruck, dass Fichtes Denken noch längst nicht “angekommen” ist in der Gegenwart. Darum zwei Hinweise:

Dabei interessieren uns von der religionsphilosophischen Fragestellung Hinweise, die der Philosoph Kurt Flasch in seinem wichtigen Buch “Meister Eckart, Philosoph des Christentums” (2010) gegeben hat. Im 13. Kapitel seines Buches erinnert Kurt Flasch an die Bedeutung des Johannes-Evangeliums im Denken Fichtes (S. 199f), vor allem in dem Buch “Anweisung zum seligen Leben” (1806). Fichte sieht im Johannes-Evangelium einen fundamentalen Text, der neue Horizonte eröffnet für ein Selbstverständnis des Menschen. Fichte sieht – darin eins mit dem Autor des Johannes-Evangeliums – den Menschen als Wesen, das sich vor jedem verdinglichenden Selbstverständnis bewahren muss. Und da gibt es die Brücke zu Meister Eckart. Kurt Flasch schreibt:”Ich behaupte nicht, Fichte biete den Schlüssel zu Meister Eckart, aber es ist kein Nachteil, über sein Konzept von Mensch und Geist nachzudenken, bevor man über Eckart zu sprechen beginnt” (S. 200). Ausdrücklich warnt Kurt Flasch davor, den Menschen, das Ich, als eine Art “Seelending” zu denken, “dem Denken und Wollen anhaften”(ebd.). Gerade davor warnt aber auch Fichte in seinem Buch.

Dringend empfehlen wir auch die Lektüre des Buches “Der ganze Fichte” von Peter L. Oesterreich und Hartmut Traub. Das Buch ist (2007) im Kohlhammer Verlag in Stuttgart erschienen,es hat 366 Seiten.
Schon früher hatten wir im “Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin” auf Fichte aufmerksam gemacht. Zur Lektüre dieses “Impulses” klicken Sie bitte hier.

Das Buch “Der ganze Fichte” ist wichtig, weil
– es versucht, die transzendentalphilosophischen Wissenschaftslehren mit den “populären” Philosophischen Schriften Fichtes zu vermitteln.
– es darauf hinweist, dass Fichte an einer “Philosophie der Philosophie” interessiert war und dabei auch die “Person des Gelehrten” als Ort dieses Philosophierens einführte.
– auch bislang eher unbekannte Eigenheiten Fichtes deutlich macht, etwa sein Interesse an Rhetorik,ja selbst an Predigt.
– weil es zeigt, wie sich Fichte gegen – konfessionalistische – Dogmatismen und Ideologien wehrte.
– weil es zeigt, dass die Wissenschaftslehre von 1804 wohl als der Mittelpunkt des Fichteschen Denkens anzusehen ist.
– weil es an die enge, kritische Verbindung mit Friedrich Heinrich Jacobi erinnert.
– weil es daran erinnert, dass Fichte leider eine Gesamtidee seiner Philosophie nicht mehr selbst darstellen konnte…
Diese Beispiele zeigen, dass auch für anfänglich Interessierte das Buch lesenswert ist.