Unmoralische Rechtsextreme: Gegen die Verachtung der universell geltenden Moral

Das Buch „Das M Wort“ von Anne Rabe
Ein Hinweis von Christian Modehn am 20.8.2025

1.
„Moral hat nichts mit Realitätsferne oder Ideologie zu tun“, betont die Schriftstellerin und Essayisten Anne Rabe in ihrem neuen Buch „Das M Wort. Gegen die Verachtung der Moral“. Ein wichtiges Buch, das zur richtigen Zeit veröffentlicht wird, da sich in Deutschland rechtsextremes Denken und Handeln mit einer weithin offiziell als rechtsextrem bewerteten Partei immer schärfer und aggressiver durchsetzen. Und konservative Parteien, wie die CDU/CSU, nichts Dringenderes zu tun haben, als möglichst viel ideologisches Material dieser Rechtsextremen zu übernehmen. Anne Rabes Buch ist eine deutliche Analyse der Gefahren von rechtsaußen. Sie kann sich zur AFD und ihrer Verbündeten kompetent äußern: Denn nicht nur politische Analysen sind für sie wichtig, sie unterstützt den demokratischen Widerstand gegen Rechtsaußen in kleinen und großen Städten, vor allem in Sachsen, sie ist mit den wenigen mutigen Menschen dort so verbunden, dass deren Einsatz ein Hoffnungsschimmer in dunklen Zeiten ist. Wir wünschen dem Buch viele LeserInnen.

2.
In einem Interview mit dem „Tagesspiegel“ (9.August 2025, Seite 24) antwortet Anne Rabe sehr deutlich auf die Frage: „Ist es unmoralisch, AFD zu wählen?“: „Diese Partei stellt die Grundsätze unserer Gesellschaft infrage. Als demokratischer Mensch darüber hinwegzusehen, ist unmoralisch… Wenn jemand auf Dauer die Gleichwertigkeit aller Menschen infrage stellt (wie die AFD), dann bedroht solch ein Menschenbild am Ende auch meine Existenz. Wenn man zur AFD schweigt, rutschen uns im Hintergrund all unsere Grundsätze weg. Wir müssen offen sagen, wer unsere Werte angreift. Und etwas dagegen tun.“

3.
In ihrem neuen Buch „Das M Wort. Gegen die Verachtung der Moral“ entfaltet Anne Rabe diese Erkenntnis faktenreich ausführlich, durchaus „spannend“ zu lesen. Wenn Moral als zentrale Orientierung für humanes menschliches Leben ignoriert wird, setzen sich Nationalismus, ökonomischer Egoismus, Bereitschaft zum Krieg, Frauenverachtung, Queer – Feindlichkeit usw… durch, es herrscht dann das Gesetz des Stärkeren bzw. der stärksten Partei und ihres Führers. In einem solchen Chaos werden dann z. B. kritsch gewordene Parteigänger dieser Ideologie wehrlos zugrunde gehen. Sie haben ja keinen Anspruch auf universell geltende Menschenrechte…
Leider begrenzt Anne Rabe ihre Reflexionen auf Deutschland. Der Niedergang eines eigentlich einmal durchaus demokratischen Staates wie der USA wird nicht thematisiert, dabei ist Trump jetzt wie ein Alleinherrscher ein deutlicher Beweis dafür, das ein eigentlich demokratischer Staat sich zu einer Art Diktatur entwickelt! Und dies, weil der nun (fast) absolute Herrscher und seine Clique moralisches Bewusstsein ignorieren bzw., falls einst vorhanden, verloren haben.

4.
Die LeserInnen in Deutschland werden im Buch auch an „längst vergangene“ und vielleicht schon längst vergessene politische Ereignisse erinnert, etwa im Umgang mit den Fremden, den so genannten „Asylanten“, den Flüchtenden. Dabei ist es nur gut 30 Jahre her, dass die CDU/CSU „eine gravierende Beschränkung des Asylrechts“ (S. 170) durchsetzte: CDU Generalsekratär Volker Rühe hatte damals per Rundschreiben an alle Gliederungen seiner Partei zugunsten dieses Projekts aufgefordert, für die starke Einschränkung des Asylrechts mit allen Mitteln der Propaganda einzutreten „Die CSU übernahm sogar die Parole der rechtsextremen Republikaner und titelte „Das Boot ist voll“ (S. 171, mit Hinweis auf eine Studie zu diesem Thema). Besonders Unmoralisches wird von Anne Rabe benannt: „ Keine extremistische Bewegung hat in Deutschland so viele Todesopfer und Verletzte gefordert wie der Rechtsextremismus. Und für keine andere Bewegung wurde so oft die Schuld nicht bei den Tätern selbst, sondern vorrangig bei den Opfern gesucht“ (S. 172).

5.
Anne Rabe weiß, dass ihre Erkenntnisse zu den von Rechtsextremen schon dominierten Verhältnissen eher zu Resignation und Ohnmacht führen können, auch unter den noch demokratischen LeserInnen, denen die Menschenrechte der unbestreitbare Ausdruck humaner Moral ist.

6.
Deswegen zitiert die Autorin zum Schluß Erich Kästner: „Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät…Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf.“ (S. 200). Und in ihren Worten sagt Anne Rabe: „ Das, was die Rechtsextremen bekämpfen, muss uns das Heiligste sein – eine Gesellschaft , deren höchstes Ziel die Freiheit und Gleichheit aller ihrer Mitglieder ist. Die Herausforderungen unserer unserer Zeit, wie die globale Erwärmung, die Verknappung der Ressourcen, die Verteilung von Macht und Reichtum aber auch der Versuch vieler Menschen, Armut und Gewalt zu entkommen, kennen keine einfachen Lösungen… Aber die Gewissheit, dass alle Menschen gleich sind, muss der Anker sein für unser Denken und Handeln.“ (S. 201)

7.
Und dann der entscheidende Satz: „Die Moral ist keine Last, sie befreit uns von unseren niederen Instinkten. Sie gibt uns die Freiheit zu hoffen, weil wir wissen: Dass eine humane Welt, die wir denken können, auch eine Welt ist, die es wirklich geben kann.“

8.
Philosophisch könnte dieser Gedanke weiter vertieft werden: Denn Moral als zentrale, entscheidende Lebensorientierung der Menschen ist das zentrale Kriterium, unmenschliches Verhalten von menschlichem, also vernünftigem Leben zu unterscheiden. Menschliches Leben als moralisches Leben ist in der treffenden Sicht Anne Rabes der praktische Respekt vor der wesentlichen Gleichheit aller Menschen. Wer darauf hinweist, folgt nicht einer bestimmten politischen Laune, er respektiert das, was in der Vernunft eines jeden Menschen sozusagen “eingeschrieben” ist. Selbst der unmoralisch Handelnde entkommt nicht dem Grundsatz der Moral: Er muss sein Tun für sich selbst als “gut” empfinden…

Legen wir also endlich das populär gemachte Missverständnis beiseite, Moral habe nur etwas mit „sexuellem Leben oder dergleichen“ zu tun, gelte aber nicht in der Politik, der Ökonomie, der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung.

Humane und universell geltende Moral findet ihren besten Ausdruck in den Menschenrechten, formuliert von der UN 1948, sie formulieren zwar Rechte, haben aber als Basis eine universell geltende Idee, eine MORAL vom Menschen. Es war der Philosoph Immanuel Kant, der mit der Entdeckung des universell geltenden “Kategorischen Imperativs” (siehe Fußnote) ein Kriterium formuliert hat, mit dem Menschen ihre persönlichen und politischen und ökonomischen Maximen hinsichtlich ihrer ethischen Gültigkeit überprüfen können und sollen. Also überprüfen, ob sie mit diesen ihren Maximen moralisch, also menschlich handeln oder nicht.

Fußnote:
Den “Kategorische Imperativ” hat Immanuel Kants unterschiedlich, aber mit gleichem Ziel, formuliert: Etwa: “Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“  Oder: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“

Anne Rabe, Das M Wort. Gegen die Verachtung der Moral. Klett-Cotta Verlag, 2025, 218 Seiten, 20€.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Gefährliche Erinnerung: Die Arbeit von „Memorial“ in Russland und anderswo

Ein Hinweis auf ein wichtiges Buch

Von Christian Modehn am 3.8.2025

1. „Erinnern ist Widerstand:“ Das Motto von „Memorial“, der wichtigen NGO, gegründet in Russland. Eine Basisinitiative von Menschen, denen die Geltung der universellen Menschenrechte am wichtigsten ist: „Memorial“ legt die Verbrechen der russischen Diktatoren frei! Gibt den vielen tausend Ermordeten und Gequälten der Verbrechen Stalins sowie der folgenden Diktaturen bis zu Putin die Menschenwürde zurück, die Würde: einen Namen zu haben, nicht vergessen zu sein. Die kritische Erinnerung dient dem einzigen Zweck: Nie wieder diese Menschenquälerei durch Diktaturen. Nie mehr totalitäre Gewaltherrschaft.

2.
 Memorial ist eine in demokratischen Staaten und unter Demokraten hoch angesehene NGO. „Memorial“ studiert und dokumentiert in aller Objektivität seit mehr als 30 Jahren die Verbrechen der Sowjetherrschaft. Und Putin, der absolute Machthaber der Russischen Föderation, hat genau verstanden: Strukturen totalitärer Herrschaft werden durch die kenntnisreichen und widerständigen Mitarbeiter von „Memorial“ selbstverständlich auch in seinem Herrschaftsbereich freigelegt. Deswegen löste Putin die NGO „Memorial“ im Dezember 2021 auf, zwei Monate vor seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine. Am 10. Dezember 2022 erhielt die NGO “Memorial” den Friedensnobelpreis,  „Memorial“ hatte 80 Arbeitskreise in vielen Städten Russland.

3. 
Heute ist die Arbeit von Memorial in Russland sehr schwierig. Die Ergebnisse der aktuellen dortigen Recherchen werden im Exil publiziert.

In Berlin wurde „Memorial e.V.“ gegründet. LINK.
 Wichtig ist auch das große Angebot von Podcasts durch Memorial LINK:

4.
 Wer den Widerstand gegen das Sowjetimperium und die folgenden Diktaturen dort verstehen will, muss sich also mit Memorial befassen. Der C.H.Beck Verlag legt jetzt ein Buch vor, 14 Autorinnen bewerten einige Aspekte der Geschichte von Memorial und nennen den aktuellen Stand der Forschung und Dokumentation. Wir empfehlen das Buch ausdrücklich! Es umfasst 192 Seiten, darunter (auf mehr als 40 Seiten) kommentierte „Bilder und Fotos aus der Memorial-Sammlung“. Sie beziehen sich auf Kunst und Literatur, unter qualvollen Bedingungen in den Lagern entstanden, sowie auf Fotos der ersten öffentlichen Kundgebungen von „Memorial“ in Russland 1988. Die HerausgeberInnen des Buches “Memorial”: Irina Scherbakowa engagiert sich als Gründungsmitglied von Memorial im Exil weiter für die Arbeit Erinnerung und das Eintreten für Menschenrechte, Filipp Dzyadko und Elena Zhemkova sind als Gründungsmitglieder von Memorial in Russland jetzt in Berlin tätig.

5.
 Der Titel „Erinnern ist Widerstand“ ist sehr treffend gewählt, angesichts der von Rechtsextremen seit Jahren schon verspotteten Erinnerung – Kultur! Wer sich an die Verbrechen nicht nur in Russland erinnert, sondern weiter denkend auch an die Verbrechen gegen die Menschheit, verursacht von Staaten, Kulturen, Religionen, Parteien, legt das Negative frei, indem er auch einen Vorschein und Ausblick auf eine bessere, d.h. humane und demokratische Zukunft ermöglicht.
Die Erinnerung ist geistige wie seelische Arbeit, aber auch körperliche Arbeit… bedingt durch die weiten Reisen zu den Orten der Verbrechen und den Recherchen dort! Das Tätigkeit – Wort Gedenken erhält etwa bei Walter Benjamin die Zuspitzung des „Ein-Gedenkens“. Und damit ist wohl gemeint: Das Erinnerte sollte der Mensch in seinen eigenen Geist hin-ein-nehmen, also nicht bloß oberflächlich etwas Vergangenes zur Kenntnis nehmen, also nicht bloß historisch – faktisch an Daten und Namen erinnernd denken, sondern sie ein-gedenken, also das Erinnerte mit dem eigenen Geist eng verbinden, es in den eigenen Geist, ins eigene Leben, in die eigene Gefühlswelt hineinnehmen… und Sich Hineinversetzen…Es ist wohl diese Form des Ein – Gedenkens, die dem Erinnern durch die „Memorial“ Arbeit die wahre Bedeutung gibt.
Ein einzelner kann natürlich nicht überall und zu allen Themen Erinnerungsarbeit leisten. Jeder und jede kann nur an einer Stelle, an seinem Ort, seine Erinnerungsarbeit wählen, zu Russland eben oder zu anderen Diktaturen und autoritären Herrschaftsformen oder zu Religionen und Konfessionen, die im Fundamentalismus der Gewalt versinken.

6.
 Das neue Buch aus dem C.H. Beck Verlag dokumentiert die Rede von Jan Rachinsky anläßlich der Verleihung des Friedensnobelpreises am 10. Dezember 2022 in Oslo. Rachinsky legt allen Nachdruck darauf: Es sei das Gefühl und die Erkenntnis der bürgerlichen Verantwortung, die Menschen zur Memorial Erinnerungsarbeit führen. Es geht um die Verantwortung dafür zu sorgen, dass die leidenden und vernichteten Menschen früherer Generationen nicht dem Vergessen preisgegeben werden, „denn der Mensch empfindet seine Einheit mit vorangegangenen Generationen“ (S. 43). Interessant ist für mich, dass in einigen Beiträgen der „Memorial“ MitarbeiterInnen auf den Philosophen Karl Jaspers verwiesen wird als philosophischen Inspirator…

7.
 Irina Scherbakowa, Mitbegründerin von „Memorial“, berichtet ausführlich über den „Kampf für das Erinnern“. In den 35 Jahren der aktiven Präsenz in Russland konnten die MitarbeiterInnen von Memorial „Informationen aus Geheimarchiven öffentlich zugänglich machen und die Schicksale hunderttausender Staatsterror – Opfer aufklären…In einer Reihe von Städten wurden an Orten von Massengräbern Gedenktafeln und Gedenkzeichen für die Opfer politischer Repressionen angebracht… Das Archiv, das Memorial in den Jahren seiner Tätigkeit aufgebaut hat, umfasst hunderttausend Dokumente …Im Herbst 2021 wurde das Hauptgebäude von „Memorial“ in Moskau von Putin geschlossen, typischerweise ließ der Diktator die Eingangstür mit Handschellen verschließen! Und auch dies: Stalin erlebt in der russischen Gesellschaft seit Jahren wieder ein Come-back…In Berlin setzt Memorial seine Arbeit fort, in Paris befindet sich das Memorial Menschenrechtszentrum, es unterstützt die politischen Gefangenen…

8.
 Nur einige Hinweise zu einigen der 12 AutorInnen, die „Memorial“ kommentieren.
Alida Assmann bezieht „Memorial“ auf Repressionen außerhalb Russlands, sie nennt die Protestbewegung der „Mütter und Großmütter von der Plaza de Mayo“ in Buenos Aires gegen die Militärjunta. „Die Frauen haben für die Menschenrechte gekämpft und die Junta zu Fall gebracht, obwohl sie unbewaffnet waren und die Zivilgesellschaft repräsentierten…Ihre politische Macht lag in der Erinnerung an die Verbrechen der Militärjunta“ (S. 94).

Der Historiker Karl Schlögel zeigt, dass die Erfahrung von Terror und Gewalt in der Gegenwart die junge Generationen sensibel machen sollte für die Gewaltherrschaft, die frühere Generationen ausübten bzw. erleiden mussten. Schlögel hofft, dass durch diese intensive Konfrontation mit früheren Verbrechen „eine apolitisierte und apathische Gesellschaft aus ihrer Gleichgültigkeit herausgerissen wird.“ (S. 98).

Aus der Erfahrung des Leidens und der sinnlosen Gewalt (etwa durch den Diktator Putin) könnte dann im westlichen Europa der Wille zum Widerspruch und zum Widerstanden stehen. Eine Hoffnung!
Auf den Unterschied zwischen Widerstand und Resistenz macht Filip Dzyadko aufmerksam: Widerstand ist für ihn das direkte radikale und auch gewaltsame Vorgehen gegen eine Diktatur. Resistenz hingegen kann sich in verschiedenen noch „milderen“ Formen des Widerspruchs äußern, etwa durch öffentliche Kritik, durch sozialen Ungehorsam, Verweigerung, Ablehnung der Kooperation mit Behörden der Diktaturen…

Auch der Schriftsteller Jonathan Littell (Autor des Romans „Die Wohlgesinnten“) ist mit „Memorial“ verbunden durch seinen Einsatz zugunsten der Menschenrechte in den Tschetschenien Kriegen. Littell meint ziemlich provokativ, dass die heute inszenierten Kriege in der Ukraine, in China, in Israel usw. ablenken von der noch größeren Katastrophe, der „Zerstörung des Planeten durch die Menschheit, die sich im System des Kapitalismus verstrickt hat, in dem wir alle leben.“ ( S.160). Littell meint also, die heutigen Kriege, verursacht von Gewaltherrschern, seien so etwas wie Ablenkungsfaktoren: Sie lenken ab von dem größten aller dringenden Probleme: der Klimakatastrophe (S. 164). Tatsächlich ist das Interesse der Herrschenden an der Verhinderung der Klimakatastrophen jetzt weltweit zurückgegangen. Und fast alle großen Medien sprechen ständig  von Putin, Trump, Xi , der Hamas oder Netanjahu… Littell sagt: „Ich bin keineswegs überzeugt, dass unser Planet im Jahr 2100 noch geeignete Lebensbedingungen bieten wird. ..Ich habe keine Hoffnung, sie geht mir gegenwärtig vollkommen ab“ (S. 165, 164.).

9.
 Der „Tagesspiegel“ hat ein ausführliches Interview mit einem der Mitbegründer von Memorial publiziert: mit Oleg Orlow. Er wurde am 27.2. 2024 wegen eines Anti-Kriegs-Artikels zu zweieinhalb Jahren Lagerhaft verurteilt. Im Rahmen eines Gefangenenaustausches kam er fünf Monte später frei. Er betont, jetzt in Freiheit, in Berlin: Als 2021 Memorial „vom russischen Staat offiziell liquidiert wird, können Menschenrechtler nur noch in losen Vereinigungen tätig sein. Die Kollegen in Russland sammeln und registrieren wieder Informationen über die Menschenrechtslage in Russland. Veröffentlicht werden diese Daten aus Sicherheitsgründen dann von uns aus dem Ausstand heraus. Vor Ort bieten wir nach wie vor Rechtsbeistand für die Opfer staatlicher Repressionen an…“. („Tagesspiegel“ 1. August 2025, Seite 12.)

10.
 Solange es Menschen gibt, die so stark indoktriniert werden, dass sie sich aus Passivität, Faulheit, Bequemlichkeit die menschenfeindliche autoritäre Führung eines Führers wünschen, wird es immer Verfolgung und Unterdrückung der Mensch gebliebenen Menschen geben; wird es Lager geben, die zur umfassenden Vernichtung der so genannten Widerspenstigen, der Demokraten und Verteidiger der Menschenrechte bestimmt sind. Man fragt sich deshalb, ob nicht die Idee der „Memorial Arbeit“ als einer Basis – Initiative von Demokraten (und nicht von Historikern allein) überall wirksam werden sollte.
Die Geschichte der katholischen Kirche z.B. wird nicht umfassend nach Memorial- Art untersucht: Alle die verfolgten, gequälten und verbrannten Ketzer und Hexen, alle ohne großen Namen, alle die gemarterten Irrlehrer, die selbständig und ungehorsam Frommen, alle kirchlich Unterdrückten … sie werden bisher im großen Graben der Vergessenheit belassen. Sie finden keine Erwähnung in den großen Studien der Kirchengeschichte. Sie liebt ohnehin die großen Helden und Heiligen viel mehr als die „kleinen Leute“ in ihrer eigenen Art, ihren Glauben trotz aller Klerus-Herrschaft zu leben. 
Die vielen Namen der seelisch und körperlich Gequälten, der Mißhandelten und Getöteten, müssten natürlich auch in anderen Religionen freigelegt und öffentlich gemacht werden, etwa in der Religion der Muslime oder der Hindus oder der Buddhisten usw.
Die Philosophie und die Arbeitsweise von „Memorial“ sollte “universell” werden, wenn sich denn die Kirchenhistoriker auf diese Arbeit einlassen und vor allem in den Gemeinden entsprechende Memorial – Arbeitsgruppen entstehen. Die langsame und sehr restriktive Öffnung der Archive des Vatikans, auch der einzelnen Diözesen und vor allem der kritisch völlig unerforschten Zentralen der katholischen Ordensgemeinschaften ist bezeichnend.
Eines Tages werden auch die vielen tausend Namen der Missbrauchsopfer durch den Klerus veröffentlicht werden wie die vielen tausend Namen der klerikalen Täter.
Die „Memorial“ – MitarbeiterInnen in Russland waren auch mit heftigem Widerstand konfrontiert bei ihren Recherchen in den Lagern und Zentralen der Kommunistischen Partei usw. Diese mühevolle Arbeit kann katholische „Memorial“ – MitarbeiterInnen „trösten“, wenn sie denn etwa ihre umfassende Freilegung der Erinnerung zur weiter „vergangenen“ oder auch aktuellen Kirchengeschichte beginnen.

11. „Die Wahrheit wird euch frei machen“ sagt Jesus von Nazareth (Johannes-Evangelium 8.Kap., Vers 32). Eine treffende und aktuell bedeutsame Erkenntnis, die allerdings die meisten Hierarchen, Autokraten und alle Führer fürchten, auch in den Kirchen, selbstverständlich auch in den orthodoxen Kirchen, etwa im Patriarchat von Moskau: Dort herrscht der ehemalige KGB Mitarbeiter und Putin Freund Patriarch Kyrill als Kriegstreiber. Und … mit diesen Kirche will sich der Papst unbedingt in einer „Einheit“ zusammen schließen.
Die Kirchen haben Angst vor der Wahrheit, die frei macht. Denn durch die Freilegung von historischer Wahrheit könnten sich die Akteure sinnvollerweise auch von der Kirche als Institution befreien und … trotzdem Christen bleiben! Das würde das Ende dieser Institution befördern, die sich als katholische Kirche bekanntlich selbst und voller Stolz bis heute explizit als „nicht – demokratisch“ definiert; vielleicht will sie jetzt ein bißchen „synodal“ werden, aber ohne eine wirkliche Synode, d.h. ein Parlament mit Mehrheitsentscheidungen der Gleichberechtigten, einzuführen.

Die Adresse: “Memorial e. v. Deutschland”: Greifswalder Str. 5, 10405 Berlin

Memorial. Erinnern ist Widerstand“. C.H. Beck Verlag München, 2025, 192 Seiten, 25 €.

Copyright: Christian Mohn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Exzentrisch, asketisch, spirituell: Zum 100. Todestag des Komponisten Erik Satie am 1. Juli 2025

Ein Hinweis von Christian Modehn am 28.6.2025

1.
An Erik Satie (17.5.1866 – 1.7.1925) erinnern: Den Musiker und Komponisten, den Menschen, den so viele für skurril und rätselhaft hielten und halten, der aber auch so viele begeistert mit seiner Musik …. des minimalen Klangs, der irritierenden Einfachheit, der Mißachtung üblicher musikalischer Regeln. Satie zeigt sich immer wieder als eigenständiger, Ungewohntes und Ungehörtes schaffender Komponist, er ist keiner „Schule“ verpflichtet und verzichtet auf brillante oder schillernde musikalische Effekte… darüber ist viel geschrieben worden. Wir zitieren nur den einen Satz: „Die aufscheinende Skepsis Saties gegenüber etablierten Vorstellungen vom musikalischen Kunstwerk hat spätere Künstler bis hin zu John Cage nachhaltig beeinflusst.“ Zitat siehe: LINK.

2.
Wir wollen auf den Esoteriker hinweisen, und dazu gehört auch: an den eher unbekannten Kirchengründer Eric Satie erinnern. Zunächst in enger Verbindung mit den esoterischen „Rosenkreuzern“ suchte Satie seinen eigenen Weg: Er verließt diese Gemeinschaft und gründete 1893 seine eigene Kirche und gab ihr den etwas schwierigen und durchaus mysteriös klingenden Titel: „Église Métropolitaine d’Art de Jésus Conducteur“, „Metropolenkirche der Kunst von Jesus dem Lenker“. Kirchen zu gründen war in Frankreich keine Seltenheit: Intellektuelle, Schriftsteller und Künstler wollten sich vom herrschenden dogmatischen und weithin monarchistisch gesinnten Katholizismus absetzen und gründeten eigene Kirchen-Gemeinschaften. Satie zeigt sich also nicht nur in seinen Kompositionen, auch in seiner Kirchen-Gründung und seiner Messe als mutiger, Konventionen sprengender Individualist. Siehe auch Fußnote 1.

3.
Es gehört zum exzentrischen Charakter Erik Saties, dass er das einzige Mitglied seiner Kirche blieb und wohl auch bleiben wollte; er gab zwar sein Gemeindeblatt heraus, aber er fand keine Mitglieder und wollte wahrscheinlich auch keine um sich sehen in seinem Haus, der „Kirchenzentrale“ in Arcueil bei Paris. Aktuelles Foto: LINK.

4.
In diesem spirituellen Erleben komponierte er um 1895 eine von ihm selbst so bezeichnete „Messe der Armen“, weil er sich selbst als Asket, als Künstler „am Rande“ verstand. Satie hatte offenbar für sich selbst ein Gelübde der Armut ausgesprochen, einer Armut, die er selbst in seinem Lebensstil zeigte.
Mit der ihm vertrauten mondänen Welt von Montmartre und ihren Vergnügungen hatte er offenbar gebrochen. Olivier Messiaen hat diese Messe zuerst aufgeführt. Sie enthält von den üblichen Gebeten (den „Ordinarien“) der römisch – katholischen Messe lediglich das Kyrie, hingegen aber auch Gebete, etwa speziell „für die Reisenden und die Seeleute in Todesgefahr“ und zum Schluß auch ein „Gebet für meine Seele“. Diese Satie – Messe hat den Untertitel, offenbar an Gott adressiert: „Intende Votis supplicum“, „Sei bedacht auf das Flehen des Gebetes.“

5.
Die spirituelle Prägung Eric Saties könnte uns inspirieren, seine Musik, seine Klaviermusik, etwa die „Gnossiennes“ auch als Ausdruck einer ungewöhnlichen, nicht – dogmatischen Frömmigkeit zu hören und zu verstehen. Und musikalisch ins Meditieren zu kommen.

Fußnote 1: LINK

Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon

Die Theologie Augustins überwinden.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 10.6.2025 und am 4.8.2025 wegen der ständigen “Augustinus-Zitierei” durch Papst Leo XIV.

Ergänzung am 4.8.2025: Während der katholischen Weltjugendtage in Rom Anfang August 2025 zitierte Papst Leo XIV. ständig nette Sprüche und irgendwelche Weisheiten seines viel geliebten Meisters Augustinus aus dem 4.und 5. Jahtrhundert. Dieser Augustin sollte angesichts seiner verheerenden Lehren etwa zur Erbsünde  endlich beiseite gelassen und überwunden werden. Aber nein, den ahnungslosenen und enthusiastischen  Jugendlichen aus aller Welt wird ein “weiser” und angeblich aktueller Augustinus mit einigen hübschen Zitaten als Vorbild empfohlen. Wir halten das für einen Irreweg. Kann ein Papst nicht eher die Mitarbeit an demokratischen NGOs empfehlen als fromme und allgemeine, letztlich belanglose Ermahnungen von sich zu geben? Und es wird hoffentlich die Zeit kommen, in der sich kritische und kirchenunabhängige Historiker und Religionswissenschaftler die Mühe machen, diese Augustinus – Zitierei von Papst Leo XIV. zu dokumentieren und krtitisch zu bewerten.

Diese Reden des Papstes Leo XIV. von der “Einheit der Kirche” sind, nebenbei, eine Illusion: Die Katholische Kirche ist weltweit de facto und unumkehrbar schon jetzt  so stark auseinandergebrochen in ihrer Vielfalt, dass eine uniforme, päpstlich-fixierte Einheit nichts als ein Traum ist. Und dieser Traum, man möchte sagen diese klerikale Ideologie, sollte beendet werden zugunsten einer explizit gewollten Pluralität IM Katholizismus…Aber auch dies zusagen ist nur ein Traum angesichts der nach wie vor absoluten klerikalen Macht.

Im Juni 2025  notiert: Wir haben mit der Wahl eines Augustiners (“Sohn des heiligen Augustinus”, Selbstbezeichnung Leo XIV.) zum Papst eher Schlimmes befürchtet: Dies ist die ständige Bezugnahme auf den heiligen Augustinus, er lebte im 4. und 5. Jahrhundert. Ein moderner Heiliger? Garantiert nicht. Lassen wir ihn ruhen.  Aber leider bestätigt sich diese unsere Prognose der Augustinus Zitiererei durch den Papst  fast ständig: Den Kandidaten für Priesteramt (“Seminaristen”) empfahl Leo XIV., sich an Sprüche Augustins  zu halten und vor allem den Zölibat hochzuschätzen. Mit etwas Anstrengung sei der Zölibat doch zu leben, sagte er den 20 -25 Jahre jungen Männern, darf man das theologisch und psychologisch naiv nennen? Natürlich. LINK:

Und auch die am 25. 6. versammelten Bischöfen ermahnte er, “Vorbild” zu sein. LINK

Immer wieder wird Augustin zitiert von Papst Leo XIV.: Der Journalist und Vatikan – Spezialist der angesehenen katholischen Tageszeitung LA CROIX (Paris), Mikael Corre,  schreibt am 14.6.2025 zusammenfassend über die Form der Argumente von Papst Leo XIV.: Er hielt einen Vortrag für Priester, Mikale Corre berichtet.: Leo XIV. beendet sein Statement für die Priester, indem er den heiligen Augustinus zitiert, wie er es in fast allen seinen Ansprachen tut: Papst Leo zitierte also Augustin: “Liebt diese Kirche, bleibt in dieser Kirche, seid diese Kirche. Liebt den Guten Hirten, den sehr schönen Gatten (sic), der keine Person täuscht und nur will, dass keine Person untergeht…” (Le 12 juin, Léon XIV terminait son adresse aux prêtres en citant saint Augustin (Sermons 138, 10), comme il le fait dans presque tous ses discours. « Aimez cette Église, restez dans cette Église, soyez cette Église. Aimez le bon Pasteur, l’Époux très beau, qui ne trompe personne et ne veut que personne ne périsse…”). LINK

Wie soll theologisch diese offenbar vom Papst geteilte Priesterspiritualität aus dem 4. Jahrhundert bewertet werden? In jedem Fall ist sie nicht auf der Höhe der Theologie von heute… Nach einer Abschaffung des sinnlosen Zölibatsgesetzes klingen seine Worte jedenfalls  nicht…Wir haben unsere Meinung schon früher mitgeteilt: Zu den “Progressivsten” zählen die dem Denken des heiligen Augustin verpflichteten Theologen, also auch die Augustiner, bekanntermaßen nicht. Wegweisende moderne Theologen gehören eher anderen Orden an. Ob auch der Augustiner Papst Leo XIV. zu den eher behutsamen, durchaus das übliche Katholische unbedingt bewahrenden, auf Ausgleich und “Einheit” bedachten Augustinern gehört, ist wahrscheinlich…

Nebenbei: Kann ein Papst dieser Kirche überhaupt progressiv sein? Erst dann, wenn er selbst das Papsttum abschafft. Das könnte zumal ein Papst, dessen Mitbruder im Augustinerorden Martin Luther ist! Aber von Martin Luther hat Leo XIV. bisher nicht einmal gesprochen…

Ein Vorwort zu unserem Hinweis, einer “Provokation”: 
Heute sollten sich Christen und TheologInnen mit der Theologie des Augustinus befassen, um die Grenzen und Begrenztheiten des Theologen Augustin zu erkennen und sich auch von den Verirrungen seiner Theologie zu befreien. Augustinus mag ja einige allgemeine humane Weisheiten etwa in seinen „Confessiones“ geschrieben und etwa über die Zeit treffend philosophiert haben: Aber einzelne populäre Weisheiten wie: „Unruhig ist unser Herz, bis ruht in dir o Gott“ (das heißt: „Ruhe gibt es auf Erden nicht, auch nicht durch die Philosophie, auch nicht durch den Glauben“) bestimmen nicht das Gesamtwerk.
Dabei sind wir uns der Allmacht der Theologie Augustins bis heute bewusst, etwa auch im offiziellen „Katechismus der Katholischen Kirche“ (Vatikanstadt 1993): Dort wird Augustinus in 88 Paragraphen zitiert, häufiger als Thomas von Aquin… Nebenbei: Aus dem 20.Jahrhundert wird niemand zitiert, aus dem 19. Jahrhundert nur der Pfarrer von Ars, der zwar heiliggesprochen wurde, aber theologisch völlig ungebildet war, betonen Historiker. Der Pfarrer von Ars, Johannes Vianney, wird im Katechismus zitiert: „Der Priester setzt auf Erden das Erlösungswerk fort“…, § 1589.

Zu Augustins Aussagen über “die Frauen” siehe FUßNOTE 2.

 

Unsere Thesen:

1.
Augustinus und seine Theologie wird zweifellos im Mittelpunkt der theologischen Debatten und spirituellen Interessen der nächsten Monate und Jahre stehen: Auch eine „augustinische Bücherflut“ ist wahrscheinlich… Papst Leo XIV. ist Mitglied des Augustinerordens (OSA), er hat von Anfang an als Papst betont „Ich bin ein Sohn des heiligen Augustinus“, er spricht immer wieder in seinen Ansprachen von einigen allgemeinen Aspekten der Theologie Augustins. Und der Papst setzt sich sogar gelegentlich, im allgemeinen verbleibend, von ungewöhnlichen theologischen Aussagen Augustins ab (Fußnote 1).

2.
Es ist also Zeit, etwas näher das theologische Profil von Augustinus außerhalb von wohlwollenden Zitaten kritisch zu betrachten. Angesichts des nur riesig zu nennenden Umfangs der Schriften des Augustinus können hier selbstverständlich nur einige „Grundlinien“ seines Werkes kritisch erwähnt werden, eines Denkens, das durchaus Entwicklungen vorweist, und diese Entwicklung führt weg von großer Offenheit in jungen Jahren hin zur Strenge und Militanz im Alter als Bischof.

3.
Kurt Flasch, Philosophiehistoriker und Philosoph, Spezialist für mittelalterliches Denken, ist ein international geschätzter Kenner der Werke des Augustinus. Kurt Flaschs Studien sind deswegen wichtig, weil sie nicht kirchengebunden sind, die bekanntlich oft der „enormen Größe und Bedeutung des heiligen Augustinus“ erliegen und nur nebenbei die Grenzen seines Denkens freilegen.

4.
Kurt Flasch bietet in einigen Kapiteln seines Buch „Warum ich kein Christ bin“ aus dem Jahr 2013 ( C.H.Beck Verlag) zentrale Erkenntnisse zu wichtigen theologischen Aussagen Augustins: Die Seitenzahlen in den Zitaten hier beziehen sich auf dieses Buch. Auf die große Augustinus – Studie Kurt Flaschs „Augustin. Einführung in sein Denken“, 487 Seiten (Reclam Verlag, 1980) kommen wir später zurück, um die eher knappen Ausführungen Flaschs von 2013 zu bestätigen.

5. Zum Umgang mit der Bibel:
Augustin will in seinem Buch „De consensu evangelistorum“ („Über den Konsens der Evangelisten“) eine Harmonie der Aussagen der vier Evangelisten herausstellen. „Augustin sah die Autorität der Glaubenszeugen bedroht, wenn sie nicht mit EINER Zunge sprachen. Seine Argumentation illustriert als ihr Gegenteil die historisch – kritische Methode der Bibelauslegung.“ (S. 53). „An einer kulturell – historischen Einordnung des Bibeltextes hatte er kein Interesse.“ (Ebd.). „Augustinus konnte kein Hebräisch und kaum Griechisch verstehen“ (ebd.), er glaubte mit den Übersetzungen der Bibel ins Lateinische die Bibel kompetent auslegen zu können…

6.
Augustin war als neu-platonischer Philosoph an rationalen Begründungen des Glaubens interessiert. Aber als Begründungen, sich auf den Glauben einzulassen, waren ihm dann doch äußerliche Fakten wichtig: Etwa: Die Missionserfolge der Kirche wurden gerühmt, auch die Wunder Jesu seien ein Grund zu glauben; und die regelmäßige Abfolge der Bischöfe seit Petrus sei hoch zu respektieren. Und vor allem: „Allein seine, Augustins Kirche sei die katholische, denn selbst Häretiker nennen sie so“ (S. 64).

7.
Platon spielte in der geistigen Entwicklung Augustins eine entscheidende Rolle. Augustin lehrte: „Der Glaube an die zeitliche Offenbarung (in Jesus) ermögliche die rein geistige Einsicht. Diese bestehe in der platonisierenden Erkenntnis Gottes als dem einzig beständigen Glück der Seele“ (S. 92f.)
Wesentliches der Philosophie Platons stimme mit dem christlichen Glauben überein, meinte Augustin. Das können Christen aber erst erkennen, wenn sie von der Gnade Gottes angeleitet werden.
„Wenn die großen griechischen Philosophen noch lebten, würden sie Christen sein. Sie bräuchten an ihren Lehren nur wenige Worte zu ändern“, so fasst Kurt Flasch Augustins Überzeugung zusammen (S. 93).
Augustin übernahm also den „platonisch-universalen Theismus“ (S. 93). Platons Begriff von Gott als dem „höchsten Gut“ setzte sich dann in der Kirche durch, ebenso die platonische Überzeugung, „sinnliches Vergnügen sei der Bestimmung der Seele fürs Jenseits unterzuordnen. (S. 94). „Augustins Neu – Platonismus konzentrierte sich darauf, die Seele durch asketisches Leben zum jenseitigen Dauerglück beim rein geistigen Gott zu führen.“ (S. 94).

8.
Die radikale Lehre von der Gnade, die Gott gewährt, ist seit 396/397 für Augustin entscheidend: „Für ihn endeten nicht mehr nur alle Ungetauften im ewigen Höllenfeuer, sondern auch die Mehrheit der Christen“ (S. 87).

9.
Auf die verheerende Erbsündenlehre Augustins, haben wir schon oft hingewiesen. LINK. Mit seiner Erbsündenlehre hat Augustin das christliche Denken vergiftet und Sexualität letztlich als „Übertragungsweg“ der Erbsünde deklariert.
Kurt Flasch schreibt: „Augustinus machte aus dem Apfelbiss, den der Jesus der Evangelien nie erwähnt hatte, den Sündenfall der gesamten Menschheit und den Beginn der Teufelsherrschaft auf Erden“ (S. 196). „Augustin dachte die Erbsünde als die durch geschlechtliche Vermehrung übertragene Fortdauer der Ursünde im Paradies. Augustin ERFAND die Erbsünde, die in der Theologie vor ihm nur ein Erbschaden war, nun als wahre Schuld, als wirkliche Sünde, die auch den Neugeborenen anhafte…“ (S. 197).
Die Konsequenz: „Im Denken Augustins kommen selbst alle Getauften nicht mehr in den Himmel.“ (S. 197) Erlösung heißt dann: Der von den Sünden der Menschen erzürnte Gott (Vater) „kann allein besänftigt werden durch die Tötung seines eigenen Sohnes, des Gottesohnes, am Kreuz“ (S. 198.) Diese abstoßende Vorstellung von einem Gott, der seinen Sohn in den Tod schickt als Erlösung der Menschen wird heute noch theologisch gelehrt, hat sich aber heute de facto wohl erledigt: Gebildete Christen glauben das einfach nicht mehr…
Aber Augustinus sagt: „Wenn Gott wollte, würden alle gerettet. Aber Gott will es nicht seit Adams Sünde; er rettet aus der Masse der Sünder nur, wen er retten will. Also geht die überwiegende Mehrheit für immer verloren“ (S. 208). An dieser Stelle muss an das Fortleben dieser theologischen Ideologie etwa im Denken des Reformators Calvins erinnert werden…

10.
Kritische Hinweise zu einigen zentralen theologischen Aussagen Augustins bietet keineswegs nur Kurt Flasch. Man muss nur die ausführliche Biographie des Historikers Peter Brown (Oxford) „Augustinus von Hippo“ lesen (auf Deutsch erschienen 1982): Auch Peter Brown beschreibt den schwierigen Charakter Augustins, seine Strenge als Bischof im Kampf gegen die große Glaubensgemeinschaft der Donatisten, seinen leidenschaftlichen, polemischen Kampf gegen Andersdenkende insgesamt. Sein Kampf galt auch kompetentem gebildeten Bischöfen wie Julian von Eclanum: Er lehnte die Erbsündenlehre Augustins ab und wurde von ihm verfolgt… Die Erbsündenlehre Augustins, die Julian von Eclanum zurecht ablehnt, beschreibt Peter Browns: „Da der Geschlechtstrieb für Augustin eine permanente Strafe war, wurde er als permanente Neigung, als triebhafte Spannung dargestellt, der man widerstehen konnte, die jedoch in Tätigkeit blieb, selbst wenn sie unterdrückt wurde“ (S. 340). Und weiter: „Der Gott des Augustinus war ein Gott, der eine Kollektivstrafe für die Sünde eines Mannes (Adam) verhängt hatte“. Die Lehre des 1. Timotheus Briefes im Neuen Testament: „Gott will, dass ALLE Menschen gerettet werden“ (1 Tim. 2,4) bemühte sich „Augustin wegzuerklären… (S. 351), also beiseite zu lassen, zu ignorieren. Und angesichts der theologischen Lehren des „liberalen“, auf die Kraft der menschlichen Freiheit setzenden Theologen Pelagius wollte er seine katholische Gemeinde wie in eine Festung einsperren, um sie vor den Angriffen des Irrlehrers zu schützen.“(S. 352). Über Pelagius contra August hat Kurt Flasch in seiner Studie „Augustin. Einführung in sein Denken“ ausführlich geschrieben (S. 176 ff.): “Als der Bischof von Rom, Zosimus, den Theologen Pelagius rehabilitierte, intrigierte Augustin solange beim kaiserlichen Hof in Ravenna, bis der Kaiser intervenierte…“ Deswegen wurde Pelagius aus Rom verbannt…“ (S. 178) und seine Anhänger auf Betreiben Augustins verfolgt. Augustin gelang es mit Bestechungen die Pelagius – Freunde einzuschränken, „gegen die verbleibenden Anhänger des Pelagius mobilisierte Augustin die Staatsgewalt“ (S. 179).

11.
Man mag auch im Buch von Peter Brown einzelne Zitate und Sentenzen finden, die einen sympathischen Augustinus zeigen: Aber im ganzen war er als Bischof ein sehr polemischer Theologe in den aufgewühlten Zeiten des 4. und 5. Jahrhunderts. Und es mag ja sein, dass seine Weisungen, also seine „Regel“ zum Zusammenleben der Priester (die so genannte Ordensregel) nach wie vor allgemein gehaltene, durchaus noch inspirierende Vorschläge enthalten, aber was bleibt denn sonst noch?
Nebenbei: Dass Augustinus von seiner Herkunft her ein Afrikaner ist, wird meines Wissens oft übersehen oder vergessen. Vielleicht wäre dieser „afrikanische Augustinus“ nicht nur eine Herausforderung für die Augustinerorden (es gibt ja mehrere), etwa indem sie ihre Klöster in Europa für Flüchtlinge aus Afrika öffnen und – wie die Jesuiten – einen „Flüchtlingsdienst“ einrichten…

12.
Henri Marrou, ein „klassischer“ Augustinus- Kenner und durchaus Augustinus – Freund, schreibt über die enorme Bedeutung Augustins in den Kirchen im 17. Jahrhundert: „Er erfüllt das ganze Jahrhundert, alle zitieren, benutzen und kommentieren ihn… es wird schließlich eine Besessenheit daraus: Man wagt nicht mehr, Vorbehalt und Kritik zu äußern, der heilige Augustinus hat immer und überall recht.“ (in Rowohlts Monographie „Augustinus“ von Henri Marrou, 1984, S. 147).

13.
Hinweise von Kurt Flasch aus einem Buch „Augustin. Einführung in sein Denken“, Reclam, 1980:
Im 17. Kapitel seiner Studie spricht Flasch vom „Zwiespalt Augustins“ (S. 403 ff.). Augustin sieht „das Böse gerade bei den `guten` Taten (S. 404). „Er bestand darauf, das Höllenfeuer sei körperliches Feuer“ (S. 419). „Solche Sätze gaben dem Kirchenglauben der westlichen Christenheit eine Buchstäblichkeit und Enge, die ihn mit der (philosophischen) Aufklärung in Konflikt brachte (S. 419). Und auch dies: „Die Gewohnheiten der Gruppe (bestimmter Christen) sollte das Sprechen einzelner normieren. Vielleicht hat Augustin an keiner anderen Stelle seinen Bruch mit dem antiken Ideal freier Rede härter und folgenreicher ausgesprochen als an dieser Stelle“ ( S. 420). „Der Militärdienst wurde bei ihm unbedenklich. Augustin konnte christliches Leben und Militärdienst erbaulich in Parallele setzen“(S. 422).

14.
Papst Leo XIV. beschwört als Augustiner seit Beginn seiner Regierung ständig den Wert der EINHEIT unter den Gläubigen. Der Papst meint, Einheit sei DIE zentrale Forderung Augustins für die Kirche auch heute. Wer sich allerdings genauer anschaut, wie im einzelnen Augustin als Bischof für die Einheit unter den vielfältigen Christen in Nordafrika damals sorgte (von der großen kirchlichen Bewegung der Donatisten war schon die Rede) und seiner katholischen Kirche auch mit Druck und Zwang zum Sieg verhalf, der hat seine Zweifel an der Relevanz der augustinischen Einheits-Idee. Sie passt angesichts der Pluralität der Kulturen und Theologien nicht mehr in unsere Zeit.

15.
Die Idee einer theologischen Einheit unter den eineinhalb Milliarden Katholiken heute ist ohnehin sehr problematisch. Denn die Vielfalt der Glaubensüberzeugungen und moralischen Vorstellungen ist unter den 1,5 Milliarden Katholiken heute so unterschiedlich, dass von einer Einheit keine Rede sein kann, Einheit im Sinne von: “Wir Katholiken glauben alle das Gleiche und haben die gleichen theologischen Prinzipien etwa zur Rolle der Frauen oder der Homosexuellen in der Kirche“ . Und eine solche Einheit „Alle glauben das Gleiche und sprechen in gleichen Formeln vom Glauben“ ist nicht nur faktisch unmöglich, sondern auch theologisch nicht wünschenswert und angesichts der Vielfalt der Kulturen auch sinnlos.

16.
Über die Bedeutung der Einheitsvorstellung beim Augustiner Papst Leo XIV. wird in Zukunft noch viel debattiert und kritisiert werden, hoffentlich.

Fußnote 1:
Es ist aber beachtlich, dass der Augustinus – begeisterte Papst Leo XIV. schon am 18.Mai 2025 in seiner ersten großen, wichtigen Predigt zur Amtseinführung betonte: “Es geht niemals darum, andere durch Zwang, religiöse Propaganda oder Machtmittel zu vereinnahmen, sondern immer und ausschließlich darum, so zu lieben, wie Jesus es getan hat.“ Und der Augustiner Papst Leo XIV. machte diese Aussage noch deutlicher: „Wir sind gerufen, allen Menschen die Liebe Gottes zu bringen, damit jene Einheit Wirklichkeit wird, die die Unterschiede nicht aufhebt, sondern die persönliche Geschichte jedes Einzelnen und die soziale und religiöse Kultur jedes Volkes zur Geltung bringt.“ Das sind hoffentlich programmatische, man möchte beinahe sagen: anti – augustinische Worte. LINK https://www.vaticannews.va/de/papst/news/2025-05/wortlaut-predigt-von-leo-xiv-zur-amtseinfuhrung.html
Der Augustiner Papst Leo XIV. widerspricht der höchst problematischen Weisung des Bischofs Augustinus, man solle die unwilligen Menschen auch zwingen, den Glauben anzunehmen… Augustinus bezieht sich dabei auf das Gleichnis Jesu vom großen Gastmahl (Lukas14,23). Dieses Wort Jesu ist eine Einladung fremder Gäste zu einem Festmahl, es hat aber nichts mit zwanghafter Einfügung von Ketzern in die katholische Kirche zu tun, wie Augustinus dieses Jesuswort umdeutete. Augustinus versteht es als „Aufforderung zur Gewaltanwendung und er verwendet es neben anderen Argumenten als Beleg zur Billigung von Gewaltmaßnahmen gegen Häretiker. Das von Augustinus als dem erstem, doch nicht häufig verwendete Zitat hatte für die Ketzerbekämpfung in Mittelalter und Neuzeit verheerende Wirkung.“ LINK:

Fußnote 2:

Augustins Aussagen über Frauen:

“Ist Augustin auf eine gleichrangige Bewertung beider Geschlechter bedacht, so ändert sich das Bild bei der Frage nach dem Zweck der Erschaffung eines weiblichen Partners für Adam und den daraus folgenden spezifischen Aufgaben der Frau. Augustin: „Erschaffen wurde die Frau also für den Mann, aus dem Mann, mit ihrem Geschlecht, ihrer Formung und der Verschiedenheit ihrer Organe, die das Kennzeichen der Frau sind.“ Die Hilfsfunktion der Frau erfüllt sich ausschließlich in ihrer Rolle als Mutter. Die Frage nach möglichen Alternativen für die Rolle der Frau stellt Augustin sichtlich vor ein Rätsel: „Wenn die Frau nicht dem Manne zur Hilfeleistung, um Kinder hervorzubringen, gemacht worden ist, zu welcher Hilfe ist sie dann gemacht worden?“ Der Gedanke, Mann und Frau könnten durch freundschaftliche Beziehungen miteinander verbunden sein, erscheint Augustin als abwegig, schließlich birgt der Umgang mit Frauen stets die Gefahr der Erotisierung in sich, welche die Reinheit des freundschaftlichen Umgangs trüben könnte. Zudem implizierte der antike Freundschaftsgedanke die Freundschaft unter Gleichen, die allein die notwendige Einheit und Verbundenheit zu erbringen vermag.

Ihre anthropologische Bestimmung als Gehilfin des Mannes verpflichtet die Frau in der ehelichen Beziehung zu spezifischen Pflichten und Wesenszügen. Augustin entwirft das Sittenbild einer christlichen Ehefrau mit den wesentlichen Tugenden des Gehorsams und der Sittsamkeit im Rahmen ihrer Aufgabe als treusorgende Mutter der aus der Ehe entsprungenen Kinder.

Augustin beschränkt die Möglichkeiten weiblicher Selbstverwirklichung wie seine christlichen Zeitgenossen auf die Ehe, die Witwenschaft und die Jungfräulichkeit, wobei er stets die Superiorität der Jungfräulichkeit hervorhebt. Paradebeispiel für die Vollendung des „züchtig-frommen Frauentypus“ ist Maria, da sie sowohl das Ideal der Jungfräulichkeit als auch das der Ehefrau und Mutter in Reinform repräsentiert. An ihr wird auch die androzentrische Perspektive des frühchristlichen Frauenbildes deutlich, denn Maria erscheint nie als eigenständige Persönlichkeit, sondern stets nur in ihrer Beziehung zu einem männlichen Partner: Sie ist die jungfräuliche Mutter, die Braut Christi und die folgsame Gattin Josefs, und ihre Aufgaben beschränken sich auf ihre dienende mütterliche Funktion.

Sexuelle Enthaltsamkeit ist für Augustin aber nur dann von moralischer Bedeutung, wenn sie in dem höheren sittlichen Zweck der exklusiven Bindung an Gott und der Abwendung von allem Weltlichen gründet. Selbst eine mehrfach verheiratete christliche Frau ist für Augustin besser als eine jungfräuliche Häretikerin, da die spirituelle Virginität auch ohne die des Körpers realisierbar ist und umgekehrt.

Allerdings gibt der Autor Kiesel zu bedenken, dass Augustins Frauenbild auf dem Boden einer asketisch geprägten eschatologischen Naherwartung entstanden ist und demzufolge alle irdischen Beziehungen unter dem Aspekt der Vorläufigkeit und Zweitrangigkeit zu betrachten sind.”

Quelle: https://www.information-philosophie.de/augustinus-frauenbild.html.

SIEHE AUCH UNSEREN BEITRAG “AUGUSTIN EIN RIGIDER THEOLOGE der spätantiken Welt. veröffentlicht am 26.5.2025: LINK 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

“Der Engel der Geschichte” von Walter Benjamin. Eine Interpretation.

Erläuterungen zu den 18 Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ von Walter Benjamin.
Von Christian Modehn am 6. Mai 2025.     Anläßlich der Ausstellung im Bode – Museum in Berlin LINK

Der dichte und intensive, durchaus schwierige Text Walter Benjamins ist heute aktuell: Weil wir mit ihm nach dem Sinn des Fortschritts fragen und einer kritischen Erinnerungskultur, nach der Anwesenheit von Hoffnungszeichen in der Geschichte und: Wie denn ein Engel, möglicherweise Göttliches, dabei von Bedeutung ist. Walter Benjamin arbeitete an diesem Essay im Jahr 1940. Das Manuskript übergab er im September 1940 Hannah Arendt, sie sollte es bewahren und retten, als er mit ihr auf der Flucht vor den Nazis war. Walter Benjamin starb am 26. September 1940 in Port Bou, in Spanien, dicht an der französischen Grenze. Geboren wurde Benjamin am 15. Juli 1892 in Berlin.

1.
Aus dem Text „Über den Begriff der Geschichte“ wird immer wieder ausschließlich die IX. These besprochen und diskutiert und dabei so getan, als käme für Benjamin alles auf den dort erwähnten ENGEL des Künstlers Paul Klee an (also auf die aquarellierte Zeichnung „Angelus Novus“ von 1920). Diese Fixierung auf einen „Engel-Zusammenhang“ ist zu eng. Man sollte den „Engel“ Benjamins im Zusammenhang der übrigen 17 Thesen des Essays „Über den Begriff der Geschichte“ verstehen. Der Text Benjamins: LINK

2.
Zur zentralen Aussage der 18 Thesen: Sie sind miteinander verschränkt und aufeinander bezogen, also nicht etwa beliebig nebeneinander gestellt. Benjamin schreibt diese Thesen, wie er darin selbst sagt, in Zeiten des Faschismus. Konkret also ist diese Arbeit in seinen durchaus verzweifelten „Kampf gegen den Faschismus“ eingebunden. Die Thesen sind also auf eine politische Katastrophe (auf den Faschismus) bezogen. Dies macht Benjamins Aussagen heute, im Mai 2025, aktuell und bedeutsam. Mit dem Titel „Über den Begriff der Geschichte“ will Benjamin für eine Deutung der Geschichte plädieren – jenseits bürgerlicher Selbstverständlichkeiten. Benjamin sieht sich als Denker des historischen Materialismus im Sinne von Karl Marx, eine Parteibindung oder gar eine positive Äußerung zur KP oder gar zu Stalin ist im Text nicht zu finden. Für den Klassenkampf setzt sich Benjamin ein, und damit distanziert er sich von der Position der Sozialdemokratie. Sie ist der in seiner Sicht naiven Idee eines kontinuierlichen Fortschritts verpflichtet.

3.
Benjamin sieht die herrschende Deutung der Geschichte in der damals weit verbreiteten „historistischen“ Denkform: Diese geht in seiner Sicht davon aus, dass die Geschichte der Menschheit ein evolutiver Prozess ist, stetig nach vorn laufend, der Kenntnis vieler beliebiger Daten und Fakten verpflichtet. Benjamins Deutung der Geschichte hingegen geht von den grundlegenden und belastenden Fragen der Gegenwart aus und sucht deswegen nur nach einzelnen treffenden Inspirationen im Vergangenen. Im Sinne des historischen Materialismus springt der Historiker und der Philosoph also förmlich in die Ereignisse und Erfahrungen von einst, so findet er Inspirationen und Hilfe.

4.
In dieser Geschichtsdeutung ist eine Haltung wichtig, für die Benjamin den eher ungewöhnlichen Begriff EINGEDENKEN verwendet. Es geht ihm um eine besondere Form des Gedenkens an historische Begebenheiten: Im Ein – Gedenken lässt der Mensch das Erinnerte in sich hinein, in seinen Geist, seine Seele, seine Vernunft. Aller äußerliche, bloß aufs Wissen von Daten und Namen begrenzte Umgang mit Geschichte wird überwunden. Das Vergangene wird im Eingedenken als provozierender Anspruch an die Gegenwart erfahren. Diese Form eines lebendigen Umgangs mit Geschichte wird in der offiziellen Geschichtsdeutung vernachlässigt oder unterdrückt.

5.
Wichtig ist zu respektieren, dass Benjamin in den 18 Thesen als Marxist, als „historischer Materialist“ tatsächlich auf spirituelle, religiös anmutende Impulse wert legt. Diese können im Klassenkampf hilfreich sein, weil sie eine andere, tiefere Sicht auf die Geschichte, die Weltgeschichte, vermitteln: Diese Geschichte hat für Benjamin viel zu tun mit der Hoffnung auf Erlösung und dem messianischen Gedanken. Mit dem jüdischen Philosophen und Theologen Gerhard Scholem war der Jude Walter Benjamin verbunden. Wenn Benjamin von Theologie spricht in den 18 Thesen, meint er die jüdische Theologie.

6.
Zum ersten Mal, am 15. Juli 2017, wurde einige dieser Hinweise von Christian Modehn als Einführung in ein Gespräch im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon am 14. 7. 2017 vorgetragen, in einer Galerie am Walter – Benjamin – Platz in Berlin – Charlottenburg.

7. Hinweis zur I. These:
Hier tritt der schon aus der Schrift „Berliner Kindheit“ bekannte „bucklige Zwerg“ auf, diesmal in einer positiven Rolle: Er lenkt nämlich ungeahnt das Tun der Sozialisten. Wie der „bucklige Zwerg“ diesen Einfluss hat und haben kann, wird von Benjamin nicht gesagt! Erstaunlich bleibt die Behauptung Benjamins einer Art geheimen „Steuerung“ des Sozialismus/ Marxismus durch die jüdische Theologie. Benjamin meint: Wenn denn der „historische Materialismus“, also der Marxismus im Sinne Benjamins, die Theologie „in ihren Dienst nimmt“, dann könne der Marxismus es „ohne weiteres mit jedem aufnehmen“. Selbst angesichts der Tatsache, dass die Theologie im Augenblick „klein und hässlich ist“. Ohne Theologie als reflektierte Erwartung der Erlösung gibt es also keine erfolgreiche Gestaltung der Geschichte im Sinne des Marxisten Benjamin. Der historische Materialismus muss die Theologie – eine Spiritualität – in ihren Dienst nehmen, wenn er sich durchsetzen will. Das ist durch aus ungewöhnlich in sozialistischen Kreisen damals. Im Denken Rosa Luxemburgs hat Christian Modehn auch spirituelle Dimensionen nachgewiesen LINK.

8. Hinweis zur II. These:
Benjamin meint, „in der Vorstellung des Glücks schwingt unveräußerlich die Vorstellung der Erlösung mit“. Und diese Vorstellung ist auch in der Vergangenheit, in der Geschichte der Menschheit, zugegen: In der Vergangenheit ist „eine schwache messianische Kraft“ anwesend, also eine Art von „etwas Göttlichem“, das die Geschichte prägt. Weil die heutigen Menschen auch zur Geschichte gehören, kann diese Prägung durch „Göttliches“ bedeuten: „Dann sind wir auf der Erde erwartet worden“. Das heißt: „Es gibt eine geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem (Leben)“. Es gibt also aufgrund einer „schwachen messianischen Kraft“ in der Geschichte ein Verbundensein der Menschen untereinander. „Billig“ und mühelos kann der historische Materialist, also Benjamin, damit nicht umgehen.

9. Hinweis zur III. These:
Hier entwickelt Benjamin seine Kritik an der herrschenden Geschichtsforschung und Geschichtsphilosophie. Er zeigt zunächst ein partielles Verständnis für den Chronisten, also für den Historiker, der fein und säuberlich alle Ereignisse, auch die unbedeutend erscheinenden, aufzeichnet und bewahrt. Nichts darf für die Geschichte verloren gehen, schreibt Benjamin. Aber er geht darüber hinaus: Der Gesamt – Überblick über die Welt- Geschichte und damit über die Menschenwelt im ganzen ist erst der erlösten Menschheit, in der messianischen Zeit, also am Ende der Geschichte möglich. Benjamin spricht von dem „jüngsten Tag“, an dem alle Ereignisse „zitierbar“ seien, wie er sagt, also klar vor Augen eines jeden treten. Das ist dann die große Übersicht der Erlösten über die Geschichte. Hier werden überraschend für einen marxistischen Philosophen Dimensionen von Transzendenz angesprochen, also von einer Art himmlischen Rettung, einem „jüngsten Tag“, vom „jüngstem Gericht“ in der Theologie der Christen spricht er nicht.

10. Hinweis zur IV. These:
Der irritierende, an Karl Marx erinnernde Vorspruch ist das Hegel-Zitat von 1807: „Trachtet am ersten nach Nahrung und Kleidung, so wird euch das Reich Gottes von selbst zufallen“ . Dies hat Hegel tatsächlich 1807 geschrieben. Das Zitat wirkt wie ein materialistischer Ausrutscher des Idealisten Hegel. (FUSSNOTE 1)
In dem Hinweis bietet Benjamin ein überraschendes Plädoyer: Die „feinen und spirituellen Dinge“ sollten von einem Marxisten ernst genommen werden, gerade wenn er den Klassenkampf entscheidend findet. So dringend der Kampf „um die rohen und materiellen Dinge“ auch ist, die spirituellen Dinge dürfen nicht ignoriert werden. Die „spirituellen Dinge“ werden von Benjamin allerdings sehr weltlich als „Zuversicht, als Mut, als Humor, als List, als Unentwegtheit“ im Klassenkampf beschrieben. Sie werden jeden Sieg der Herrschenden in Frage stellen, das heißt: auch über Niederlagen im Klassenkampf hinweghelfen. Genauso wichtig ist: Ohne den Klassenkampf zugunsten materieller und sozialer Gerechtigkeit kann es keine „spirituellen Dinge“ geben. Ins Heute übersetzt: Spiritualität ohne politischen Kampf kann es nicht geben. „Diese spirituellen Dinge wirken in die Ferne der Zeit zurück“, schreibt Benjamin. Sie sind rück – wirkend: Sie gelten also auch in der Vergangenheit, und sie verändern unser Bild der Vergangenheit. Auch die Vergangenheit ist spirituell “durchdrungen” im Sinne Benjamins…
Jetzt wird es in diesem dichten Text durchaus „mystisch“: Alles Gewesene, die Vergangenheit, wendet sich der Sonne zu, „die am Himmel der Geschichte am Aufgehen ist“. Auf die von der Sonne bewirkten „unscheinbarsten Veränderungen“ „muss der historische Materialist sich verstehen“. Er muss diese geheime spirituelle Kraft wahrnehmen lernen! Der historische Materialist, der Marxist, der Sozialist, muss also eine spirituelle Kraft in sich entwickeln, um überhaupt den Gang der Geschichte verstehen zu können.

11. Hinweis zur V. These:
Wer „das wahre Bild Der Vergangenheit“, wie Benjamin sagt, pflegen will, muss sich darauf einstellen: Dass dieses wahre Bild von einst nur „vorbeihuscht“. Es ist „ein Aufblitzen“ , im Sinne einer plötzlichen geschenkten Erkenntnis, einer Einsicht. In diesem Aufblitzen ist jedoch „die Vergangenheit festzuhalten“. Dies ist die Haltung des historischen Materialismus. Ganz anders denkt die bürgerliche Geschichtsforschung, die meint, über alles Vergangene ständig verfügen zu können. „Die Vergangenheit läuft ja nicht davon“, sagen die bürgerlichen Historiker im Sinne des Historismus, betont Benjamin. Diese distanzierte Haltung der bürgerlichen Historiker bedeutet: Die Vergangenheit steht als gleichförmig fließende Zeit mit ihren vielen tausend interessanten wie uninteressanten“ Ereignissen immer zu unserer Verfügung. Für Benjamin hingegen gilt: Jede Gegenwart muss suchen und prüfen, ob ein Bild der Vergangenheit zu meiner Gegenwart mit ihrem Klassenkampf und dem Kampf der Unterdrückten um Gerechtigkeit „passt“.

12. Hinweis zur VI. These:
Wieder setzt sich Benjamin mit der Deutung der Geschichte im Sinne des Historischen Materialismus auseinander. Im aktuellen Augenblick der Gefahr (durch den Faschismus) stellt sich für ihn förmlich schlagartig eine spezielle Erinnerung ein, sie „blitzt auf“, wie er schreibt. Er spricht zunächst allgemein nur von dem „Bestand der Tradition“ und der „Überlieferung“, die in der Erinnerung aufblitzt und bewahrt wird und vor der Verfälschung durch „die herrschende Klasse“geschützt werden muss. Unvermittelt wird dann aber bei Benjamin ein jüdisch – theologischer Gedanke lebendig, er spricht vom „Messias “, als dem Inhalt der Tradition und Überlieferung. Wer als Geschichtsschreiber diese Erinnerung bewahrt, kann „Funken der Hoffnung“ entfachen, aber die Hoffnung ist bedroht, „der Feind (der Faschismus) hat zu siegen nicht aufgehört“.

13. Hinweis zur VII. These:
Noch einmal setzt sich Benjamin mit der von ihm kritisierten „historistischen“ (und bürgerlichen) Geschichtsforschung auseinander. Ihre Anhänger empfehlen die Einfühlung in ein abgekapseltes Ereignis, und dabei interessieren sie sich nur für die Sieger und die jetzigen Herrscher als deren Nachfahren, betont Benjamin. Die Sieger der Geschichte sind – ohne, dass Benjamin diese Bezeichnung wählt – etwa die Kolonialherren, die erbeutete Kulturgüter „im Triumphzug“ mit sich führen. Diese Kulturgüter sind „von einer Abkunft, die Benjamin als Forscher des historischen Materialismus „nicht ohne Grauen bedenken“ kann. Diese Kulturgüter wurden unter „Fron“ geschaffen, sie sind Zeugnisse „der Barbarei“. Auch die Weitergabe dieser Kulturgüter kann Ausdruck des Barbarischen sein. Man denke an die erbeutete Kunst von Kolonisten und den Verbleib dieser Kunst in europäischen Museen. Benjamin will auf diese Weise „die Geschichte gegen den Strich zu bürsten“.

14. Hinweis zur VIII. These:
Die Unterdrückten lebten und leben „im Ausnahmezustand“, der „die Regel ist in der Geschichte.“ Benjamin meint: Die Position der Unterdrückten könnte sich verbessern, „durch die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustands“. Also offenbar durch die (hier als solche nicht genannte) Revolution. Der wirkliche Ausnahmezustand kann im Kampf gegen den Faschismus, der hier explizit genannt wird, hilfreich sein.

15. Hinweis zur IX. These:
Dieses Kapitel ist das berühmteste und am häufigsten zitierte aus Benjamins Werken. Der Engel hat hier als Bote nur eine Einsicht zu verbreiten: Die Botschaft von der wahren Bedeutung des Fortschritts. Weil die Engel – Gestalt auch zur jüdischen Theologie gehört, hat Benjamin ein Wort des jüdischen Theologen Gerhard Scholem seinen Ausführungen vorangestellt.
In den sehr dichten Äußerungen wird der Engel ein „Engel der Geschichte“ genannt: Er sieht im Weltzustand nur „eine einzige Katastrophe“, die die unablässig „Trümmer auf Trümmer häuft“. Der Engel möchte zwar verweilen und den Weltzustand verändern, nämlich „die Toten wecken und das Zerschlagenen zusammenfügen“. Aber der Engel ist eingeschränkt, hilflos, er kann „seine Flügel nicht mehr schließen“. Denn ein Sturm hat die Flügel beschädigt, und der weht merkwürdigerweise vom Paradiese her, also von der angeblich heilen, von Gott geschaffenen Welt. Das muss unterstrichen werden: Der zerstörerische Sturm kommt aus dem Paradies, also dem Werk Gottes: Die Schöpfung ist offenbar mißlungen, weil ein solcher Sturm aus dem Paradies so viele Trümmerhaufen erzeugt auf der Erde. Den vernichtenden Sturm, der den Engel behindert, nennt Benjamin unvermittelt und rätselhaft „das, was wir Fortschritt nennen“. Der tödliche Fortschritt soll als eine Katastrophe verstanden werden, die vom Paradies herrührt. Der Engel bleibt hilflos, ist „in die Zukunft“ getrieben, die er selbst nicht sehen kann: Denn er kann nur rückwärts schauen, nach hinten, Richtung zerstörerisches Paradies mit seinem Sturm…
Fortschritt ist also in Benjamins Sicht nicht mehr Tat des Menschen, Fortschritt als Erzeugung von Trümmern und Elend erscheint als ein Werk Gottes: Und die Welt strebt für Benjamin dem Endzustand entgegen, der Erlösung. Da erwartet der Messias die Menschen. Ist (der gute) Gott als der Schöpfer des Paradieses auch der Gott, der den verheerenden Fortschrittssturm geschaffen hat? Im IX. Kapitel zeigt Benjamin eine überraschende Deutung des Fortschritt- Wahns. Hier ist der Mittelpunkt des ganzen Textes, der die spekulative Geschichtsphilosophie Benjamins zum Ausdruck bringt.

16. Hinweis zur X. These:
Benjamin stellt hier seine „Theologie des Engels“ in den Dienst seiner globalen Geschichtsphilosophie und der Tiefen – Analyse des Fortschritts. Seine politische Analyse wird also deutlicher: Da ist von den „Gegnern des Faschismus“ – also den Sozialisten – die Rede. Benjamin denkt an die sozialistischen Politiker, auf die er, wie andere Sozialisten setzten. Aber diese Politiker liegen angesichts der Allmacht des Faschismus „am Boden“ und sie haben auch “ihre eigenen Sache verraten“: Benjamin denkt dabei an Stalin und dessen Pakt mit Hitler. Diese verräterischen Politiker klagt Benjamin an: Sie folgten einem blinden Fortschrittsglauben, also auch der Gier, durch Verhandlungen mit Hitler mehr Vorteile zu erlangen. Sie glaubten die „Massenbasis“ der (kommunistischen) Partei hinter sich zu haben, was ja im Falle europäischer Kommunistischer Parteien in ihrer Stalin – Ergebenheit historisch so stimmt. Diese Massenbasis sei „servil“ und „in einen unkontrollierbaren Apparat“ eingezwungen.
Benjamin will „jede Komplexität“ mit diesem Politiker vermeiden. Nur so kann sich das „politische Weltkind“ aus den Fesseln befreien, in die diese Politiker die Menschen eingezwängt haben.

17. Hinweis zur XI. These:
Dies ist sicher ein politisch brisantes Kapitel: Benjamins Abgrenzung von der SPD.
Die SPD sei konformistisch mit den Herrschenden, sagt Benjamin. Als Marxist lässt er auch 1940 nichts Gutes an der SPD. Die Kommunistische Partei, zu der er als Mitglied nie gehörte, erwähnt er nicht in ihrer taktischen Haltung; die KP Frankreichs z.B. hatte 1939 den Hitler Stalin Pakt unterstützt.
Die SPD – Arbeiterklasse glaubt, es sei richtig, mit dem großen Strom der Herrschenden zu schwimmen, also die Strukturen der Herrschenden zu stützen, meint Benjamin. Durch ihre Arbeit würden die SPD Proletarier Reichtum erlangen und Kultur schätzen. Dabei übersehen die SPD – Arbeiter, so Benjamin, dass sie keinen Anteil an den Produktionsmitteln haben. Eine langsame Verbesserung der Arbeit, nicht die revolutionäre Neuorganisation der Eigentumsverhältnisse, bringe ERLÖSUNG, so etwa Josef Dietzgen, ein SPD-Philosoph (1828 bis 1888 im Exil in Chicago). Für die SPD stehe die Ausbeutung der Natur im Mittelpunkt, dies sei „technokratisch“, meint der Marxist Benjamin. Die SPD „sehe die Fortschritte der Naturbeherrschung, nicht die Rückschritte der Gesellschaft…

Nebenbei: Hatten etwa kommunistische Regierungen Respekt vor der zu bewahrenden Natur? Sicher nicht.

18. Hinweis zur XII. These:
Noch beschreibt Benjamin seine Ablehnung der SPD: Zusammenfassend gesagt: Die SPD will nicht die Befreiung der unterdrückten Klassen. Benjamin behauptet, die SPD will den Arbeitern nur die Erlösung künftiger Generationen versprechen. Louis Auguste Blanqui (1805 – 1881) wird von Benjamin lobend erwähnt, er war einer der ersten Theoretiker des Sozialismus in Frankreich.

19. Hinweis zur XIII. These:
Noch einmal kritisiert Benjamin die Haltung der SPD zum Fortschritt. Zu pauschal, zu dogmatisch sei das SPD Fortschrittsdenken. Da wird die Geschichte gedacht als eine Linie, die stets nach vorn strebt, ins Bessere. Dies ist für Benjamin eine homogene, eine gleichförmig gemachte Zeit, die keine entscheidenden Höhepunkte kennt, und deswegen durch eine gewisse Monotonie „leer“ und bedeutungslos erscheint. Diese Deutung der Geschichte will die materialistische Geschichtsdeutung überwinden! Und man wird sich an dieser Stelle an den „Engel der Geschichte“ (IX. These) erinnern und sich fragen, wer denn verantwortlich ist für die dort genannten riesigen Trümmerberge, die der Fortschritt erzeugt.

20. Hinweis zur XIV. These:
Für Benjamin wird heute Geschichte durch den historischen Materialismus gemacht, konstruiert: Sie geht aus von dem JETZT und seinen Leidenserfahrungen. Aus dem Kontinuum der Geschichte wird Wichtiges und Hilfreiches für das JETZT „HERAUSGESPRENGT“, so wörtlich. Das klingt tatsächlich gewalttätig. Als Beispiel für diese ungewöhnliche, auswählende Geschichtsdeutung nennt Benjamin eine der radikalsten Hauptfiguren der Französischen Revolution: Robespierre. Er wählte – für sein Revolutionsverständnis – das Bild vom einem antiken Rom als wichtig und inspirierend aus, meint Benjamin. Was genau denn Robespierre aus „dem antiken Rom“ für seine Zeit „heraussprengte“, sagt Benjamin leider nicht. Er bleibt im allgemeinen und sagt weiter: Der historisch – materialistisch denkende Revolutionär muss in die Geschichte mit einem „Tigersprung hineinspringen“ und sich dabei das für ihn Wichtige als Inspiration und Hilfe entreißen. Solch ein Sprung ist die Revolution. Und hier wird Karl Marx und dessen Revolutionsvorstellung in der Deutung Benjamins explizit erwähnt. Man merkt an dieser Stelle einmal mehr, dass Benjamin eben leider nur kurze und knappe Thesen verfasste, man hätte gern Ausführlicheres gelesen…

21. Hinweis zur XV. These:
Wichtig ist hier der Begriff EINGEDENKEN, typisch für Benjamin. Das lebendige Eingedenken ist eine Steigerung des Gedenkens. Das banale Gedenken gerade an „Gedenktagen“ hat meist nur einen äußerlichen, pflichtgemäßen Charakter, ohne tiefere Wirkung und ohne politische Konsequenzen für die Gedenkenden. Feiertage sollen aber Tage des Eingedenkens werden, fordert Benjamin. Erneut schreibt Benjamin von seiner zentrale Idee: Es gilt das von den Herrschern suggerierte gleichmäßig dahin strömende, alles gleichmachende „Kontinuum der Geschichte“ aufzusprengen. Wenn das geschieht, dann geschieht die revolutionäre Aktion. In der Juli-Revolution in Frankreich 1830 wurde auf die Uhren geschossen, um das Erlebnis großer Zeit deutlich zu machen, einer neuen Zeit, die man fixieren, die zum Stillstand bringen will.

22. Hinweis zur XVI. These:
Stillstand ist ein merkwürdiges, aber hier das entscheidende Wort: Benjamin meint, die Geschichte komme im JETZT, im Kairos, zu einem Stillstand, zu einer intensiven Möglichkeit des Eingedenkens. Nur so kann das messianische Element gesehen werden. Gegenwart als Stillstand wird eine neue Dimension, man möchte sagen eine Dimension der Heils-Zeit. Darauf kann der historische Materialist, also der Marxist, nicht verzichten. Er muss das gleichmäßige und für Benjamin langweilige „Kontinuum der Geschichte aufbrechen“. Er muss Wichtiges für den Klassenkampf auswählen und bevorzugt darstellen und lebendig machen.

23. Hinweis zur XVII. These:
Auch hier setzt sich Benjamin ab von der bürgerlichen Geschichtsforschung, Historismus von ihm genannt. In dieser Konzeption fließt alles in eine ferne Zukunft dahin und alles ist gleich – gültig, alles ist gleich viel wert. Der historische Materialist aber wählt aus der Geschichte Wesentliches aus. Und das Wesentliche ist die messianischen Zukunft. Sie leuchtete schon in der von den Herrschern unterdrückten Deutung der Vergangenheit auf. Die messianische Zeit verlangt höchste Aufmerksamkeit des Geistes, also eine Art „Stilllegung“, man könnte sagen: Ein meditatives Nachdenken und Konzentriertsein auf das Wesentliche im Jetzt. Und dieses ist wesentlich, weil es um die Rettung der Welt im „Messianischen“ geht, das Wesentliche wird – wieder rabiat formulier – aus der Gesamtgeschichte „herausgesprengt“. In einem solchen aus dem Zeitverlauf herausgesprengten revolutionären Ereignis kann eine ganze Epoche aufbewahrt, versammelt sein. Diese historische – materialistische Geschichtsforschung unterliegt einem „konstruktiven Prinzip“.

24. Hinweis zur XVIII. These:
Die Jetzt-Zeit will Benjamin als Modell der messianischen Zeit verstanden wissen, diese Jetztzeit fasst in einer ungeheuren Verkürzung („Abbreviatur“) die Geschichte der ganzen Menschheit zusammen. Und es gibt für Benjamin eine bestimmte „Figur“ der Geschichte: Und diese ist bedeutend: Denn sie „macht die ganze Geschichte der Menschheit im Universum.“ Wer ist diese Figur? Der Messias? Ist er derjenige, der „die ganze Geschichte der Menschheit im Universum macht“ und in der „Jetztzeit“ anwesend ist? Den theologischen Erkenntnissen Benjamins folgend, wird das so sein. Aber in der Geschichte der Menschheit gibt es auch die Katastrophen, siehe IX. These. Es bleibt also dann doch offen, ob hier noch vorsichtig ein persönlicher Trost in der Zeit der Verfolgung durch den Faschismus formuliert wird. Wenn das so sein könnte, dann ist die „Figur“ der Messias und damit etwas Trostvolles angesichts der von Benjamin erlebten Unmöglichkeit zu fliehen und auf ein menschenwürdiges Leben noch zu erhoffen.

Der Text hat noch einen Anhang:
Im Anhang A wird nochmals die historistische Geschichtsdeutung abgelehnt; da werden, so meint Benjamin, alle Begebenheiten gleichförmig. Daran sieht man noch einmal, wie wichtig für Benjamin ein radikal anderer Umgang mit Geschichte ist!

Im Anhang B wird unterstrichen, dass die authentische jüdische Haltung nicht die Zukunft in allen Details wissen will. Da braucht man keine detaillierten Kenntnisse des absolut und endgültig Zukünftigen. Ganz am Ende, eher versteckt im Anhang B, stehen ungewöhnlichen, letzte Hoffnungen weckende Sätze: Es gebe für die Juden inmitten der Zeit doch diese Hoffnung: Jede Sekunde sei „die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte“. Eine leere und gleichgültige (also hoffnungslose) Zukunft gibt es für die Juden nicht. Der Messias wird sich schon durchsetzen, wenn er nur „durch eine kleine Pforte eintreten“ wird.

FUßNOTE 1: Ernst Bloch schreibt: … ein unbewachter Satz des großen Idealisten Hegel gehört hierher, und nicht nur der junge, auch der entschieden materialistische MARX hätte ihm wohl zugestimmt. Denn 1807 schrieb HEGEL aus Bamberg, wo er als Redakteur sich durchschlug, an seinen Jenenser Freund, den Major KNEBEL: «Ich habe mich durch Erfahrung von der Wahrheit des Spruches in der Bibel überzeugt und ihn zu meinem Leitstern gemacht: Trachtet am ersten nach Nahrung und Kleidung, so wird euch das Reich Gottes von selbst zufallen» (XVII, S. 629 f). Der Spruch lautet in der Bibel (Matth. 6, 33) bekanntlich genau umgekehrt: „Trachtet aber zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit! Und alles wird euch hinzugefügt werden.“ ( Ernst Bloch: „Karl Marx und die Menschlichkeit“, Reinbek 1969, S. 139-149.)

Der Text „Über den Begriff der Geschichte“ von Walter Benjamin ist veröffentlicht in dem Band „Illuminationen“, Ausgewählte Schriften I“. Suhrkamp Taschenbuch.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Die richtige Erkenntnis … und nichts wird besser?

Über das schwierige Verhältnis von Philosophie und Praxis
Ein Hinweis von Christian Modehn am 25.4.2025

1.
Wie kommen wir von unserer Erkenntnis, etwa einer Evidenz, wie sie sich im „Kategorischen Imperativ“ ausdrückt, zur Praxis, zur Tat, die der Erkenntnis entspricht? Also von der Erkenntnis zu einem neuen Lebensentwurf und einer neuen Praxis unseres Lebens?

2.
Diese wichtige Frage wird auch in der Psychologie und der Gehirnforschung diskutiert. Dazu später ein Hinweis. Und in den christlichen Theologien wird auf unser Thema nach wie vor die Antwort des Augustinus (und Luthers) verbreitet: Es sei die Erbsünde, die den Menschen unfähig mache, das Richtige und Gute, das Erkannte, dann tatsächlich auch zu tun. Allein die göttliche Gnade könne zum richtigen Handeln führen. Der Mensch als „natürlicher“ Mensch sei hilflos, deswegen bleibe auch in der gestalteten Welt – letztlich – alles beim Alten. Weil aber die Erbsünde, historisch und theologisch nachgewiesen, eine klerikale Ideologie ist, lassen wir diesen Aspekt hier beiseite. LINK.

3.
Viele Politiker haben zwar die Demokratie als Theorie im Kopf. Sie folgen dieser aber nicht umfassend in ihrer politischen Praxis. D.h.: Sie reden von Demokratie, wollen aber – verschwiegen – etwas ganz anderes, etwa: sich bereichern, ihr Ego stärken, Karriere machen, das Gemeinwohl ignorieren. Die rechtsextremen Feinde der Demokratie haben wenigstens diese eine „Tugend“: Sie sagen offen, dass sie die Demokratie zerstören wollen. Dieser Wahn führt unter Demokraten heute aber nicht zu wirksamen Attacken gegen Rechtsextreme. Die Lust am Untergang der Demokratien verbreitet sich wie eine Epidemie. Aber das ist auch ein anderes Thema.

4.
Die geistig – seelische Erstarrung als Ursache der Abwehr richtiger Erkenntnisse findet sich bei sehr vielen Menschen. Das, was ider Vernunft als das Bessere und Richtige aufscheint, steht in Konkurrenz zum dem, was wir immer schon tun, aus Gewohnheit, Tradition, geistiger Nachlässigkeit. Bei unserem Thema geht es also auch um die Konkurrenz zweier Lebensentwürfe: Der eine Lebensentwurf ist der immer schon gelebte, angeblich bewährte, angeblich vorteilhafte. Der andere Lebensentwurf hat nur den Charme einer Verheißung, nämlich besser, richtiger, vernünftiger zu handeln und nicht nur all dieses „Schöne und Wahre“ zu denken. Es geht also um die eine Forderung: Lass das Alte hinter dir und tu das Neue, die Verheißung des Besseren und Vernünftigen. Diese Forderung kann entstehen, weil einige die alte, fixierte Lebenspraxis selbst als falsch, als zu eng erleben und dabei gedanklich dem Überschreiten des Gegebenen folgen. Transzendieren nennt man das. Aber: Nicht alles Neue ist automatisch das Bessere, sondern nur das Vernünftige, das Humane. Es gibt Normatives in dieser Debatte. Nicht jede Alternative ist richtig und gut, siehe die AFD, die das wichtige Wort Alternative in den Schmutz zieht. AFD sollte eher AZD heißen: „Alternative zur Demokratie.“

5.
Ein Blick in die Geschichte der Philosophie: Die hellenistischen Philosophen haben in ihren Werken und ihrem Leben explizit „Anleitungen zur individuellen Lebensbewältigung“ gegeben, also Hinweise zu einem besseren, wahren Leben, wie Heinrich Niehues – Pröbsting, Spezialist für hellenistische Philosophie, gezeigt hat. (Fußnote 1). Die hellenistischen Philosophen wollten also in diesem „Reformprogramm“ eine Art „philosophische Psychotherapie“ fördern als Voraussetzung für eine neue Praxis. Diese Erkenntnis verdankt sich dem großen Philosophen und Philosophiehistoriker Pierre Hadot (1922 – 2010), er hat in zahlreichen wichtigen Studien den praktischen Charakter der hellenistischen Philosophie hervorgehoben: Philosophien seien keine theoretischen, abstrakten Konstrukte, sondern „Anleitungen zu humanen Lebensformen.“ „Im Hellenismus versteht sich die Philosophie der Hauptsache nach als Anleitung zum glücklichen Leben, sie ist Kunst des Lebens, Kunst als ein Können, das auf Wissen beruht..“, schreibt Heinrich Niehues – Pröbsting im Sinne Pierre Hadots. Nebenbei: Von Hadot ließ sich auch Michel Foucault inspirieren.

6.
Philosophie als Therapie verstehen: Viele Philosophen vom 3. Jahrhundert vor Christus bis ins 4. Jahrhundert nach Chr. waren überzeugt: Es gibt eine „Krankheit der Seele“: Und die sei bedingt „durch falsche Vorstellungen, die zu den beunruhigenden Affekten führen.“ Die falschen Vorstellungen entstehen etwa in dem Unvermögen, bei der Macht der Gefühle Wichtiges und Unwichtiges im Leben nicht unterscheiden zu können. Auch die Angst erzeuge falsche Vorstellungen, oder die Meinung, „man bedürfe des Luxus oder der Erfüllung seiner eitlen Ansprüche auf Anerkennung“ (Fußnote 2). Vor allem Epikur lehrte die Kraft vernünftiger Unterscheidung: Er empfiehlt die Selbstgenügsamkeit.
Für die Stoiker gilt als philosophische Therapie: „Die Affekte sollen erst gar nicht aufkommen. Die Stoiker sind von der Macht der Vernunft über die Affekte grundsätzlich überzeugt.“

7.
Es ist für diese Philosophen die Macht der Vernunft und des Arguments, die einen Weg weist in ein glücklicheres Leben: das ist ja das Ziel der „individuellen philosophischen Lebensbewältigung.“ (Fußnote 3).

8.
Die Pythagoreer entwickelten als eine der wichtigen „philosophischen Schulen“ eine Art „Katechismus“, der die praktischen Lebensregeln zusammenfasste. Dazu gehörten auch Speisevorschriften (vegetarische!) oder Empfehlungen für die Gestaltung der Sexualität. Am wichtigsten ist für Pythagoreer das Gebot, täglich eine „Selbstprüfung“ zu gestalten: „Worin fehlte ich? Was war meine richtige Tat? Was war Unterlassung? Wenn du Schlechtes tatest, dann schilt dich, wenn du Gutes tatest, dann freu dich.“ (Fußnote 4).
Die Stoiker übernahmen diese Selbstprüfung als wichtige Übung, sie sollte zu einer neuen glücklicheren Lebensform führen. Nebenbei: Die Christen ließen sich davon anregen und haben dann die Gewissenserforschung eingeführt, die zur Erkenntnis von Sünden anregte und zur Praxis der Beichte ihren Höhepunkt (und Abschluss) fand.

9.
Um die philosophische Erkenntnis des Guten im Geist fest zu verankern, empfahlen einige „Schulen“, wie die Stoiker und die Epikureer, das Auswendiglernen zentraler philosophischer Erkenntnisse der eigenen „Schule“. Man könnte sagen: Eine Art Verhaltenstherapie zur vernünftigen Gestaltung des eigenen Lebens war intendiert. Damit verbunden war eine starke Forderung der eigenen gedanklichen Leistung, sie sollte dann den Willen bestimmen und tatsächlich eine neue Praxis im Leben einleiten.
Aber der einzelne fand in den philosophischen Schulen der Epikureer oder Stoiker praktische Hilfe, neue Wege zu gehen, vor allem durch den gedanklichen Austausch oder das lebendige Vorbild der anderen, die zur Schule, man könnte sagen, zur Gemeinde“, gehörten. Ohne die gleichgesinnten anderen, die Mitglieder der „Gemeinde“, kann eine neue, bessere Lebenspraxis nur schwer gelingen.

10.
Ein Stück Wirkungsgeschichte: Viele christlichenMönche und Einsiedler,, Wüstenväter genannt, übernahmen vom 3. bis 6. Jahrhundert auch diese aus der Philosophie stammende Übung der häufigen Wiederholung bestimmter Sätze der Weisheit, die sie natürlich der Bibel entnahmen. Bis heute wird in der christlichen Spiritualität diese Übung des häufigen Aussprechen von Weisheit – Sätzen während des Tages „Ruminatio“ genannt, das lateinische Verb ruminare bedeutet tatsächlich „wiederkäuen“. „Das Wiederkäuen gab den Mönchen die Gewissheit, in der Gegenwart Gottes zu leben und sich dieser Gegenwart bewusst zu sein, ohne lange Gebets – und Meditationszeiten dafür einzuplanen“, schreibt der katholische Theologe Thomas Dienberg in seinem Buch „Spirituelle Atempausen“, KBW Verlag 2025. Er empfiehlt heute diese Übung den Christen. Sie soll zur „christlichen Alltags – Praxis“ anleiten. Ob dabei spürbar und sichtbar neue Lebensentwürfe entstehen, die auch politisch wirksam sind, ist eine offene Frage.

11.
In den hellenistischen Philosophien gilt die Überzeugung: Soll es zu einer Verbesserung der politischen und sozialen Verhältnisse kommen, dann muss zunächst und vor allem der einzelne Mensch den eigenen Geist, die eigene Vernunft, kennen und pflegen. Bevor es zu Strukturveränderungen kommt, muss der einzelne und mit ihm die Gruppe, die „Gemeinde“, selbst das gute und wahre moralische Leben leben. Nur durch die Vernunft erneuerte Menschen können die neue Gesellschaft gestalten.
Eine Erinnerung an die jüngste Vergangenheit: Der Kommunismus in Russland ist sicher auch daran gescheitert, dass die Akteure, Herrscher und Funktionäre niemals an der eigenen seelischen und geistigen Verfasstheit und Mentalität kritisch gearbeitet haben. Dazu weitere Überlegungen in Fußnote 7.

12.
Die Forderung, Philosophie als Therapie zu gestalten, gilt auch für zeitgenössische Philosophen des 20.Jahrhunderts, neben Karl Jaspers auch für Ludwig Wittgenstein. Seine Spätschriften sind dabei wichtig. Bekannt ist sein Beispiel von der „Fliege, die im Fliegenglas gefangen ist und keinen Ausweg findet.“„Was ist dein Ziel in der Philosophie“, fragt Wittgenstein in den „Philosophischen Untersuchungen“, § 309. Seine Antwort: „Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen.“ Philosophie sollte hilfreiche Auswege zeigen … um besser, d.h. wahrer und frei zu leben! Darin sind durchaus Anklänge an die genannten Überzeugungen hellenistischer Philosophen deutlich. In seinen „Philosophischen Untersuchungen“ (§ 133) sagt Wittgenstein: „Es gibt nicht eine Methode der Philosophie, wohl aber es gibt Methoden, gleichsam verschiedene Therapien.“ Ähnlich auch die kurze Erkenntnis in § 255 : „Der Philosoph behandelt eine Frage: wie eine Krankheit.“ Philosophieren kann heilsame Entwicklungen freisetzen. Diese Verfehlungen im Leben sind vor allem begründet im falschen Gebrauch der Sprache und der Grammatik.

13.
Pierre Hadot hat darauf hingewiesen, dass Wittgenstein sein eigenes radikales Fragen und Denken niemals als eine Art Schlusspunkt verstanden hat. Es gibt keine absolute Wahrheit, kein absolut gültiges Heilmittel. Und darin ist wohl auch das stets Unfertige jeder neuen Lebenspraxis begründet: Weil es denn vollkommenen Gedanken, die vollkommene Einsicht nicht gibt und geben kann, kann es auch bei allem guten Willen keine vollkommene neue Praxis geben. Hadot spricht von dem „inachèvement“, der Unvollendetheit, des philosophischen Denkens, die Auswirkungen auf die Praxis sind entsprechend: Sie ist unvollendet und unvollständig. Es ist also die Unvollkommenheit des einzelnen, einen vollständigen oder sogar vollkommenen Gedanken zu fassen entscheidend. (Hadot, Fußnote 5.)
Aber diese unüberwindbare Einschränkung darf niemals die Anstrengung verhindern, ein besseres, humaneres Leben zu denken. Und: Durch die Übungen der philosophischen Vernunft können fixierte alte, auch inhumane Einstellungen erschüttert und ansatzweise überwunden werden.

14.
Auf aktuelle Forschungen zum menschlichen Gehirn muss deswegen hingewiesen werden: Der Autor und Philosoph Stefan Klein hat in seinem Buch „Aufbruch“ (Fußnote 6) gezeigt: „Der Unwille zur Veränderung (der Lebenspraxis) wurzelt im Gehirn. Weltbilder, die unser Handeln bestimmen, folgen nicht Argumente; ihre Anziehungskraft beruht auf der Ökonomie der neuronalen Datenverarbeitung. Entscheidend ist die kognitive Flexibilität“.
Trotz dieser Dominanz „neuronaler Strukturen“, die eine Veränderung der Lebenspraxis behindern, ist auch die Macht der Ideologien zu respektieren. Ideologien können antihumane (etwa rassistische) Vorstellungen sein oder eben auch humane, etwa zur Solidarität auffordernde Ideen. Die Ideologien erscheinen oft in Gestalt von bestimmten Weltbildern. Und sie können den Geist der
Menschen fixieren und Veränderungen abwehren. Dies ist die wichtige Erkenntnis der Forschungen zum Gehirn: „Weltbilder (Ideologien) spiegeln nicht nur, sie bestimmen auch, wie ein Gehirn funktioniert… Ideologien zielen auf die Transformation der menschlichen Natur.“

15.
Das Bemühen der Philosophen, Formen humaner Lebenspraxis zu beschreiben und vorzustellen und Erkenntnisse in Praxis zu führen, bleibt nach wie vor gültig. Die richtigen Ideen können zu „einer gewissen Transformation der menschlichen Natur“ (Stefan Klein) beitragen. Die Gene sind also nicht allmächtig. Der alte Trott der unreflektierten, angeblich etablierten und fixierten Lebensführung kann unterbrochen und korrigiert werden: Durch philosophische Argumente.

16.
Natürlich zeigt sich in diesem Denken ein Rest von Optimismus, der sich dem Geist der philosophischen Aufklärung verdankt.

………………………….

Fußnote 1: Heinrich Niehues – Pröbsting, „Die antike Philosophie“, Fischer Taschenbuch, 2004. S. 188.

Fußnote 2: ebd. S. 189 und 190.

Fußnote 3: ebd. S 187.

Fußnote 4:
 Ein Zitat aus dem grundlegenden Werk von Paul Rabbow, bei Niehues – Pröbsting, S.155, dort Fn 246).

Fußnote 5: Pierre Hadot, „La Philosophie comme manière de vivre“, Editions Albin Michel, Paris. 2001, S 192.

Fußnote 6: 
Stefan Klein, „Aufbruch. Warum Veränderung so schwerfällt und wie sie gelingt“, S. Fischer Verlag, 2025. Die Zitate von Stefan Klein sind dem Tagesspiegel, Ausgabe vom 14.4.2025, Seite 10-11 entnommen.

Fußnote 7:
Die Sowjet – Kommunisten etwa haben den alten (etwa aus der Zarenzeit stammenden) Ungeist der Gewalttätigkeit, der Verachtung von Mehrheitsentscheidungen, von Minderheiten usw. nicht aufgegeben können und wollen. Die Utopie eines eigentlich nur human zu denkenden Kommunismus blieb für die Führer und ihre Kollaborateure nichts als lügnerische Theorie.
Wer sich das Verhältnis von Theorie und Praxis in der klassischen orthodoxen kommunistischen Partei – Ideologie anschaut: Da wurde von einem einfachen Schritt von der Theorie zur Praxis gesprochen: Etwa: Die in der Theorie – Debatte (am „grünen Tisch“) gewonnenen Parteitagsbeschlüsse sollten unmittelbar als solche von den Werktätigen umgesetzt werden: „Vorwärts mit den Beschlüssen des VII. Parteitages“, hieß es dann. Dabei waren schon die Analysen der Theorie am „grünen Tisch“ der Parteibonzen falsch. Sie ignorierten die geistige Bereitschaft ihrer Untertanen, die Beschlüsse überhaupt ernst zu nehmen, geschweige denn freiwillig zu realisieren…
Eine Theorie kann nur dann Impulse für das Tun, die Praxis geben, wenn sie selbst als Theorie eng verbunden mit der schon vorhandene Praxis der Menschen in der Gesellschaft und im Staat ist. Und von dieser erkannten und gemeinsam kritisierten Praxis können dann neue Wege der Praxis gelingen.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Karfreitag: Alles Ewige, alles Wahre ist vernichtet.

Hegels Interpretation des Karfreitag … weltlich, säkular verstanden.
Ein Hinweis von Christian Modehn am 14.4.2025.

1.
„Gott selbst ist tot“: Dieser provozierende Satz gehört tatsächlich zur klassischen christlichen Spiritualität. Er steht im Zentrum am Karfreitag, beim Gedenken an den Kreuzestod Jesu von Nazareth, der dann freilich in der üblichen, orthodox genannten Formel als „Gottes-Sohn“ gedeutet und verehrt wird.

2.
Wir wollen die spirituelle Erkenntnis Satz „Gott selbst ist tot“ weltlich, also auch politisch, neu verstehen. Damit wollen wir auch der Forderung des Theologen und Nazi – Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer entsprechen: „Wir müssen es riskieren, anfechtbare Dinge zu sagen, wenn dadurch nur lebenswichtige Fragen aufgerührt werden.“ (Brief aus dem Nazi – Gefängnis Tegel am 3.8.1944). Und am 16.7.1944 notierte er die inzwischen bekannte, aber bis jetzt nicht realisierte Forderung einer „nicht-religiösen Interpretation der biblischen Begriffe“…Zu Bonhoeffers Provokationen: LINK.

3.
„Gott selbst ist tot“- dieser Satz ist wohl für klassisch Fromme befremdlich: Denn Gott kann doch gar nicht sterben, behaupten sie. Und darum haben sie den Satz „Gott selbst ist tot“ auch relativiert: Es war ja „bloß“ Gottes Sohn, Jesus Christus, der am Kreuz gestorben ist. Der Kreuzestod Jesu ist eine geschichtliche Tatsache, im Unterschied zur Auferstehung Jesu von den Toten, diese ist kein historisch nachweisbares Faktum.

4.
Wie fanden Christen zu der Erkenntnis „Gott selbst ist tot“? In Zeiten schlimmsten Leidens, der Trostlosigkeit im Dreißigjährigen Krieg, hat der Jesuit Friedrich von Spee (1591-1635) ein Gedicht bzw. Kirchenlied verfasst , die ersten Worte heißen: „O Traurigkeit, o Herzeleid, ist das denn nicht zu klagen! Gottes des Vaters einzig Kind wird zu Grab getragen.“
 Weitergedacht hat der protestantische Pfarrer und Dichter Johann Rist (1607-1667), als er im Jahr 1641 in einer zweiten Strophe den Inhalt radikalisierte: „O große Not! Gottes Sohn liegt tot, am Kreuz ist er gestorben…“.. Das Lied ist Teil des evangelischen Gesangbuchs (von 1993).

5.
Bis heute aktuell interpretiert und gedeutet wurde diese theologische Überzeugung „Gottes Sohn ist tot“ von dem Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831). Und Hegel weist uns den Weg zu einer weltlichen, säkularen Interpretation des Karfreitag – Satzes „Gott selbst ist tot“.

6.
Hegel hat in seinen mehrfach gehaltenen „Vorlesungen zur Philosophie der Religion“ in Berlin (1818-1831) im Blick auf den Karfreitag gelehrt: „Gott ist gestorben. Gott ist tot.“ Und Hegel übersetzt dann den Begriff Gott in weltliche Wirklichkeiten: Hegel fährt fort: „Dieses ist der fürchterlichste Gedanke, dass alles Ewige, alles Wahre nicht ist; dass die Negation selbst in Gott ist; der höchste Schmerz, das Gefühl der vollkommenen Rettungslosigkeit, das Aufgeben alles Höheren ist damit verbunden“ (Suhrkamp, Theorie Werkausgabe, Band 17, S. 291).

7.
Hegel spricht also davon, dass der Tod Gottes (bzw. des Sohnes Gottes) ein Ereignis ist, das als „Aufgeben alles Höheren“ übersetzt wird. Und das heißt konkret: „Alles Ewige, alles Wahre“ ist nicht mehr, es existiert nicht mehr, ist verschwunden, Ewiges und Wahres haben keine Bedeutung. In dieser grundstürzenden Erfahrung des Zusammenbruchs entsteht der „fürchterliche Gedanke und das Gefühl der „vollkommenen Rettungslosigkeit“, wie Hegel sagt. Der Tod Gottes ist also, Hegel folgend, säkular und neu als der Zusammenbruch der humanen Welt zu verstehen.

8.
Karfreitag sollte also der Tag der Besinnung auf den Zusammenbruch der humanen Welt sein. Und dies ist die heutige Weltsituation, die nicht Resultat eines Naturereignisses ist: Es sind vielmehr Menschen, die diesen Zusammenbruch aus freier Entscheidung betreiben: Menschen, die die Klimakatastrophe erzeugen und nicht umfassend korrigieren und bremsen können oder wollen. Es sind Menschen, die Mord und Zerstörung zu ihrem politischen Geschäft machen. Es sind Menschen, die Diktatoren und Autokraten und andere Verbrecher an die Macht wählen, in den USA, in Russland, in Israel, in Ungarn, in Indien und so weiter. Es sind Menschen, die in noch funktionierenden Demokratien die Feinde der Demokratie wählen, etwa die Partei AFD, die Rechtsextremen in Frankreich und den Niederlanden. Es sind Menschen, die als Lobbyisten einflußreich genug sind, um eine Reichensteuer, Millionärs-und Milliardärs-Steuer, politisch zu verhindern. Sie wäre ein Ausdruck der gerechten, d.h. der sozialen Demokratie. Dies wird von sich noch dreist „christlich” nennenden Parteien auch in Deutschland verhindert.

9.
Der Philosoph Hegel hat den Zusammenbruch der humanen Welt, der im Ereignis des Todes Gottes am Karfreitag angezeigt wird, im Rahmen seiner Philosophie dann wieder „aufgehoben“, d.h. in eine positive Denkrichtung verwiesen durch den religionsphilosophischen Gedanken der Auferstehung. Aber Hegel kommt das Verdient zu, überhaupt den Tod Gottes in aller Tiefe gedacht zu haben.

10.
Wichtig ist für uns in dem Versucht einer „weltlichen Interpretation des Karfreitags“: In seiner „Phänomenologie des Geistes“ (1807) bietet Hegel schon eine säkulare, vernünftige und nicht-religiöse Antwort auf die Frage: Wie kann der Mensch dem Tod, in unserem Beispiel auch dem Tod Gottes, begegnen?
In der Vorrede zur „Phänomenologie des Geistes“ (Seite 36 in der Suhrkamp – Ausgabe, Band 3) bezieht sich Hegel auf die Kraft des menschlichen Geistes – auch dem Tod gegenüber. Hegel schreibt: „Nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das den Tod erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Der Geist gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Macht ist der Geist nicht, indem er von dem Negativen wegsieht … sondern der Geist ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei dem Negativen verweilt. Dieses Verweilen ist die Zauberkraft, die das Negative in das Sein umkehrt.“

11.
Dem Negativen ins Angesichts schauen: Das kann angesichts des genannten „Zusammenbruchs der humanen Welt“ bedeuten: Nicht nur schauen, nicht nur das Elend betrachten, sondern aktiv eintreten für die Rettung der Theorie betreiben, nicht nur ins Ästhetische sich zurückziehen, es geht um aktives „Verweilen“ beim Negativen, dem drohenden Tod. Dieses aktive Verweilen hat dann, wie Hegel schreibt, die „Zauberkraft, das Negative ins lebendiges, konstruktives Sein“ zu verwandeln. Diese Kraft, dem Negativen standzuhalten, kann von Hegel wie eine als Metapher „Zauberkraft“ genannt werden: Aber bei diesem Begriff „Zauberkraft“ spielt nichts Esoterisches , Wunderbares eine Rolle, sondern es wird nur das Überraschende formuliert: Einzig die „verweilende“, kritische Analyse der Verhältnisse, kann das „Negative in das Sein“, also in Leben, verwandeln. So kann der „Zusammenbruch der humanen Welt“ vielleicht noch aufgehalten werden.

12.
Karfreitag – weltlich, säkular verstanden, sollte also auch ein Tag des Gedenkens werden an die Widerstandskraft des Geistes, an die kritische Kraft der Vernunft angesichts der genannten miserablen Verhältnisse. Wahrscheinlich wird sich diese Widerstandskraft auf Dauer nur mobilisieren lassen, wenn sie selbst sich gegründet weiß in einem absoluten alles gründenden Sinnhorizont. Ein Gedanke, der dem Religions-Philosophen Hegel wichtig war. Und uns im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin noch immer ist.

13.
Unser Thema könnte natürlich weiter vertieft werden mit Hinweisen auf Nietzsche, etwa auf die Rede von „Gott ist tot“ in der „Fröhlichen Wissenschaft“ (Nr. 125). Siehe Fußnote 1.
Uns interessiert sehr die Erkenntnis Nietzsches, am Schluss dieses Absatzes Nr. 125 formuliert: „Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?“ Diese Frage haben die Kirche bis jetzt unbeantwortet gelassen. In dieser These, „Kirchen als Grabmäler Gottes“, sollte an die Mitschuld der Kirchenleitungen und der Christen erinnert werden am genannten „Zusammenbruch der humanen Welt“: Weil die Kirchenleitungen und die Frommen sich nachweislich ums Dogmatische und Spirituelle vor allem kümmerten und eben nicht um das auch politische Ziel der gerechten humanen Welt für alle. Theologisch nennt man dieses Ziel „Reich Gottes“. „Jesus verkündete das Reich Gottes … und gekommen ist die Kirche“, sagte sehr treffend der große französische Theologe Alfred Loisy (1857-1940). Er wurde von der römisch katholischen Kirche exkommuniziert.

 

Fußnote 1.

„Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: „Ich suche Gott! Ich suche Gott!“ – Da dort gerade viele von denen zusammenstanden, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. Ist er denn verlorengegangen? sagte der eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? – so schrien und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. „Wohin ist Gott?“ rief er, „ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unsern Messern verblutet – wer wischt dies Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere Tat – und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!“ – Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, daß sie in Stücke sprang und erlosch. „Ich komme zu früh“, sagte er dann, „ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Taten brauchen Zeit, auch nachdem sie getan sind, um gesehen und gehört zu werden. Diese Tat ist ihnen immer noch ferner als die fernsten Gestirne – und doch haben sie dieselbe getan!“ – Man erzählt noch, daß der tolle Mensch desselbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur dies entgegnet: „Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?“

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer-Salon.de