Über das schwierige Verhältnis von Philosophie und Praxis
Ein Hinweis von Christian Modehn am 25.4.2025
1.
Wie kommen wir von unserer Erkenntnis, etwa einer Evidenz, wie sie sich im „Kategorischen Imperativ“ ausdrückt, zur Praxis, zur Tat, die der Erkenntnis entspricht? Also von der Erkenntnis zu einem neuen Lebensentwurf und einer neuen Praxis unseres Lebens?
2.
Diese wichtige Frage wird auch in der Psychologie und der Gehirnforschung diskutiert. Dazu später ein Hinweis. Und in den christlichen Theologien wird auf unser Thema nach wie vor die Antwort des Augustinus (und Luthers) verbreitet: Es sei die Erbsünde, die den Menschen unfähig mache, das Richtige und Gute, das Erkannte, dann tatsächlich auch zu tun. Allein die göttliche Gnade könne zum richtigen Handeln führen. Der Mensch als „natürlicher“ Mensch sei hilflos, deswegen bleibe auch in der gestalteten Welt – letztlich – alles beim Alten. Weil aber die Erbsünde, historisch und theologisch nachgewiesen, eine klerikale Ideologie ist, lassen wir diesen Aspekt hier beiseite. LINK.
3.
Viele Politiker haben zwar die Demokratie als Theorie im Kopf. Sie folgen dieser aber nicht umfassend in ihrer politischen Praxis. D.h.: Sie reden von Demokratie, wollen aber – verschwiegen – etwas ganz anderes, etwa: sich bereichern, ihr Ego stärken, Karriere machen, das Gemeinwohl ignorieren. Die rechtsextremen Feinde der Demokratie haben wenigstens diese eine „Tugend“: Sie sagen offen, dass sie die Demokratie zerstören wollen. Dieser Wahn führt unter Demokraten heute aber nicht zu wirksamen Attacken gegen Rechtsextreme. Die Lust am Untergang der Demokratien verbreitet sich wie eine Epidemie. Aber das ist auch ein anderes Thema.
4.
Die geistig – seelische Erstarrung als Ursache der Abwehr richtiger Erkenntnisse findet sich bei sehr vielen Menschen. Das, was ider Vernunft als das Bessere und Richtige aufscheint, steht in Konkurrenz zum dem, was wir immer schon tun, aus Gewohnheit, Tradition, geistiger Nachlässigkeit. Bei unserem Thema geht es also auch um die Konkurrenz zweier Lebensentwürfe: Der eine Lebensentwurf ist der immer schon gelebte, angeblich bewährte, angeblich vorteilhafte. Der andere Lebensentwurf hat nur den Charme einer Verheißung, nämlich besser, richtiger, vernünftiger zu handeln und nicht nur all dieses „Schöne und Wahre“ zu denken. Es geht also um die eine Forderung: Lass das Alte hinter dir und tu das Neue, die Verheißung des Besseren und Vernünftigen. Diese Forderung kann entstehen, weil einige die alte, fixierte Lebenspraxis selbst als falsch, als zu eng erleben und dabei gedanklich dem Überschreiten des Gegebenen folgen. Transzendieren nennt man das. Aber: Nicht alles Neue ist automatisch das Bessere, sondern nur das Vernünftige, das Humane. Es gibt Normatives in dieser Debatte. Nicht jede Alternative ist richtig und gut, siehe die AFD, die das wichtige Wort Alternative in den Schmutz zieht. AFD sollte eher AZD heißen: „Alternative zur Demokratie.“
5.
Ein Blick in die Geschichte der Philosophie: Die hellenistischen Philosophen haben in ihren Werken und ihrem Leben explizit „Anleitungen zur individuellen Lebensbewältigung“ gegeben, also Hinweise zu einem besseren, wahren Leben, wie Heinrich Niehues – Pröbsting, Spezialist für hellenistische Philosophie, gezeigt hat. (Fußnote 1). Die hellenistischen Philosophen wollten also in diesem „Reformprogramm“ eine Art „philosophische Psychotherapie“ fördern als Voraussetzung für eine neue Praxis. Diese Erkenntnis verdankt sich dem großen Philosophen und Philosophiehistoriker Pierre Hadot (1922 – 2010), er hat in zahlreichen wichtigen Studien den praktischen Charakter der hellenistischen Philosophie hervorgehoben: Philosophien seien keine theoretischen, abstrakten Konstrukte, sondern „Anleitungen zu humanen Lebensformen.“ „Im Hellenismus versteht sich die Philosophie der Hauptsache nach als Anleitung zum glücklichen Leben, sie ist Kunst des Lebens, Kunst als ein Können, das auf Wissen beruht..“, schreibt Heinrich Niehues – Pröbsting im Sinne Pierre Hadots. Nebenbei: Von Hadot ließ sich auch Michel Foucault inspirieren.
6.
Philosophie als Therapie verstehen: Viele Philosophen vom 3. Jahrhundert vor Christus bis ins 4. Jahrhundert nach Chr. waren überzeugt: Es gibt eine „Krankheit der Seele“: Und die sei bedingt „durch falsche Vorstellungen, die zu den beunruhigenden Affekten führen.“ Die falschen Vorstellungen entstehen etwa in dem Unvermögen, bei der Macht der Gefühle Wichtiges und Unwichtiges im Leben nicht unterscheiden zu können. Auch die Angst erzeuge falsche Vorstellungen, oder die Meinung, „man bedürfe des Luxus oder der Erfüllung seiner eitlen Ansprüche auf Anerkennung“ (Fußnote 2). Vor allem Epikur lehrte die Kraft vernünftiger Unterscheidung: Er empfiehlt die Selbstgenügsamkeit.
Für die Stoiker gilt als philosophische Therapie: „Die Affekte sollen erst gar nicht aufkommen. Die Stoiker sind von der Macht der Vernunft über die Affekte grundsätzlich überzeugt.“
7.
Es ist für diese Philosophen die Macht der Vernunft und des Arguments, die einen Weg weist in ein glücklicheres Leben: das ist ja das Ziel der „individuellen philosophischen Lebensbewältigung.“ (Fußnote 3).
8.
Die Pythagoreer entwickelten als eine der wichtigen „philosophischen Schulen“ eine Art „Katechismus“, der die praktischen Lebensregeln zusammenfasste. Dazu gehörten auch Speisevorschriften (vegetarische!) oder Empfehlungen für die Gestaltung der Sexualität. Am wichtigsten ist für Pythagoreer das Gebot, täglich eine „Selbstprüfung“ zu gestalten: „Worin fehlte ich? Was war meine richtige Tat? Was war Unterlassung? Wenn du Schlechtes tatest, dann schilt dich, wenn du Gutes tatest, dann freu dich.“ (Fußnote 4).
Die Stoiker übernahmen diese Selbstprüfung als wichtige Übung, sie sollte zu einer neuen glücklicheren Lebensform führen. Nebenbei: Die Christen ließen sich davon anregen und haben dann die Gewissenserforschung eingeführt, die zur Erkenntnis von Sünden anregte und zur Praxis der Beichte ihren Höhepunkt (und Abschluss) fand.
9.
Um die philosophische Erkenntnis des Guten im Geist fest zu verankern, empfahlen einige „Schulen“, wie die Stoiker und die Epikureer, das Auswendiglernen zentraler philosophischer Erkenntnisse der eigenen „Schule“. Man könnte sagen: Eine Art Verhaltenstherapie zur vernünftigen Gestaltung des eigenen Lebens war intendiert. Damit verbunden war eine starke Forderung der eigenen gedanklichen Leistung, sie sollte dann den Willen bestimmen und tatsächlich eine neue Praxis im Leben einleiten.
Aber der einzelne fand in den philosophischen Schulen der Epikureer oder Stoiker praktische Hilfe, neue Wege zu gehen, vor allem durch den gedanklichen Austausch oder das lebendige Vorbild der anderen, die zur Schule, man könnte sagen, zur Gemeinde“, gehörten. Ohne die gleichgesinnten anderen, die Mitglieder der „Gemeinde“, kann eine neue, bessere Lebenspraxis nur schwer gelingen.
10.
Ein Stück Wirkungsgeschichte: Viele christlichenMönche und Einsiedler,, Wüstenväter genannt, übernahmen vom 3. bis 6. Jahrhundert auch diese aus der Philosophie stammende Übung der häufigen Wiederholung bestimmter Sätze der Weisheit, die sie natürlich der Bibel entnahmen. Bis heute wird in der christlichen Spiritualität diese Übung des häufigen Aussprechen von Weisheit – Sätzen während des Tages „Ruminatio“ genannt, das lateinische Verb ruminare bedeutet tatsächlich „wiederkäuen“. „Das Wiederkäuen gab den Mönchen die Gewissheit, in der Gegenwart Gottes zu leben und sich dieser Gegenwart bewusst zu sein, ohne lange Gebets – und Meditationszeiten dafür einzuplanen“, schreibt der katholische Theologe Thomas Dienberg in seinem Buch „Spirituelle Atempausen“, KBW Verlag 2025. Er empfiehlt heute diese Übung den Christen. Sie soll zur „christlichen Alltags – Praxis“ anleiten. Ob dabei spürbar und sichtbar neue Lebensentwürfe entstehen, die auch politisch wirksam sind, ist eine offene Frage.
11.
In den hellenistischen Philosophien gilt die Überzeugung: Soll es zu einer Verbesserung der politischen und sozialen Verhältnisse kommen, dann muss zunächst und vor allem der einzelne Mensch den eigenen Geist, die eigene Vernunft, kennen und pflegen. Bevor es zu Strukturveränderungen kommt, muss der einzelne und mit ihm die Gruppe, die „Gemeinde“, selbst das gute und wahre moralische Leben leben. Nur durch die Vernunft erneuerte Menschen können die neue Gesellschaft gestalten.
Eine Erinnerung an die jüngste Vergangenheit: Der Kommunismus in Russland ist sicher auch daran gescheitert, dass die Akteure, Herrscher und Funktionäre niemals an der eigenen seelischen und geistigen Verfasstheit und Mentalität kritisch gearbeitet haben. Dazu weitere Überlegungen in Fußnote 7.
12.
Die Forderung, Philosophie als Therapie zu gestalten, gilt auch für zeitgenössische Philosophen des 20.Jahrhunderts, neben Karl Jaspers auch für Ludwig Wittgenstein. Seine Spätschriften sind dabei wichtig. Bekannt ist sein Beispiel von der „Fliege, die im Fliegenglas gefangen ist und keinen Ausweg findet.“„Was ist dein Ziel in der Philosophie“, fragt Wittgenstein in den „Philosophischen Untersuchungen“, § 309. Seine Antwort: „Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen.“ Philosophie sollte hilfreiche Auswege zeigen … um besser, d.h. wahrer und frei zu leben! Darin sind durchaus Anklänge an die genannten Überzeugungen hellenistischer Philosophen deutlich. In seinen „Philosophischen Untersuchungen“ (§ 133) sagt Wittgenstein: „Es gibt nicht eine Methode der Philosophie, wohl aber es gibt Methoden, gleichsam verschiedene Therapien.“ Ähnlich auch die kurze Erkenntnis in § 255 : „Der Philosoph behandelt eine Frage: wie eine Krankheit.“ Philosophieren kann heilsame Entwicklungen freisetzen. Diese Verfehlungen im Leben sind vor allem begründet im falschen Gebrauch der Sprache und der Grammatik.
13.
Pierre Hadot hat darauf hingewiesen, dass Wittgenstein sein eigenes radikales Fragen und Denken niemals als eine Art Schlusspunkt verstanden hat. Es gibt keine absolute Wahrheit, kein absolut gültiges Heilmittel. Und darin ist wohl auch das stets Unfertige jeder neuen Lebenspraxis begründet: Weil es denn vollkommenen Gedanken, die vollkommene Einsicht nicht gibt und geben kann, kann es auch bei allem guten Willen keine vollkommene neue Praxis geben. Hadot spricht von dem „inachèvement“, der Unvollendetheit, des philosophischen Denkens, die Auswirkungen auf die Praxis sind entsprechend: Sie ist unvollendet und unvollständig. Es ist also die Unvollkommenheit des einzelnen, einen vollständigen oder sogar vollkommenen Gedanken zu fassen entscheidend. (Hadot, Fußnote 5.)
Aber diese unüberwindbare Einschränkung darf niemals die Anstrengung verhindern, ein besseres, humaneres Leben zu denken. Und: Durch die Übungen der philosophischen Vernunft können fixierte alte, auch inhumane Einstellungen erschüttert und ansatzweise überwunden werden.
14.
Auf aktuelle Forschungen zum menschlichen Gehirn muss deswegen hingewiesen werden: Der Autor und Philosoph Stefan Klein hat in seinem Buch „Aufbruch“ (Fußnote 6) gezeigt: „Der Unwille zur Veränderung (der Lebenspraxis) wurzelt im Gehirn. Weltbilder, die unser Handeln bestimmen, folgen nicht Argumente; ihre Anziehungskraft beruht auf der Ökonomie der neuronalen Datenverarbeitung. Entscheidend ist die kognitive Flexibilität“.
Trotz dieser Dominanz „neuronaler Strukturen“, die eine Veränderung der Lebenspraxis behindern, ist auch die Macht der Ideologien zu respektieren. Ideologien können antihumane (etwa rassistische) Vorstellungen sein oder eben auch humane, etwa zur Solidarität auffordernde Ideen. Die Ideologien erscheinen oft in Gestalt von bestimmten Weltbildern. Und sie können den Geist der
Menschen fixieren und Veränderungen abwehren. Dies ist die wichtige Erkenntnis der Forschungen zum Gehirn: „Weltbilder (Ideologien) spiegeln nicht nur, sie bestimmen auch, wie ein Gehirn funktioniert… Ideologien zielen auf die Transformation der menschlichen Natur.“
15.
Das Bemühen der Philosophen, Formen humaner Lebenspraxis zu beschreiben und vorzustellen und Erkenntnisse in Praxis zu führen, bleibt nach wie vor gültig. Die richtigen Ideen können zu „einer gewissen Transformation der menschlichen Natur“ (Stefan Klein) beitragen. Die Gene sind also nicht allmächtig. Der alte Trott der unreflektierten, angeblich etablierten und fixierten Lebensführung kann unterbrochen und korrigiert werden: Durch philosophische Argumente.
16.
Natürlich zeigt sich in diesem Denken ein Rest von Optimismus, der sich dem Geist der philosophischen Aufklärung verdankt.
………………………….
Fußnote 1: Heinrich Niehues – Pröbsting, „Die antike Philosophie“, Fischer Taschenbuch, 2004. S. 188.
Fußnote 2: ebd. S. 189 und 190.
Fußnote 3: ebd. S 187.
Fußnote 4: Ein Zitat aus dem grundlegenden Werk von Paul Rabbow, bei Niehues – Pröbsting, S.155, dort Fn 246).
Fußnote 5: Pierre Hadot, „La Philosophie comme manière de vivre“, Editions Albin Michel, Paris. 2001, S 192.
Fußnote 6: Stefan Klein, „Aufbruch. Warum Veränderung so schwerfällt und wie sie gelingt“, S. Fischer Verlag, 2025. Die Zitate von Stefan Klein sind dem Tagesspiegel, Ausgabe vom 14.4.2025, Seite 10-11 entnommen.
Fußnote 7:
Die Sowjet – Kommunisten etwa haben den alten (etwa aus der Zarenzeit stammenden) Ungeist der Gewalttätigkeit, der Verachtung von Mehrheitsentscheidungen, von Minderheiten usw. nicht aufgegeben können und wollen. Die Utopie eines eigentlich nur human zu denkenden Kommunismus blieb für die Führer und ihre Kollaborateure nichts als lügnerische Theorie.
Wer sich das Verhältnis von Theorie und Praxis in der klassischen orthodoxen kommunistischen Partei – Ideologie anschaut: Da wurde von einem einfachen Schritt von der Theorie zur Praxis gesprochen: Etwa: Die in der Theorie – Debatte (am „grünen Tisch“) gewonnenen Parteitagsbeschlüsse sollten unmittelbar als solche von den Werktätigen umgesetzt werden: „Vorwärts mit den Beschlüssen des VII. Parteitages“, hieß es dann. Dabei waren schon die Analysen der Theorie am „grünen Tisch“ der Parteibonzen falsch. Sie ignorierten die geistige Bereitschaft ihrer Untertanen, die Beschlüsse überhaupt ernst zu nehmen, geschweige denn freiwillig zu realisieren…
Eine Theorie kann nur dann Impulse für das Tun, die Praxis geben, wenn sie selbst als Theorie eng verbunden mit der schon vorhandene Praxis der Menschen in der Gesellschaft und im Staat ist. Und von dieser erkannten und gemeinsam kritisierten Praxis können dann neue Wege der Praxis gelingen.
Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.