Die Marseillaise, kritisch betrachten! Eine kriegerische Nationalhymne …

Die Marseillaise, kritisch betrachten: Ein kriegerisches Lied: Warum singt man jetzt so gern die Nationalhymne? Zugleich ein Hinweis (siehe unten, Nr.7) auf Intellektuelle, die eine humane Nationalhymne vorschlagen. Natürlich ein aussichtsloses Unternehmen…

Ein Hinweis von Christian Modehn, zuerst veröffentlicht am 18.November 2015
1.
Die Marseillaise wird jetzt in London, sozusagen beim alten Erzfeind, gesungen, sogar im Wembley Stadion! Und bei jeder passenden Gelegenheit in Frankreich, um die französischen Bürger zusammenzuschmieden … beim Gesang… also: „Auf zu den Waffen“. Zerfleischt die Feinde….
2.
Kein Lied wie dieses, das fast jeder Franzose kennt und wohl auch kennen muss, falls er staatliche Schulen besucht hat, könnte besser die offizielle Kriegserklärung Präsident Hollandes gegen den IS unterstützen. Alle schmettern die Hymne, manche stammeln, manche weinen sogar dabei, wenn sie diese kaum erträglichen Sätze singen, auch bei offiziellen Akten der Politik. In der Stunde der großen Terrorismus-Not soll ausgerechnet dieses kämpferische, manche sagen, wie der berühmte französische Priester Abbé Pierre, „rassistische Lied“ die Nation in ihrer religiösen, auch muslimischen Vielfalt (!) zusammenfügen. Welch ein Irrtum bei diesem Text!
Wie soll das geschehen – bei diesem unsäglichen Text aus dem 18. Jahrhundert, mitten aus dem Kriegsgeschehen der Französischen Revolution 1792 formuliert? Als Franzosen gegen den Rest Europas kämpften und sich gegenseitig auf dem Schlachtfeld die Köpfe abschlugen und zudem noch im Innern des Landes die bösen Monarchisten zerfleischten und/oder die Feinde der Republik zur Guillotine schleppten.
3.
Die Hymne wurde verfasst von Rouget de Lisle in der Nacht des 25. April 1792 in Strasbourg, es hieß anfangs “La chant de guerre pour l armée du Rhin” (“Kriegslied für die Rheinarmee”), als Nationalhymne wurde dieses Kriegslied am 14. Juli 1795 offiziell eingeführt unter dem bis heute gültigen Titel “La Marseillaise”.Dieses Lied erhielt den Namen „Marseillaise“, weil es von Soldaten aus Marseille beim Einzug in Paris gesungen wurde.
4.
Der 14. Juli als Datum des Nationalfeiertages wurde erst am 8.Juli 1880 offiziell eingeführt, der 14. Juli sollte an den Tag des “Föderationsfestes” 1790 erinnern.
5.
Man möchte hingegen sagen: Gott sei Dank wird oft nur die erste Strophe dieses grässlichen Kriegsliedes jetzt allüberall gesungen. Besser wäre es, wenn, wie gegen Ende der DDR (mit „Auferstanden aus Ruinen“), nur noch die Melodie der Marseillaise gespielt und leise mitgesummt werden würde.
6.
Es lohnt sich, den Text aufmerksam zu lesen. Und sich dabei zu fragen: In welcher Welt leben wir eigentlich, dass solche Worte noch als offizielle Hymne in einer Republik gesungen und … eingepaukt werden!

Auf, auf Kinder des Vaterlands!
Der Tag des Ruhmes, der ist da.
Gegen uns wurde der Tyrannei
Blutiges Banner erhoben. (zweimal)
Hört ihr im Land
Das Brüllen der grausamen Krieger?
Sie kommen bis in eure Arme,
Eure Söhne, Eure Gefährtinnen zu erwürgen!
Refrain:
Zu den Waffen, Bürger!
Formt Eure Schlachtreihen,
Marschieren wir, marschieren wir!
Bis unreines Blut
unserer Äcker Furchen tränkt!
(zweimal)
Was will diese Horde von Sklaven,
Von Verrätern, von verschwörerischen Königen?
Für wen diese gemeinen Fesseln,
Diese seit langem vorbereiteten Eisen? (zweimal)
Franzosen, für uns, ach! welche Schmach,
Welchen Zorn muss dies hervorrufen!
Man wagt es, daran zu denken,
Uns in die alte Knechtschaft zu führen!
Refrain
Was! Ausländische Kohorten
Würden über unsere Heime gebieten!
Was! Diese Söldnerscharen würden
Unsere stolzen Krieger niedermachen! (zweimal)
Großer Gott! Mit Ketten an den Händen
Würden sich unsere Häupter dem Joch beugen.
Niederträchtige Despoten würden
Über unser Schicksal bestimmen!
Refrain
Zittert, Tyrannen und Ihr Niederträchtigen
Schande aller Parteien,
Zittert! Eure verruchten Pläne
Werden Euch endlich heimgezahlt! (zweimal)
Jeder ist Soldat, um Euch zu bekämpfen,
Wenn sie fallen, unsere jungen Helden,
Zeugt die Erde neue,
Die bereit sind, gegen Euch zu kämpfen
Refrain
Franzosen, Ihr edlen Krieger,
Versetzt Eure Schläge oder haltet sie zurück!
Verschont diese traurigen Opfer,
Die sich widerwillig gegen uns bewaffnen. (zweimal)
Aber diese blutrünstigen Despoten,
Aber diese Komplizen von Bouillé,
Alle diese Tiger, die erbarmungslos
Die Brust ihrer Mutter zerfleischen!
Refrain
Heilige Liebe zum Vaterland,
Führe, stütze unsere rächenden Arme.
Freiheit, geliebte Freiheit,
Kämpfe mit Deinen Verteidigern! (zweimal)
Unter unseren Flaggen, damit der Sieg
Den Klängen der kräftigen Männer zu Hilfe eilt,
Damit Deine sterbenden Feinde
Deinen Sieg und unseren Ruhm sehen!
Refrain
Wir werden des Lebens Weg weiter beschreiten,
Wenn die Älteren nicht mehr da sein werden,
Wir werden dort ihren Staub
Und ihrer Tugenden Spur finden. (zweimal)
Eher ihren Sarg teilen
Als sie überleben wollen,
Werden wir mit erhabenem Stolz
Sie rächen oder ihnen folgen.
Refrain

7.
Der Text der Marseillaise wurde von vielen französischen „Prominenten“ und Intellektuellen heftigst, aber bislang völlig wirkungslos, kritisiert. Etwa von dem Direktor der Pariser Oper, Pierre Bergé: „In meiner Kindheit haben mir meine Eltern verboten, die Marseillaise zu singen. Sie fanden die Worte skandalös. Ich habe immer diesen Standpunkt geteilt. Es ist mehr als dringend, diese Situation (der Marseillaise) zu ändern. In der Stunde Europas drängt sich das förmlich auf. Die Veränderung der Hymne ist zwingend, je früher, desto besser.

Auch der berühmte Sozialpriester Abbé Pierre hat sich gegen die Marseillaise gewehrt: Er ist auch über seinen Tod hin aus eine der beliebtesten und am meisten geschätzten Persönlichkeiten Frankreichs, vor allem wegen seiner umfassenden zahllosen Sozialwerke wie Emmaus und in seiner Kritik an einer versteinerten antisozialen Politik der Regierungen, vor allem im Wohnungsbau. Er sagte 2002: „Viele andere National-Hymnen wurden schon vom Text her verändert, die kriegerischen Aspekte wurden gestrichen. Warum können wir Franzosen das nicht machen? Warum können wir unsere Hymne nicht verändern? Ich singe sie nicht, seitdem mir bewusst wurde, dass durch die Hymne ein rassistischer Geist eingeführt wird. Da ist etwa von der Reinheit des Blutes die Rede. Und davon, dass das Blut der anderen unrein ist. Das ist nicht hinzunehmen, das ist rassistisch. Man lässt uns also singen und feiern den Rassismus. Eltern und Vereine könnten sehr gut sich bei den Rechtsinstanzen des Staates beschweren, dass ihren Kindern seit dem Kindergarten mit dieser Nationalhymne ein rassistischer Begriff von der Unreinheit des Blutes der anderen eingeschärft wird”.
Und der Sänger Charles Aznavour sagt: „Eine vermenschlichte Marseillaise entspricht mehr dem Geist Frankreichs“.
7.
Zu weiteren Gegnern der Marseillaise klicken Sie bitte hier.

8.

Befremdlich ist nach wie vor, dass der eigentlich hoch geschätzte Autor Stefan Zweig 1927 in seinem Buch “Sternstunden der Menschheit” unter den Erzählungen auch eine Art Lobeshymne auf den Erfinder der “Marseillaise”, Rouget de Lisle., veröffentlichte.  Der Titel dieser kriegsbegeisterten Hymne von Stefan Zweig ist “Das Genie einer Nacht. Die Marseillaise, 25.April 1792”.  Diese begeisterte Verklärung dieses Mord-und Totschlag Liedes durch Stefan Zweig bleibt sehr befremdlich, selbst wenn jetzt seine politischen Äußerungen ihn in ein erfreuliches, fast pazifistisches Licht rücken. Man möchte angesichts dieses hymynischen Textes meinen, Stefan Zweig, im Ersten Weltkrieg bekanntlich kriegsbegeistert, habe die Ereignisse des Tages 25.April 1792 zum Anlass genommen, seine große Kunst der einfühlsamen, stilistisch feinen Erzählung erneut zu beweisen…Ästhetik und ästhetischer Genuss (des Autors selbst) ging also vor historischem Wissen und moralischem Gewissen?

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

“Vom Menschsein und der Religion”: Ein neues Buch von Wilhelm Gräb

WEITER DENKEN: Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb
Die Fragen stellte Christian Modehn


Ihr neues Buch „Vom Menschen und der Religion“ vermittelt eine zentrale Er-kenntnis von einer geradezu universalen Bedeutung: Jeder Mensch befasst sich auf seine Art mit der Sinnfrage, mit der Frage nach dem Sinn des eigenen Le-bens und „des Ganzen“. Und diese Sinnfrage, so schreiben Sie immer wieder in dem Buch, sollte auch der Mittelpunkt der Theologie, der christlichen Theolo-gie, sein. Das ist eine ungewöhnliche, über alles Kirchliche hinaus in die Weite des Menschlichen führende Aussage. Warum ist gerade diese in meiner Sicht „universale Basis-Theologie“, unter den Bedingungen der „Säkularisierung“ jetzt so entscheidend für Sie
?

Dass wir die Zukunft nicht bestehen und die drängenden ökonomischen und vor allem ökologischen Probleme einer stetig wachsenden Weltbevölkerung ohne weitere Fortschritte in Wissenschaft und Technik nicht werden lösen können, scheint allen klar. Auch die Kunst und die Künste gehören selbstverständlich zu den entscheidenden Möglichkeiten, die wir Menschen haben, um unsere kreati-ven Fähigkeiten in die Gestaltung einer lebensdienlichen und entwicklungsoffe-nen Welt einzubringen. Nur die Religion, die doch seit den Anfängen der Menschheitsgeschichte nicht nur die Basis von Wissenschaft und Kunst war, sondern auch sich mit diesen fortschreitend entfaltet hat, erscheint vielen heute als entbehrlich. Sie wird mit den institutionalisierten Religionen und mit den Glaubens- und Morallehren der Kirchen identifiziert. Es wird die gefährliche politische Macht, die die ihre Repräsentanten durch die Berufung auf göttliche Autorität gewinnen können, angeprangert.
Viel zu wenig gesehen wird jedoch, dass die Zukunftsfragen einer das Überleben der Menschheit sichernden nachhaltigen Entwicklung eine alles entschei-dende religiöse Dimension bei sich haben. Was das Leben jedes einzelnen letzt-lich trägt, der Glaube an den Sinn des Ganzen, das hält auch die Anstrengungen in Wissenschaft und Technik, Politik, Recht und Bildung in Gang. Gerade dort, wo die Probleme immer drängender werden und globale Fehlentwicklungen, in die wir durch kollektives Versagen hineingeraten sind und die das Zutrauen in die Kräfte lebensdienlicher Zukunftsgestaltung rauben, ist das trotzige Dennoch eines religiösen Glaubens, der Inspiration, Kreativität und Gemeinsinn freisetzen sowie einen hoffungsvollen Lebensmut stärken kann, wichtiger denn je.
Doch dass Religion diese Bedeutung für unser Menschsein hat, dass sie es ist, die uns die Möglichkeiten entdecken lässt, mit denen wir über uns hinauswach-sen, weil sie größer sind als wir selbst um sie und uns in ihnen wissen, ist kaum im Blick. Die Religion ist kein öffentliches Thema in den so dringenden Debat-ten darüber, wie wir leben wollen, wie wir leben sollen, noch gar, was recht ei-gentlich ins Zentrum der Religion gehört, wie wir mit der offenkundigen Tatsa-che zurecht kommen können, dass wir des Insgesamt der Bedingungen unseres Daseins nicht mächtig sind, wir das Gelingen unserer noch so guten Absichten letztlich nie in der Hand haben.
Religion wird als Angelegenheit lediglich der hierzulande offensichtlich immer weniger werdenden „Gläubigen“, der Kirchen- und Religionsangehörigen aufge-fasst. Die anderen, die „Säkularen“, Konfessionslosen, Freigeister, Humanisten, Agnostiker geht sie nicht an. Doch in Wahrheit ist es so, dass wir alle in unserer Vorstellungkraft sehr viel ärmer werden, wenn wir das Bewusstsein von den Grenzen, die unserer Erkenntnis und unserm Wissen gesetzt sind, verkümmern lassen und die Möglichkeiten einer transzendenzoffenen, spirituellen Weltsicht und Sinneinstellung verspielen.
Deshalb habe ich dieses Buch geschrieben, weil ich meine, dass es dringend an der Zeit ist, in der Religion, wir können auch sagen: Religiosität bzw. Spirituali-tät, eine Haltung dem Leben gegenüber zu sehen, aus der immer wieder neu In-spiration, Mut, Trost und Gemeinsinn erwachsen. Es verdankt sich dieses Reli-gionsverständnis den entscheidenden Impulsen protestantischer (Kultur-)-Theologie, wie sie von Friedrich Schleiermacher über Ernst Troeltsch bis zu Paul Tillich gesetzt wurden.
Ich habe der Rekonstruktion der Gegenwartsbedeutung dieser Theologietraditi-on in meinem Buch breiten Raum gegeben, stelle mich selbst in diese Tradition und führe sie fort, um – heute nun in transreligiöser und transkultureller Absicht – zu diesem anderen Reden über die Religion beizutragen. Religiös zu sein, ist eine der besten Möglichkeiten, die wir Menschen haben, um einen verlässlichen Halt in unserem je individuellen Leben zu haben und dann auch den enormen Herausforderungen begegnen zu können, vor die wir uns im Zeitalter der ökolo-gischen Lebensgefahr gestellt sehen.


Nun gibt es die bunte Vielfalt von Religionen. Diese aber sind nicht immer und nicht automatisch konstruktiv im Sinne der Menschlichkeit und des Respekts der universalen Menschenrechte. Welches Kriterium haben Sie, um humane Religi-onen von den de facto ins Inhumane abgleitenden Religionen, „Sekten“, Ideolo-gien, zu unterscheiden?

Die Religion, von der ich spreche, ist, um mit Johann Gottlieb Herder zu reden, „in aller Menschen Herz nur eine“. Sie gehört zu unserem vernunftbegabten Menschsein. Zu ihr können alle finden, die einiger Selbstachtung fähig sind. Dann merken sie, dass die schon von den Theologen der Aufklärung als „Ange-legenheit des Menschen“ entdeckte Religion eine transzendenzoffene Sinnein-stellung ist, die aus dem tröstlichen Gefühl einer Gründung unseres Ichs im Göttlichen erwächst.
Mit dem Glauben an Heilige Schriften, kirchliche Dogmen, gar einem Gehorsam religiösen Führern gegenüber hat diese Religion der Humanität, wie ich sie nen-ne, nichts zu tun. Das heißt aber nicht, dass diese Religion der Humanität nicht auch in den Religionen, wie sie als mehr oder weniger verfasste Institutionen, mit ihren Traditionen, ihren Lehren und Ritualen, Symbolen und Lebensregeln existieren, gefunden und praktiziert werden kann. Genau dies dürfte vielmehr weithin der Fall sein, schon deshalb, weil eine gesellschaftliche Kommunikation über diese Religion der Humanität noch nicht entwickelt ist. Das Anregungspo-tential, das die Heiligen Texte der Religionen, ihre Kunstschätze, ihre Theolo-gien und ethischen Reflexionen in sich bergen, ist außerdem immens. Es wäre töricht, wenn die Religion der Humanität, die ich in meinem Buch auch als eine transversalen Religion der Menschenwürde und Menschrechte beschrieben habe, ihre Inspiration nicht auch aus Quellen der großen geschichtlichen Religionen schöpfen würde.
Dennoch ist das Verhältnis der Religion der Humanität zu den religiösen Insti-tutionen, Traditionen und Gemeinschaften ein durchaus kritisches. Ich argumen-tiere entschieden gegen jede Vorweggeltung eines kirchlichen und religionsinsti-tutionellen Autoritätsanspruchs. Es ist nicht schon deshalb etwas heilig und den gläubigen Gehorsam gebietend, weil ein Klerus sich auf höhere Offenbarung, geheiligte Traditionen und göttliche Einsetzung beruft. Ob eine Religion bzw. Elemente in ihr gut oder schlecht sind, entscheidet sich daran, ob dort unsere menschliche Fähigkeit, aus freier Einsicht „glauben“ zu können gefördert wird, oder auf blinden Glaubensgehorsam verpflichtet werden.
Glauben zu können, will dann als Realisierung einer unserer besten menschli-chen Möglichkeiten verstanden sein. Wer aus freier Einsicht glaubt, tut dies im Wissen um die Unverfügbarkeit der Zukunft wie unseres Daseins überhaupt, ein Wissen, das in Glauben übergeht und das den Kern im Grunde jeder Religion darstellt.


Wichtig ist für sie der „Lebensglaube“, also die Gewissheit, dass mein und unser Leben „im letzten“ einen Sinn hat. Diesen Lebensglauben können, so sagen Sie, auch Kunst, Literatur, Film und Musik vermitteln. Aber warum, wie Sie dann schreiben (S. 318), „befriedigen diese dann doch nicht unsere Sinnbedürfnisse“?
Dieser Lebensglauben, der ein unbedingtes Vertrauen in den Sinn des Ganzen ist, muss immer wieder dem Wissen um die Unbegreiflichkeit dieses Sinns ab-gerungen werden. Sonst wäre es ja kein Glauben, kein grundloses, ins Wagende hinein sich vollziehendes Grundsinnvertrauen. Das eben macht den Unterschied wahren religiösen Glaubens von Ideologien und totalitären religiösen Lehren aus. Doch wer schafft das, so zu glauben?

Letztlich ist dieses sich auf der Grenze bewegende und das menschliche Maß wahrende Glauben, zu dem die Religion der Humanität ermutigt, eine unmögliche menschliche Möglichkeit. Das hat vernünftig Theologie seit jeher dadurch zum Ausdruck gebracht, dass sie vom Glauben als Gottesgeschenk sprach, als Tat Gottes, mit der dieser den Glauben in uns hervorbringt. Viele religiöse Den-ker sprechen zudem vom Glauben als einem Widerfahrnis, zu dem wir uns nicht entschließen können, sondern das an uns geschieht, so freilich, dass es nur dann für uns wirksam wird, wenn wir es annehmen und uns bewusst dazu verhalten.
Was ich an der von Ihnen zitierten Stelle von der Kunst und den Künsten sage, gilt insofern auch von der Religion. Auch sie befriedigt nicht unsere Sinnbe-dürfnisse, jedenfalls nicht so wie das gemeinhin verstanden wird, als hielte sie eine friedigende Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens bereit. So ist es gerade nicht. Dennoch erweckt die traditionelle Religion oft genau diesen Anschein, als habe sie sie verbindliche Antworten auf die großen Fragen nach dem Woher und Wohin unseres Daseins. Anders die Kunst. Ich sehe ihren Vor-zug und das, was sie für die Religion bedeutet, genau darin, wie ich an anderer Stelle sage, dass „sie die Wunde des Sinns offenhält“.
Gerhard Richter sagt es so: „Die Kunst ist die reine Verwirklichung der Religiosität, der Glaubensfähigkeit, Sehnsucht nach ,Gott‘. […] Die Fähigkeit zu glauben ist unsere erheblichste Eigenschaft, und sie wird nur durch die Kunst ange-messen verwirklicht. Wenn wir dagegen unser Glaubensbedürfnis in einer Ideo-logie stillen, richten wir nur Unheil an.“ (Notizen 1988)
Und früher schon notierte Richter, der einer der bedeutendsten Bildermacher unserer Zeit ist: „Die Kunst ist nicht Religionsersatz, sondern Religion (im Sinne des Wortes, ,Rückbindung’, ,Bindung’ an das nicht Erkennbare, Übervernünftige, Über-Seiende). Das heißt nicht, dass die Kunst der Kirche ähnlich wurde und ihre Funktion übernahm (die Erziehung, Bildung, Deutung und Sinngebung). Sondern weil die Kirche als Mittel, Transzendenz erfahrbar zu machen und Religion zu verwirklichen, nicht mehr ausreicht, ist die Kunst, als veränder-tes Mittel, einzige Vollzieherin der Religion, das heißt Religion selbst.“ (Notizen 1964-65)
Kunst ist Religion und Religion ist Kunst, ohne dass wir eine Kunstreligion erfinden müssten. Die für die Erfahrung der Kunst offene Religion ist die Religion, die zu uns unruhigen Menschen passt, weil sie unser Verlangen nach dem Vollkommenen wachhält. Sie befriedigt nicht unsere Sinnbedürfnisse, sondern hält unsere Sehnsucht nach Sinn wach – nach einem Sinn, der endlich verstanden werden kann, so dass wir vielleicht das Gefühl bekommen, doch in diese Welt zu passen, obwohl wir nie ganz in ihr zuhause sind.

Hinweis auf die Neuerscheinung: Wilhelm Gräb, Vom Menschsein und der Religion. Eine praktische Kulturtheologie. 2019.
https://www.mohrsiebeck.com/buch/vom-menschsein-und-der-religion-9783161565649

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin und Prof. Wilhelm Gräb, Berlin

“Was die Seele eines Menschen gesunden lässt.” Weiterdenken. Von Prof. Wilhelm Gräb

Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb im Februar 2018.

Die Fragen stellte Christian Modehn, Berlin.

Theologisches Denken ist sicher immer auch ortsbezogen. Immer mehr Menschen leben in Berlin, die Stadt wächst. Und mit dem Wachstum haben viele Bewohner auch ihre Probleme, man beachte die Knappheit und den hohen Preis von Wohnraum. Es gibt hier Auseinandersetzungen mit rassistischen Dimensionen. Zudem zeigen wissenschaftliche Untersuchungen, dass sehr viele Menschen das Leben in Berlin auch seelisch als sehr belastend empfinden. Da stellt sich für Theologen und Pfarrer die Frage: Welche neuen Formen der Begleitung und Hilfe für Menschen in Berlin sind wichtig? Ich möchte das alte klassische Wort der Seelsorge aufgreifen und Sie fragen: Wie sollte Seelsorge heute durch Christen, durch Pfarrerinnen und Pfarrer angemessen gestaltet werden?

Die Herausforderungen, vor denen die christliche Seelsorge im heutigen Berlin steht, sind enorm. Auf der einen Seite nehmen die Probleme, die den Menschen auf der Seele liegen, immer weiter zu. Zumindest empfinden viele ihre Lage als schwierig, angesichts all dessen, was Sie gerade angesprochen haben. Und vieles mehr wäre noch zu nennen, was für eine zunehmende Zahl von Menschen den Eindruck verstärkt, sie seien abgehängt und würden schlicht übersehen. Auf der anderen Seite haben die Kirchen kaum noch eine tragfähige soziale Basis. Eine immer weiter dahinschwindende Minderheit der Berliner Bevölkerung gehört einer der beiden großen Kirchen an (Stand 2017: 16% Evangelisch; 9% Katholisch). Von einem relevanten Beitrag der kirchlichen Seelsorge zur Grundversorgung in therapeutischer Lebenshilfe kann da eigentlich kaum noch die Rede sein.

Nehmen wir die religiöse Situation in Berlin in den Blick, so sind allerdings auch die vielen christlichen, aber auch muslimischen und anderen Religionsgemeinschaften verbundenen Migrantengemeinden zu erwähnen, die für viele Menschen eine enorm wichtige seelsorgerliche Aufgabe wahrnehmen. Ich denke, wir müssen es uns überhaupt abgewöhnen, was die Präsenz des Christentums und der Religionen in Berlin anbelangt, nur an die Mitglieder der Ev. Landeskirche und des katholischen Bistums zu denken. Die religiöse Landschaft ist viel bunter als gemeinhin bekannt. Erst recht erscheint sie in ihrer ganzen Vielfalt, wenn wir auch noch denjenigen, die keiner organisierten Religionsgemeinschaft angehören, nicht pauschal die Religionslosigkeit bescheinigen.

Wenn nun aber die Frage die ist, wie in einer solchen urbanen Situation christliche Seelsorge angemessen geschehen kann, dann wird dies eine Seelsorge sein müssen, die sich wirklich um die Seele sorgt, die jedes einzelnen Menschen. Es sollte ihr darum gehen, das zu tun, was die Seele eines Menschen gesunden lässt. Das bedeutet, für andere da zu sein, sie zu stärken, damit sie ihr Leben besser bewältigen, mit den oft schwierigen inneren und äußeren Umständen besser zurecht zu kommen. Weder sollten religiöse Zugehörigkeiten oder Nicht-Zugehörigkeiten eine Rolle spielen, noch gar der Zweck verfolgt werden, eine Glaubensbotschaft auszurichten oder Menschen für die eigenen Glaubensgemeinschaft gewinnen zu wollen.

Eine Seelsorge, die sich wirklich um die Seele sorgt, hilft Menschen, dass sie zu sich und zueinander finden. Sie lässt sie erfahren, dass sie anerkannt, wertgeschätzt, geliebt sind. Sie sorgt für eine Atmosphäre des gegenseitigen Respekts, auch noch in Situationen kultureller oder religiöser Fremdheit.

Wenn man sagt, eine „Kernaufgabe“ der Kirche ist die Begleitung von Menschen, Seelsorge genannt. Dann ergibt sich die Frage: Was muss besser werden, dass Pfarrerinnen und Pfarrer wirklich als kompetente gebildete Seelsorger wahrgenommen werden. Sollte etwa die psychologische Ausbildung innerhalb der Theologiestudien also eine viel größere Rolle spielen?

Ich bin gar nicht so sehr dafür, sofort in andere Disziplinen auszuweichen. Die Theologie kann, wenn sie sinnvoll betrieben wird, enorm hilfreich sein für eine gute Seelsorge. Dann versetzt sie nämlich in eine kritische Distanz zum eigenen Glauben, zu den eigenen Einstellungen zum und Vorstellungen vom Leben. Dann macht sie fähig, sich in den Referenzrahmen anderer Menschen hineinzuversetzen.

Die Theologie ist ja eine hermeneutische Wissenschaft. Auch wenn sie die Kunst des Verstehen überwiegend auf Texte, und dabei auf vielfach sehr fremde und schwer verständliche Texte anwendet, so sind dies doch Fähigkeiten, die auch im Umgang mit Menschen und den „Texten“, die ihr Leben sind, sich als sehr brauchbar erweisen.

Ich plädiere also für eine Theologie, die Daseinshermeneutik und Religionshermeneutik betreibt. Sie schafft die besten Voraussetzungen dafür, Menschen in ihren Lebenslagen verstehen und ihnen zu einem hilfreichen Begleiter in den sie herausfordernden Lebensfragen werden zu können.

3.Neue Formen der Seelsorge brauchen vielleicht auch neue Orte der Seelsorge: Ins Gemeindehaus finden wenige, es ist diese berühmte „Schwellenangst“, die suchende und fragende Menschen hindert, in „Gemeindebüros“ zu gehen. Sollte sich das Modell der offenen Gesprächssalons, etwa in Galerien oder Kneipen, in Berlin nicht viel stärker durchsetzen: Also die Kirche verlässt ihre übliche „Binnenräume“ und ist zum Gespräch mit allen Menschen bereit.

Zur Kirche, zu den Pfarrern und Pfarrerinnen, kommt schon lange kaum noch jemand, wenn etwas auf der Seele lastet. Das Amt allein trägt die Seelsorge nicht mehr. Es ist die Person des Pfarrers, der Pfarrerin, die, ausgestattet mit seelsorglicher Gesprächskompetenz, dort den seelsorglichen Kontakt zu Menschen finden, wo dieser sich zwanglos ergibt. Das eben geschieht bei Gelegenheit, bei zufälligen Begegnungen, im Supermarkt und in der S-Bahn. Wichtig ist die persönliche Beziehung, ein Vertrauensverhältnis. Dass die Kirche aus sich herausgehen muss, will sie den Kontakt zu den Menschen finden, ist klar. Angesichts der Vielfalt der Lebenswelten, kulturellen Milieus und sozialen Zugehörigkeiten, ist das heute eine ganz besondere Herausforderung. Die Pfarrer und Pfarrerinnen können ihr selbstverständlich nur partiell begegnen. Seelsorge geschieht aber glücklicherweise immer dann, wenn Menschen bereit sind, aufeinander zu hören, sich in den anderen einzufühlen, die andere in dem zu verstehen, was sie bedrückt und womit sie alleine nicht fertig wird. Die Seelsorge ist tief eingelassen in unsere zwischenmenschlichen Beziehungsverhältnisse. Das zu wissen, kann den professionell in der Seelsorge Tätigen die Angst vor Überforderung nehmen. Es kann sie ebenso dazu ermutigen, sich für das seelsorgerliche Gespräch offen zu halten, wo immer es sich in den alltäglichen Zusammenhängen und Begegnungen ergibt.

Mit den Menschen das Leben zu teilen, selbst dort zu sein, wo es geschieht, im Glück wie in der Not, schafft die besten Voraussetzungen für eine gute Seelsorge, auch im scheinbar so unkirchlichen, urbanen Berlin.

copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Kirchengemeinden in Berlin – Warum sie bedeutungslos geworden sind

Ein Hinweis von Christian Modehn

„Berlin boomt“, um den gängigen Werbeslogan zu verwenden. So ganz falsch ist er ja nicht. Überall wird gebaut, jede Ecke gefüllt, mit Eigentumswohnungen meist. „Berlin ist eine ziemliche Pleite“, um treffend vom Verkehr, von Schulen, Wohnungen, der Sorge um Arme und Obdachlose etc. zu sprechen. Noch nie war eine Stadtregierung so unbeliebt und offenbar unfähig. Aber die CDU würde es auch nicht besser machen…„In Berlin mal leben, das wollen so viele“, um einen ungebrochenen Trend anzusprechen, von den 14 Millionen Touristen jährlich ganz zu schweigen. Berlin, diese so zwiespältige und so beliebte und so gestresste Metropole für die Menschen, die da ständig leben. Spricht jemand in den Medien z.B. noch von Religionen, Kirchen, Theologien in Berlin?? Das passiert eher sehr selten. Und die Kirchen sorgen mit ihrem administrativen Sparprogrammen ohnehin selbst für ihr langsames Verschwinden. In Berlin wird das kaum kommentiert. Selbst die betroffenen Gemeinden schweigen, nehmen fast alles hin, was die Hierarchie durchsetzt. Im Katholizismus werden Gemeinden gestaltet, zusammengelegt, vergrößert einzig nach dem einen klerikalen Gesichtspunkt: Welches Mitglied der allmählich aussterbenden Priesterschaft können wir noch in die Gemeinden setzen. Niemand denkt daran, ernsthaft katholischen Laien volle und umfassende Verantwortung für die Gemeinden zu übergeben. Allgemeines Priestertum ist ein schönes Wort und nur eine Ideologie. Man denke etwa den Millionen Euro kostenden und überflüssigen Umbau der inneren Gestalt der Hedwigskathedrale … Das Geld sollte man sinnvoller für Wohnprojekte für Obdachlose ausgeben und für offene Gesprächsräume, “Salons”, in allen Stadtteilen. Als Galerien, Krypten, Etagen etc…

Berlin ist für den Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon immer schon ein Thema gewesen, nicht zuletzt durch die Interviews mit dem protestantischen Theologen Prof. Wilhelm Gräb.

Wir sammeln Elemente für eine neue Berliner liberale Theologie. Diese zeichnet sich z.B. durch dogmatische Offenheit und Bejahung von Innovation und Experiment aus.

Zur kirchlichen Situation in Berlin: Etwa 33 Prozent der Menschen in Berlin sind Mitglieder der großen christlichen Kirchen. Die anderen, von den Muslimen einmal abgesehen, bilden die Mehrheit: Sie nennen sich selbst konfessionsfrei. Und wenn sie sich Atheisten nennen, sind sie wahrscheinlich eher selten absolute Feinde einer religiösen Haltung, aber das ist ein anderes Thema.

Die Gemeinden der evangelischen und katholischen Kirche sind trotz ihrer Sichtbarkeit durch große Kirchengebäude de facto sehr schwach. Die Kirchenchöre spielen noch eine Rolle (Matthäuspassionen !) und die Kindergärten und die Seniorentreffs. Wenn man die Teilnahme an den Sonntags – Gottesdiensten betrachtet: Etwa 3 Prozent der Protestanten gehen sonntags zur Kirche. Bei den Katholiken sind es etwa 8 Prozent. Also ca. 20.000 Protestanten nehmen sonntags an den Gottesdiensten teil, bei den Katholiken etwa 30.000. Heiligabend sieht es anders aus. Natürlich hat jeder die Freiheit, auf seine Art seine Spiritualität zu pflegen. Hier geht es um Fakten. Wenn man die Altersstruktur der TeilnehmerInnen an den Gottesdiensten betrachtet, sieht es im Blick auf Zukunft für die Kirchen eher betrüblich aus. Man sollte halt nicht die gut besuchten Gottesdienste im Berliner Dom (ev) oder der Marienkirche (ev) anschauen, sondern eben auch die eher leeren Kirchen sonntags in Wedding oder Neukölln ansehen. Diese klotzigen Gebäude stehen förmlich fast immer, wähernd der ganzen Woche  leer und meist verschlossen herum. Junge Leute amüsieren sich auf den Stufen der verschlossenen Kirchen.

Tatsache ist: Die Sonntagsgottesdienste sind in Berlin (ist es in Köln, Hamburg oder München anders?) kein Teil der Stadtkultur. Und das ist der kritische und bedenkenswerte Punkt. Kirchen werden wegen bestenfalls der Kirchenmusik wegen beachtet und besucht, diese schöne Musik ist allerdings nur mit hohen Eintrittsgebühren erreichbar… Kirchen werden nicht mehr wegen der Predigten oder der Prediger besucht. Wer kennt einen interessanten und kritischen Berliner Prediger? Ist da jemand stadtbekannt, auffällig, umstritten, ständig Gast in den Talkshows? Einen, der mal heftig und deutlich zum schwierigen Leben in dieser sozial gespaltenen Stadt Stellung nimmt? Niemand ist da. Armselige Kirche ohne wirklichen Geist.

Wer kennt noch einen Ordensprediger, einen, den man einst wort –gewaltig und prophetisch nennen konnte? Nichts da, die Orden verschwinden in Berlin. Die wenigen verbliebenen Ordensleute in Deutschland halten sich dann scharenweise und bequemerweise lieber im schönen München auf…

Zum Desinteresse so vieler Kirchenmitglieder an der Teilnahme in der Gemeinde hat schon 1965 der damals sehr bekannte anglikanische Bischof John A. Robinson in seinem Buch „Eine neue Reformation“ Stellung genommen. Ich finde seine Hinweise zum Desinteresse so vieler an „ihren“ Gemeinden nach wie vor wichtig und der Diskussion wert. Denn das Abstandnehmen von den Gemeinden ist ja nicht nur ein philosophisches und theologisches Problem. Es ist auch aus sozialen Gründen noch viel mehr problematischer, weil dann Kommunikationsmöglichkeiten unterschiedlicher Menschen nicht mehr gelingen.Erstaunliche Kommunikation über alle Grenzen hinweg könnte ja prinzipiell in offenen (!) Gemeinden gelingen…Aber die gibt es kaum. Man stelle sich etwa die katholische St. Matthias Gemeinde in Berlin Schöneberg vor: Wunderbar auf einem großen MARKT – Platz gelegen UND mitten in einem der großen Berliner Schwulen Viertel. Was tut die Gemeinde in Zusammenarbeit mit den schätzungsweise 40.000 Homosexuellen, die in der näheren und weiteren Nachbarschaft wohnen? Gar nichts unternimmt die Gemeinde. Rosenkranzandachten zu gestalten ist so viel einfacher und Messe lesen sowie so, als mit Schwulen und deren Familien über die Vielfalt der Lebensformen zu sprechen etc. Das hei0t: Diese Gemeinde – wie viele andere – lebt förmlich in einer anderen Welt, auf einem anderen Planeten. Aber das regt keinen mehr auf, die betroffenen Homosexuellen schon gar nicht. Die erwarten absolut nichts mehr von der römischen Kirche. Dabei sind viele Schwule sehr spirituell interessiert…Eine ganze große kulturelle Szene hat die Kirche also „verloren“, um es einmal klassisch theologisch zu sagen. Die Intellektuellen hat sie längst verloren, die Arbeiter, die Armen, die Frauen, die Jugendlichen und jungen Menschen, die am Wochenende lieber scharenweise in die vielen „Clubs“ gehen und dort vielleicht sehr persönliche Transzendenz – Erfahrungen (bei der Musik, beim Sex) erleben. Alle diese Gruppen und Klassen hat die Kirche verloren. Wen hat sie noch? Die Angestellten der Kirchenverwaltungen möchte man sagen.

Also: Bischof Robinson spricht von Menschen aus seiner Umgebung und in seiner Erfahrung, von Menschen, die zwar durchaus bereit wären, sich „irgendein christliches Anliegen zu eigen zu machen oder mit ihrem Leben etwas Sinnvolles zu beginnen. Denen aber im Traume nicht einfallen würde, sich deswegen einer örtlichen Pfarrgemeinde anzuschließen und in ihrem Rahmen zu arbeiten. Und zwar nicht notwendig deswegen, weil ihre Bindung an Christus nicht zuverlässig wäre, sondern weil die Pfarrgemeinde ihnen als ein Gebilde erscheint, das zu den wirklichen Brennpunkten des menschlichen Lebens und den Stellen, an denen die Entscheidungen getroffen werden, keinerlei Beziehung hat“. (S. 90).

Die „neue Reformation“ – so der Buchtitel – sollte für Bischof Robinson dringend kommen, sie müsste aber von einer Kirche ausgehen mit neuen Formen (er meint sicherlich im Blick auf frühere Bücher auch neue Inhalte), „die von den durch weltliche Bedürfnisse geschaffenen Strukturen herum wachsen“…

„Die Kirche muss eine offene Gesellschaft, eine Aufnahme bereite Gemeinschaft sein, deren Wesen darin besteht, den Menschen zu begegnen , wo sie sind und sie anzunehmen als das, was sie sind“ ( S. 46).

1965 schrieb der anglikanische Bischof und Theologe John A. Robinson diese Worte. Damals glaubten viele noch, dass seine Worte Gehör finden, also zu neuen Initiativen inspirieren. Hat die „neue Reformation“ stattgefunden, ist sie unterwegs? In der Sicht der liberalen Theologie eher nicht.

Ein Blick nach Nord-Rhein-Westfalen: Dort sind “1.500 von insgesamt 6.000 Kirchen beider Konfessionen von der Schließung bedroht” (Berliner Zeitung, Beitrag von Franziska Knupper, am 23./ 24. September 2017).

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Liberales Christentum und liberale Theologie: Eine Definition aus den Niederlanden.

Was ist liberales Christentum und liberale Theologie?

Der “Religionsphilosophische Salon Berlin” ist  – theologisch gesehen –  der liberalen Theologie verpflichtet. Das haben viele Beiträge, auch die von Prof. Wilhelm Gräb (Berlin) längst deutlich gezeigt.

Ich fand in einer neuen, viel beachteten,  leider nicht ins Deutsche übersetzten Studie aus Holland, eine Art Definition der liberalen Theologie, die ich hier vorstelle. Bei dieser Gelegenheit muss gesagt werden, wie gering die Aufmerksamkeit deutscher Verlage und deutscher Theologen für die aktuelle Entwicklung der Theologie in den Niederlanden ist. Das Klischee einer untergehenden Kirche, von den konservativen Medien weltweit verbreitet, hat sich offenbar festgesetzt. Wir finden dies sehr traurig, weil dadurch auch der Austausch europäischer Theologien gebremst wird. Aber die etablierten, sehr dogmatischen Kirchen in Deutschland haben einfach kein lebendiges Lern – Interesse an liberaler moderner Theologie. Obwohl diese Theologie eine große Hilfe wäre in der religiösen Orientierung heute… Die Dogmatiker und die Herren der Kirche glauben eben, nur in der Wiederholung alter Dogmen das Christentum zu retten. Diese offizielle theologische Haltung in Deutschland ist falsch und im ganzen schädlich, auch für de Fortbestand der Kirchen in Deutschland…

In den Niederlanden sind liberale Kirchen und liberale Theologien noch immer eine Selbstverständlichkeit. Es gibt sogar innerhalb der „Protestantischen Kirche der Niederlande“ (PKN) eine eigene kleine liberale, freisinnige Strömung mit eigenen Gemeinden. Abgesehen von den Remonstranten als der „klassischen“ liberalen und freisinnigen Kirche in den Niederlanden, neben dem „Protestanten Bund“ und der „Doopgezinden gemeente“, gibt es oder gab es liberalen, freisinnigen Geist auch in der katholischen Kirche Hollands. Sie hat freilich diese Tendenzen nach einer kurzen Phase (Anfang der 1960 Jahre) seit ca. 1970 unterdrückt. Weil der Vatikan und die vom Vatikan seit 1971 gegen den Willen der Gläubigen eingesetzten ultrakonservativen Bischöfe (Simonis,Gijsen etc.) es so wollten.

Die Autoren des Buches „Liberaal christendom – Ervaren, doen, denken“, also Rick Benjamins, Jan Offringa en Wouter Slob, sagen noch einmal klar, was liberales Christentum nicht bedeutet: „Wir sollten gelegentlich bedenken, dass die liberale Theologie nicht die Heimtheologie enthält der beiden liberalen Parteien der Niederlande, VVD und D66 (Und ebenso nicht der FDP oder gar dieser FPÖ, ergänzt CM).Vielmehr hoffen wir, dass der Begriff liberal im Sinne der englisch sprachigen kirchlichen Welt verstanden wird (also als Bezeichnung demokratischen, progressiven Denkens CM). Wenn man einer Theologie das Wort liberal zufügt, bedeutet das: Da wird nicht eine Instanz genannt, die von außen und oben herab bestimmen kann und auslegen kann, was du glauben musst. Also: Es gibt keinen Papst, keine Kirche, kein Glaubensbekenntnis oder Gedankensystem, das zwingende Vorschriften vorlegt. Aber es gibt wohl eine offene und selbstkritische Haltung, um die Einsichten des Christentums in unserer Welt durchzudenken.

Das Buch „Liberaal Christendom“ (2016) wird in den Niederlanden viel beachtet, es ist nur eines von vielen Büchern, die dem lebendigen Phänomen eines liberalen Christentums nachgehen….

Das Buch “Liberaal Christendom” ist im Skandalon Verlag erschienen, jetzt 3. Auflage, 240 Seiten, 21,95€ Es gilt als eines der besten theologischen Bücher dieser Zeit.

copyright: Christian Modehn, Berlin, Religionsphilosophischer Salon.

„Ohne Erbsünde glauben“. 10 Fragen und Antworten anlässlich einer theologischen Diskussion

Ein Hinweis von Christian Modehn,  am 8. Juni 2017.

Aus aktuellem Anlaß noch einmal am 11.11.2024 publiziert: Weil nicht (nur) Strukturreformen heute als dringende Reformen in der katholischen Kirche gelten sollten, sondern vor allem Reformen der nicht mehr vermittelbaren Dogmen. Zum Beispiel das sinnlose Dogma der Erbsünde. CM.

Siehe auch  “Muss der christliche Glaube Angst machen?” LINK sowie Weiteres zum Thema “Gegen die Erbsünde”:  LINK

1.Frage

Die Lehre von der Erbsünde ist, etwa in der katholischen Kirche, ein Dogma, also eine definierte Glaubenslehre. Kann man sich denn heute von einem Dogma mit dieser umfassenden Lehre befreien?

Ja, kann man und sollte man. Das kann nicht nur der einzelne, aufgeklärt denkende Glaubende, indem er dieses Dogma in dieser Form eben für sich beiseite lässt. Und das tun sehr viele. Die Befreiung von diesem Dogma kann aber prinzipiell auch das katholische Lehramt heute vollziehen. Wenn es denn so viel Vernunft walten lässt und erkennt: Dieses Dogma zur Erbsünde ist nicht Weiterlesen ⇘

Liberale Theologie an der Basis: Interviews zur „Gretchenfrage“

Ein Hinweis von Christian Modehn. In der Rubrik “Liberale Theologie heute” werden Elemente, Interviews, Erfahrungen dokumentiert und kommentiert, die für eine neue liberale Theologie hilfreich sein können.

Wer sich auf die Suche nach Erfahrungen der gelebten „liberalen Theologie“ heute begeben will, sollte auch Interviews mit „Menschen von nebenan“ machen oder mit Menschen aus der (ferneren) Nachbarschaft. Also mit weniger oder „gar nicht“ Prominenten, aber auch mit eher allgemein bekannten „Zeitgenossen“. Oder man sollte die Interviews lesen, in denen sich Menschen zu ihrer Sinn – bzw. auch Unsinn – Erfahrung äußern. Ein interessantes Beispiel fand ich etwa in einer neuen Rubrik der „Kirchenzeitung für die Nordkirche“. Dort ist in der Ausgabe vom 11. September 2016, Seite 16, unter dem Obertitel „Die Gretchenfrage. Sag, wie hast du es mit der Religion“ ein Interview mit Harry Schulz (55) publiziert. Er ist Betreiber eines bekannten Grill-Imbisses in Hamburg und zudem in einem Fernsehprogramm als „Imbisstester“ gefragt… sowie … ein Hamburger Original.

Harry Schulz sagt u.a.: „Ich glaube sehr stark an Gott, ich glaube aber nicht an Kirchen allgemein… Ich habe für mich entdeckt, dass ich unheimlich gute Gespräche mit Gott führen kann. Und dass er mir auch antwortet… Ich überprüfe das auch, indem ich aus dem Bauchgefühl bei Problemen die Lösung suche… Da ist jemand, der hört mir zu, der macht mir Mut und passt auch ein bisschen auf mich auf“. Am wichtigsten ist für Harry Schulz die Nächstenliebe. Etwa das „Sich Kümmern“ um die alte Nachbarin. Und: „Mein Laden und ich unterstützen auch die Hamburger Tafel und die Aids Hilfe Hamburg“.

Was ist in diesen Aussagen theologisch? Oder sogar liberal-theologisch? Eigentlich alles: Der Glaube an Gott. Das Abstandnehmen von den Kirchen. Das persönliche Beten. Die erfahrene Nähe des Göttlichen. Die Nächstenliebe. Und das alles eben individuell auf eigene Art erlebt und mit einem individuellen Ton gesprochen. Das sind keine hoch-spekulativen Aussagen, aber da spricht sozusagen die theologische Basis. Sie kann keine Kirche und keine Universitätstheologie ignorieren. Und sie zeigt: Individueller Glaube und Religiosität bzw. auch Suchen und Unglauben sind lebendig. Philosophisch gesprochen: Eigentlich wohl überall lebendig. Weil der Geist (die Vernunft) nun einmal in ständiger Such-Bewegung ist.