Karl Kraus – Sein „Dienst am kritischen Wort“

Ein Hinweis anläßlich des 150. Geburtstages
Von Christian Modehn am 18.4.2024

1.
Es gilt, vorsichtig zu sein, wenn wir aktuell an Karl Kraus, den Autor, Satiriker, Schriftsteller, den Kritiker der Sprache und der Wörter mit einem Hinweis erinnern:
Geboren wurde Karl Kraus am 28. April 1874 in Gitschin, Böhmen, gestorben ist er am 12.Juni 1936 in Wien.

2.
Warum eine besondere Vorsicht bei dem, hier nur sehr kurz gefassten, Erinnern an Karl Kraus?
Seine politische Haltung in etlichen seiner Lebensphasen haben Kenner oft reaktionär genannt, (so etwa Sigurd Paul Scheffel, in „Literaturen”, Heft 1/2 2004, S. 36). Manche betonen wohl zu recht, die Haltung Karl Kraus` gegenüber der liberalen Presse („Neue Freie Presse“, Wien) sei von Hass bestimmt gewesen. Sein Eintreten für den österreichischen Politiker und späteren Diktator Engelbert Dollfuß (1933/34) ist bekannt.„Dass er die ‚Bewegung’ (Nationalsozialismus) lange unterschätzt hat, lässt sich nicht leugnen“( Quelle:    LINK  
Karl Kraus hat sicher auch die Moderne und damit wohl auch demokratische Strukturen heftig attackiert.
Und auch dies: Karl Kraus, in einer liberalen, bürgerlichen jüdischen Familie großgeworden, hat später dieses elitär empfundene jüdische Milieu seiner Herkunft und Umgebung abgelehnt und öffentlich kritisiert. Er war gegen den Zionismus und erhoffte sich die Überwindung jeglicher Getto – Existenz der Juden von einer vollständigen Assimilierung der Juden an ihre Umgebung.
Karl Kraus ist 1899 aus der „jüdischen Kultgemeinschaft“ ausgetreten, er konvertierte im Jahr 1911 zum Katholizismus, sein Taufpate war in der Wiener Karls-Kirche der Architekt Adolf Loos. Kraus löste sich aber im Jahr 1922 wieder von der Kirche, wohl auch aus aktuellem Ärger darüber, dass in einer Salzburger Kirche weltliche Theateraufführungen stattfanden.
Dabei darf nicht vergessen werden, dass Kraus keineswegs nur der scharfe und streitbare Polemiker, er war durchaus hilfsbereit, unterstütze großzügig z.B. Autoren in finanzieller Not… (vgl. „Karl Kraus“ von Paul Schick, Rowohlt Monographien, 1978, S. 58).

3.

Das umfangreiche Werk von Karl Kraus hat seinen Mittelpunkt in der satirischen Zeitschrift „Die Fackel“, sie erschien von 1899 – 1936, seit 1911 mit dem Zusatz “Sämtliche Beiträge von Karl Kraus“. „Die Fackel“ wurde in unregelmäßiger Folge publiziert, war im Sinne des Gründers und dann einzigen Autors eine Art anti-journalistische Zeitschrift, also eine, die gegen alle sprachliche Oberflächlichkeit argumentierte und polemisierte, sie legte Korruption und Verblendung frei – im Unterschied zu den damals üblichen führenden Presseerzeugnissen.

4.
Trotz der Probleme und Irritationen zu Karl Kraus sind für uns zwei Aspekte seiner Publikationen wichtig: Es ist seine SPRACHKRITIK, die auch in seinen zahlreichen Aphorismen Ausdruck findet.
Und wichtig ist es für uns, auf das berühmte Theaterstück, die Tragödie in 220 (!) Szenen, mit dem Titel „Die letzten Tage der Menschheit“ (verfasst von 1915 – 1922)
hinzuweisen.

5.
Die Sprachkritik von Karl Kraus kann heute eine Anregung sein, kritisch mit dem eigenen Sprechen und dem Erleben der Sprache anderer umzugehen und zu einer neuen Wahrhaftigkeit des Sprechens und der Sprache zu finden, befreit von Floskeln und Schablonen.
Die folgenden Aphorismen von Karl Kraus sind entnommen: „Gemütlich bin ich selber“, Büchergilde Gutenberg, 2004. Die Seitenzahlen beziehen sich auf dieses Buch.

„Ich möchte mit der Umgangssprache nicht Umgang haben“. (Seite 81).

„ Mit Leuten, die das Wort èffektiv` gebrauchen, verkehre ich in der Tat nicht“ (S. 47).

„`Gottvoll` ist in mancher Gegend ein Superlativ von `komisch`. Ein Berliner, der eine Moschee betrat, fand diese gottvoll“ (S. 70).

„Nicht alles, was totgeschwiegen wird, lebt“ (S. 29).

„Am Chauvinismus ist nicht so sehr die Abneigung gegen die fremden Nationen als die Liebe zur eigenen unsympathisch“ (S. 23).

„Der Übermensch ist ein verfrühtes Ideal, das den Menschen voraussetzt“. (S. 22)

„Aussprechen, was ist – ein niederer Heroismus. Nicht dass es ist, sondern, dass es möglich ist: Darauf kommt es an. Aussprechen, was möglich ist!“. (S. 64)

„Meine Sprache ist die Allerweltshure, die ich zur Jungfrau mache“. (S. 63)

„Ein Übel gedeiht nie besser, als wenn ein Ideal davor steht“ (S. 77).

„Der Fortschritt macht Portemonnaies aus Menschenhaut“ (S. 60).

„Satiren, die der Zensor versteht, werden mit Recht verboten“ (S. 51).

„Sozialpolitik ist der verzweifelte Entschluss, an einem Krebskranken eine Hühneraugenoperation vorzunehmen“ (In: Karl Kraus, „Beim Wort genommen“,München, 1955, S. 70.)

„Der Unsterbliche erlebt die Plage aller Zeiten“ (ebd., S. 267).

„Die Sprache ist die Mutter, nicht die Magd des Gedankens“ (ebd. S, 235):

6.
Karl Kraus war überzeugt, dass sich schon in einem unauffälligen, „lockeren“, verschluderten Sprechen (und Schreiben), selbst von angeblichen Nebensächlichkeiten, etwas Übles, unbedingt Abzuwehrendes zeigt. Denn Sprache und Sprechen sind für ihn keine selbstverständlich wie automatisch laufende Aktivität, sie erfüllen keine äußere, diplomatisch – verschlüsselte Funktion. Sie sind als verstümmelte Formeln und ultra-kurze Phrasen nicht akzeptabel und des Menschen nicht würdig. In einer solcher Sprach – und damit Lebenspraxis wird nur Nebel verbreitet, und Herrscher wollen ihre Herrschaft etablieren. Karl Kraus will zu einer kritischen „Ehrfurcht vor dem Wort“ beitragen. Und die lebt von dem ständigen Zweifel an der Qualität des eigenen Sprechens.

7.
Die sozialen Medien heute sind bestimmt von ultrakurzen Informations- Fragmenten. Aktuell ist also – im Sinne von Karl Kraus – eine genau beobachtende Sprachkritik zu leisten, die etwa den Statements der PolitikerInnen gilt. Ein Beispiel die Floskel: „Das haben wir auf den Weg gebracht“. Eine solche „Info“ habe ich von einer so genannten „Spitzenpolitikerin“ in einem Interview von ca. 3 Minuten etwa 15 mal gehört (im Jahr 2024). Ihr fiel keine andere Sprache ein, um ihre politische „Aktivität“ präzise und umfassend mitzuteilen.
Mit dieser Floskel soll die dumpfe Ahnung geweckt werden, die Politiker hätten „etwas getan“, „etwas realisiert“, „etwas verändert“, „etwas reformiert“, sie hätten „ein Versprechen praktisch eingelöst“. Aber was passiert mit dem Projekt als einer Idee, die dann „auf den Weg gebracht“ wird und dort, auf dem Weg, vielleicht unerledigt liegen bleibt wegen der Allmacht der Bürokratie?
Immerhin wird das „Unwort des Jahres“ seit langem dokumentiert. Ein Beispiel: der Begriff „Kollateralschaden“. Er soll verschleiern, dass bei militärischen Attacken gegen einen Feind auch unschuldige Menschen, Zivilisten getötet werden. Wenn ein Politiker hingegen den Mut zur Wahrheit hätte und sagte: „Auch Zivilisten wurden getötet“ klingt dies verstörender und wahrhaftiger als zu sagen: „Es gab Kollateralschäden“. Es ist die Verwendung von Substantiven aus dem technischen Bereich, die das Unmenschliche verschleiern soll. „Kollateralschäden“ entstehen meist außerhalb der Verantwortlichkeit der Menschen.
Für das Ertrinken vieler tausend Flüchtlinge im Mittelmeer seit Jahren gibt es noch keinen verschleiernden, verharmlosenden, neutralisierenden Begriff. Vielleicht könnten – zynische – Politiker in ihrer Frechheit sagen: „Leider sind wieder viele Nichtschwimmer aus Afrika im Mittelmeer gescheitert“.

8.
Es gibt seit Jahrhunderten auch einen Verfall der religiösen Sprache: Man zähle nur einmal nach, wie oft etwa Papst Franziskus bei jeder kleineren oder größeren oder ganz großen Krise sich auf die Formel zurückzieht: „Ich werde für die Betroffenen beten“. Damit will er – in einem korrekten theologischen Verständnis – wahrscheinlich sagen: „Ich bin überzeugt, ich kann diese himmlische göttliche Macht durch meine Worte bewegen, alles zum Guten zu wenden.“ Man kann diese hilflose Frömmigkeit mit ihren floskelhaften Formulierungen durchaus Aberglauben nennen. Warum soll denn Gott höchst persönlich das Bitt-Gebet des Papstes erfüllen und nicht ein ganz anderes Gebet, etwa die Bitte des Putin – Freundes Patriarch Kyrill, Gott möge den Krieg Russlands zum Erfolg führen? Ob gegen den päpstlichen und überhaupt weit verbreiteten Aberglauben auch der Spruch gilt „Da hilft nur noch beten“, wäre zu prüfen. Oder ist Beten vielleicht doch das hilflose Schreien der armen Kreatur: des Menschen?

9.
„Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus, entstanden 1915 – 1922, als Antwort auf die Gräuel des 1. Weltkrieges.
Hier kann nicht das monumentale Drama „Die letzten Tage der Menschheit“ (220 Szenen, 500 Figuren, viele Schauplätze, viele aktuelle Zitate eingebaut…) angemessen beschrieben oder kritisch betrachtet werden. Es kann nur empfohlen werden, dieses vielschichtige Werk mit viel Geduld zu lesen oder Kurzfassungen zu hören… , um sich aus jeglicher Ignoranz oder der Oberflächlichkeit in der Wahrnehmung des Krieges überhaupt zu befreien.
Auch hier wieder werden von Karl Kraus kritische Bemerkungen zu den leeren Floskeln und Worthülsen hervorgehoben, etwa, heute noch üblich, „Der Krieg ist ausgebrochen“. Wie ein Unwetter also, wie ein von Menschen unabhängiges Naturgeschehen? Solche Sprache erzeugt Gefühle der Verantwortungslosigkeit bei den Menschen. Kraus kritisiert ideologische Phrasen, wie „deutsche Bildung“ oder „christliche Zivilisation“. Er sieht in der Presse, dem oberflächlichen, ideologischen Journalismus eine der Hauptgründe für den Krieg und die „letzten Tage der Menschheit“. Sie die Ideologie, in der Presse verbreitet, hat „unser Herz ausgehöhlt“ (Karl Kraus)

10.
Wichtiger scheint mir, sich der Tatsache zu stellen, dass dieses ungeheuer große Drama mit der Auslöschung der Menschheit endet. Man nennt dieses Ereignis populär „Apokalypse“.
Dieser Gedanke, dass die Menschheit sich selbst vernichtet, ist heute so fern ja nicht, auch wenn „die Menschheit“ dieses absolute Ende auch heute gern verdrängt … und sich mit der Floskel rettet: „Die Hoffnung stirbt zuletzt“. Den Wahrheit – Aspekt dieses frommen Wunsches hat noch keiner – Gott sei Dank – erlebt. Denn dann wäre die Katastrophe so total, dass die Menschen die Hoffnung verlieren und damit auch ihr geistiges und materielles Leben.

Anstelle dieses eher gedankenlosen frommen Wunsches „Die Hoffnung stirbt zuletzt“ kommt es darauf an, genau zu bestimmen: Wer denn den Menschen die Hoffnung nimmt! Wer denn die existentielle Aussichtslosigkeit betreibt oder fördert. Es läuft auf die Erkenntnis hinaus: Es gibt Verbrecher in der Politik, die der Menschheit diese letzte Hoffnung permanent zu nehmen versuchen, diese Kriegstreiber und absoluten Nihilisten und Freunde des Todes in Russland, im Nahen Osten, im Iran, in Nord-Korea und so weiter.

Die Hoffnung wird heute also „getötet“. Von Menschen wird Hoffnung als Lebenselixier zum Sterben gebracht, durch Politiker, auch durch solche in der demokratischen Welt, die die schon bestehende Klima – Katastrophe ein bißchen „bewältigen“ wollen. Immer im Interesse ihrer Lobby – Gruppe. Und gegen solche Politiker oder international agierenden Ökonomen können die Bürger in der verbliebenen kleinen demokratischen Welt doch etwas tun. Oder?
Das Drama „Die letzten Tage der Menschheit“ (Karl Kraus) könnte heute als Thema die letzten Tage der Menschheit meinen. Das zu sagen, hat nichts mit Pessimismus oder gar „Alarmismus“ zu tun. Dies ist eine Tatsachenbeschreibung.

11.
Das Drama endet mit dem Untergang der Welt. Gott, der Schöpfer der Welt, weist die Verantwortung für die „Apokalypse“ zurück, es war die Verblendung der Menschen, die entfesselte Unvernunft, die das definitive Ende bereitet. Gott sagt also in „Die letzten Tage der Menschheit“: „Ich habe es (das Ende der Menschheit) nicht gewollt“. Das heißt: Gewollt haben es Menschen, diese freien Wesen, die auch frei sind, um den Untergang zu wollen.

12.
Zum Schluss: Worte von Karl Kraus.

„Wo kommen all die Sünden nur hin, die die Menschheit täglich begeht? Sollten überirdische Wesen nicht finden, dass der Äther schon zum Schneiden dick sei?“ („Gemütlich bin ich selbst“, a.a.O., S. 83)

„ Meine Leser glauben, dass ich für den Tag schreibe, weil ich aus dem Tag schreibe. So muss ich warten, bis meine Sachen veraltet sind. Dann werden sie möglicherweise Aktualität erlangen“ (ebd., S. 37).

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

Wer aus der Kirchengemeinde austritt, wird zu einer Zahl in einer Statistik!

Informationen zur katholischen Gemeinde „St. Matthias“ in Berlin – Schöneberg
Ein Hinweis von Christian Modehn am 16.4.2024

Siehe auch den Hinweis zum Thema, publiziert am 29.5.2023: LINK:

1.
Religionsphilosophen interessieren sich auch für den religiösen Umbruch in diesem Land. Also für die Austritte aus den Kirchen, etwa aus der katholischen Kirche in Berlin. Und soziologisch und theologisch wichtig ist eigentlich immer die Frage: Wie geht die Gemeinde selbst mit den vielen „Ausgetretenen“ um: Interessiert sie sich noch ein bißchen für die einstigen Mitglieder oder sind sie der Gemeinde und dem Pfarrer – offen gesagt – schnurzegal: In diesem Ungeist werden die Ausgetretenen dann zur statistischen Zahl reduziert und „abgehakt“.

2.
Dieses in Berlin und in ganz Deutschland weithin „pastorale“ „Uns doch egal“ wird sich auf Dauer nicht halten lassen, wenn denn die Gemeinden in absehbarer Zeit dem zahlenmäßigen und deswegen finanziellen Verschwinden nahe sind … und die dann wirklich etwas armen verbliebenen afrikanischen oder indischen Pfarrer in Schöneberg und anderswo sich um einen Zusatzjob kümmern müssen. Dann erinnert man sich – hoffentlich schuldbewusst – an die Zeiten der Ignoranz gegenüber den „Ausgetretene“. Und auch das ist wahr:
Die aus Deutschland oder sogar aus Berlin stammenden katholischen Pfarrer sind in ca. 20 Jahren bis auf eine kleine Minderheit reaktionärer Priester – meist Neokatechumenale – ausgestorben.

3.
Wir haben am 29.5. 2023 einen Beitrag publiziert, speziell über diese katholische Gemeinde St. Matthias in Berlin – Schöneberg. Sie nennt sich allerdings klassisch „Pfarrei“, um nicht mit evangelischen „Gemeinden“ verwechselt zu werden, denn in einer „Pfarrei“ herrscht eben, der Name sagt es, der klerikale Pfarrer.
Zu unserem Beitrag : LINK https://religionsphilosophischer-salon.de/16579_austritte-aus-der-katholischen-pfarrei-st-matthias-in-berlin-schoeneberg-ein-beispiel-fuer-religioesen-wandel-in-deutschland_aktuelles

4.
In diesem Beitrag von 2023 haben wir eine Statistik publiziert über die Austritte von dortigen Gemeindemitgliedern aus dieser katholischen Orts – Gemeinde in Berlin – Schöneberg..
Aktuell wird nun im März 2024 eine neue Statistik vorgelegt:

Die „Pfarrnachrichten St. Matthias,“ Nr.1-2024, 71. Jahrgang, bieten auf Seite 40 diese Statistik zu den „Austritten“:

2018: 150 Austritte
2019: 207 Austritte
2020: 312 Austritte
2021: 297 Austritte
2022: 475 Austritte
2023: 411 Austritte

In den 6 Jahren von 2018 bis 2023 „gab es“ also insgesamt 1.852 Austritte aus der Gemeinde St. Matthias Berlin – Schöneberg.
In diesen Jahren fanden in dieser Pfarrei 28 Wiederaufnahmen in die katholische Kirche statt, offenbar bedingt durch Eheschließungen oder Berufsoptionen in katholischen Betrieben.
In diesen Jahren gab es dort 15 Jahren Konversionen zur Katholischen Kirche.

Man kann also sagen: 43 PLUS steht 1.852 MINUS an Gemeindemitgliedern gegenüber.

5.
Welche „glorreiche Zukunft“ dieser Pfarrei bevorsteht – die dabei durchaus typisch ist für die meisten anderen Pfarreien/Gemeinden im Erzbistum Berlin -, sollen Mathematiker genau berechnen, die dann bitte auch auf die Alters – und Sterbestruktur der Gemeinde beachten müssen.
Sozusagen über den mathematischen Daumen gepeilt, ist in 20 Jahren – zahlenmäßig – fast Schluss mit der Pfarrei St. Matthias. Für Orgelkonzerte und Ausstellungen kann die Kirche dann noch genutzt werden, falls der Staat Geld spendiert zum Erhalt, zu der einen Messe am Sonntagabend reist ein Priester (wahrscheinlich ein Inder) aus der Kathedralkirche St. Hedwig an.

6.
Um solche wissenschaftlich noch dringend zu erstellenden religionssoziologischen Prognosen sollte sich die Kirchenleitung kümmern. Dies macht sie aber nicht. Sie ist so gläubig, dass es immer wieder heißt: „Wird schon gut gehen“. Religionssoziologische Fakten und Prognosen ignoriert  diese Kirche.

7.
Dabei sind die personellen Veränderungen bemerkenswert: In der Groß – Pfarrei St. Matthias mit vier verschiedenen Kirchen und Gottesdienststätten ist noch ein einziger aus Deutschland (aus Münster) stammender Priester tätig, die anderen, jüngeren Priester kommen aus Indien, Ghana, Polen…Der aus Deutschland stammende Pfarrer ist 64 Jahre alt, zehn Jahre wird er wohl noch durchhalten…Dann kommt, wie schon heute, nur der „klerikale Ersatz“ aus den einstigen Missionsländern. Die Kirche in Deutschland tut so, als würden diese Priester dort nicht gebraucht. Aber diese Pfarrer aus den armen Ländern werden hier gut bezahlt, bringen also der armen Kirche dort auch etwas Geld. Und man verschleiert in Deutschland und ganz Europa den Fortbestand des Klerikalismus damit, dass man großspurig sagt: „Die einst Missionierten werden zu Missionaren hier. Ist doch wunderbar!“ Wirklich wunderbar??

8.
Denn es gibt doch noch hierzulande LaientheologInnen und auch andere interessierte Laien, Männer und Frauen, die gern „priesterlose“ Gemeinden leiten würden und selbstverständlich auch Eucharistie feiern könnten und sollten, wenn Rom dies denn zuließe. Aber indem man in Rom ständig betont: Die Eucharistiefeier ist der absoluteste Höhepunkt des katholischen Lebens und nur zölibatäre Priester können diesen absolutesten Höhepunkt zelebrieren, zementiert Rom ad aeternum die klerikale, angeblich zölibatäre Kirche. Das heißt: Erst wenn man aufhört, die Messe als den absolutesten aller Zentren der katholischen Praktiken zu verstehen, wird es eine Reform geben, die den Namen verdient. Oder man sagt richtig: Eucharistie kennen selbstverständlich auch Laien feiern.

9.
Hier aber wollten wir eigentlich nur auf die kalte Art hinweisen, mit der diese St. Matthias Gemeinde – und sicher viele andere – mit ein paar Zahlen mit ihren „Ausgetretenen“ umgeht. Kein Wort der Trauer, kein Wort des Dankes, dass „diese Leute“ so viele Jahre brav ihre Kirchensteuer zum Erhalt dieses klerikalen Systems bezahlt haben; keine Nachfrage nach den Motiven des Austritts…Nichts, gar nichts, wird erläuternd und bedauernd dazu publiziert, Diese Ignoranz ist, offen gesagt, human und christlich gesehen schrecklich. Und man wundert sich eigentlich, warum nicht noch viel mehr Katholiken ihre Kirchenmitgliedschaft, oft als so genannte „Karteileichen“, aufgebe. Karteileiche ist das gängige administrative Unwort für Katholiken, die zahlen, aber nichts – in der Sicht des Klerus – zählen.

10.
Ein Kirchen-Austritt aus dieser Gemeinde wird verständlich, wenn man sich das theologische Profil von St. Matthias anschaut, wie es sich nach außen darstellt: Nur einige Beispiele: Die Wochenzeitung „Tagespost“ (reaktionär katholisch aus Würzburg) wird selbstverständlich regelmäßig in der Kirche zum Verkauf angeboten, die Neokatechumenalen bieten Glaubenskurse an, etwa speziell für Männer, mit dem Thema „Als Mann und Frau schuf er sie“. Man bezieht sich auf einen bekannten Spruch aus der Bibel, um aus dieser rein faktischen Beschreibung von Zweigeschlechtlichkeit Homosexualität und homosexuelles Lieben abzuwehren…). Die umstrittene reaktionären “Pfadfinder Europas” haben in St. Matthias Fuß gefasst.
Im Pfarrnachrichten-Blatt zu Ostern 2024 schreibt Pfarrer I.R., Paul Berger über Ostern und die Auferstehung: „Ich freue mich, (im Himmel, post mortem) meine Eltern, meine Verwandten, meine Freunde wiederzusehen und ewig mit ihnen in Gemeinschaft zu leben. Und ewig ist nicht langweilig, zwei Verliebte, die Zeit miteinander verbinden, langweilen sich nicht“.
Tiefer kann das theologische Niveau eines Hochwürden i.R. nicht abrutschen: Und das wird auch noch publiziert! Hat dieser Herr Pfarrer nie drüber nachgedacht, welcher Symbolsprache sich die Berichte von der Auferstehung Jesu bedienen? Ist er wirklich purer Fundamentalist hinsichtlich der „leiblichen Auferstehung“? Offenbar!

11.
Was spricht eigentlich dagegen, wenn bei diesem Aberglauben jemand behauptet: „Im Himmel ist ewig Jahrmarkt.“ Meine Frage wäre dann nur.: „Immer am Wochenende? Und ist Petrus, der alte Fischer, auch irgendwo dabei? Und wo findet nachmittags die wunderbare Brotvermehrung statt?“ Vor allem: Wo treffe ich denn in himmlischen Weiten meine Tante Olga?

Die Berliner, nicht nur in Schöneberg, haben ein so unsägliches theologische „Niveau“ nicht verdient…Kein Wunder also, wenn sie austreten und diesen fundamentalistisch gläubigen Katholiken ihren fundamentalistischen Glauben überlassen. Ein paar Jahre wird s ja noch „klappen“ mit der alten Masche.

12.
Dass diese katholische Gemeinde mitten im „Gay-Bezirk“ Berlins keinerlei Inkulturation mit ihren Bewohnern und Gay-Katholiken pflegt und praktiziert, ist bekannt, darauf habe ich in dem ersten Beitrag schon hingewiesen. Und von der nun möglichen Segnung homosexueller Paar auch in dieser St. Matthias Kirche habe ich bisher noch nichts gelesen.
Diese Pfarrei lebt irgendwie in der Hinsicht auf dem Mond. Und mißachtet gern die Grundlagen moderner Theologie.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Gegen die Klerus-Herrschaft und den kirchlichen Aberglauben: Kants vernünftige Religion.

Die Erinnerung an Kant – anläßlich seines 300. Geburtstages – muss eine Provokation bleiben.
Ein Hinweis von Christian Modehn am 14. 4. 2024.

Dieser Beitrag plädiert im Sinne Kants für einfache, dogmatisch reduzierte, die ethische Praxis betonende christliche Kirchen. Das Projekt erfordert einen radikalen Umbau und Abbau der Dogmatik, einen Verzicht auf Hierarchien, es geht darum, dass Menschen ihre individuelle Verbindung mit Transzendenz, dem Göttlichen, wieder einfach leben können.

1.
Es gibt einige Erkenntnisse des Philosophen Immanuel Kant, die bleibend das „Wesen“ des Menschen aussagen, Erkenntnisse, die das Dasein auch heute nicht nur inspirieren, sondern leiten sollten. Kant ist ein Philosoph, der zwar, wie alle anderen Philosophen auch, geschichtlich geprägt ist, der aber universell geltende Wahrheiten formulierte.

2.
Kants Erkenntnisse wurden anläßlich seines 300. Geburtstages am 22.4.2024 tausendfach, oft verkürzt, popularisiert, unters „Volk gebracht“. Aber ist diese journalistische Pflichtübung vorbei, ist dann auch die Erinnerung vorbei? Das darf im Falle Kants nicht sein.

3.
Wir behaupten: Man muss damit rechnen, dass es philosophische Erkenntnisse gibt, die jeder und jede verstanden haben sollte, sie förmlich im Geist stets präsent haben müsste -zur Orientierung im privaten, gesellschaftlichen und religiösen Leben. Diese Erkenntnisse gehören zur geistigen Verfassung der Menschen.

4.
Dabei gibt es keinen Zweifel: Kant hat in seiner Zeit (im 18. Jahrhundert, in Königsberg) auch falsche Einschätzungen publiziert, auch darüber wurde anläßlich seines 300. Geburtstages gesprochen. Und manchmal wurde dem Vorurteil Raum gegeben: Wenn Kant doch vieles aus heutiger, aus ethischer Sicht Problematisches, sogar Falsches sagte: Dann brauchen wir uns um ihn eigentlich nicht weiter zu kümmern. Genannt wurden als Verfehlungen Kants ein gewisser kollonialistischer Ungeist, eine Abwertung de Judentums, eine Respektlosigkeit gegenüber außereuropäischen Völkern, das absolute Verbot – auch im Notfall – zu lügen…

5.
Aber die besten kritischen Kenner der Philosophie Kants (wie Marcus Willaschek) betonen: In dieser Hinsicht bleibt Kant unterhalb seines eigenen, von ihm sonst überzeugend dargestellten ethischen und intellektuellen Niveaus. Das heißt: Es gibt „trotz dieser begrenzten Verirrungen“ bleibende wahre Erkenntnisse Kants. Zum Beispiel: Kants „Kategorischer Imperativ“.

5.
Über die Formulierungen des Kategorischen Imperativs wurde auch auf dieser Website mehrfach gesprochen.
Der Kategorische Imperativ im Sinne Kants ist ein bleibender Maßstab in der praktischen Lebensgestaltung: Darf ich diese meine freie Tat begehen, ist sie gut oder ist sie schlecht? Zur Antwort muss ich meine Entscheidung mit der Frage konfrontieren: Kann meine Entscheidung ein universelles Gesetz für alle anderen Menschen werden?
Nur ein Beispiel: Ich will unbedingt mit einem Diktator und Kriegstreiber befreundet bleiben: Kann diese meine Entscheidung allgemeines Gesetz für alle werden? Können also alle Menschen mit Diktatoren und Kriegstreibern befreundet sein, selbst wenn sie ihren Diktator-Freund auf seine abzulehnende Haltung deutlich hingewiesen haben? Die Antwort ist eindeutig: Wenn alle Menschen mit verbissenen Kriegstreibern und Diktatoren befreundet sind, dann ist die leitende Idee der Menschenrechte, der Demokratie und Friedensordnung definitiv zerstört. Das darf nicht sein, also darf auch meine genannte Freundschaft nicht sein.

6.
Für den Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin sind naturgemäß Fragen zu „Religion und Philosophie“ bzw. „Kirchen und Philosophien“ von besonderem Interesse. Darum sind für uns auch religionsphilosophische und kirchenkritische Erkenntnisse Kants von großer Bedeutung, das gilt für alle spirituell Interessierten.
Wir beziehen uns auf das zu Kants Zeiten viel beachtete Buch Kants „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (von1793). Die Zitate beziehen sich auf die Ausgabe des Felix Meiner Verlages, Hamburg, 2003.

7.
Für Kant ist evident: Auch die allgemeine Vernunft muss Religion und kirchliches Leben bestimmen. Was denn auch sonst? Etwa ein jeweils subjektiver Wunderglaube oder irgendwelche Einsichten von fundamentalistischen Scharlatanen oder dogmatische Behauptungen von Päpsten – etwa zum Frauenpriestertum?

8.
Dabei muss man beachten: Die Vernunft, die Religionen und Kirchen kritisiert, ist für Kant göttlichen Ursprungs. Der menschliche Geist ist für ihn Gabe der göttlichen Schöpfung. Es gibt also eine „in aller Menschen Herz eingeschriebene Religion“ (S. 213). Und diese kann der Mensch mit seiner eigenen Vernunft hervorbringen. Kant zeigt darüber hinaus, dass zentrale Weisungen und Grundsätze des Neuen Testaments, bezogen auf den „Lehrer“ (S. 213) Jesus Christus, allen Menschen „durch ihre eigene Vernunft faßlich und überzeugend vorgelegt“ werden können (S. 218).

9.
Um nur einige zentrale Erkenntnisse Kants in dem Zusammenhang – für weitere Studien und Lektüren – zu erwähnen:
Nicht die Erfüllung von religiösen, kirchlichen Vorschriften lehrt Jesus Christus, sondern die Pflege der „moralischen Herzensgesinnung“ (S. 214). Nicht gottesdienstliche Handlungen können den Menschen von den Verfehlungen an seinem Mitmenschen befreien, sondern nur die praktische Wiedergutmachung des Unrechts. Nicht das „süße Gefühl der Rache“ darf vorherrschen, sondern die Duldsamkeit…Dies sind die Weisungen des Lehrers Jesu von Nazareth. Es ist die Ethik und die Erfüllung der ethischen Pflichten, die den wahren Dienst an Gott, den Gottesdienst, bestimmen. Das ist das reliöse Zentrum im Denken und Leben Kants.

10.
Kant nennt sehr modern, man möchte sagen schon kapitalismuskritisch, den „Eigennutz, den Gott dieser Welt“ (S. 217), dem so viele Menschen dienen. Davon muss der Mensch sich befreien, um sein wahres Menschsein zu entdecken.

11.
Kant weiß als Philosoph, dass es eine göttliche Wirklichkeit gibt. Er betont aber: Gott kann nicht wissenschaftlich bewiesen werden, wenn man denn wissenschaftlich im Sinne der Naturwissenschaften versteht. Insofern gibt es für Kant auch keine „Gottes – Beweise“. Aber die göttliche Wirklichkeit muss gedacht werden als Idee, diese göttliche Idee ist denknotwendig, will man die Existenz des Menschen umfassend verstehen. Weil der Mensch Anteil hat am Ewigen, am göttlichen Geist, kann er auch hoffen, über den Tod hinaus auch auf nicht zu definierende Weise irgendwie „fortzubestehen“.

12.
Die wahre alleinige und universale Welt – Religion enthält „solche praktischen Prinzipien, deren unbedingter Notwendigkeit wir uns bewusst werden können“, diese Prinzipien sind „durch reine Vernunft, nicht empirisch, offenbart“ (S. 226). Es sind die Prinzipien, dass Liebe vernünftiger ist als Hass, Brüderlichkeit wichtiger als Beharren auf nationaler Identität.

13.
Es gibt Statuten, Verfügungen, Wahrheiten der Kirche: Diese sind aber übetrhaupt „nicht wesentlich zum Dienste Gottes“ (226). Wer hingegen diese Statuten, Dogmen, der Kirche zur „Bedingung des göttlichen Wohlgefallens macht“, folgt einem „Religionswahn“. Dessen “Befolgung ein Aberglaube ist, d.h. eine nur vermeintliche Verehrung Gottes“. (226-227).

14.
Es ist bloßer „Religionswahn und Aberglaube“ zu glauben, als Mensch für ein gottgefälliges Leben noch etwas anderes und mehr zu tun zu müssen, als den guten Lebenswandel zu praktizieren. (230). In der frommen Aufopferung, der Askese, „im Eremitenleben, Mönchsdasein“, bringe der Mensch gerade die einzig bei Gott zählende erforderliche moralische Gesinnung nicht auf. Es gibt also für Kant NUR „die Religion des guten Lebenswandels als das einzige religiöse Ziel der Menschen“ (236). Solange die Kirchen mit ihren eigenen Lehren noch bestehen, muss die Vernunftreligion allmählich diesen Kirchenglauben durchdringen und überwinden. (ebd.)

15.
Die universelle Vernunftreligion ist vergleichbar mit einer „unsichtbaren Kirche, die alle Wohldenkenden in sich befasst, sie ist die wahre allgemeine Kirche“ (238). Aber… angesichts der Macht der Kirchen und des Klerus ist diese alle Menschen umfassende Kirche noch eine Idee, eine Forderung.
Nebenbei: Der große katholische Theologe Karl Rahner hat diese Idee Kants von der unsichtbaren Kirche auf seine Art aufgegriffen, als er von den „anonymen Christen“ sprach, also von der theologischen Einsicht, dass eigentlich die universale göttliche Wirklichkeit im Sinne der Christen eben auch universal alle Menschen erreicht…

16.
Wenn in den Kirchen Gesetze, Gebote, Dogmen, veräußerlichte religiöse Praxis (Prozessionen…) vorherrschen, dann sind in dieser Kirche die, wie Kant sagt, die „Pfaffen“ an der Macht. In diesen Pfaffen – Kirchen gelten nicht die Prinzipen der Sittlichkeit (242). Nebenbei: Man denke aktuell an den massiven sexuellen Missbrauch durch Kleriker und Pastoren…Eine solche Pfaffen – Kirche ist für Kant, so wörtlich, „despotisch“ (243), weil nur der Klerus das Glaubensleben bestimmt und „befiehlt“ (243). Dieser Klerus bestimmt dann als Herrscher über die Laien, also auch über die Politiker, den Staate (ebd.).Das ist ein unvernünftiger Zustand! Das ewige Kirche – Staat – Problem klingt hier an.

17.
Religiöse Praxis in den Kirchen, die als gebotene fromme Übungen verstanden wird, deutet Kant als „Frondienst” (250).
Beten darf kein Wünschen Gott gegenüber sein, Beten soll verstanden werden als Wunsch, Gott in der ethischen Praxis wohlgefällig zu sein (S. 264). Auch die Teilnahme an Gottesdiensten, Messen, ist nur ein Wahn, wenn denn die Teilnahme an den Gottesdiensten als Mittel verstanden wird, dadurch Gnade bei Gott finden zu wollen (S. 269).

18.
Das Buch „Die Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft“ endet eher skeptisch, pessimistisch. „Es wird geklagt, dass Religion noch immer so wenig zur Besserung der Menschen beiträgt“ (273), dieser Klage schließt sich Kant an und nennt auch den entscheidenden den Grund: Religion und Kirche werden immer noch nicht als Institution zur Förderung des einzig entscheidenden moralisch guten Lebenswandels verstanden…

Kant als Lehrer der Weisheit: LINK

Hat Kant die Metaphysik vernichtet? LINK

Ein Hinweis auf das neue, wichtige Kant – Buch von Marcus Willaschek:  LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Vom Geschmack der Vernunft. Ein Salongespräch im Hause Immanuel Kants in Königsberg

Immanuel Kant ist bekannt für sein höchst anspruchsvolles Werk über menschliches Erkennen und vernünftiges Handeln. Doch der Philosoph der Aufklärung führte auch ein gastfreundliches Haus. Der Denker, der am 22.04.1724 in Königsberg geboren wurde, war ein Freund kritischer Dispute, am liebsten in Gesellschaft bei gutem Essen und Wein. Leidenschaftlich verteidigt er z. B. die Revolution in Frankreich.

Zu einem ungewöhnlichen Mahl hat Kant heute Philosophen und Theologen eingeladen. Sie wollen wissen, was menschliche Freiheit eigentlich bedeutet oder „vernünftige Religion“. Auch eine andere Idee des Gastgebers wird zum Tischgespräch: Ist eine universale Friedensordnung möglich? Ein – auch unterhaltsames – Salongespräch mit Immanuel Kant anlässlich seines 300. Geburtstags.

“Vom Geschmack der Vernunft. 
Tischgespräche im Hause Immanuel Kants”


Eine Ra­dio­sen­dung von Christian Modehn am 21.4.2024 um 9.00 Uhr, RBB Radio 3. 


LINK
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Russisch – orthodoxe Kirche noch immer Mitglied des “Weltrates der Kirchen” (ÖRK).

Eine Notiz zur offenbar ewigen Geduld des ÖRK mit dem Kriegstheologen Patriarch Kyrill I.

Von Christian Modehn am 12.4.2024

1.
Der eigentlich angesehene Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) in Genf hat jetzt den russisch – orthodoxen Patriarchen Kyrill I. von Moskau ein bißchen kritisiert: Er solle doch bitte nicht den Krieg Putins als „heiligen Krieg“ bezeichnen. LINK.

2.
Wie nett, wie vorsichtig, diese Äußerungen; wie immer, wenn der ÖRK etwas gegen diesen Ideologen Putins, den Patriarchen Kyrill I., äußert. Kyrill war einst wie Putin Mitarbeiter des kommunistischen KGB. Alte Freunde also.

3.
Wir wiederholen uns seit Monaten: Der Ökumenische Weltrat der Kirchen (ÖRK) hat nicht die Kraft, nicht den Mut, nicht die Einsicht… endlich diese sehr überwiegend Putin-bestimmte Kirche, also die Russisch – orthodoxe Kirche, als Mitglied aus ihrem Weltrat der Kirchen rauszuschmeißen, und zwar solange Putin diesen Krieg führt und sein Ideologe Kyrill I. Kriegerisches und Unsinniges und theologisch völlig Verfehltes, Perverses, sagt.

4.
Es wird zurecht immer wieder – auch in Deutschland – betont: Mit bestimmten Rechtsradikalen kann die kleine, demokratisch verbliebene Welt nicht mehr reden, diese Leute seien eben total dialogunfähig, lernunfähig. Das ist ein trauriges, aber realistisches Eingeständnis der Demokraten.

5.
Aber der ÖRK spricht immer noch von Dialogen mit dem Ideologen Kyrill I. Dabei sollte der ÖKR doch mal testen, was denn passiert, wenn Patriarch Kyrill und seine absolut mehrheitlich auf seiner Seite stehenden Kirche aus dem ÖRK ausgeschlossen wird. Zumindest hätte man dann in Genf das Bewusstsein, das ethisch und theologisch absolut Erforderliche getan zu haben.
Warum verhängen denn die demokratischen Sanktionen gegen die Kriegstreiber und Verbrecher in Russland? Weil Strafe sein muss gegen Kriegstreiber.

6.
Warum bleibt der ÖKR immer noch russlandfreundlich und tatenlos? Der Eindruck könnte entstehen, als sei diese ethisch wie theologisch verrückte Position Kyrills doch auch eine mögliche christliche, ökumenische Position.
Nur ein Rausschmiss des Patriarchen und seiner Kirche schafft Klarheit. Offenbar sind doch alle (ja welche und wie viele und wie oft eigentlich?) Dialogbemühungen vonseiten des ÖRK in Genf ergebnislos gewesen.

7.
Die Frage sollte diskutiert werden: Hat denn dieser Kyrill, der schon seit Jahrzehnten, auch in anderen klerikalen Funktionen, in diesem ÖRK agiert, nichts, aber auch gar nicht gelernt bei seinen theologisch doch wohl inspirierenden Aufenthalten in Genf und den ÖRK-Weltkonferenzen? Offenbar hat er gar nichts gelernt, vielleicht waren alle diese Konferenzen in bestimmter Hinsicht zu moderat.

8.
Nebenbei: Der heutige Generalsekretär des ÖRK, Pastor Jerry Pillay, stammt aus Südafrika, und die Politik seines Landes ist insgesamt eher russlandfreundlich und damit auch putin-freundlich. Ein delikates Thema? LINK

Und bisher kaum beachteter Hintergrund zum Thema: LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Entspricht es der Menschenwürde, mit einem Diktator und Kriegstreiber befreundet zu sein?

Die 18. der “unerhörten Fragen”.

Zugleich ein Beitrag zur aktuellen politischen Anwendung von Kants „Kategorischem Imperativ“.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 9.4.2024. “Es geht doch dabei nicht um eine moralische Frage !!!”  Doch, natürlich…

1.
Unter welchen Bedingungen darf ich als Demokrat, der universell geltenden Menschenwürde entsprechend, mit einem Diktator und Kriegstreiber (oder auch auch Verbrecher, Mafioso etc…) befreundet sein?

2.
Vorausgesetzt, Freundschaft ist dabei ein intensiveres geistiges Einvernehmen mit einer anderen Person als eine oberflächliche „Bekanntschaft“ mit irgendjemandem.

3.
Dann kann die Antwort auf diese Frage nur heißen: Diese Freundschaft sollte alles daran setzen, den Diktator, den Kriegstreiber usw. von seinem inhumanen Irrweg zu befreien. Und zwar möglichst umgehend und definitiv und objektiv kontrollierbar.

4.
Sollte aber diese Überzeugungsarbeit zum ethisch guten Leben gegenüber dem Diktator – Freund, Kriegstreiber – Freund nicht gelingen: Dann soll ich, soll jeder,  diese Freundschaft aufkündigen, mindestens nach einigen Monaten der Geduld und „Wartezeit“. Freundschaften haben im Unterschied zu „Ehe – Verträgen“ die Eigenschaft, sofort – auch einseitig – kündbar zu sein.

5.
Es kann aber auch sein: Der besagte Freund des Diktators denkt selbst so wie sein Diktator – Freund, und dabei nur an den eigenen riesigen materiellen Profit: Und dieser sich nach außen so human zeigende Freund verschweigt diese seine Interessen raffiniert – diplomatisch und in der Öffentlichkeit blasiert: Dann muss dieser Zusammenhang eigens öffentlich freigelegt und analysiert werden. Denn dann lässt der Freund die universal geltenden Menschenwürde de facto auch für sich selbst nicht gelten, er entzieht sich dann selbst – wie sein Freund, der Diktator – den universal geltenden moralischen Prinzipien. Wen interessiert das noch?

6.
Diese Haltung wird immer dann sichtbar, wenn diese Leute, also etwa diese „Freunde“, die Geltung moralischer Prinzipen für sich selbst abweisen und Moral im allgemeinen lächerlich machen, und so tun, als wäre Moral immer nur spießige Sexual – Moral. Und für sie gelte Moral nicht! Damit verabschieden sich diese Leute aus der humanen Menschengemeinschaft, die ohne universell geltende Normen nicht (über)leben kann. Dass diese Weltordnung heute zerbricht, liegt an der egoistischen Ignoranz derer, die universell geltende humane Moral für sich selbst ablehnen.

7.
Diese selbstverständlich (!) nur sehr allgemein formulierte (!) unerhörte Frage findet eine Antwort in einer Formulierung Kants über den von ihm entdeckten universal geltenden „Kategorischen Imperativ“: „Handle nur nach derjenigen Maxime (also deinem Grundsatz fürs Leben), durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“

Konkret übersetzt heißt diese gültige Erkenntnis Kants: Der Freund eines Diktators kann niemals – falls Vernunft beim Freund vorhanden ist – annehmen, dass Freundschaft mit einem Diktator von allen Menschen als Lebens- Maxime gelebt werden sollte.

Denn dann würde diese Welt in viele egoistisch fundierte Diktatoren – Freundschaften versinken und sich selbst zerstören. Auf diesem Weg als Abschied von der Demokratie sehen leider manche Beobachter diese heutige Entwicklung der Welt, besonders, wenn man an die immer noch unterstützenden Freundeskreise der hier nur selbstverständlich philosophisch – abstrakt genannten Freunde von Diktatoren etc. denkt.

8.

Es bedarf wohl keiner ausführlichen Erläuterung: Die ökonomischen Beziehungen demokratischer Staaten mit Regimen, die nicht die Menschenrechte respektieren, (Öl produzierende Staaten etwa), sind überhaupt keine Beziehungen von Freunden. Diese wirtschaftlichen Beziehungen sind keine Freundschaften, sondern einzig rechtlich gestaltete Handelsbeziehungen. Bei denen Demokraten trotzdem alles daran setzen sollten, dass Menschenrechte in den genannten Staaten, in vollem Umfang respektiert werden.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Papst Franziskus erzählt so einiges aus seinem Leben und will das Papsttum als “absolute Monarchie” abschaffen?

Warum einige Themen seines Buches „Leben“ dennoch wichtig sind.
Ein Hinweis von Christian Modehn am 2.4.2024

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Ergänzung am 5.4.2024: Wer sich mit den vielen Stellungnahmen, Büchern, auch der Autobiographie von Papst Franziskus befasst, hat es schwer: Nach der hier vorgestellten Autobiographie hat der Papst gleich schon wieder ein Interviewbuch veröffentlicht, meldet der BR am 5.4.2024: Der spanische Titel “El Sucesor”, die Fragen stellte Javier Martinez-Brocal, der als Journalist und “Vatikanologe” seine Ausbildung an der bekannten “OPUS-Dei -Universität” in Pamplona, Spanien erhielt. Martinez Brocal arbeitet für die bekannte sehr katholische und sehr konservative (PP- Partei) spanische Tageszeitung “ABC”. In diesem Buch “El Sucesor” LINK rechnet Papst Franziskus mit Benedikt XVI. Privatsekretär Erzbischof Georg Gänswein ab, lobt – wider Erwarten? – Ex-Papst Benedikt XVI, der sich bekanntlich als unmittelbarer Nachbar von Franziskus im Vatikan eingenistet hatte. Das Buch “El Sucesor” ersxcheint in dem großen Verlag Planeta, der auch über Bücher des Opus Dei Gründers veröffentlicht…LINK

Man darf fragen: Ist sich der angeblich so progressive Papst Franziskus bewusst, dass er sich mit diesem Buch dieses Journalisten in diesem Verlag in sehr konservative Kreise begibt, die dem OPUS DEI  nahestehen? Braucht er nun sogar Hilfe vom Opus Dei und einer der PP – Partei (gegen Ehe für alle, absolut gegen Schwangerschaftsabbruch etc.) nahestehenden Zeitung (ABC)?

Jedenfalls gilt: Die von Papst Franziskus früher schon genannten üblen “Schlammschlachten” im Vatikan gehen also nun auch von seiner päpstlichen Seite in aller Öffentlichkeit jetzt weiter. Ein bißchen wie in der Politik Argentiniens, damals wie heute, oder?
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1.
Einige Journalisten haben das neue Buch von Papst Franziskus mit dem Titel „Leben“ eine Autobiographie genannt. Für einen solchen Anspruch ist das vorliegende Buch wahrscheinlich nicht umfangreich genug, es hat nur 272 Seiten. Der Untertitel des international verbreiteten Werkes ist: „Meine Geschichte in der Geschichte“. Der Papst versucht also, in persönlicher Erinnerung an einige wichtige Ereignisse seine Sicht der erlebten Geschichte mitzuteilen. Geboren wurde Jorge Mario Bergoglio am 17. Dezember 1936 in Argentinien. Er ist Papst seit März 2013.

2.
Die LeserInnen sind wohl erstaunt, in welcher Ausführlichkeit sich Papst Franziskus in dem Buch seiner Jugendzeit zuwendet und wie bewegt er seine Meinungen über den (argentinischen) Fußball mitteilt. Offenbar will der Argentinier Papst Franziskus erneut seine oft bezeugte Nähe zum einfachen Volk, zu den eher ärmeren Leuten, ausdrücken. Die päpstliche Erinnerung an den Fußball mag zwar menschlich sympathisch sein, aber es gibt für einen Papst in einer „Autobiographie“ vielleicht dringendere Themen.

3.
Dennoch werden Historiker dieses Buch unter den vielen anderen immer wieder neuen Publikationen, Enzykliken und Interviews mit Papst Franziskus beachten müssen.

4.
Zunächst sind zwei eher beiläufig mitgeteilte Aussagen sehr erstaunlich:
Papst Franziskus äußert sich zur Psyche vieler Argentinier: „Anfangs begeistert man sich für etwas, kommt dann aber aus Mangel an Durchhaltevermögen nur mühsam bis ans Ende..Uns Argentiniern fehlt das Durchhaltevermögen nicht nur beim Fußball, sondern im täglichen Leben. Bevor wir etwas zu Ende führen, trödeln wir zu lange herum und erzielen deshalb vielleicht nicht das gewünschte Ergebnis“ (Seite 122).
Die Leser, zumal in Deutschland, denken bei diesen Worten an den – gelinde gesagt – sehr „mühsamen“ Umgang des Papstes mit dem „Synodalen Weg“ in Deutschland oder sie denken an des Papstes Nachlässigkeit, mit der er die „Causa Kardinal Woelki“ seit Jahren verschleppt.
Der Papst machte sich selbst aber etwas Mut, wenn er diesen Gedanken abschließt: „ Zu guter Letzt schaffen wir es zum Glück aber doch“ (ebd). Ein schwacher Trost… für deutsche Katholiken.

– Erstaunlich eine weitere, eher nebenbei formulierte Aussage von Papst Franziskus, die eigentlich, wenn man sie ernst nimmt, zur Abschaffung des Papsttums führen müsste: Auf Seite 255 heißt es: „Es stimmt, dass der Vatikan die letzte absolute Monarchie in Europa ist, und dort werden in seinem Inneren Grabenkämpfe ausgefochten und Hofintrigen gesponnen. Doch das müssen wir dringend überwinden“. Müssen “wir“ also die „Grabenkämpfe“ des vatikanischen klerikalen Beamtenwesens überwinden oder müssen wir sogar die absolute Monarchie abschaffen? Das bleibt in der Aussage des Papstes offen. Die „absolute Monarchie“ ist ja nichts anderes als die Wahlmonarchie des alle demokratischen Gewalten auf sich vereinigenden Papstes. Für diese Interpretation scheint zu sprechen, dass ein paar Zeilen weiter (S. 255) der Papst von den abzulehnenden „Zeiten eines Papst – Königs, einer Monarchie“ spricht. Man darf sich fragen, ob Papst Franziskus eigentlich weiß, was er da so alles fordert. Angeblich hat er alle seine Worte gut bedacht in diesem Buch! Siehe Nr. 13 in diesem Hinweis.

Man fragt sich weiter, ist sich Papst Franziskus der Konsequenzen seiner theologisch richtigen, aber eher nebenbei formulierten Aussage bewusst? Er will wohl – endlich – das Papsttum oder mindestens diese Form des Papsttums abschaffen! Nur ein Vorschlag: Ein modernes Papsttum der katholischen Kirche könnte sich ja aus mehreren gleichberechtigten Patriarchen etwa in Rom, Sao Paulo (Brasilien), Kinshasa und Seoul usw. gestalten…

5.
Diese Aussage „Papsttum ist keine absolute Monarchie“ (also vielleicht doch ein bißchen Demokratie) steht in einem gewissen Widerspruch zu der Aussage des Papstes in selben Buch: „Die Kirche ist doch, wie ich häufig genug sage, kein Parlament“ (S. 64). Also keine Demokratie. Aber auch keine Monarchie. Wieder eine offenbar schnell formulierte Aussage…

6.
Wenn HistorikerInnen und TheologInnen und unabhängige Katholizismus – ForscherInnen eines Tages das theologische Profil von Papst Franziskus kritisch fundiert herausstellen: Dann werden sie von diesen Themen sprechen müssen, das ist jetzt schon sicher:

– Die ausgeprägte und sehr intensive Verehrung Marias, der Mutter Jesu, die Papst Franziskus oft als „Gottes-Mutter“ bezeichnet. Sogar die volkstümliche Verehrung „Maria als der Knotenlöserin“ (in Augsburg ursprünglich verehrt) findet in dem Buch wieder eine Bestätigung. Papst Franziskus mag zwar in seiner Sorge um Arme und Flüchtlinge unter den Päpsten vorbildlich sein, er ist in seinem theologischen und spirituellen Denken konservativ. Man lese etwa S. 123: „Maria und ihr Sohn Jesus (in dieser Reihenfolge formuliert !, C.M. ) müssen immer an erster Stelle stehen“. Und S. 73: „Ich betete zur Muttergottes“ . Und auch der eher obskure Marien-Wallfahrtsort Fatima (Portugal) wird von dem Jesuiten – Papst gelobt und geliebt (S. 153). Manchmal fragt man sich, ob nicht Jorge Bergoglio besser in den Orden der Maristen oder Marianisten als in den Jesuiten – Orden eingetreten wäre.

Nebenbei: Bekanntlich sind die Jesuiten einem besonderen Gehorsam dem Papst gegenüber verpflichtet! Man spricht von dem “vierten Versprechen bzw. Gelübde (neben Armut, Ehelosigkeit und Gehorsm). Welchem Papst gehorcht dann aber besonders ein Papst, der selbst dem Jesuitenorden angehört? Hat der Jesuit Papst Franziskus vielleicht noch – unbewusst? – dem Papst emeritus Benedikt XVI. gehorcht? Und fühlte sich Papst Franziskus erst richtig frei, als Benedikt XVI. verstorben war? Und gehorcht Papst Franziskus sozusagen jetzt seinem “inneren Papst”, “nur noch” seinem Gewissen? Eine interessante Frage…

Ein weiteres Thema:
Die oft im Buch bekundete Liebe zum Gebet, zum Bittgebet und damit zur Bitte um Wunder, etwa, dass doch Christus (oder auch Maria) eingreifen möge und die Wünsche des Glaubenden (Papstes) erfülle. Wer die letzten Predigten desPapstes etwa im März 2024 gelesen hat: immer wird das Gebet als DIE Lösung beschworen, als die Lösung der Katholiken im Krieg, in Konflikten, Katastrophen usw. Als würde nicht besser eine konkrete, differenzierte politische Analyse etc. wirksam weiterhelfen. Diese totale und ständige Überbetonung des Gebets als tatsächloiches Wundermittel in allen Konflikten kann man theologisch nicht anders als Aberglauben bezeichnen. Der Putin – Freund Patriarch Kyrill betet auch für den Frieden aber als Sieg Putins; reaktionäre Katholiken in den USA beten für den baldigen Tod von Papst Franziskus; Evangelikale dort beten für den Sieg von Donald Trump; militante Gegner jeglicher Abtreibung beten für die „Mörder-Frauen“ etc. Wie soll der „liebe Gott“ da noch alle Gebets – Wünsche sortieren und gerecht beantworten? … Diese naive Bettelei bei Gott ist in Zeiten reflektierter Spiritualität nicht ernst zu nehmen. Ein Papst, der doch irgendwie ahnt, was beten theologisch heute bedeuten könnte, sollte etwa öffentlich sagen: Liebe Leute, denkt mehr nach, meditiert, handelt politisch im Sinne der der Menschenrechte, vertraut euch einem letztlich tragenden Sinn – Grund an…

Ein weiteres Thema:
Palast Franziskus wohnt bekanntlich nicht im prachtvollen und „pompösen”, wie er sagt, „Apostolischen Palast“ wie seine Vorgänger! Mit der interessanten Begründung: „Hätte ich mich entschieden, dort zu wohnen, hätte ich vermutlich über kurz oder lang einen Psychiater gebraucht!“ (S. 221). Darf man daraus schließen, dass eigentlich die Vorgänger – Päpste, die dort viele Jahre wohnten, wie Johannes Paul II. oder wie Papst Benedikt XVI., einen Psychiater vielleicht brauchten und sich dessen Hilfe erfreuten?

Mit der nun von Papst Franziskus erlaubten bescheidenen Segnung von Homosexuellen Paaren wird selbstverständlich NICHT eine Ehe für Homosexuelle angedacht oder gar gefeiert. Darauf legt der Pontifex Maximus wert! Denn die Homosexuellen bleiben ALS Homosexuelle in der Sicht des Papstes Sünder (S. 256, 258), dies ist ein theologischer Unsinn: Als wären nicht alle Menschen Sünder, aber die Homosexuellen sind doch nicht als Homosexuelle Sünder, sondern wie alle anderen Menschen auch, wenn man schon in diesen Kategorien noch denken will.

7.
Papst Franziskus mag offenbar das Bild der Urkirche, das weithin verbreitet wird, er schreibt: „In den christlichen Urgemeinden gab es kein Privateigentum. Das ist kein Kommunismus. Sondern das Christentum in reinster Form“ (S. 64). Trotz des Lobes der Urgemeinden meint Papst Franziskus, natürlich dürfe man die Urkirche heute NICHT als Modell verstehen.

8.
Über den Umgang von Pater Jorge Bergoglio als Provinzialoberer der Jesuiten in Argentinien während der Militärdiktatur dort (1976 – 1983) ist viel geschrieben und diskutiert worden. Argentinische Beobachter meinen, Pater Bergoglio habe zwei seiner linken, der Befreiungstheologie verpflichteten Mitbrüder im Jesuitenorden nicht wirklich geholfen, sondern habe sie sogar an die Militärjunta ausgeliefert. Eine Aussage, die Papst Franziskus immer entschieden zurückgewiesen hat. Auch in dem Buch „Leben“ geht er auf diese bis heute undurchsichtigen Zusammenhänge ein und bietet eine neue, bisher nicht bekannte Interpretation seines Umgangs mit den beiden linken, rebellischen Patres Orlando Yorio SJ und Francisco (Franz) Jalics SJ: Papst Franziskus schreibt diese ungewöhnlichen Worte in „Leben“: „Die Priester waren dabei, eine eigene Kongregation (also einen eigenen Orden, C.M.) zu gründen. Und als Provinzial der Jesuiten musste ich sie im Namen des Ordensgenerals darauf aufmerksam machen, dass sie in diesem Fall den Jesuitenorden verlassen müssten“. Dann folgt der nebulöse Satz: “Ein Jahr später war es (?, was ist „es“) tatsächlich so weit“. (S. 99). Was soll denn das heißen? Einen Orden haben die beiden ja nicht gegründet, sie wurden nach fünf Monaten der Inhaftierung und Folter durch die Militärs („Todesschwadrone“) zunächst ins Ausland abgeschoben…
Mit anderen Worten: Über die Nähe und Distanz von Pater Bergoglio zu den Militärs wird wohl noch weiter geforscht werden, trotz aller bekundeten Versöhnung des verfolgten Pater Jalics mit dem Papst, Pater Yorio starb schon 2000 in Uruguay.    Zu Bergoglio in Argentinien: LINK.

Ein weiterer Link auf einen unserer Hinweise zum Thema “Bergoglio in Argentinien” 2013 publiziert: LINK.

9.
Die weitere Forschung über Pater Bergoglio SJ und die Militärdiktatur wird durch eine winzige Äusserung von Papst Franziskus in seinem Buch „Leben“ angeregt: Pater Bergoglio, so berichtet der Mitautor des Buches „Leben“, Fabio Marchese Ragona, habe „desaparecidos“ (Verschwunde) betreut und er „steht für ihre Fälle in ständigem Austausch mit dem Apostolischen Nuntius in Argentinien“ (S.102).
Und dieser Nuntius ist ein Freund des Diktators Videla: Monsignore Pio Laghi war von 1974 -1980 päpstlicher Nuntius in Argentinien, also zu Zeiten der Militärdiktaturen (Jorge Videla) wie auch zu Zeiten des Leitungsamtes der argentinischen Jesuiten durch Pater Bergoglio. Wikipedia schreibt über den Diktatoren freundlichen Nuntius Laghi: „Er sah davon ab, gegen die Verbrechen (Morde, Verschwindenlassen, Folter, Kindesraub und andere Verbrechen) öffentlich zu protestieren. Stattdessen sagte der Nuntius bei einem Besuch der Garnison in Tucumán, Argentinien: „Was das Vaterland ist, wissen Sie, tun Sie gehorsam, was man Ihnen befiehlt, und bewahren Sie ruhig Blut.“ (Zitat: von dem Lateinamerika – Spezialisten Francois Houtard, der Titel seines Beitrags: „Johannes Paul II. als Restaurator der Weltkirche. In: Le Monde diplomatique, 14. Juni 2002. Wikipedia gelesen am 1.4.2024.)

10.
Auf S. 97 erwähnt Papst Franziskus den merkwürdigen Zusammenhang, dass der linke Bischof Enrique Angelelli (von La Rioja, Argentinien) Morddrohungen erhielt. „Angelelli, der auch den apostolischen Nuntius in Argentinien, Pio Laghi, über die erhaltenen Morddrohungen informiert hatte, wurde dann tatsächlich am 4. August 1976 am Steuer seines Wagens ermordet… Der Fall wurde noch am selben Tag (von den Diktatoren) als Unfall eingestuft und zu den Akten gelegt.“ Also der Nuntius konnte seinen Bischof nicht schützen, oder wollte er das gar nicht? Hatte doch doch auch der damalige Erzbischof von Buenos Aires, Kardinal Aramburu, „diese Version des Geschehens (Unfall des Bischofs) anstandslos akzeptiert“, berichtet der Papst in dem Buch Leben“. Und er fügt hilflos hinzu: „Das hat mich sehr geschmerzt“ (S. 97). Und genauso hilflos, eher kühl und unbestimmt der folgende Satz: „Aber auch für die Kirche waren das schwere Zeiten“ (ebd.). Die Auftrags – Mörder von Bischof Angelelli wurden erst 2014 zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt…
Auch über die zwei Aufenthalte Pater Bergoglio in Cordoba, Argentinien, (1990 und 1992) erfährt man nichts Genaues: War es eine Art Bestrafung, dass ihn seine damaligen Ordensoberen aus der Hauptstadt zu einer untergeordneten Funktion nach Cordoba versetzten?

11.
Weitere interessante, eher nebenbei erwähnte Tatsachen können hier ebenfalls nur nebenbei für weitere historische Forschungen erwähnt werden: Papst Franziskus sieht seit 1990 kein Fernsehen mehr (S. 139). Er bekennt auch, erwartungsgemäß, wie eigentlich alle befragten Bischöfe und Kardinäle und Päpste, dass er einmal, zweimal in ein „schönes und intelligentes Mädchen“ verliebt war (S. 72). Aber wie alle zölibatären Kleriker in solchen Fälle immer betonen, wollte er dem HERRN dienen. Nach einer Woche hatte der junge Jorge Bergoglio die plötzliche Liebe zum „sehr süßen Mädchen“ (S. 72) dann doch überwunden. Der Papst schreibt im Rückblick Worte, die von erotischer Begeisterung nicht gerade erfüllt sind. „Eine Woche ging mir ihr Bild nicht aus dem Kopf, und es fiel mir schwer zu beten. Doch dann habe ich es (?, CM) überwunden und gab mich mit Leib und Seele meiner Berufung (als Priester) hin“. Einige LeserInnen wird das „es“ stören, was ist ES, das Bild, das Mädchen, die Liebe? Eine merkwürdige, irritierende Formulierung…

12.
Papst Franziskus hat im Rahmen seiner Reformvorschläge 2018 dafür gesorgt, dass die Todesstrafe nicht mehr Teil der katholischen Lehre des Offiziellen katholischen Katechismus ist. 1992 hatte es noch im offiziellen Katechismus geheißen, die Todesstrafe könne in schwerwiegendsten Fällen angewendet werden“ (§ 2266 des Katechismus). Ausdrücklich wird dort geschrieben, dies sei die „überlieferte Lehre der Kirche“!! Papst Franziskus macht aus dieser traditionellen Bejahung der Todesstrafe (bis 2018) eine allgemeine, nicht differenzierende Aussage: „Die Kirche lehnt die Todesstrafe ab“ (Seite 63).Na ja, seit 2018 ist das offiziell, vorher nicht.

13.
Das Buch „Leben“ hat zweifellos einen hohen Anspruch, es will doch so etwas wie Autobiografie sein. Schließlich wurde das Buch lange und gründlich vorbereitet, wie der Mitarbeiter, der Journalist und Vatikanologe Fabio Marchese Ragona erwähnt. LINK.

14.
Um so schlimmer ist, dass wesentliche Themen des heutigen Leben des römischen Katholizismus von Papst Franziskus gar nicht diskutiert werden: Nur einige Beispiele: Sinnund vor allem Unsinn des Zölibats; Frauenpriestertum; Mangel an Priestern in Europa und damit der Niedergang der Gemeinden; die Bedeutung des Protestantismus; Kirche und synodale Leitung; Kirche und Reichtum, Eigentum (nicht nur in Rom). Wie war das Verhältnis zu dem sogenannten Papst emeritus Benedikt XVI. wirklich, er hatte sich ja in der unmittelbaren Nachbarschaft von Papst Franziskus eingenistet. Und sogar dessen Sekretär Georg Gänswein hatte Papst Franziskus als seinen „Präfekten des päpstlichen Haushaltes bis 2020 (!) beschäftigt. Hatte Franziskus Angst davor, sich ganz von Benedikt XVI. zu trennen, als er nun ausgerechnet noch den Intimus und treuen Freund von Ratzinger in sein eigenes engstes Umfeld holte?

15.
Diese Hinweise zeigen: Unter welchen sehr schwierigen Bedingungen Papst Franziskus im Vatikan lebt(e). Man denke an die heftigen und zweifelsfrei begründeten Attacken von Papst Franziskus in seiner Weihnachtsansprache gegen die Kurie schon am 22.12. 2014, solche heftigen kritischen Worte verdienen bis heute viel Beachtung. LINK

Ein Link auf einen unserer Hinweise zum Thema “Bergoglio in Argentinien” 2013 publiziert: LINK.

16.
Man vergesse nicht: Dieser Papst ist wohl der erste, der den Klerikalismus öffentlich aller heftigst kritisiert. Der Klerikalismus muss überwunden werden, betont er oft, der Klerikalismus sei, so wörtlich eine Pest“ („eine wahre Krankheit“, Seite 256), oder: “der Klerikalismus ist eine Geißel, eine Perversion,“ die das “Potential hat, die Kirche zu zerstören“. Bei der nächsten Papstwahl wird der Klerikalismus wie gewohnt wieder seine Macht zelebrieren. Und der nächste Papst wird wieder ein Kleriker sein. Der Klerikalismus wird erst verschwinden, wenn  auch Frauen Priesterinnen sind.

17.
Papst Franziskus ist vielleicht doch ein wütender Papst, ein Empörter, nicht nur über den Kapitalismus und Neoliberalismus, sondern auch und vor allem über die „Perversion und die Pest des Klerikalismus“, wie er sagt!!
Aber, leider, leider, reflektiert er nicht die Ursachen dieses Klerikalismus: Eine Ursache ist das völlig sinnlose Zölibats- Gesetz, ist die nach Außen hin geforderte Gehorsams- Struktur innerhalb der nur männlichen Priesterschaft in einer Kirche … als Pyramide organisiert.
Empörung ist das eine, Analyse das andere. Mit Empörung wird der Klerikalismus als tödliche Pest der katholischen Kirche nicht verschwinden. Mit anderen Kirchengesetzen und einer Kirchenreformation, die den Namen verdient, sicher schon.

Papst Franziskus. „Leben. Meine Geschichte in der Geschichte.“
HarperCollins Verlag, Hamburg 2024, 272 Seiten, 24€. Aus dem Italienischen übersetzt von Friederike Hausmann und Stefanie Römer. Das Buch mit dem Journalisten Fabio Marchese Ragona verfasst.

Copyright: Christian Modehn, Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin.