Philosophieren im Urlaub: Arbeit oder Erholung?

Ein Plädoyer fürs Philosophieren – auch in den Ferien
Von Christian Modehn am 27.7.2025

1.
Einige Stunden in der Ferienzeit als Philosoph(In) zu erleben, ist vielleicht ein ungewöhnlicher Vorschlag. Der Einwand kommt gleich: Ist denn nicht Philosophie etwas Anstrengendes, ist sie also in gewisser Hinsicht Arbeit? Und wollen wir uns Arbeit zumuten im Urlaub, der doch eher von der Lust am Nichtstun und Spiel, von der Lust an der Entspannung und Faulheit bestimmt sein sollte!
Vielleicht kann aber Philosophie zur Erholung beitragen, wenn man sie als eine besondere Form des Spiels versteht, des Gedankenspiels, als Freude am Fragen, am Zweifeln, am genauen Hinschauen und Verweilen … und als Freude darüber: Durch eigenes Nachdenken etwas mehr Klarheit im Leben erlangt zu haben. Diese Art, Heiterkeit und Klarheit durch eigenes Nach – und auch Voraus- Denken zu finden, nennen wir Philosophieren.

2.
Vorweg, um elementar für Klarheit zu sorgen: Philosophieren hat nichts zu tun mit Grübeln oder Phantasieren oder Tagträumen, was oft gemeint ist, wenn es in der Öffentlichkeit heißt: „Darüber könnte man lange philosophieren“. Etwa, ob der Verbrecher Putin irgendwann einmal selbst seine Kriege beendet…Philosophieren wird so zu etwas Irrealem, Utopischen, Spinösen, Zweifelhaften.

3.
Hingegen ist philosophieren die Praxis der Philosophie. Wie musizieren, bereits schon Klavier- oder Violine-Üben die Praxis der Musik ist. Ohne elementares Philosophieren gibt es keine Philosophie. Nun hat nicht jede(r) Philosophierende die Begabung oder die Zeit, seine Gedanken als „philosophisches Buch“ zu veröffentlichen. So wie auch nicht jeder, der Mozarts Sonaten übt, automatisch im Konzertsaal auftreten wird. Der Unterschied ist nur: Klavierspielen kann nicht jeder (lernen), hingegen Philosophieren ist eine Möglichkeit, die jedem und jeder gegeben ist. Man muss sie nur entdecken. Sie eröffnet auf ungeahnte Art grundlegende Erfahungen des Daseins. Ein Mensch kann unmusikalisch sein, der Mensch ist aber niemals unphilosophisch oder besser: “nicht-philosophierend”!

4.
Philosophieren ist etwas Elementares im Menschen, immer Gegebenes, Geschenktes, oft “schlummernd”, aber immer “aufzuwecken”. Bekanntlich ist der Mensch kein Tier wie etwa ein Hund oder ein Schwein, sondern ein, wie begrenzt auch immer, vernünftiges Wesen der Freiheit. Philosophieren als Leben des Geistes und der Vernunft geschieht immer: Und diese Erkenntnis stellt sich ein, wenn man wahrnimmt, dass jede unserer Entscheidungen Ausdruck unserer eigenen, oft gar nicht thematisierten Philosophie ist.
Ein Beispiel, und es ist ziemlich banal: Ob ich mir für 300 Euro eine Opernkarte für die schon dreimal gehörte „Entführung aus dem Serail“ kaufe oder ob ich diese 300 Euro einer Welthungerhilfe spende oder eine Gruppe von FreundInnen und Fremden (!) zum Essen einlade. In dieser Entscheidung zeigt sich meine Präferenz für bestimmte Werte, zeigt sich, was mir im Augenblick wichtig ist. Da wird mein philosophischer Lebensentwurf mir bewusst.

5.
Dabei wird deutlich: Wir Menschen entkommen sozusagen dem Philosophieren nie, wir sind ins Denken unüberwindbar immer förmlich eingelassen, jede Entscheidung ist Ausdruck unseres Lebensentwurfes. Selbst unsere Frage nach dem Wetter, kann eine philosophische werden, wenn uns bewusst wird: Warum sprechen wir mit anderen so gern übers Wetter? Fällt uns nichts anderes ein?

6.
Und wie ist es nun im Urlaub? Philosophieren beginnt dann etwa mit der Frage: Will ich mir wie seit 3 Jahren bei mir üblich die 40 Grad im Juli in Griechenland in einem überfüllten Hotel wieder zumuten? Mich dem Streß des Fliegens aussetzen und durch diese Form des Reisens die klimaschädlichste Art jeglicher„Fortbewegung“ überhaupt wählen? Oder will ich es wagen, in meiner nahe oder weiten Nachbarschaft, in kühleren Regionen hoffentlich, spazieren zu gehen, einmal in Ruhe die Umgebung und vielleicht die Museen kennenzulernen, vor allem die Natur dort zu erleben oder in Ruhe zu lesen … und eben … zu philosophieren. Und das heißt: In einem ruhigen Raum oder inmitten der Natur die Fragen zuzulassen, die sich dann wie von selbst aufdrängen: Warum ist die jetzt erlebte Ruhe und Stille eigentlich so hilfreich und wohltuend in meinem Leben? Warum berührt mich die Natur in ihrer steten Wandlung? Was bewegt mich da eigentlich etwas schon zu finden? Ist es die Schönheit der Blumen? Oder ihre Vergänglichkeit? Fühle ich mich eins mit der Natur? Was bedeutet deren Werden und Vergehen eigentlich? Jetzt bin ich im Urlaub unterwegs, aber bin ich nicht in Wahrheit immer unterwegs? Aber immer anders unterwegs, bloß: wohin denn? Was ist eigentlich mein Ziel? Wenn ich diese sich aufdrängenden Fragen zulasse, sie bedenke, also reflektierend hin – und herdrehe, an manchen Eindrücken und Erkenntnissen zweifle, dann bin ich schon mitten im Philosophieren.

7.
Aber ist dieses Philosophieren im Urlaub denn nun Arbeit, Denkarbeit? Das Sortieren der Begriffe, das Abwägen der sich mir aufdrängenden Argumente, ist tatsächlich eine Art Arbeit, sie verlangt Konzentration und Mut zur Abwehr jeglicher Ablenkungen. Aber ich verlange niemals von mir, im Urlaub philosophierend, einen langen Essay über Grundprobleme, etwa den Sinn des Lebens im allgemeinen, zu schreiben. Eine definitive Antwort auf die Frage: Was ist Wahrheit? werde ich auch im Urlaub nicht finden. Sich an diese Themen im Urlaub von 3-4 Wochen zu wagen, wäre anstrengende Arbeit, Denk – Arbeit, verbunden mit Lektüren, vielen Fach – Gesprächen, dem Setzen von Fußnoten usw.

8.
Aber zur Ruhe kommen, innehalten, die Umgebung betrachten, die Natur wahrnehmen, ihr in Stille (Kontemplation)  begegnen; eine gotische Kathedrale oder eine Barockkirche betrachten und neugierig erleben und nicht nach drei Minuten wieder verlassen, weil man eine „Sehenswürdigkeit“ abhaken kann auf einer so gfurchtbaren “to-do-Liste” im Urlaub: Es gibt eine “alternative” Tätigkeit im Urlaub und sie ist ein Vergnügen, keine Arbeit. Die ist ein zweckfreies Verhalten, ohne Leistungsdruck, ohne den üblichen “Zeitdruck”, ohne Kontrolle durch einen Chef etc.… Im Philosophieren bin ich völlig frei, mir bislang ungewöhnliche Fragen zu stellen und dabei förmlich aus der Zeit herauszutreten.  Wenn ich in einer Barockkirche zur Ruhe komme: Kann mich die Bilderwelt erdrücken, die Frage lass eich zu: Warum sieht man überall Darstellungen der „Jungfrau Maria“. Ist Maria vielleicht dich eine geheime Göttin im Katholizismus?

9.
Die Auswahl der Themen inmitten eines philosophierenden Alltags im Urlaub  ist endlos. So weit und bunt wie das Leben, so vielfältig wie das Leben des Geistes, der Vernunft und unserer Gefühle. Philosophieren lebt nur von dem Mut, sich seine eigenen Gedanken zu machen und auch vorläufige Erkenntnisse, wenn nicht vorläufige Wahrheiten wie ein Geschenk des Nachdenkens anzunehmen. Für Kant war das philosophische Denken auch eine Frage des Mutes! (“Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen”).
Nur ein Mensch, der selbst philosophiert, wird mit anderen dann auch philosophieren wollen und können. Dialoge der Philosophierenden können inspirierend sein, am besten in kleinem Kreis, wenn man einander respektiert und auch das Zuhören schätzt oder die  „Denkpausen“ des Schweigens nicht als peinlich deutet. Absolute Wahrheiten wird man auch dann nicht entdecken, aber die Vielfalt der Blickwinkel respektieren und aus die eigene begrenzte Sichtweise gegen eine andere natürlich auf andere Art auch begrenzte Sichtweise tauschen, die alsbald aber auch überwunden wird…im Philosophieren.

10.
Manche „philosophierende Anfänger“ sagen mir: Wie sehr es ihnen förmlich Denk – Freude bereitet, in der deutschen Sprache einige tatsächlich in die Tiefe führende Worte und Begriffe mit neuem Erstaunen wahrzunehmen und dann philosophierend „auseinanderzunehmen“.
Immer wieder wird dann das Verb „Aufheben“ genannt, das sich als „hochheben“, aber auch „ungültig machen”, aber auch als „bewahren“ zeigt. Hegel liebte diesen Begriff Aufheben sehr.
Oder: Wiederholen: Ich hole etwas wieder …hole es in meine Gegenwart hinein. Oder auch: Ich repetiere eine alte Erkenntnis, wiederhole übend ein Klavierstück. Oder: Ich besorge, hole mir, etwas Verlorenes wieder…
Oder man denke an das Verb gedenken, das etwa bei Walter Benjamin die Zuspitzung des Ein-Gedenkens erhällt. Und damit kann gemeint sein: Das Erinnerte in den eigenen Geist hin-ein-nehmen, also nicht bloß oberflächlich etwas Vergangenes zur Kenntnis nehmen, also bloß historisch – faktisch an Daten denkend gedenken, sondern eben ein-gedenken, das Erinnerte mit dem eigenen Geist verbinden, das erinnerte in den eigenen Geist, ins eigene Leben, in die eigene Gefühlswelt hineinnehmen… Sich hineinversetzen….

11.
Oder man philosophiere gerade bei einem Aufenthalt als Tourist im Ausland über „den Fremden“. Und man frage sich: Wenn ich über die deutsche Grenze gehe, bin ich im Ausland. Dann bin ich in der Fremde, bin ein Fremder. Früher mietete man in Pensionen „das Fremdenzimmer“. Aber auch innerhalb Deutschlands, meiner Nicht – Fremde, kann ich schnell in der Fremde sein und zum Fremden werden: Ich fühle mich entsetzlich fremd unter religiösen Fundamentalisten aller Konfessionen und Religionen, ich fühle mich absolut fremd unter klassischen Nazis und den nur noch auf die Machtübernahme sinnierenden Nazis der AFD. Fremd können mir auch einige Familienmitglieder werden. Und dann folgt eine andere philosophierende Wahrnehmung: Wer Fremde, etwa Flüchtlinge, als die Anderen, die „nicht zu mir/uns gehören“, in „meinem“ Land als Bedrohung erlebt und diese Menschen rausschmeißen will, vergißt: Dieser nationalistische Feind aller Fremden ist selbst fast überall – auch in seiner eigenen Selbstwahrnehmung – ein Fremder. Wer dann noch weiter denkt, dem zeigt sich wie eine politische Forderung: Es kommt darauf an, Gesellschaften und Staaten so zu gestalten, in der alle Menschen human und gleichberechtigt leben können, im Wissen, dass jeder und jede eigentlich selbst oft fremd oder befremdlich vor. Zunächst ist jeder Mensch ein Fremder, durch Verständnis und Toleranz kann jeder remde zum Freund werden.
In dieser ungerechten Welt ist es dann bis jetzt üblich, dass es “wertvolle Fremde” gibt, also finanzstarke Fremde, zu denen die Europäer oder die Nordafrikaner gehören, die weltweit explizit als Fremde auftreten können und dann auch erwarten, dass sie im Gastland Peru oder Ghana als Menschen gut behandelt werden. Nur haben diese „wertvollen Fremden“ sich mit ihrem Geld das Recht erobert, ohne Mühe wieder aus den Ländern des globalen Südens , Petunoder Ghana, ausreisen zu können. Die „demokratischen“ Gesetze der „wertvollen Fremden“ verbieten es aber ihren Gastgebern im globalen Süden, ihrerseits problemlos zu reisen und sich in der Fremde niederzulassen.

12.
Das ist die überraschende Kraft der menschlichen Vernunft: Wir denken etwas, und und gleichzeitig schaut unsere Vernunft auch noch begrifflich auf unser Denken und ihr Resultat: Und stellt die Frage: Stimmt das Wahrgenommene und Gedachte und Erkannte? Unser philosophierendes Denken korrigiert sich von selbst, man muss es nur zulassen, um immer wieder neue Wahrheiten zu entdecken. So wird unser Leben zu einem Unterwegssein … zu immer neuen Wahrheiten, die vielleicht umgriffen sind von einer bleibenden Wahrheit: Der Mensch sollte nie stagnieren, sich fixieren. Er sollte also immer ein Reisender sein. Die Alten, die religiösen Menschen zumal, sagten: Der Mensch ist immer ein Pilger.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

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