Jacques Bouveresse, französischer Philosoph, Literaturkenner und Kirchenkritiker

Ein Hinweis von Christian Modehn am 23. Juli 2024.

1.
In Deutschland ist der französische Philosoph Jacques Bouveresse ( 20.8.1940 – 9.5.2021) in weiten Kreisen nahezu unbekannt. In Frankreich gilt er als wichtiger Denker mit einem „Oeuvre philosophique majeure“, wie man dort sagt.
Kaum zu verstehen, dass seine großen Werke nicht ins Deutsche übersetzt wurden.
Jacques Bouveresse, stammt aus einer katholischen Familien im Département Doubs – an der Grenze zur Schweiz gelegen – , er ist auch mit theologischen Themen durchaus vertraut.

Jacques Bouveresse war ein außergewöhnlicher Mensch, nicht nur wegen seiner Sprachbegabung (er hatte z.B. einen akademischen Abschluss in Deutsch). Vor allem: Er hat – nicht nur aus Bescheidenheit, sondern um jegliche Abhängigkeiten zu vermeiden – offizielle „Dekorationen“, wie er sagte, also Orden und (staatliche) Auszeichnungen zurückgewiesen. Selbst die Ernennung zum “Chevalier de la Legion honneur“ lehnte er ab, jeglicher Konformismus war ihm zuwider, allerdings wurde ihm von der ökonomischen Hochschule HEC in Paris der Titel Dr. h.c. verliehen, 2019 empfing er den „Grand Prix de Philosophie“ von der „Académie Francaise“ für die Gesamtheit seines Werkes.

2.
Warum sollten wir uns für Bouveresse interessieren?
Er hat die Grenzen des philosophischen „Betriebes“ gesehen und sich Impulse der Erneuerung und dafür notwendige Ressourcen erhofft … auch von der Literatur. Er suchte Philosophie also auch dort, wo „man“ sie üblicherweise nicht vermutet. Vor allem mit dem österreichischen Schriftsteller Robert Musil und auch mit dem Autor Karl Kraus hat er sich intensiv befasst. Wichtig für Bouveresse ist vor allem der umfangreiche Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Bouveresse läßt sich von der Literatur anregen, die eigene Philosophie zu gestalten. Diese Erfahrung gilt es festzuhalten, wenn man sich vorstellen will, was Philosophieren und Philosophie heute sein sollte und sein könnte: Als kritisches Interessiertsein an allen Äußerungen, „Objektivierungen“ (Hegel), des Geistes.

3.
Bouveresse ist ein Rationalist, und er nennt sich so und ist stolz darauf und kämpft gegen alles Obskure in der Gesellschaft, gegen fundamentalistische Religionen und Kirchen (etwa in den USA) und gegen die postmodern sich nennenden Philosophen, die seiner Meinung nach die Beliebigkeit des totalen Relativismus pflegen und das „alles geht und alles ist möglich“ propagieren. Der Philosoph Jean -Matthias Fleury nennt Bouveresse einen „kritischen Historiker der Philosophie“: Er war also kritisch gegenüber der Postmoderne und modischen Tendenzen französischer Philosophen, Bernard-Henri Lévy oder Jean Marie Benoit warf er wissenschaftlichen und intellektuellen „Betrug“ vor. „Bouveresse war ein Polemiker und er war sehr bemüht, ein Minimum an praktischen philosophischen Regeln auszudrücken. Er hat Partei ergriffen für einen militanten Rationalismus, kritisierte gelegentlich heftig den Nihilismus à la Nietzsche. Und der schien ihm für eine ganze weite Fläche der französischen Philosophie der 1960- 1970ger Jahre charakteristisch zu sein, etwa in den gestalten Derrida, Lyotard und Foucault“ (siehe Fußnote 2).
Mindestens 50 philosophische Studien hat Jacques Bouveresse veröffentlicht; er war viele Jahre Professor an der Sorbonne und Mitglied des Collège de France, immer interessiert an dem weiten Umfeld der „analytischen Philosophie“ . Seine Doktorarbeit verfasste er 1975 über Ludwig Wittgenstein, damals in Frankreich noch relativ unbekannt. Regelmäßig veröffentlichte er Beiträge in der Monatszeitschrift „Le Monde diplomatique“. Und: „Bouveresse plante die philosophischen Übungen als eine Kunst der Lektüre und des Dialogs und als eine ständige Konfrontation mit dem Gedanken des anderen“, so Florence Vatan (im Vorwort zu Bouveresses Buch „La Passion et l exactitude“, 2024, S. 21., siehe Fußnote 1).

4.
Bouveresse war in seiner Entschiedenheit für möglichst umfassende Klarheit, für die konsequente Suche nach Gründen und Begründungen, der Verpflichtung der Wahrheit zu dienen sozusagen als Mensch bescheiden in seinem Auftreten und Argumentieren, die Ironie schätzend, mit einer Vorliebe für Philosophen, die bisher (in Frankreich) eher wenig Beachtung fanden, vor allem Wittgenstein und die „Wiener Schule“ .
Vor allem war er immer religionskritisch orientiert, gegen alle Irrationale, Frömmelnde, Mystizistische… Für religionsphilosophische Fragen ist besonders wichtig sein Werk „Peut-on ne pas croire? Sur la vérité, la croyance und la foi“, Marseille, 2007, 286 Seiten. Als Einführung in sein Denken empfiehlt sich Bouveresse, „Le Philosophie et le réell. Entretiens avec J.J. Rosat“, Hachette, Paris, 1998.

5.
Warum also ist ein Hinweis auf Bouveresse wichtig, wenn man den Zustand der Religionen vor allem in Europa und den USA kritisch untersucht?
Der zweifelsfreie Ausgangspunkt ist: Trotz aller Säkularisierung in Europa und Amerika gibt es ein deutliches Comeback eher fundamentalistischer Kirchen. Sie betonen übereinstimmend: Der Zusammenhalt ihrer Gesellschaften und ihrer Staaten könne nur durch die praktizierte (fundamentalistische) Religion garantiert werden. Es gebe also diesen Propagandisten zufolge eine Art praktische und auch politische Notwendigkeit, zur alten Religion und den überkommeneren Konfessionen zurückzukehren…

6.
An diesem Punkt der Analyse setzt Bouveresse in einem auf Deutsch publizierten Beitrag für „Le Monde diplomatique“ vom 13.5.2007 an. Der Aufsatz hat den Titel „Annäherung an die Funktion Gott“. Bouveresse bezieht sich dabei auf eine These des Philosophen und Autors Régis Debray: Er hatte behauptet, die „derzeitige Renaissance des Religiösen“ sei ein Beweis dafür, dass der religiöse Glaube überhaupt nicht zum Verschwinden zu bringen sei, auch nicht durch so genannte Ersatzreligionen. Bouveresse kritisiert zunächst, dass es nicht möglich ist, aus dem faktischen Vorhandensein z.B des Phänomens Kirche auf die Notwendigkeit ihres Fort – Bestehens zu schließen. Die Renaissance des Religiösen und auch das Wiedererstarken der alten Konfessionen sind also kein Bewies dafür, dass die klassischen Religionen und Konfessionen nun letztlich doch nicht gescheitert sind und Recht haben. Bouveresse schreibt: „Und selbst wenn die Gesellschaft der Rückkehr zu einem verloren gegangenen Glauben bedürfen sollte, welche Art von Glauben ist es dann genau, zu der sie angeblich zurückfinden muss? Sie einfach an das religiöse Bedürfnis der Gesellschaft zu erinnern, reicht jedenfalls anscheinend nicht, um sie diesen Glauben wiederfinden zu lassen.Noch einmal: Irgendeine Form des Glaubens als Faktum anzuerkennen ist nicht dasselbe wie die Unvermeidlichkeit des religiösen Glaubens zu behaupten, auch wenn Religionsphilosophen wie Debray diesen Unterschied gern herunterspielen.“

7.
Bouveresse deutet nur kurz und knapp an: Welche Religion kann in dieser zerstrittenen Welt und in der säkularen Gesellschaften noch Bestand haben, ohne dabei sinnlose Überlegenheitsansprüche gegen dem säkularen Staat zu betonen? Es kann sich dabei eigentlich nur um eine rational zugängliche Menschheitsreligion für alle Menschen handeln, eine Idee, die für Kant wichtig wurde in seiner Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“. Wenn Religionen und Kirchen heute eine Bedeutung haben können, dann so Bouveresse, wenn sie die republikanischen Werte, also die Menschenrechte, höher einschätzen, auch als Kriterium der eigenen Wahrheit als alle konfessionellen und religiösen Lehren und Weisungen. „Was genau brauchen wir eigentlich in religiöser Hinsicht? Könnte es nicht mehr oder weniger objektive Gründe geben, die eher für die eine als für die andere Glaubensentscheidung sprechen? Angenommen, man gesteht zu – was ohne Schwierigkeiten möglich sein sollte –, dass eine „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (ungefähr im Kant’schen Sinn) immer noch eine Religion wäre. Gäbe es dann nicht ernst zu nehmende (intellektuelle, moralische, politische usw.) Gründe, eine derartige Religion solchen vorzuziehen, die die fraglichen Grenzen überhaupt nicht kennen?“

8. Die alten Religionen, Konfessionen, führen nicht aus der Krise
Wichtig ist dem entsprechend die These Bouveresses:
Hütet euch vor der Wiederkehr der alten Religionen in dieser Zeit, in der angesichts der vielfachen Krisen erklärt und verkündet wird, die Säkularisierung sei vorbei und die Zeit der alten Religionen beginne wieder. Bouveresse schreibt: „Mit Sicherheit wäre es dagegen ein Trugschluss, auf künstliche Weise herkömmliche Religionen in die Institutionen, Verhaltensweisen und Praktiken wieder einführen zu wollen – in der Hoffnung, so den sozialen Zusammenhang herstellen oder festigen zu können.“ In der jetzigen Situation eines globalen gesellschaftlichen Umbruchs mit zahllosen Krisen helfen nur „Veränderung und Reorganisation“ der Gesellschaft weiter. Dabei können die alten Religionen und ihre Lehren gar nicht mehr hilfreich sein, weil ja auch sie zu der tiefgreifenden politischen, ökonomischen und kulturellen Krise geführt haben. Noch einmal: Die alten Religionen und Kirchen sind also Mit – Verursacher des gegenwärtigen heillos wirkenden Zustandes der Welt.
Das heißt: Die altgewordene Religionen und altgewordenen und veraltet erscheinenden Konfessionen haben im globalem gesellschaftlichen Wandel und Zusammenbruch keine inspirierende, hilfreicheKraft mehr.

9.
Bouveresse sieht im Fortbestehen und Überleben der alten Religionen und der alten Götter nur eine Form der „Amnesie“, der Vergesslichkeit und Gedächtnisstörung der Menschen, hofsichtlich der Kraft der Religionen von einst. Er schreibt: „Diese Form der Amnesie lässt nach dem bitteren Scheitern einer Neuerung (der Religion, CM), die eine Zeit lang vielversprechend schien, mit Vorliebe die guten alten, immer bequemeren und beruhigenderen Lösungen wieder aufleben – obwohl man eigentlich weiß, dass diese Versuche, gelinde gesagt, nicht sehr erfolgreich gewesen sind.“ Mit anderen Worten: Die Kirchenführer der alten, aber nachweisbar im politischen und ökonomischen Bereich wirkungslosen Kirchenwelten, machen sich falsche Hoffnungen für eine Zukunft ihrer Kirchen, gerade wenn sie nichts weiter tun, als das Alte und angeblich „Ewige“ und „göttlich Verordnete“ unbeirrt und stur fortzusetzen, siehe etwa die Haltung der katholischen Kirche zur Ordination von Frauen; die päpstliche Ablehnung von Demokratie in der katholischen Kirche usw.. Diese Haltung hat zum langsamen Verschwinden der Kirchen-Bindung und Kirchen-Gläubigkeit in Europa geführt. Siehe die hohen Austrittszahlen aus den Kirchen etwa in Deutschland, Österreich, Holland, Belgien, England, Spanien, der Schweiz usw. ChristenInnen verlassen die Kirchen, weil diese ihnen antiquiert, irrational, bürokratisch, fundamentalistisch, paternalistisch usw. erscheinen. Und es wohl auch erfahrungsmäßig und nachweislich sind.
………………………….

FUßNOTE 1:
„La Passion de l Exactitude“ mit dem Untertitel „Robert Musil et la philosophie“, erschienen im Verlag Hors d` Atteinte, Marseille, 2024, mit einem Vorwort von Florence Vatan. 123 Seiten, 17€. Der Text geht auf eine auf Deutsch gehaltenen Vorlesung Bouveresses in Wien im Oktober 2008 zurück.

FUßNote 2:
Cinquante ans de philosophie française.“ Band 4, von Bernard Sichère, Paris 1998, S. 72.
………………………..

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer-salon.de

Abbé Pierre: Ein hochverehrter Priester, nun Missbrauchstäter oder “bloß” sexuell-übergriffig?

Ein Hinweis von Christian Modehn.

1.
Wenn Abbé Pierre jetzt als Missbrauchstäter angezeigt wird, dann wird die Gestalt des “beliebtesten und vorbildlichen Franzosen”, das sagen viele Umfragen der vergangenen Jahre zerstört. LINK

2.
Abbé Pierre (1912-2007) galt nicht nur in Frankreich, sondern weithin, über die Kirche hinaus, als eine Art „Lichtgestalt”, er war sehr viel mehr als der jetzt wieder wiederholt titulierte „Sozialpriester“ und mehr als nur der “Gründer der Emmaus-Bewegung“. Über seine Tätigkeit in der Résistance wurde oft berichtet.

3.
Abbe Pierre war insgesamt ein heftiger, prophetischer Sozialkritiker, ein leidenschaftlicher Kritiker der Kirchen-Hierarchie, er forderte etwa die Abschaffung des Zölibates, er forderte die Priesterweihe von Frauen LINK .
Er war auch – erfolglos – ein Kritiker der skandalösen kriegerischen französischen Nationalhymne „Marseillaise“, kurzum, er war ein progressiver Denker und „Kämpfer“ an der Seite der Armen, ein Freund des Schauspielers Coluche, des Gründers der „Restaurants du Coeur“… und des progressiven Bischofs Jacques Gaillot.

Nebenbei: Abbé Pierre unterstützte seit etwa 1970 Homosexuelle in der katholischen Kirche, zu Zeiten also, als Schwule von allen kirchlichen Hierarchen und den meisten Theologen ausgegrenzt und verurteilt wurden. Abbé Pierre hatte den Mut, den offen homosexuellen Priester Abbé Jacques Perotti offiziell zu seinem Privatsekretär zu ernennen.Mit ihm zusammen lebte er in einem Appartement der EMMAUS – Sozialbauten in Charenton- le- Pont.

4.
Die Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs beziehen sich den Angaben der betroffenen und befragten Frauen zufolge unter anderem auf „wiederholte Äußerungen mit sexuellem Bezug und unerwünschtes Anfassen.“, schreibt katholisch.de am 17.7.2024 LINK .
„Die Experten (des Sozialwerkes Emmaus) sammelten demnach die Aussagen von sieben Frauen, von denen eine zum Zeitpunkt der Übergriffe minderjährig gewesen sei. Die gesammelten Informationen könnten demnach darauf hindeuten, dass der Priester in dem Zeitraum zwischen dem Ende der 1970er Jahre und 2005 gegenüber Angestellten, Freiwilligen und Ehrenamtlichen der Emmaus – Organisationen sowie jungen Frauen aus seinem privaten Umfeld sexuell übergriffig geworden sei.“ Quelle: ORF: LINK
„Sexuell übergriffig“ ist etwas anderes als „Sexualverbrecher“, das sollte von vornherein deutlich sein.

5.
Die Pariser Tageszeitung LE MONDE macht (am 17. Juli 2024, um 17.21 Uhr) in ihrem Internet-Beitrag über Abbé Pierre als Missbrauchstäter den unabhängigen Untersuchungsbericht zu den Vorwürfen zugänglich: LINK  .Dieser Text von nur 8 (!) Seiten enthält einige Hinweise, die sich aus den Äuétrungen von sieben Opfern (Frauen) ergeben. Deutlich wird: Die Frauen schildern Taten, die von Ende der 1970ger Jahre bis 2005 stattfanden, also in einem hohen Alter Abbé Pierres, als er  z.T. schon auf den Rollstuhl angewiesen war. Abbé Pierre ist 2007 im Alter von 95 (!) Jahren gestorben. Er lebte die letzten Jahre eher zurückgezogen, etwa im Benediktinerkloster St. Wandrille bei Rouen.
Auf Seite 8 des offiziellen“ Rapports vom 4. Juli 2024 wird ein Mitarbeiter Abbé Pierres zitiert: “Immer älter werdend, hatte er Mühe, seine Instinkte zu zügeln. Er konnte sich nicht bremsen, die Brust von Frauen zu berühren”. Der Rapport berichtet auch: Als sich Frauen gegen diese Berührungen wehrten, habe sich Abbé Pierre zurückgezogen, dies wird ausdrücklich erwähnt (etwa S. 6 oben). „Sexualverbrecher“ handeln wohl anders….
6.
Man lese in diesem Zusammenhang unbedingt das Zitat von Abbé Pierre aus seinem Interview- Buch “Mon Dieu, Pourquoi” (2005). Ein Täter, ein Verbrecher, spricht nicht so reflektiert und durchaus schuldbewusst. Warum erwähnt dieser offizielle “Rapport d`enquete” vom 4. Juli 2024 diese Aussagen Abbé Pierres nicht? Das Zitat aus dem Buch „Mon Dieu, Pourquoi?“ (2005, Plon, Paris, 2005, auf Deutsch im DTV Verlag). Das Buch entstand in Zusammenareit mit dem bekannten Philosophen Frédéric Lenoir, es wurde hoch gelobt und in 15 Sprachen übersetzt. LINK.

Das in unserem Zusammenhang wichtige Zitat (Übersetzung aus dem französischen von Christian Modehn) wurde zuerst in einem Beitrag von Christian Modehn auf der Website religionsphilosophischer-salon.de LINK publiziert, es ist vielleicht der „Schlüssel“ zum Verständnis der sexuellen Übergriffe Abbé Pierres im hohen Alter:
Abbé Pierre sagt: „Mit dem Keuschheitsgelübde hatte ich in gewisser Weise das Leben eines Gefangenen. Ich bezeichne diesen Zustand als freiwillige Unfreiheit. Es kam vor, dass ich der Kraft des erotischen Verlangens nachgab. Aber ich hatte nie eine richtige Beziehung. Da ich nicht zuließ, dass sich das sexuelle Verlangen in mir verwurzelte. Dies hätte zu einer dauerhaften Beziehung mit einer Frau geführt, was jedoch mit meiner Lebensentscheidung zum Priestertum nicht vereinbar gewesen wäre.”
Abbé Pierre ging dann so weit einzugestehen, dass er seinen Freundinnen doch nicht gerecht geworden ist: „Folglich machte ich die Frauen unglücklich und fühlte mich selbst zwischen zwei unvereinbaren Lebensentscheidungen hin und her gerissen“.
Nur wenige Priester haben den Mut, über ihr eigenes Ringen mit der Sexualität offen zu sprechen.

7.
Der Missbrauchs – Vorwurf ist für mich um so erstaunlicher, als Abbé Pierre viele Jahrzehnte an seiner Seite, liebevoll umsorgt, seine Sekretärin und vor allem Freundin Lucie Coutaz (1899 – 1982) hatte, die Abbé Pierre so sehr liebte, dass er es ausdrücklich wünschte, neben ihr auf dem Friedhof von Esteville bestattet werden wollte: LINK. 
Madame Coutaz wurde als „Le roc de l Abbé Pierre“ bezeichnet, als der sichere „Felsen“, auf dem er sich wohl fühlte. Nach dem Tod von Madame Coutaz hat Abbé Pierre sich zur engen liebevollen Beziehung zu dieser seinen Freundin auch öffentlich bekannt. Das hat viele konservative Katholiken damals empört: „Ein Priester darf nicht lieben.“ Die Frage ist spekulativ, aber nicht uninteressant: Begannen die sexuell geprägten Belästigungen durch Abbé Pierre nach dem Tod von Madame Coutaz?

8.
Man darf wohl bei allem Respekt fragen: Warum bringen 7 Frauen gemeinsam (erst) 17 Jahre nach dem Tod von Abbé Pierre ihre Vorwürfe vor? Von 12 Opfern wurden nur 7 von der unabhängigen Kommission interviewt… Die Frage kann gestellt werden: Warum wird über die politische und religiöse Orientierung dieser sieben Frauen nichts gesagt? Auch ihre Namen bleiben geheim, nicht so oft üblich bei Opfern sexuellen Missbrauchs, die sich öffentlich zu ihrem Leiden bekennen.
.
9.
Die Wahrheit muss freigelegt werden. Aber ist Abbé Pierre tatsächlich ein Sexual – Verbrecher, ein Missbrauchstäter? Hat er wie diese an seinen Opfern Vergewaltigungen, Schläge, Prügel, Quälereien, Erpressungen etc. vorgenommen? Wohl kaum. Offenbar werden da heftigste Begriffe auf ihn bezogen, die für seine erotischen “Übergriffe”, für die er sich entschuldigte (das sagen ja die Opfer) NICHT zutreffen. Trotzdem spricht der Rapport der Pariser Forschungsgruppe EGAÉ mehrfach undifferenziert von „faits de violences“, Gewalttaten, durch Abbé Pierre.
Man möchte die – ungehörige  ? – Frage stellen: Gibt es jetzt bestimmte theologische oder politische Interessen, die Gestalt Abbé Pierres ins Abseits zu drängen?

10.
Über Abbé Pierre hat Christian Modehn in seinem Buch „Religion in Frankreich“ (Gütersloh 1993) einen kleinen Essay geschrieben, S. 109 f., „Liebe ist von Wut nicht zu trennen“, der Titel des Essays, ein Zitat von Abbé Pierre.
 Und über seinen Sekretär, Abbé Jacques Perotti ist ebenfalls in dem genannten Buch ein Essay publiziert auf den Seiten 114 – 116 mit dem Titel: „Er betet Gott an und liebt die Männer“.

Das Buch „Religion in Frankreich“ von Christian Modehn ist antiquarisch noch erreichbar.

Copyright: Christian Modehn, religionsphilosophischer-salon.de

Kann Lektüre heilen? Durch Bücher gesund werden?

Notizen zur Bibliotherapie und anderen Formen geistiger Therapien…

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Kürzlich diskutierten wir über das Buch von Fabio Stassi „Die Seele aller Zufälle“, erschienen in der Edition Converso; ein Buch, das sich mit Sinn und Unsinn der „Bibliotherapie“ unterhaltsam auseinandersetzt. LINK.
„Die Seele aller Zufälle“ steht übrigens auf der Hotlist 2024 der „Bücher aus unabhängigen Verlagen“.

2.
Diese Form der Buch – Lesen – Therapie gibt es wirklich, dies sei allen therapeutisch noch etwas Unkundigen gesagt. In Kanada, etwa in der Provinz Québec, ist die Bibliotherapie weit verbreitet und offenbar wirksam, auch therapeutisch akzeptiert, die Pariser Tageszeitung „La Croix“ berichtete am 12.3.2024 darüber. LINK.

3.
Grundsätzlich kann man zu der Überzeugung neigen: Eigentlich ist jede Lektüre von Romanen, Erzählungen, Poesie etc. immer auch Ausdruck einer Suche nach Therapie, elementar als Hilfe vermutet gegen Langeweile und Einsamkeit, dann aber auch explizit als Suche nach Orientierung und als Impuls zum Weiter – Denken und in die Weite denken. Diese allgemeine Erwartung „Lesen hilft mir auch therapeutisch“ ist meist umthematisch, unreflektiert.

4.
Was ist die Grundsituation einer Bibliotherapie? Der Therapeut ist ein guter Kenner vieler „großer (aber auch eher unbekannter) Werke“ der Literatur,. Er empfiehlt nach einem eingehenden Gespräch mit einem Patienten (Klienten?) ein bestimmtes, ihm bekanntes Buch zur privaten Lektüre. Die Leitlinie der Therapie heißt wohl: „Wenn Sie dieses Buch, diesen Roman, diese Novelle, dieses Drama, dieses Gedicht usw. lesen, gründlich und in Ruhe meditieren, kann sich ihre spezielle seelische Problematik, vielleicht ihr seelisches Leiden (Melancholie, Hemmung im Umgang mit anderen, Genusssucht usw.) nicht nur klären, sondern auch abmildern, vielleicht heilen … eben durch reflektiertes Nachdenken über den Text des Buches, über das Schicksal der Protagonisten, deren Hoffnung und Lebenssinn… Vielleicht wird dann der heilende Gedanke sozusagen irgendwann „geschenkt“, und vielleicht sieht man sieht klarer und hoffnungsvoller in die Welt und auf das eigene Leben.

5.
Jede Therapie lebt wohl von der Ungewissheit, ob Heilung des Patienten möglich ist. Aber es gibt wohl Unterschiede: In den Psychotherapien etwa begegnet der Patient immer wieder einem leibhaftigen Menschen, einem „Spezialisten“ für seelische Leiden, zu dem der Patient und mit dem er – manchmal sehr oft – sprechen kann.
In der Bibliotherapie ist der einzelne mit einem Text konfrontiert, der eben nur ein „Gesprächspartner“ im übertragenen Sinne sein kann. Der Patient wie jeder Leser bestimmt die Deutung, die Interpretation, in der Auseinandersetzung mit dem Text selbst. Es ist eines der Grundgesetze der Hermeneutik, der Verstehenslehre von Texten, dass immer der Lesende seine subjektiven Verstehensbedingungen, seinen geistigen Horizont, nicht nur „mitbringt“. Sondern oft wird der Text einseitig, allzu subjektiv, förmlich überwältigt und fehl interpretiert. Allzu subjektive Deutungen können und sollten im Laufe der Lektüre korrigiert werden, erst dann kann von einem Verstehen die Rede sein. Bibliotherapie ist aufgrund dieser Stellung: „der einzelne Leser und sein Buch“, also auch ein anspruchsvolles, aber oft auch ein scheiterndes Unternehmen.

6.
Die Bibliotherapie aber erinnert an die Vielfalt reflektierender, geistiger Therapien: Über „Philosophie als Therapie“ haben Damian Peikert und Sam Adhar Ball ein Buch im angesehenen philosophischen Karl Alber Verlag (Freiburg) publiziert und dabei mit gutem Grund an die Überzeugung antiker Philosophen erinnert: Philosophie sei ursprünglich als Hilfe zum Leben und im Leben zu verstehen, ein Thema, das der Pariser Philosoph Pierre Hadot in den Mittelpunkt seiner Studien stellte. LINK. Über die Beziehung zwischen der therapeutischen Praxis etwa in der Stoa oder bei Epikur und der modernen Logo – Therapie (Viktor E. Frankl 1905-1997) wäre ebenfalls weiter nachzudenken.

7.
Von den verschiedenen Formen der Musiktherapie wäre zu sprechen. Musiktherapie im weiten Sinne, also Musik (und Singen ) ALS Therapie, bezieht sich nicht nur auf die seelische „Stärkung“ der einzelnen. Musik ALS Therapie, verstanden als Einheit von Sängern/Musikern und teilnehmenden Zuhörern, die in den Stadien auch Mitsingende waren, hat immer einen politischen Charakter: Eintreten für die Demokratie, „gegen die Konsumgesellschaft, gegen die apolitische Zerstreuung, den American Way of life…Die Musik schuf politische Identifikationen“, so Antonis Liakos in „Lettre International Nr 145, S. 21, Sommer 2024). Diese (!) Musik stärkt die einzelnen, gibt neuen Lebenssinn: Der Autor erinnert u.a. an Mikis Theodorakis, Ioannis Makropoulos, Christos Leonies und andere…“ Antonis Liakos schreibt: „Diese Konzerte, zu denen Menschenmassen strömten, waren selbst politische Ereignisse, Quellen eines aufrührerischen Geistes und eines grenzenloses Optimismus“ (ebd.).
Zu sprechen wäre auch von der Kunst-Therapie, d.h. auch der Mal – Therapie oder der Arbeit mit Collagen, die direkt in guten Kliniken (etwa speziell bei Krebskranken) schon eingesetzt wird.

8.
Noch einmal zur Bibliotherapie:
Johann Wolfgang von Goethe hat sehr persönlich gesprochen, als er von seinen melancholischen und depressiven Phasen in jungen Jahren berichtete: Aus der tiefen Krise (Suizid-Gedanken) konnte er sich nur befreien, wie er gesteht, als er weiter seine Texte verfasste: Literarisches Schreiben als Therapie also, dies ist sicher eine Praxis, die nicht nur hochbegabten Autoren wie Goethe vorbehalten ist. Anja Höfer schreibt in ihrem Essay über Goethes Kunstanschauung (in „Philosophie der Freude“, Leipzig 2003, S. 131).“ Goethe schildert, wie seine poetische Produktion einen inneren Heilungsprozess einleitet, in dem der Dichter sein eigenes Leiden in ästhetischer Form objektiviert und das Leiden so zugleich überwindet. Das Ergebnis dieses Prozesses bezeichnet Goethe nicht zufällig mit dem Wort Heiterkeit“. Und auf Seite 132 heißt es: „Für Goethe wird die dichterische Produktion zum probaten Mittel, um sich selbst immer wieder die rettende Heiterkeit abzunötigen… er spricht vom poetischen Talent mit seinen Heilkräften.“

9.
Inmitten des alltäglichen Lebens können und sollten also Formen geistiger Therapie entdeckt werden, wobei zur Überraschung wohl erkannt wird: Hilfen zur Gesundung durch bestimmte Formen geistiger/geistvoller Praxis stehen uns eigentlich immer in der genannten Vielfalt zur Verfügung. Leider kann man den Gottesdiensten der christlichen Kirchen diesen heilsamen Charakter eher selten zusprechen, sie sind meist Routine und das Dahersagen von frommen Stereotypen und alten, veralteten dogmatischen Sprüchen…

10.
Und selbst der größte Skeptiker wird erkennen: Er kann sich zu seiner eigenen skeptischen Lebenshaltung noch einmal selbst skeptisch verhalten, in der Kraft des reflektierenden Geistes eben: Inmitten dieser Skepsis-skeptischen Haltung wird der Skepsis sozusagen ihre Allmacht genommen. Es bleibt der Geist, dies ist auch die Vernunft, die Fixierungen und Ideologien durchschaut und überwindet… und – etwas metaphysisch gesagt – in die Weite des Geistes führt.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

Philosophische Aufklärung erfolgreich: Auf dem Lande … für die Bauern!

Beobachtungen in Reckahn bei Brandenburg/Havel

Ein Hinweis von Christian Modehn am 15.7.2024

1.
Kaum zu glauben: Es gab wirklich einen wohlhabenden Gutsbesitzer im Lande Brandenburg im 18. Jahrhundert, der nicht nur umfassend gebildet und dabei alles andere als reaktionär war. Mit der Philosophie der Aufklärung war er kenntnisreich eng verbunden, er kannte u.a. die Werke des Philosophen Immanuel Kant: Und er war kein bloßer Theoretiker oder gar Schätzer: Er dachte nicht zuerst an die Vermehrung seiner Güter, sondern förderte mit Geist und Tat die Bildung der armen Landbewohner in seiner Umgebung: Sein Name: Friedrich Eberhard von Rochow (1734 – 1805), seine Frau Christiane Louise (1734 – 1808) unterstützte die Reform-Projekte. Eigentlich ein weithin unbekannter Vertreter der Aufklärung. Diese Unkenntnis muss überwunden werden.
Es ging dem Ehepaar von Rochow um die Realisierung grundlegend neuer Konzeptionen der Volksaufklärung.
Für seine Projekte setzte von Rochow sein Vermögen ein! Reaktionäre Kreise aus seinem Stand kritisierten sein Engagement, sie behaupteten, Volksbildung führe die Menschen zur Aufruhr gegen die Obrigkeiten. Der Aufklärer und Pädagoge ließ sich von diesen Leuten nicht beeindrucken. Er hatte einen großen Freundeskreis um sich gesammelt, zumal von Rochow auch als (protestantischer) Domherr zu Halberstadt mit vielen „Philanthropen“, gebildeten Literaten, Künstlern, Philosophen zusammenkam.

2. Hinweis auf einige Grundsätze von Rochows:
„Wer hat mich berufen, mich zum Lehrer des Landvolkes aufzuwerfen? Meine kurze Antwort: Ich lebe unter Landleuten. Mich jammerte des Volkes. (S. 179, die Seitenzahlen beziehen sich auf das unten genannte Buch „Vernunft fürs Volk“)
„Die Menschheit liegt an heilbaren Übeln krank“(ebd. )…
„Da alle Menschenseelen aus EINEM Stoffe sind, so haben auch alle Stände gleichen Anteil an verhältnismäßiger Vervollkommnung“ (S. 140).

3.
Man kann die Leistungen von Rochows studieren, vor allem auch die Werte seines Wirkens besuchen und besichtigen: Vor allem die Volksschule im Ort Reckahn, daneben steht die barocke Kirche, in der damals progressive, aufgeklärte Prediger wirkten.
Die Volksschule wurde von dem Lehrer Heinrich Julius Bruns geleitet. Das Prinzip: In der Erziehung und Bildung sind sehr viel wichtiger als die üblichen Tadel und Strafen eben Lob, Freundlichkeit und Respekt.
Bildung fördert das Selberdenken, fördert die Weltkenntnis, das bessere praktische Leben im Alltag der Dörfer. Und: Jungen und Mädchen wurden in der Volksschule zu Reckahn gemeinsam unterrichtet. Das „Journal für Prediger“, wichtige Zeitschrift für Pfarrer im Sinne der Aufklärung, lobte diese Schule als „erste aller Volksschulen in Deutschland“ (S. 180).

4.
Die Kinder sollen zu reifen, selbstdenkenden, tugendhaften Menschen gebildet werden. Aber für von Rochow ist entscheidend: „ Der Mensch lebt nicht etwa deswegen tugendhaft, um Gottes Ehre zu befördern. Dieses Gottes Ehre befördern ist ein Nonsens. Moral hat nie den Zweck, Gottes Ehre zu befördern“ (S. 47). Der Mensch wird tugendhaft durch seine eigene Vernunft, ein Gedanke, der auch für Immanuel Kant wichtig wurde. „Rochow hat sich zweifelsohne mit Kant eingehend beschäftigt“, schreibt Gerhard Springer in dem genannten Buch „Vernunft fürs Volk“, Seite 51.

5.
Friedrich Eberhard von Rochow ist auch als Autor sehr weit verbreiteter Lesebücher mit hoher Auflage für Kinder und die Landbewohner bekannt geworden. Vor allem das „Lesebuch“ mit dem Titel „Der Kinderfreund“ erschien in vielen Auflagen und es wurde international verbreitet, dabei kann sein Engagement für die „Märkische Ökonomische Gesellschaft zu Potsdam“ hier nur erwähnt werden, deutlich ist, wie umfassend der aufgeklärte Denker von Rochow praktisch tätig war

6.
Ein VORSCHLAG:
Die vorbildliche Schule in Reckahn als Museum zu besichtigen und das Schloss (sowie der Park!) mit dem angrenzenden Gästehaus (!) sollte Ziel eines „philosophischen Ausflugs“ sein, zumal die interessante Stadt Brandenburg an der Havel nur wenige Kilometer entfernt ist. Und auch Kloster Lehnin (einst Zisterzienser -Kloster) ist in der Nähe.

Zu den Öffnungszeiten der Gebäude in Reckahn (leider ist die Barockkirche, wie so oft im Landes Brandenburg, meistens verschlossen) informiere man sich über das Internet, auch wegen der aktuellen Veranstaltungen! Im Schloss (- Museum) ist Samstags und Sonntags ein kleines Café geöffnet. www.reckahner-museen.de
www.gaestehaus-reckahn.de

Und genauso wichtig: Im Schloss können etliche Bücher und Studien über den Aufklärer Friedrich Eberhard von Rochow und seine Schule erworben werden. Wir empfehlen den Sammelband „Vernunft fürs Volk“, hg. von Hanno Schmitt und Frank Tosch, Henschel-Verlag 2001, 256 Seiten, viele Abbildungen, im Schloß für 7,50 € zu haben!
Die Adresse: Rochow – Museum und Gästehaus, Reckahner Dorfstr. 27, 14797 Kloster Lehnin, Ortsteil Reckahn. Tel. 033835/ 60672.
Das Schulmuseum: Tel. 033835/ 608870

Nach wie vor anregend für Ausflüge und kleine „Studienfahrten“ in die Mark Brandenburg ist das glänzend geschriebene Buch von Joachim Berger, „Mark Brandenburg. Freiheitlich und rebellisch. Ein Lese-Wander-Buch“ zu den Regionen Süd und West von Brandenburg. Das Buch ist zwar schon 1992 im Goebel – Verlag erschienen, aber wegen der vielen historischen Hinweise alles andere als „veraltet“. Das empfehlenswerte Buch ist antiquarisch noch zu erwerben. Zu Reckahn hat Joachim Berger selbstverständlich auch einen kleinen Essay geschrieben, S. 241-243 und wie in allen Kapiteln auch Fotos und Bilder publiziert.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Mit welchen Religionen kann ein Philosoph noch einen vernünftigen Dialog führen? Fragen an Jürgen Habermas.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 7.7.2024

1.
Im Jahr 2013 äußerte sich Jürgen Habermas erneut (zum letzten Mal in der Öffentlichkeit??) zum Thema „Politik und Religion“ (in dem Sammelband „Politik und Religion“, Hg. von F.W. Graf und H. Meier, C.H.Beck Verlag, 2013, dort S 287 ff.) Das Thema ist seit 2001 für Habermas wichtig.

2.
Wie zuvor tritt Habermas für die Bereitschaft der säkularen Philosophie ein, im Dialog mit den Religionen von den Religionen zu lernen. Dies aber nicht als „philosophisches Hobby“ einiger Spezialisten, sondern weil der Dialog den Transzendenz-Verlust der nachmetaphysischen Welt eventuell einschränken kann…

3.
Auf S. 299 – 300 erläutert Habermas noch einmal die Dringlichkeit des Themas:
Ausgangspunkt sind für ihn die „Mängel des „nachmetaphysischen Denkens“; aber diese „Mängel“ können sich „ausgleichen lassen“ durch die von Habermas oft schon geforderte „Versprachlichung des Sakralen“, es geht also um das Übersetzen religiöser Weisheiten in eine allgemein zugängliche vernünftige Sprache.

4.
Dieses Projekt ist dringend: Habermas spricht von dem „sich zum Universum abschließenden und versiegelnden Kapitalismus, der die Politik entwaffnet und die Kultur einebnet“.

Und angesichts dieser düsteren Situation der Lebensverhältnisse im Kapitalismus ist Habermas von „der Frage beunruhigt”, ob die philosophische Vernunft heute noch die Kraft findet, den eigenen „Defätismus“ (so Habermas wörtlich) zu überwinden.
Die Frage also ist: Hat der „in der Philosophie selbst brütende Defätismus der Vernunft“ die „Kraft zu einer Transzendenz“, so wörtlich, (also einer Transzendenz des Geistes, der Vernunft) „von innen vollends aufgezehrt“? Ist die „Spannkraft eines über den jeweiligen Status Quo hinauseilenden normativen Bewusstseins zermürbt“?

5.
Als Habermas diese Frage 2013 erörterte, gab es schon heftig den gewalttätigen, militanten religiösen Fundamentalismus in allen Religionen. Heute (2024) hat sich dieser religiöse Fundamentalismus weiter ausgebreitet und verschärft. Und manche Beobachter meinen zurecht, es gibt eigentlich kaum noch christliche dogmen-kritische, demokratisch organisierte, nicht – fundamentalistische sich christlich nennende Kirchen. (Bei den Orthodoxen ist die Situation noch düsterer, sie Patriarch Kyrill in Moskau).
Der römische Katholizismus kann sich diesem kleinen Kreis vernünftigen christlichen Glaubens leider nicht zugehörig fühlen, trotz aller ein bißchen progressiv wirkenden Aussagen von Papst Franziskus ! Der römische Katholizismus ist so stur, dass er sich bis heute gern stolz „nicht – demokratisch“ definiert. Wenn die „heilige Kirche“ schon nicht demokratisch ist, warum sollen es dann Staat und Gesellschaft sein, fragen sich viele katholische Lateinamerikaner z.B. und lieben dann halt die autoritären Regime seit altersher.
Und auch das weite Feld dessen, was sich protestantisch nennt, ist schon von Fundamentalisten beherrscht, man denke an die USA und die Herrn Trump förmlich anbetenden Massen der Evangelikalen.

6.
Also: Mit welchen Religionen hat die postsäkulare Philosoph überhaupt noch ernsthaft lernbereite Dialoge führen? Der Kreis der wirklich zu einem vernunftbestimmten Dialog innerhalb der Religionen ist heute (2024) minimal.

7.
Es wird natürlich immer Dialoge der höchsten Religionsvertreter geben, da werden gern fromme Sprüche ausgetauscht, aber unklar bleibt, welcher Maßstab denn ein mögliches gemeinsames inter -religiöses Friedensengagement bestimmt. Dies kann dich nicht ein bestimmter religiöser, kein konfessioneller Maßstab sein!

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Jürgen Habermas – Eine Einführung in seine Philosophie!

…und ein Hinweis auf sein Leben

Von Christian Modehn am 4. Juli 2024

Siehe auch die Ergänzung vom 7.7.2024: LINK

1.
Der Berliner “Professor für Kulturgeschichte“ (Humboldt – Universität) Philipp Felsch bekennt, dass er sich (bisher) eigentlich nicht intensiv mit der Philosophie von Jürgen Habermas beschäftigt habe. Felsch hatte aber die Chance, im Frühjahr 2022 und im September 2023 Jürgen Habermas in seinem Bungalow in Starnberg bei einigen Gläsern Tee besuchen zu können und Interviews mit ihm zu führen. Vielleicht waren dabei die Erinnerungen an frühere Verbindungen der beiden Familien in Gummersbach hilfreich. Er hat sich seit einigen Jahren in das Werk von Habermas eingearbeitet. „Der Philosoph. Habermas und wir“ ist der Titel seines Buches, erschienen im Propyläen – Verlag Berlin. 2004 wurde Jürgen Habermas 95 Jahre alt. Seinen „Vorlass“, den „Nachlass“ zu Lebzeiten, hat Habermas „seiner“ Universität Frankfurt am Main überlassen. Auch der „Vorlass“ war Philipp Felsch für seine Studien zugänglich!

2.
Das leicht zugängliche Buch ist das Resultat persönlicher Begegnungen und Habermas – Studien. Wobei über das „wir“ im Untertitel ein eigenes Kapitel geschrieben werden müsste: Sind „WIR Deutsche“ (seit 1989) gemeint oder nur „wir Bundesbürger“ (bis 1989) oder gar „wir“ Weltbürger“. Einige eher sehr persönliche Fragen zu Habermas werden angesprochen, etwa, warum er bevorzugt die schriftliche Form wählt anstelle von Radio – oder Fernseh-Interviews. Habermas selbst hat sich höchst selten über seine Einschränkungen beim Sprechen geäußert. (S. 79, zu einem Vortrag 2004)

3.
Es ist ja nicht nur – im engeren Sinne – der Philosoph Habermas mit seinem umfassenden Werk, der für die Geschichte der Bundesrepublik und Europas von Bedeutung ist. Es ist auch der Habermas als sehr streitbarer Autor in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften (FAZ, DIE ZEIT, MERKUR) , zu vielen grundlegenden politischen Themen, der „unser“ Interesse immer wieder weckt(e). Dabei wird in dem Buch deutlich, wie sehr doch Habermas immer lernbereit war und auch Selbstkritik öffentlich äußerte.

4.
Die in Starnberg abschließen geführten Gespräche zur aktuellen Gegenwart, Stichwort Krieg Russland gegen die Ukraine, hinterlassen bei Philipp Felsch den starken Eindruck eines pessimistischen, wenn nicht, so wörtlich „fatalistischen“ Habermas. Der stets politisch analytisch denkende und normativ, an den Menschenrechten orientierte Denker rechnet wohl jetzt damit, dass die Koalition der Ukraine – Unterstützer in Europa und den USA „zerfällt“, was „zur Folge haben würde, dass der Westen die letzten Reste von politischer Glaubwürdigkeit und Autorität“ verliert (S. 187). Philipp Felsch schreibt: „ Und dann sagt Habermas einen Satz, der unseren Gesprächsfluss für einen Moment lang stocken lässt: All das, was sein Leben ausgemacht habe, gehe gegenwärtig `Schritt für Schritt` verloren“ (S. 187). Das bei Habermas stets lebendige, aber begründete Vertrauen darauf, dass Kommunikation tatsächlich eine friedliche Welt aufbauen kann, geht nun verloren, darf man wohl ergänzen.

5.
Aber es ist schon ein Wagnis, das sehr umfangreiche Werke, die vielfältigen und vielen öffentlichen Stellungnahmen von Jürgen Habermas auf 180 Seiten darzustellen Das Buch „Der Philosoph. Habermas und wir“ bietet also nicht mehr als einführende Erst – Interpretationen. Dabei werden die vielfältigen Kontakte, Freundschaften (etwa mit Alexander Kluge) aber auch Gegnerschaften (etwa mit Hans Magnus Enzensberger) genannt. Auf weiteren 30 Seiten werden dann Fußnoten und Anmerkungen publiziert, die Literaturliste umfasst fast 30 Seiten. 81 größere und kleinere Arbeiten von Habermas sind da genannt. Dass einige tatsächlich sehr wichtige Werke von Habermas nicht oder nur ultrakurz erwähnt werden, ist sicher der größte Mangel dieses Buches, es sind die Texte über die Bedeutung des Religion. Dazu mehr unter Nr. 8 – 11.

6.
Eine Rezension kann und soll naturgemäß nicht den Inhalt des Buches wiedergeben: Felsch folgt chronologisch dem Lebensweg von Habermas und zeigt, wie sehr der Philosoph immer zeitbezogen dachte und veröffentlichte, ohne dabei die universalen Prinzipien,etwa der Philosophie Kants, zu verraten. Mit den Begründern der Frankfurter Schule war er kritisch verbunden, ohne deswegen den Ehrgeiz zu haben, zu einem Nachfolger von Adorno und Horkheimer zu werden.
Während der verschiedenen Stationen der akademischen Arbeit zeigte sich Habermas immer lernbereit, ohne seine Sympathien für eine linke Position sozialdemokratischen Denkens aufzugeben. Aber Lernbereitschaft schließt bei Habermas nicht die kämpferische Abgrenzung aus. Für viele überraschend vielleicht, spricht Philipp Felsch explizit von philosophisch – bedingten „Feindschaften“ etwa gegen Michael Foucault und Georges Bataille (S. 113), auch ist, wörtlich, von Habermas`„Widersacher“ Peter Sloterdijk die Rede. Überraschend auch, dass Habermas viele seiner Zeitungsbeiträge aus „Zorn“ geschriebene habe ( S. 120), aus Zorn auch auf die sehr konservative geistig – politische Verfasstheit der Bundesrepublik mindestens in den ersten Jahren. Man vergesse nicht, dass Habermas seine Karriere, möchte man sagen, als philosophischer Journalist begann: Mit einem Heidegger – kritischen Beitrag in der FAZ am 12.7.1952

7.
Das Buch von Philipp Felsch ist keineswegs eine Lobeshymne auf den „großen staatstragenden Philosophen“, wie viele Habermas nannten. In dem Buch wird durchgängig das Profil eines „linken Sozialdemokraten“ (S. 173) deutlich.

8.
Ein wirklicher und in unserer Sicht gravierender Mangel des Buches ist das völlige Fehlen der Auseinandersetzungen von Habermas mit „der Religion“, vor allem mit dem Christentum. Philipp Felsch erwähnt zwar beiläufig, im Nebensatz, dass sich Habermas als getaufter Protestant irgendwie auch protestantisch fühle (S.105). Ein bißchen ausführlicher wird die starke Zuneigung von Habermas zu einzelnen jüdischen Intellektuellen und Philosophen deutlich. Das Buch schließt mit dem Habermas Bekenntnis: „ „Als `Glücksfall` seines Lebens betrachtet er es, in den USA, in Israel und auch in Deutschland so vielen bedeutenden jüdischen Gelehrten begegnet zu sein“(S. 188).
Als über die „Einzigartigkeit des Holocaust“ in den 1980er Jahren heftig gestritten wurde, formulierte der mit Habermas befreundete deutsch-jüdische Philosoph Ernst Tugendhat 1986 einige bis heute denkwürdige Erkenntnisse zur „Singularität des Holocaust“: Auschwitz sei ein einzigartiges historische Trauma für Deutsche wie für Juden, sagte Tugendhat, „aber die Lehren, die wir daraus ziehen sollten, Deutsche wie Juden, sollten universalistisch sein. Man muss die aus diesem Schicksal entstandene Sensibilisierung in eine universalistische Sensibilität wenden, sonst bleibt man im Teufelskreis des Partikularismus hängen. … das kann dann nur dazu führen, dass das Geschehene eingezäunt wird und durchaus vergleichbare Ereignisse verharmlost werden, in Israel wie hier“ (S. 130).

9.
Über die Gespräche Habermas` mit katholischen Theologen (Kardinal Joseph Ratzinger, 2004) und katholischen Philosophen (mit Jesuiten in München, 2007 ) ist leider in dem Buch keine Rede. Das ist für mich nicht zu akzeptieren. Nicht einmal die Veröffentlichungen von Jürgen Habermas zu dem Thema werden genannt, abgesehen von einem Interview mit Michael Funken unter dem Titel „Ich bin alt, aber nicht fromm geworden“, aus dem Jahr 2008, notiert auf Seite 240. Die erste der zwei äußerst umfangreichen Studien „Auch eine Geschichte der Philosophie. Über Glauben und Wissen“ (erschienen 2019) wird nur in Felschs Literaturliste erwähnt. Aber auch die Friedenspreisrede von 2001 wird in der Literaturliste nicht genannt, geschweige denn interpretiert.
Dabei hat sich das Bekenntnis von Habermas, er sei „religiös unmusikalisch“ inzwischen weithin als bekannt durchgesetzt. Aber WIE im einzelnen „religiös unmusikalisch“ er denn wirklich ist, muss genau geprüft werden.
Hier nur einige Hinweise:

10.
Erst seit 1988 , und zwar mit den Aufsätzen „Nachmetaphysisches Denken“ sieht Habermas in „der Religion“ inspirierende Inhalte, die „in begründende Diskurse“ übersetzt werden sollten. Das Stichwort ÜBERSETZUNG religiöser Inhalte in eine allgemein zugängliche philosophische Sprache tritt hier also zum ersten Mal auf, soweit ich sehe. ÜBERSETZUNGEN vom Religiösen ins Philosophische sind seit dem eine Art Leitidee, wenn Habermas vom Verhältnis von Religion (er meint die christliche) spricht. In seiner „Friedenspreisrede“ von 2001 betont Habermas: Moderne säkulare Gesellschaften bleiben auch als säkulare Gesellschaft auf die Religion bezogen: Denn diese haben ein eigenes, ernst zunehmendes Vernunft-Potential. So sollten etwa die biblischen Metaphern von der „Geschöpflichkeit des Menschen“ oder auch der „Gott-Ebenbildlichkeit des Menschen“ ins Allgemeine Denken, ins Philosophische, übersetzt werden. Noch weiter geht Habermas, als er 2004 Kardinal Joseph Ratzinger in der Katholischen Akademie in München zur Diskussion trifft: Dort spricht Habermas vom wechselseitigen Lernen: Auch säkulare Menschen, etwa Philosophen, sollten sich lernbereit zeigen gegenüber Aussagen religiöser Menschen. Vorausgesetzt allerdings, dass die religiösen Menschen ihre Überzeugungen in allgemeiner, d.h. nicht -esoterischer Sprache aussagen können!
In dem Buch „Ein Bewusstsein von dem, was fehlt“ (2008, bezogen auf das Treffen mit Jesuiten in München 2007) wird eine weitere Entwicklung im religionsphilosophischen Denken von Habermas sichtbar: Nun steht für ihn im Mittelpunkt: Die moderne Vernunft UND die Religionen haben einen gemeinsamen Ursprung (!), und zwar in den Denkbewegungen der sogenannten „Achsenzeit“. Philosophie und Religion werden so zu „komplementären Gestalten des Geistes“ (S. 29 in dem genannten Buch, 2008). Jedenfalls ist für Habermas 2007 klar: „ Religiös begründete Stellungnahmen haben einen legitimen Platz in der politischen Öffentlichkeit, dann „wird vonseiten der politischen Gemeinschaft offiziell anerkannt, dass religiöse Äußerungen zur Klärung kontroverser Grundsatzfragen einen sinnvollen Beitrag leisten können“ (S. 34 dort).
Im ganzen darf man wohl sagen, dass Habermas seit 2001 ein religionsphilosophisches Denken entwickelte, bis hin zur großen Studie „Auch eine Geschichte der Philosophie“ (2019), das in dem einen Satz zusammengefasst werden könnte: „Die säkulare Philosophie entwickelt ein Bewusstsein von dem, was fehlt“, nämlich das Bewusstsein, dass eine vernünftige Religion in dieser säkularen Welt fehlt.

11.
Über die Wende des älter gewordenen Habermas (seit 2001) zur Religion ist viel geschrieben worden, etwa von den Philosophen Herbert Schnädelbach oder Paolo Flores d Arcais (Rom, in DIE ZEIT vom 22. Nov. 2007). Damit man bloß nicht aus Habermas einen religiösen, oder gar katholischen Philosophen macht, hat er selbst gesagt: „Ich bin alt, aber nicht fromm geworden“ (so 2008 in dem genannten Sammelband, den Michael Funken herausgegeben hat). Tatsächlich äußert sich Habermas in diesem Interview trotz dieses nun wirklich „spannenden“ Titels nur äußerst knapp zur eigenen Religiosität. Diese ist wohl in einer gewissen Verbundenheit mit Kants Religionsbegriff zu suchen: „Bei allem empirisch begründeten Pessimismus über die Aussichten eines kosmopolitischen Rechtszustandes sollten wir die Hoffnung nicht aufgeben, dass sich das Engagement für eine neue Weltordnung , zu dem wir uns moralisch verpflichtet fühlen sollen, doch noch lohnen könnte. Aber niemand kann uns dessen vergewissern“ (S. 185, Funken, „Über Habermas. Gespräche mit Zeitgenossen“, 2008, S. 185).
Noch einmal:
Auf „weltbürgerliche Verhältnisse“ einer vernünftigen humanen Weltordnung hofft Habermas jetzt nicht mehr, er sei fatalistisch, interpretiert Philipp Felsch diese Hoffnungslosigkeit von Habermas (Seite 187 in Felsch „Der Philosoph“.)

12.
„Habermas und die Religion“ ist alles andere als ein marginales Sonderthema einer speziellen Habermas – Forschung. Es geht bei dem Thema um eine Art exemplarische Debatte über die Bedeutung „der“ Religion in der heutigen Zeit in unterschiedlichen Regionen der Welt.. .Dabei müssen bei weiteren Diskussionen auch speziell „der“ Islam und alle weiteren Religionen hinsichtlich fundamentalistischer Tendenzen untersucht werden. Dass alle christlichen Kirchen jetzt von fundamentalistischen Gruppen immer stärker durchsetzt und beherrscht werden, sollte weiter bedacht werden, so dass die Aussage „Es gibt ein vernünftiges Christentum, einen vernünftigen christlichen Glauben (etwa im Sinne Kants) selbst schon marginal zu werden droht. Es könnte schon bald soweit gekommen, dass – etwa in den USA – fundamentalistischer christlicher Glaube mit dem Christentum insgesamt identifiziert wird und ein Staatspräsident Donald Trump wie ein religiöser Führer verehrt wird – von Christen, die den Verstand verloren haben…Mit diesen religiösen Leuten wird wohl kaum ein Dialog, ein wechselseitiger Lernprozess, möglich sein, in dem Sinne: „Nun übersetzt doch einmal eure charismatische – evangelikalen oder römisch katholischen oder russisch -orthodoxen Überzeugungen in eine säkulare Sprache, die alle Menschen verstehen…“

13.
Ob sich Jürgen Habermas zu diesem Thema noch einmal äußert? Wir würden es so dringend wünschen und uns so darüber freuen!

14.
Und Philipp Felsch möchte man fragen, warum er das Thema „Habermas und das Christentum“ in seinem Buch ausgelassen hat, doch sicher nicht auf Wunsch von Habermas selbst? Unvorstellbar! (Wie) Wird Philipp Felsch auf diese unsere Kritik antworten?

15.

Wir haben im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin jedenfalls seit eingen Jahren mehrere Salon -Gesprächs – Veranstaltungen zum Denken von Jürgen Habermas veranstaltet, mit dem Ziel: Dessen Denken weiten Kreisen bekannt zu machen. Auch auf NDR Kultur haben wir in einer Sendung der Reihe “Glaubenssachen” versucht, das Denken von Jürgen Habermas weiten Kreisen zugänglich zu machen. Als eines von etlichen Beispielen unserer Arbeiten während dieser Jahre: LINK:

Philipp Felsch, “Der Philosoph. Habermas und wir”. Propyläen Verlag Berlin 2024, 256 Seiten, 24€.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Marine Le Pen und ihr katholischer Glaube

Ein Hinweis von Christian Modehn am 1.7.2024

1.
Wenn mehr als 40 Prozent der praktizierenden Katholiken die rechtsextreme Partei von Marine Le Pen („Rassemblement National“, RN) zur Europawahl am 9. Juni 2024 gewählt haben, muss man fragen:
Ist denn Madame Le Pen eine so überzeugende Katholikin, dass praktizierende Katholiken sie so gern wählen?

2.
Über ihren Glauben, auch über ihre Bindung an den Katholizismus, hat Marine Le Pen mehrfach kurz gesprochen.

Dabei war die Partei „Front National“ (FN) unter ihrem Vater Jean-Marie Le Pen deutlich geprägt von einem sich katholisch nennenden, traditionalistischen Flügel, zu dem etwa der extrem militante Bernard Antony gehörte. Aber im Jahr 2008 wurde Bernard Antony, Führer des katholisch – reaktionären Flügels, aus dem FN ausgeschlossen. Das wird als Vorspiel gedeutet für den Aufstieg von Marine Le Pen: 2011 wurde sie Vorsitzende der Partei. Sie sorgte dafür, dass ihr offen rechtsextremer Vater 2015 aus der Partei ausgeschlossen wurde. Im Juni 2018 erhielt die Partei unter ihrer Führung den Namen „Rassemblement National“ (RN). Das Nationale und Nationalistische blieb erhalten, aber „Versammlung, Rassemblement, klingt etwas freundlicher als „Front.“ Mit der Ausgrenzung des katholisch – traditionalistischen Einflusses von einst wollte sie zeigen: Die „neue“ Partei will vor allem auch die sehr vielen kirchenfernen Wähler gewinnen. Madame Le Pen nennt diesen nach außen hin etwas freundlicheren Namen der Partei „dédiablisation“, Entdiabolisietung, will sagen: dass die Partei nach außen vor allem nicht mehr antisemitisch ist. Das jüdische Ehepaar Klarsfeld, die „Nazijäger“ von einst, glaubt das so einfach und betont jetzt, Marine Le Pen zu wählen. Darf man das eine Schande nennen oder nur „Alters-Schwäche“… Feinde sind für Marine Le Pen nicht mehr, wie es zur französischen Tradition auch ihres Vaters gehört, „die Juden“, sondern die „Islamisten“ und eigentlich alle Fremden…

3.
Zum Jahr 2017: (Quelle: LINK )

Anläßlich der Präsidentschaftswahlen 2017 sagte Marine Le Pen in Reims bei einem Besuch der berühmten Kathedrale, sie wird als „Geburtsort“ des katholischen Frankreich hoch gepriesen: „Frankreich muss sich an die Versprechen seiner Taufe erinnern. Es gibt Menschen, die glauben an den Himmel, und solche, die daran nicht glauben. Aber ich glaube!“
Die Mitarbeiter Madame Le Pens ergänzten: „Ganz evident, sie ist katholisch“. Von der Erinnerung an das Taufversprechen Frankreichs sprach in ähnlichen Worten („Erinnert euch an die Taufe Frankreichs“!) übrigens Papst Johannes Paul II. bei seinem Besuch in Reims im Jahr 1996.
Madame Le Pen wurde in Reims von vielen nicht willkommen geheißen, und ausgepfiffen: (Quelle: “Le Monde”. LINK )
Trotzdem sagte sie dort über ihren katholischen Glauben: „Ich habe meine Kinder in der Kirche (der so genannten “Pius-Brüder” des schismatischen Erzbischofs Marcel Lefèbvre, CM) St. Niocolas du Chardonnet (Paris) taufen lassen. Ich habe also nicht traditionalistische Katholiken zu kritisieren. Aber ich wünsche nicht, dass sie wie in einer Art abgeschlossenen `Kapelle`, ihre religiösen Überzeugungen über die politischen Überzeugungen stellen“.
So gibt sich Madame Le Pen nach außen hin als treue Verteidigung der französischen laicité, also der Überordnung staatlicher, aber vernünftiger Gesetze über religiöse Weisungen.
Aus taktischen Gründen ist in dem RN offiziell keine kritische Rede mehr von Kritik an der Homosexuellen – Ehe oder zum Schwangerschaftsabbruch zu vernehmen. Die rechtsextremen Führer haben erkannt: Diese Themen spalten die Gesellschaft, man will die Mehrheit gewinnen…

4.
Im April 2017 bekannte sich Madame Le Pen in einem Interview mit „La Croix“ sogar als „extrem gläubig, aber verärgert mit der Kirche.”
Dieselben Worte sagte sie schon in einem Interview mit der katholischen Zeitschrift „La Vie“ (Paris) im Jahr 2011: Und damals fügte sie hinzu: „Glücklicherweise aber berührt (stört) der Klerus nicht meinen Glauben“ (Quelle. Pierre Jova in „La Vie“, 3.10.2022. Publié et mis à jour le 05/10/2022 à 11h37). Madame Le Pen fühlt sich verletzt, so heißt es in ihren Kreisen, weil die katholischen Bischöfe einst ihren Vater, den reaktionären Chef des Front National, heftigst kritisieren. Gegenüber Marine Le Pen ist die Bischofskonferenz sehr viel moderater, sehr viel schweigsamer geworden. Vor den Wahlen am 30.6.2024 fiel den Bischöfen nichts anderes ein, als aufzufordern zur Wahl zu gehen und… zu beten. LINK.

5.
Madame Le Pen äußert Kritik auch zu Papst Franziskus, weil er sich stark für die Offenheit gegenüber Migranten einsetze. Marine Le Pens dauerndes Statement: „Der Papst sollte sich nicht politisch einmischen.“ Damit zeigt sie sich wiederum als Anhängerin der laicité, der Trennung von Kirche und Staat. Und damit kann sie Mehrheiten finden!

6.
2021 schrieb die Zeitung „Le Parisien“, Marine Le Pen verstehe sich nun eher als „Catholique du Parvis“, als „Katholiken auf dem Vorplatz der Kirche“. (Quelle: Alexandre Sulzer in der Tageszeitung „Le Parisien“, am 18.März 2021.)

7.
2022: Madame Le Pen polemisiert gegen ihren politischen Feind von sehr extrem Rechtsaußen, gegen Eric Zemmour und seine Partei Reconquete: In einen Zusammenhang nannte sie Zemmour – Wähler „katholische Traditionalisten“, „Heiden“ und „Nazis“. „Eine Ungeschicklichkeit“ nennen sogleich Mitarbeiter diese Äußerung der Parteichefin und sie selbst versucht die Wogen zu glätten. „Ich hätte eher „Integristen“ sagen sollen“, meint Madame Le Pen später. „Integristen“ sind eigentlich noch radikaler als Traditionalisten: Sie wollen die Herrschaft der Kirche über den Staat. Traditionalisten fordern hingegen den Stop jeglicher Kirchenreform und die Wiederkehr der alten lateinischen Messe des 16. Jahrhunderts.

8.

Warum also wählen so viele praktizierende Katholiken die nach wie vor rechtsextreme, nach außen sich etwas freundlich gebende Partei Marine Le Pens? Viele Gründe sind zu nennen: Etwa: Die Inhalte der Partei “Rassemblement National”  sind den Katholiken sympathisch, weil sie selbst politisch sehr konservativ, sehr national, manchmal reaktionär denken … und immer nur eine Minderheit der französischen Katholiken politisch links war. Weil sie die Demokratie als schwierige Lebensform (“zu viele Diskussionen” etc.) nicht auf Dauer gestalten und auch ertragen wollen. Weil die Demokratie ohnehin in der katholischen Kirche selbst keine “heilige Institution” ist und sich diese katholische Kirche selbst so oft auch poffiziell und so gern “nicht – demokratisch” nennt. Und: Die geheime Liebe der Katholiken zu einem “Führer”, etwa zu Marschall Pétain in den Jahren der Nazi-Besetzung Frankreichs, ist bekannt. Die Ergebenheit vieler Laien für den Papst und den Klerus war immer auch eine Treue zu “Führern”…

9.

Der neue Trend unter konservativen und reaktionären Katholiken in Frankreich, der auch zur Sympathie für die Partei Marine Le Pens führt: Diese Katholiken nennen sich “tradis”, also eher sanfte Traditionalisten: Sie beteiligen sich an dem jährlichen Pilgermarsch von Paris nach Chartres, 18.000 Teilnehmer 2024; sie sind mit offiziell römisch – katholischen Vereinen und Orden verbunden, die aber de facto auch theologisch reaktionär sind, wie das “Instiutut du Bon Pasteur” in Bordeaux, dort ist Mitglied der populäre, äußerst konservative Priester Matthieu Raffray. Oder auch die viele Mitglieder zählende äußerst konservative Gemeinschaft der Priester von “Christ-Roi Souverain Pretre”.

10.

Der neue Parteichef des Rassemblement National ist Jordan Bardella (geb. 1995 in Drancy), er besuchte als Katholik in der Banlieue, in Saint Denis, die katholische Schule “Jean-Baptist de la Salle”.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin