Jesus als Lehrer der Weisheit: Provozierend und un-orthodox.

Ein Hinweis auf ein vergessenes Buch des katholischen Theologen Richard Glöckner.
Von Christian Modehn

1.
In seinem Essay „Quo vadis? – Das Christentum am Scheideweg zur Moderne“ (Lit – Verlag, Münster, 2023, 170 Seiten) will der Theologe im Dominikanerorden Richard Glöckner einen Ausweg zeigen aus der Krise der (katholischen) Kirche und des Christentums in Europa vor allem. Er plädiert, zusammenfassend gesagt, für einen einfachen Glauben: Die ethischen Weisungen Jesu von Nazareth als allgemein menschliche Maximen sollen im Mittelpunkt christlicher Praxis des einzelnen wie der Kirchen-Leitung stehen. Die Verbundenheit mit Gott als dem Geheimnis des Lebens im Sinne Meister Eckarts ist dabei grundlegend. Die Bindung an die vielen kirchlichen Dogmen von einst istfür Glöckner eher eine Last als eine Glaubenshilfe.

2.
In diesem Plädoyer Glöckners wird die Gestalt Jesu Christi neu und für viele LeserInnen ungewöhnlich gedeutet. Es gilt, Jesus von Nazareth als Weisheitslehrer zu entdecken und eben die aus neuplatonischen Zeiten stammende Verehrung des Gottes-Sohnes, auch des Dogmas von Jesus Christus als Gott, zurückzustellen.
Dieser Hinweis Glöckners verdient Beachtung angesichts des abstrakten und metaphysischen Glaubensbekenntnisses des Konzils von Nizäa (im Jahr 325). LINK
Jesus als Weisheitslehrer mit seinen Gleichnissen und einfachen Weisungen kann über dessen Eingebundenen in eine konkrete Kultur hinaus dann doch eine universelle Bedeutung erhalten: Diese Universalierung der zentralen Botschaft Jesu Christi versuchten die Bischöfe im Konzil von Nizäa auf ihre Weise mit der spätantiken neuplatonischen Philosophie zu gestalten. Alle Menschen („die Heiden“) sollten von Christi Botschaft erreicht werden, indem man diese Botschaft verwandelte, also hineinsetzte in die Begriffe und das Denken neuplatonischer Philosophie. Diese abstrakten Begriffe dieses Bekenntnisses (und der Bekenntnisse späterer Konzilien) versteht heute selbst ein gebildeter Europäer nicht mehr. Darum also verdient der Vorschlag Glöckners Beachtung: Jesus von Nazareth sollte als universell verständlicher und inspirierender Weisheitslehrer entdeckt werden.

3.
Glöckner meint also: Es sei angesichts der Krisen der Kirchen und des Glaubens entscheidend, „den Kern der Botschaft Jesu möglichst unverfälscht aufzunehmen und zur Richtschnur des eigenen Glaubens zu machen“ (S. 139). Dabei weiß der Autor, dass eine „direkte (exakte) Rekonstruktion“ des authentischen Lebens Jesu heute unmöglich ist. Trotzdem: Die Gleichnisse Jesu vom Reich Gottes, die Bergpredigt und der Umgang Jesu mit leidenden, ausgegrenzten Menschen zeigen doch den authentischen Jesus von Nazareth.

4.
Der Essay von Richard Glöckner als Plädoyer für Jesus als den Weisheitslehrer kommt nicht aus ohne eine gewisse Polemik aus gegenüber den in theologischen Kreisen üblicherweise stets betonten Bindungen Jesu an „die“ jüdische Religion. Dabei muss natürlich immer differenziert gesehen werden, welche Tradition, welche theologische Schule innerhalb des Judentums denn nun wirklich für Jesus selbst wichtig und prägend wurden. Jesus als `den` Juden einfach so undifferenziert zu bekennen, ist vielleicht doch oberflächlich. Wahrscheinlich war Jesus von Nazareth ein ganz besonderer, nicht zu definierender Jude, der viele orthodoxe jüdische Traditionen damals kannte. Richard Glöckner schreibt: Jesus lebte im Kulturraum Galiläas, „in einer religiösen Atmosphäre, die insgesamt eher heidnisch – hellenistischem und jüdisch – heterodoxen Habitus entspricht“, also anders als die orthodoxe religiöse Welt in Jerusalem. „Jesu Sprache ist durchsetzt mit Bezügen auf die Natur seiner galileischen Umwelt.“ ( S. 140)… „Gottes Fürsorge für die Menschen belegt Jesus mit Hinweisen auf den überfließenden Reichtum des Lebens in der Natur… Jesus denkt dabei und spricht hier außerhalb aller jüdisch – heilgeschichtlichen Traditionen und Vorstellungen“ (S. 144).

5.
Nebenbei: Auf das unorthodoxe Profil Jesu von Nazareth weist unter anderen auch der jüdische Gelehrte Pinchas Lapide hin (in „Paulus“, Gütersloher Verlagshaus 1995). Etwa auf eine gewisse Verbundenheit Jesu mit den Theologen in Qumran (S. 109). „Dass Jesus von Nazareth auch in Qumran weilte, können wir aus einigen seiner Gleichnisse und Äußerungen entnehmen“ Lapide stellt fest, Jesus sei trotz der Verbindung mit Qumran aber kein Anhänger der dortigen theologischen Schule der Essener gewesen (so S. 110). Und dann betont Lapide aber doch: Jesus von Nazareth habe „eklektisch etliche Qumranlehren angenommen“ (S. 110). Jesus hat sich also – den verschiedenen Traditionen des Judentums damals – EKLEKTISCH verhalten. Was aber war der Massstab für die Auswahl? Pinchas Lapide gibt einen Hinweis: „Jesus war ein ausgesprochener Tora – Verschärfer“ (S. 10). Aber was bedeutet „Verschärfer der Tora“: Jesus stellte den Menschen, sein Wohl, über die allgemeinen damals herrschenden religiösen Gesetze. Dann ist diese Gesetzes – Kritik Jesu also seine „Tora- Verschärfung“, und auch deswegen wurde Jesus in Jerusalem der tödlich endende Prozess gemacht. Jesus musste sterben, „weil sein offenes Gottes – und Menschenbild unerträglich war.“ (S. 148).

6.
Es gehört für die eher katholisch gebildeten LeserInnen schon eine gewisse Ausdauer dazu, einige zentrale Aspekte des Werkes Glöckners zu bedenken und als neue Erkenntnis zu realisieren: Für Jesus in seiner Ethik (und seinem Lebensstil) seien nicht „irgendwelche religiösen (jüdischen) Gebote“ zentral. Sondern: „Was für Jesus allein zählt, ist ein Handeln gemäß allgemein gültiger, menschlicher Anforderungen,“ so Glöckner auf S. 147.

7.
Die Leserinnen des Essays Glöckners erkennen – zusammenfassend gesagt: Jesus von Nazareth sei in seiner Lehre und seiner Lebenspraxis über „das“ damalige orthodoxe  Judentum hinausgewachsen. Das zeigt Glöckner z.B. auch an den „weisheitlichen Traditionen in den Jesusworten der synoptischen Evangelien“ (S. 140 ff.). Jesu Worte seien der weisheitlichen, also der philosophischen und universellen Lehre verpflichtet. Aspekte der heilgeschichtlichen (alttestamentlich bezeugten) Auserwählung kämen – so Glöckler – in Jesu Reden nicht deutlich vor. „Die Umkehr im Sinne Jesu erweist sich in der Befolgung allgemein gültiger Regeln menschlichen Zusammenlebens: Hilfsbereitschaft, Ehrlichkeit und Gewaltlosigkeit“ (S. 142). Zusammenfassend sagt Glöckner. „ Aber diese Ansätze sind von der frühen Kirche nicht aufgenommen und weiterentwickelt worden“ (S. 144).

Richard Glöckner, „Quo vadis? – Das Christentum am Scheideweg zur Moderne“ Lit Verlag, Münster 2023, 170 Seiten.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer-Salon.de

 

Luther und die Philosophie: Ein verdrängtes Thema, auch heute.

Ein Hinweis von Christian Modehn

In der Rubrik  „Vergessene Texte – heutige Texte“ stellt der Religionsphilosophische Salon philosophische und theologische Bücher und Essays vor, die heute leider fast nicht mehr viel Beachtung finden. Sie verdienen aber große Aufmerksamkeit und weitere Diskussion. Zum Beispiel der Essay des polnischen Philosophen Leszek Kolakowski (geb. in Radom, PL, 1927, gest. in Oxford GB, 2009). Der Essay heißt: „Der philosophische Sinn der Reformation“, veröffentlicht in dem Buch „Geist und Ungeist christlicher Tradition“ (Kohlhammer Verlag 1971). Dieses Buch ist leider nur noch antiquarisch zu haben, eigentlich schade, dass solche wichtigen Texte so schnell „verschwinden“.

Im Reformationsgedenken, das weithin ein Luther-Gedenken 2017 werden wird, fehlen meines Erachtens Auseinandersetzungen mit dem heiklen Thema „Luther (bzw. auch Calvin) und die Philosophie“. Die evangelischen Organisatoren dieses Reformations-Festivals (mit dem Kirchentag im Mai 2017 in Berlin und Wittenberg) haben meines Wissens dazu keine aktuellen ausführlichen selbstkritischen Studien veröffentlicht. Werden Philosophen bei diesem Reformations-Festival ausgesperrt? Oder werden sie ihre eigenen Vorschläge zum Thema Glauben und Wissen vortragen können? Wenn man Philosophieren und damit Philosophie als die elementare geistige Haltungen des Menschen betrachtet, sind sie im Zusammenhang von Reformation und Glauben genauso wichtig wie „Glaube und Kunst“ oder „Glaube und Musik“…

Die traditionelle extreme Abwehr des philosophischen Denkens als eines möglichen Weges des Menschen zu Gott ist innerhalb der klassischen protestantischen Orthodoxie allseits bekannt. Diese Zurückweisung des lebendigen Philosophierens als eigenständiger „Leistung“ der Menschen hat ihre Gründe zweifellos in der Gnaden-Lehre der Reformatoren. Da wird dann gern darauf verwiesen: Die „Natur“ des Menschen ist so verdorben und so schlecht, dass diese Verdorbenheit eben auch den Verstand betrifft. So ist eigentlich kein hilfreicher, konstruktiver philosophischer Gedanke zur Gottesfrage möglich. Aber: So total verdorben wollten dann die Reformatoren die menschliche Vernunft doch nicht gelten lassen. Sie gestehen immerhin ein: Mit gewissen Restbeständen der Vernunft können selbst die Heiden „ein bisschen was“ von Gott ahnen. Auf diesen letzten “guten Schimmer” von Vernunft etwa bei Calvin hat der Philosoph Leszek Kolakowski hingewiesen, in seinem oben genannten Essay „Der philosophische Sinn der Reformation“. Auf Seite 123 schreibt Kolakowski: „Gott hat den Menschen (im Sinne Calvins) ein wenig natürliche Kenntnis von sich verliehen. So viel nämlich, dass sich niemand vor Gottes Gericht durch Unwissenheit rechtfertigen kann. Das `natürliche Licht` ist demnach in göttlichen Dingen bloß Werkzeug, um den Sündern ein Alibi zu entziehen und Ausflüchte unmöglich zu machen…“ Für den Glauben selbst ist das so genannte natürliche Licht der Vernunft völlig wertlos. Gott als bleibendes Geheimnis, der dogmatische Kern des Glaubens, wird niemals vernünftig thematisiert. Kolakowski vermutet hinter dieser Haltung der Reformatoren: dass der Mensch sich selbst als Vernunftwesen verachten soll. „Für Luther heißt Gott zu lieben sich selbst zu lassen“ (im Sinne von loslassen, aufgeben) (S. 122).

Die Aufgabe des Selbst, des natürlichen Selbst wie das begnadeten, als Verzicht auf die mit dem Selbst angeblich automatisch mit-gegebene Selbstherrlichkeit, zu der Luther auch das philosophische Denken zählt, ist also zentral.

Zunächst soll – über Kolakowski hinaus – an die aktuelle theologische Erkenntnis erinnert werden: „Die Natur“ „des“ Menschen “vor” aller Gnade, also zeitlich gesehen vor aller Anwesenheit des göttlichen Geistes IM Menschen, ist eine abstrakte und unsinnige Konstruktion. „Die Natur“ des Menschen vor (zeitlich verstanden) aller Gnade gibt es eigentlich nicht: De facto ist die Menschheit als ganze immer schon von der Anwesenheit des göttlichen Geistes bestimmt. Dies ist etwa die zentrale Erkenntnis des Theologen Karl Rahner. Er bezieht sich dabei auf ein biblisches Verstehen Gottes, der unmöglich die einen, bloß „natürlichen“ Menschen verdammen, die anderen, die zufälligerweise die Gnade haben, retten kann. Rahner denkt dabei, um das Neue Testament zu zitieren, an den Spruch aus dem ersten Timoteus Brief (2,4): „Gott will das aller Menschen“. Diese Erkenntnis hat, so scheint es, bis heute in der reformatorischen Theologie zu keiner Veränderung des Denkens geführt, in dem Sinne: dass die Gnade IMMER SCHON anwesend ist für alle Menschen. Diese ewigen und so sinnlos erscheinenden Diskussionen über die Prädestination kommen aus der Abweisung dieser Erkenntnis. Rahner hat in dieser Frage recht, weil er Gott NICHT als willkürlich Gnade austeilenden Tyrannen denkt. Ob über diese überholte Prädestinationslehre (also die Erlösung nur einiger Erwählter) im Reformationsjubiläum 2017 nochmals zustimmend und „letztlich“ verstehend gesprochen wird? Gott bewahre uns davor! Es gibt viel Dringenderes!!

Kolakowski erinnert in seinem Beitrag deutlich an diese theologisch überholte Haltung der Reformatoren, die da heißt: „Vernunft und Argumente können in keiner Hinsicht das Christentum stärken… Alle Vorstellungen der Philosophie von göttlichen und menschlichen Dingen macht die Heilige Schrift zunichte (123).

Diese globalen Erkenntnisse sind bekannt. Interessant sind die zwei Konsequenzen, die Kolakowski entwickelt, sie können hier nur in Kürze dargestellt werden, deswegen lohnt sich die ausführliche Diskussion des Textes!

Wenn der einzelne Mensch, selbst der Getaufte, sündhaft auf sich selbst beharrt, also auf seinem „Einzeldasein“ (126) besteht, diese Situation aber überwinden will, dann kann auch dies eine Konsequenz sein: Es ist besser, sich als einzelner förmlich aufzugeben und in der Einheit des Göttlichen zu zerfließen. Diese Haltung nennt Kolakowski die mystische Haltung. Auch sie ergibt sich also aus der Position Luthers! Wenn in der Fixiertheit auf die Gnade, die alles bewirkt, weiter gedacht wird, meint der Philosoph, kann diese Tendenz zum Pantheismus führen, also jener Haltung, in der nur Gott alles wirkt und alles bewirkt. Totale Gnade, könnte man sagen. Alles ist Gott. Kolakowski verweist auf Sebastian Franck, „den ersten Pantheisten, den die Reformation ins Leben rief“ (127), auf Jacob Böhme, Valentin Weigel und Angelus Silesius. Kolakowski sieht – in einer spekulativen These – dass Luther sozusagen unbewusst, also alles andere als gewollt in seiner Theologie ein „Zwischenglied“ bildet zwischen spätmittelalterlicher Mystik und „pantheistischer Mystik späterer Jahrhunderte“ (127).

Dem Titel seines Essays entsprechend gibt Kolakowski noch den Hinweis, dass die praktische Philosophie Kants von Luther mit geprägt ist. „Die Überzeugung, dass die eigentliche moralische Bewertung sich einzig auf den Willen selbst bezieht, ist lutherischer Herkunft“. So wirkt Luther also auch hier ungewollt als Gegner der Philosophie tatsächlich in der Philosophie weiter…

Aber Luther hat durch seine Natur – und Gnadenlehre auch eine „existentielle Richtung“ der Philosophie mit – bewegt und mit -bewirkt, wie Kolakowski schreibt (129). „Christ ist im Sinne Luthers, wer im Glauben lebt. Der Glaube ist nicht Überzeugung, sondern totale geistige Wiedergeburt, völlige Erneuerung, Vernichtung des alten Menschen und der Akt des Eintretens in eine neue Wirklichkeit, ein Akt, den keinerlei natürlicher Mittler (Kirche usw.) anstelle des einzelnen Menschen erfüllen kann“(130). Mit anderen Worten: Der Glaubende ist als erlöster Einzelner ganz auf seinen eigenen Gott gestellt. In Kierkegaard sieht Kolakowski den Propheten dieses extrem existentiellen Christentums. Für Kierkegaard erlebt der Gläubige die völlige Subjektivität, sie ist nur noch auf die göttliche Subjektivität bezogen, kennt nichts anderes. Der einzelne Glaubende braucht die objektiven Bindungen nicht, letztlich nicht die Kirche, nicht die objektiven Sprachregelungen die vorgegebenen Gesetze. Kolakowski sieht auch darin eine Wirkungsgeschichte Luthers, ungewollt natürlich, aber Luther inspiriert förmlich die Existenzphilosophie. Kierkegaard ist ein Zwischenglied zwischen Luther und der modernen Existenzphilosophen. Das ist für Kolakowski „keine künstlich konstruierte Koinzidenz, sondern eine reale energetische Verbindung“ (137). Luther hat, so meint er, durch seine ablehnende Haltung zur Philosophie diese Philosophie doch angeregt, sogar „den Keim der neuzeitlichen Philosophischen Kultur“.

Luther, der große Feind der angeblich verdorbenen Philosophie, hat das philosophische Denken dann indirekt doch inspiriert: Ein schönes Paradox, ein Zeichen, dass sich Philosophieren nicht klein kriegen lässt, auch nicht von theologischen Vorurteilen.

WEITERE TEXTE:

“Wir haben von Luther fast nichts gelernt” ist der Titel eines Hinweises zur Luther-Rezeption im heutigen Katholizismus, klicken Sie hier.

Luther in der Sicht heutiger PhilosophInnen, klicken Sie bitte hier.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Vom Wesen “der” japanischen Kultur. Zu einem Beitrag des Philosophen Karl Löwith

Von Christian Modehn

Im Jahr 2018 wird man nicht nur in Japan der „Großen japanischen Revolution“ gedenken, die 150 Jahre zuvor, als „Beginn der Meiji-Zeit“, die Gesellschaft grundlegend veränderte: Japan öffnete sich radikal dem Westen, übernahm europäisches Wissen und know-how, und blieb auf der anderen Seite, „im Innern“, traditionell-japanisch.

Ob dieses unvermittelte Nebeneinander von westlichem Wissen und lang dauernder japanischer Mentalität in der Gesellschaft wie bei den einzelnen Menschen heute noch fortbesteht, wäre ein eigenes Thema.

Aber der Beginn der Meiji-Zeit ist ein Anlass, schon jetzt verschiedene Erkenntnisse zu sammeln, die den Geist, die Mentalität, Japans deutlich machen können. Denn das Miteinander oder Nebeneinander verschiedener Mentalitäten in einer Kultur ist ein Thema auch heute, man denke an die arabische oder allgemein: muslimische Welt.

Karl Löwith, der immer noch anregende Philosoph (1897-1973), dessen Hauptwerke heute viel mehr beachtet werden sollten, hat sich als Verfolgter der Nazis von 1936 bis 1941 in Japan, an der Universität Tohoku von Sendai, als philosophischer Lehrer aufgehalten. Dann konnte er 1941, dank der Hilfe etwa des Theologen Paul Tillich, in die USA fliehen. Dort hat er 1942 bzw. 1943 zwei kleinere Studien publiziert mit dem Titel „Der japanische Geist“ und „Japans Verwestlichung und moralische Grundlage“. Beide Texte liegen seit einiger Zeit auch auf Deutsch vor. Sie zeigen, wie Löwith durchaus – in seiner Sicht – vieles Bewundernswertes in Japan erlebte (etwa die Kunst der Haikus, die das Nichts freigebenden Gemälde, den „feinen Geschmack“ und die Höflichkeit der Japaner…) Die Erfahrungen in Japan, und das ist in meiner Sicht entscheidend, haben Löwith inspiriert, angesichts der buddhistisch-shintoistisch geprägten Kultur, seine Studie „Weltgeschichte und Heilsgeschehen“ (auf Deutsch 1953, auf Englisch, USA, 1949) zu schreiben. Dieses Buch stellt die vom Christentum geprägte Deutung der Geschichte als Fortschrittsgeschichte in Frage. Im Hintergrund steht bei Löwith offenbar positiv und anerkennend die asiatische Erfahrung einer „heiligen Natur“ und des „göttlichen Kosmos,“ also die japanische Kultur, die er, ähnlich der griechischen Kultur, als „heidnisch“ empfand. Die Erfahrungen Löwiths in Japan haben ihn in jedem Fall angeregt, über den europäischen Rahmen hinaus zu denken. Das ist beachtlich für einen Philosophen, der als Verfolgter leben musste. Aber Löwith hatte offenbar seine stoische Haltung bewahrt. Interessant ist überdies, das Löwith in Sendai, Japan, sein sicher wichtigstes Buch verfasste: „Von Hegel zu Nietzsche“. Ein Hinweis, dass er auch in der Fremde als Flüchtling mit der europäischen Philosophie in enger Verbundenheit lebte und dachte.

Zu dem Buch aus dem Verlag Matthes und Seitz: Beide Aufsätze waren förmlich Auftragsarbeiten der USA an die einreisenden Flüchtlinge, die Mentalitäten der „Feinde“ zu beschreiben. Löwith hielt sich bei dem ideologisch geformten Auftrag zurück, der Untertitel seines Beitrag „Der japanische Geist“ spricht noch „von der Mentalität, die wir verstehen müssen, wenn wir siegreich sein wollen“. Es wird vermutet, dass dieser Untertitel nicht von Löwith stammt. Der deutsche Professor in Sendai ist durchaus bewertend und kritisch zu den kulturellen Verhältnissen in Japan: Etwa, wenn er sagt, das Studium europäischer Philosophien, perfekt absolviert, habe keine „Spuren hinterlassen“ bei den Studenten wie den hoch gebildeten Professoren (24). Mit anderen Worten: Diese hoch gebildeten japanischen Spezialisten europäischer Philosophie hätten eigentlich nichts verstanden. Sie können nur die Texte wiederholen. Hingegen hätten Studenten dann doch gemerkt, wie „steril“ der Umgang japanischer Philosophen mit Europa sei (25), sie wollen „ihre eigene Tradition“ interpretieren (26). Hingegen lobt Löwith ausdrücklich den Philosophen Nishida, aus der so genannten Kyoto Schule, er sei ein „origineller Denker“. In dieser Einschätzung steht ja Löwith heute nicht allein!

Ansätze für die schon damals gespürte Überwindung der christlich geprägten Geschichts- und Weltauffassung findet Löwith dann doch in Japan, etwa seine Sympathie für die buddhistisch vermittelte Erfahrung des Nichts auch in der Kunst. „Die kreative Kraft des Zen ist kaum zu überschätzen. Aus ihm bezieht die gesamte japanische Kunst ihre Wirkung“ (36). Beeindruckend auch Löwiths Hinweise zur Bedeutung der wunderschönen, aber nur kurz blühenden Kirsch-Blüten für das Empfinden der Japaner. Befremdliches wird genannt, etwa der Zusammenhang von Ruhe und plötzlichem Zorn im populären Kabuki Theater. Bei der Kunst des Fechtens meint Löwith „grässliche, primitive und wilde Schreie“ zu hören (69).

Insgesamt bietet Löwith aus seiner Sicht ehrliche Deutungen eines gebildeten Europäers zu einigen zentralen Aspekten japanischer Kultur. Dieses Buch ist ein Beleg für das Bemühen um Verständnis zwischen den Kulturen. Der viel besprochene Dialog der Kulturen kann nur beginnen, wenn Menschen auch erste Eindrücke einander schildern. Wer lange wartet, bis Perfektes gesagt wird, kann niemals einen Kultur-Dialog erleben. Löwiths Einsichten sind nicht vollkommen, aber auch nicht immer falsch. Sie sind so gut, dass sie zum Weiterforschen und Weiterfragen motivieren. Und das ist schon sehr viel.

Karl Löwith, Der japanische Geist. Berlin 2013, Matthes und Seitz Verlag. 74 Seiten, 10 Euro

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.