Von Christian Modehn
Im Jahr 2018 wird man nicht nur in Japan der „Großen japanischen Revolution“ gedenken, die 150 Jahre zuvor, als „Beginn der Meiji-Zeit“, die Gesellschaft grundlegend veränderte: Japan öffnete sich radikal dem Westen, übernahm europäisches Wissen und know-how, und blieb auf der anderen Seite, „im Innern“, traditionell-japanisch.
Ob dieses unvermittelte Nebeneinander von westlichem Wissen und lang dauernder japanischer Mentalität in der Gesellschaft wie bei den einzelnen Menschen heute noch fortbesteht, wäre ein eigenes Thema.
Aber der Beginn der Meiji-Zeit ist ein Anlass, schon jetzt verschiedene Erkenntnisse zu sammeln, die den Geist, die Mentalität, Japans deutlich machen können. Denn das Miteinander oder Nebeneinander verschiedener Mentalitäten in einer Kultur ist ein Thema auch heute, man denke an die arabische oder allgemein: muslimische Welt.
Karl Löwith, der immer noch anregende Philosoph (1897-1973), dessen Hauptwerke heute viel mehr beachtet werden sollten, hat sich als Verfolgter der Nazis von 1936 bis 1941 in Japan, an der Universität Tohoku von Sendai, als philosophischer Lehrer aufgehalten. Dann konnte er 1941, dank der Hilfe etwa des Theologen Paul Tillich, in die USA fliehen. Dort hat er 1942 bzw. 1943 zwei kleinere Studien publiziert mit dem Titel „Der japanische Geist“ und „Japans Verwestlichung und moralische Grundlage“. Beide Texte liegen seit einiger Zeit auch auf Deutsch vor. Sie zeigen, wie Löwith durchaus – in seiner Sicht – vieles Bewundernswertes in Japan erlebte (etwa die Kunst der Haikus, die das Nichts freigebenden Gemälde, den „feinen Geschmack“ und die Höflichkeit der Japaner…) Die Erfahrungen in Japan, und das ist in meiner Sicht entscheidend, haben Löwith inspiriert, angesichts der buddhistisch-shintoistisch geprägten Kultur, seine Studie „Weltgeschichte und Heilsgeschehen“ (auf Deutsch 1953, auf Englisch, USA, 1949) zu schreiben. Dieses Buch stellt die vom Christentum geprägte Deutung der Geschichte als Fortschrittsgeschichte in Frage. Im Hintergrund steht bei Löwith offenbar positiv und anerkennend die asiatische Erfahrung einer „heiligen Natur“ und des „göttlichen Kosmos,“ also die japanische Kultur, die er, ähnlich der griechischen Kultur, als „heidnisch“ empfand. Die Erfahrungen Löwiths in Japan haben ihn in jedem Fall angeregt, über den europäischen Rahmen hinaus zu denken. Das ist beachtlich für einen Philosophen, der als Verfolgter leben musste. Aber Löwith hatte offenbar seine stoische Haltung bewahrt. Interessant ist überdies, das Löwith in Sendai, Japan, sein sicher wichtigstes Buch verfasste: „Von Hegel zu Nietzsche“. Ein Hinweis, dass er auch in der Fremde als Flüchtling mit der europäischen Philosophie in enger Verbundenheit lebte und dachte.
Zu dem Buch aus dem Verlag Matthes und Seitz: Beide Aufsätze waren förmlich Auftragsarbeiten der USA an die einreisenden Flüchtlinge, die Mentalitäten der „Feinde“ zu beschreiben. Löwith hielt sich bei dem ideologisch geformten Auftrag zurück, der Untertitel seines Beitrag „Der japanische Geist“ spricht noch „von der Mentalität, die wir verstehen müssen, wenn wir siegreich sein wollen“. Es wird vermutet, dass dieser Untertitel nicht von Löwith stammt. Der deutsche Professor in Sendai ist durchaus bewertend und kritisch zu den kulturellen Verhältnissen in Japan: Etwa, wenn er sagt, das Studium europäischer Philosophien, perfekt absolviert, habe keine „Spuren hinterlassen“ bei den Studenten wie den hoch gebildeten Professoren (24). Mit anderen Worten: Diese hoch gebildeten japanischen Spezialisten europäischer Philosophie hätten eigentlich nichts verstanden. Sie können nur die Texte wiederholen. Hingegen hätten Studenten dann doch gemerkt, wie „steril“ der Umgang japanischer Philosophen mit Europa sei (25), sie wollen „ihre eigene Tradition“ interpretieren (26). Hingegen lobt Löwith ausdrücklich den Philosophen Nishida, aus der so genannten Kyoto Schule, er sei ein „origineller Denker“. In dieser Einschätzung steht ja Löwith heute nicht allein!
Ansätze für die schon damals gespürte Überwindung der christlich geprägten Geschichts- und Weltauffassung findet Löwith dann doch in Japan, etwa seine Sympathie für die buddhistisch vermittelte Erfahrung des Nichts auch in der Kunst. „Die kreative Kraft des Zen ist kaum zu überschätzen. Aus ihm bezieht die gesamte japanische Kunst ihre Wirkung“ (36). Beeindruckend auch Löwiths Hinweise zur Bedeutung der wunderschönen, aber nur kurz blühenden Kirsch-Blüten für das Empfinden der Japaner. Befremdliches wird genannt, etwa der Zusammenhang von Ruhe und plötzlichem Zorn im populären Kabuki Theater. Bei der Kunst des Fechtens meint Löwith „grässliche, primitive und wilde Schreie“ zu hören (69).
Insgesamt bietet Löwith aus seiner Sicht ehrliche Deutungen eines gebildeten Europäers zu einigen zentralen Aspekten japanischer Kultur. Dieses Buch ist ein Beleg für das Bemühen um Verständnis zwischen den Kulturen. Der viel besprochene Dialog der Kulturen kann nur beginnen, wenn Menschen auch erste Eindrücke einander schildern. Wer lange wartet, bis Perfektes gesagt wird, kann niemals einen Kultur-Dialog erleben. Löwiths Einsichten sind nicht vollkommen, aber auch nicht immer falsch. Sie sind so gut, dass sie zum Weiterforschen und Weiterfragen motivieren. Und das ist schon sehr viel.
Karl Löwith, Der japanische Geist. Berlin 2013, Matthes und Seitz Verlag. 74 Seiten, 10 Euro
Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.