Philosophische Stadtspaziergänge: Über das Buch „Geistreiches Berlin und Potsdam. Ein philosophiegeschichtlicher Städteführer“.

Von Christian Modehn.

1.
In der fast unüberschaubaren Bücher – Fülle von Stadtführern zu Berlin, aber auch zu Potsdam, hat ein spezieller „philosophischer Begleiter“ auf den Spaziergängen und „Stadterkundungen“ gefehlt. Maurice Schuhmann, promovierter Politikwissenschaftler und nebenberuflich auch Journalist, füllt diese von einigen sicher gespürte Lücke. Er bietet auf 180 Seiten, reich ausgestattet mit Fotos und im Text sehr lesefreundlich, eine Mischung aus Basis-Informationen zu den philosophischen „Größen“ einst. Das neue Buch ist praktisch von Bedeutung, weil es Informationen zu entsprechenden Spaziergängen zu den Orten des Denkens bzw. der Denker aufweist.
2.
Dass in der Stadt Berlin, die im 2. Weltkrieg heftigst zerstört wurde, authentisch – historische Orte, wie etwa zu bestaunende Wohnungen der Philosophen damals, nicht vorgezeigt werden können, ist ein unüberwindbarer Mangel. So kann der philosophisch interessierte Spaziergänger oft nur zu Gedenktafeln, Statuen oder Friedhöfen geführt werden. Wenn man sich denn in einer philosophisch kompetenten Gruppe befindet, mag das ja sogar interessant sein. Hegel wusste ja, dass die Bindung an äußere Gegebenheiten (etwa Wallfahrtsorte, Heiligtümer, Grabmäler etc.) philosophisch nicht sehr relevant ist. Zum Denken können sie allemal anregen!
3.
Natürlich, das Hauptgebäude der Humboldt Universität Unter den Linden ist zu besichtigen oder das Schloß Sanssouci in Potsdam, der bevorzugte Ort, um über die Aktualität Voltaires zu debattieren. Hegels Schreibtisch befindet sich übrigens im Hauptgebäude der Humboldt-Uni! Für philosophische „Anfänger“ sind Schumanns Informationen zu den Philosophen damals, also zu Fichte, Hegel, Schelling, recht ausführlich. Auch von den politisch vielfältig orientierten Hegel – Schülern (wie Karl Marx, Bruno Bauer) ist die Rede. Der schöne Stadtteil Friedrichshagen bei Köpenick hätte in dem weiten Zusammenhang erwähnt werden müssen, mit seinem berühmten „Dichterkreis“ ums 1900, zu dem auch etliche Philosophen und philosophierende so genannte Anarchisten gehörten…
4.
Das Buch bietet leicht nachvollziehbare Informationen zu Philosophen, die seit dem 18. Jahrhundert mit Berlin oder Potsdam, dem Sitz des philosophierenden, trotzdem extrem militaristischen  „Alten Fritzen“,  zu tun hatten. Es werden also allgemeine, lexikalisch knappe Hinweise zu Voltaire, de La Mettrie, Lessing und Moses Mendelssohn geboten. Eine gewisse Vorliebe scheint der Autor zu haben, wenn er etwa Rudolf Steiner mehrfach als Philosophen erwähnt, Steiner hätte wohl eher in ein Buch „Esoterisches Berlin“ gepasst. Unendlich viel wichtiger ist Kant, er hat bekanntlich Berlin nicht besucht, aber in einigen Zeitschriften in Berlin publiziert und mit Berliner Zensurbehörden gekämpft.
5.
Aber es ist die grundlegende Frage: Soll sich ein philosophischer Städteführer auf Menschen, meist „Professoren“ festlegen, die sich selbst Philosophen nannten? Maurice Schuhmann folgt diesem Konzept weithin, wenn er auch einige Literaten erwähnt, wie etwa den Romantiker E.T.A. Hoffmann und sogar … Christopher Isherwood. Wo nun die philosophische Dimension in dessen Werk zu entdecken wäre, wird leider nicht gesagt.
6.
Würde man hingegen einen weiten Philosophie – Begriff anwenden, dann hätten viel mehr philosophisch relevante Autoren und Künstler, Soziologen und Theologen hinsichtlich ihrer oft impliziten Philosophie erwähnt werden müssen. Georg Simmel, Ernst Troeltzsch, ja warum nicht auch Theodor Fontane in Verbindung mit Schopenhauer oder Walter Benjamin, der in der Grunewalder Delbrückstr. als Kind lebte. Sein Name taucht in dem Buch gar nicht auf.
Erst ein breiter Philosophiebegriff kann die umfassende Bedeutung von philosophischem Denken zeigen, sie findet bekanntlich nicht nur dort statt, wo Philosophie draufsteht.
7
Ich finde es bedauerlich, dass jetzt nur ein „philosophiegeschichtlicher Städteführer“ vorliegt, wie der Titel exakt mit dem Focus „Geschichte“ betont. Das heißt, die gegenwärtige Lebendigkeit selbst der sich explizit nennenden Philosophie erlebt der Städtespaziergänger nicht. Philosophie ist auch in Berlin nichts Vergangenes. Kein Wort in dem Buch über die gar nicht so ferne Zeit der grausigen DDR Philosophie an der Humboldt Uni; kein Wort, zu dem bedeutenden Religionsphilosophen Romano Guardini, der als Katholik, in den zwanziger und dreißiger Jahren an der Universität Unter den Linden lehren durfte und in Berlin unter anderem in Eichkamp wohnte. Aber auch in der heutigen Gegenwart hätten einige – auch international geschätzte – PhilosophInnen genannt werden können, wie etwa Volker Gerhardt von der H.U. Man hätte doch auch das Philosophische Seminar an der FU in Berlin – Dahlem erwähnen können, in einem durchaus inspirierenden Gebäude (von Hinrich Baller, 1983 errichtet) untergebracht. Peter Bieri (alias Pascal Mercier „Nachtzug nach Lissabon“) lehrte an der F.U. sowie die unvergessenen großem Philosophen Wilhelm Weischedel und vor allem Michael Theunissen. In der Bewegung rund um den “Mai 68” war etwa Herbert Marcuse häufig als Gastprofessor der FU in Berlin, ebenso der Philosoph Paul Feyerabend.
8.
Das Buch „Geistreiches Berlin und Potsdam“ ist trotz gewisser Begrenztheiten für die berühmten „weiten Kreise“ ein erster Start, über die Rolle von Philosophie in der Stadt Berlin oder in der Landeshauptstadt Potsdam nachzudenken. Man wird sich zum Beispiel fragen: Warum gibt es in Deutschland Literaturhäuser und Kunsthäuser, aber kein „Haus der Philosophie“, wie etwa in Paris oder Toulouse seit Jahrzehnten. So ganz ernst meinen es die Politiker und die Kulturpolitiker wohl doch nicht, wenn sie gelegentlich auf die Philosophie in Berlin oder Potsdam hinweisen. Dass es private „philosophische Salons“ in Berlin seit einigen Jahren gibt, hätte erwähnt werden können. Wenn es einmal ein Philosophie-Haus in Berlin geben sollte, wird darin sicher die interkulturelle und multikulturellen Dimension zum Ausdruck kommen. Dass in dem Buch nicht auf die Präsenz nicht-deutscher PhilosophInnen in Berlin auch früher schon hingewiesen wird, wird man sehr bedauern, russische Philosophen waren nach dem Sieg der Sowjets in Berlin, Nikolai Berdjajew hatte seine eigene „Religionsphilosophische Akademie“, der Franzose Jean Paul Sartre war 1933/34 hier, auch Ortega y Gasset studierte in Berlin usw.

Man sieht auch an diesen Beispielen, wie viel “Potential” sozusagen noch in dem Thema “Philosophishcer Stadtführer durch Berlin” steckt…
9.
Man wünscht dem Buch weite Verbreitung, und eine zweite erweiterte Auflage, auch mit der Korrektur etwa der Daten zu Gotthold Ephraim Lessing, Seite 29, aber das nur wirklich am Rande. Zur Stadt Bamberg liegt bereits ein philosophischer Stadtführer vor, vielleicht ist nun auch das Berlin-Buch ein Start für eine umfassende Serie „philosophischer Stadtführer“.

Geistreiches Berlin und Potsdam. Ein philosophiegeschichtlicher Städteführer“. Von Maurice Schuhmann. Hendrik Bäßler Verlag Berlin, 2021, 151 Seiten mit zahlreichen Fotos, Hardcover, 19,80 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Warum Dorfkirchen in der Mark Brandenburg so wichtig sind bzw. sein könnten: Als Erinnerung an Theodor Fontane

Hinweise und Vorschläge von Christian Modehn. Anlässlich des 200. Geburtstages von Theodor Fontane. Aber braucht Fontane “runde Gedenktage”, damit wir uns seiner erinnern?

Im Sommer 2020 wird es – trotz Corona – möglich sein, sich wieder in den Dörfern der Mark Brandenburg zu erholen und dabei wieder auch Dorfkirchen zu besuchen, zur Besichtigung, zur Meditation, zur Stille und Einkehr, vielleicht auch zum Gottesdienst.

Der „Förderkreis Alte Kirchen Berlin-Brandenburg e.V“ besteht nun schon 30 Jahre und hat wieder, wie in jedem Jahr, eine umfangreiche, empfehlenswerte Broschüre von 84 Seiten (zum Pries von nur 4,50 Euro) vorgelegt. www.altekirchen.de

Mein Beitrag über Dorfkirchen in Brandenburg, mit dem Vorschlag, wie sie „bespielt“ werden könnten, wurde im Gedenken an Theodor Fontane verfasst.

Dieser Artikel wurde leicht gekürzt in dem genannten Heft 2020 veröffentlicht.

1.
Was wäre die Mark Brandenburg ohne ihren „märkischen Wanderer“, ohne Theodor Fontane? Er hat den Menschen dort mehr Selbstbewusstsein, vielleicht sogar Stolz, geschenkt. Die Mark Brandenburg ist für Fontane keine “öde Gegend”, “am Rande der Kultur”. Ihre Dörfer und Städtchen sind zwar nicht von „überwältigender Schönheit und Pracht“, wie Fontane etwa in Erinnerung an Italien und Rom bemerkte. Aber es ist die Stille, die Schönheit der Natur, die Schlichtheit, die Bescheidenheit des Lebens, der Erinnerungen an die Kultur einst, es ist „diese Landschaft!“, die Fontane so mochte. “Die einfachen Leute” dort: Die schätzte er besonders. So dass er – der Sohn von Hugenotten – sagen konnte: Diese auf den ersten Blick eher kulturell anspruchlose Mark Brandenburg ist auch “meine Heimat”, so sehr er an Berlin auch gebunden blieb. Wenn sich heute die (auch „zugereisten“ ) Berliner für die Mark begeistern und sich dort (zeitweise) niederlassen und alte Dörfer „beleben“, dann wirkt da vielleicht etwas „unterschwellig“ die Hochschätzung Fontanes für diese Region weiter. Ohne Fontane also keine „lebens- und liebenswerte Mark Brandenburg”. Diese schöne, lebenswerte Mark Brandenburg will kein Demokrat den Rechtsextremen überlassen. Die Mark Brandenburg muss demokratisch bleiben bzw. immer mehr werden.

2.
In seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“, begonnen 1859, in Büchern publiziert von 1862 bis 1889, stehen, neben den Schlössern und „Herrenhäusern“, den Seen und den Klosterruinen, die noch erhaltenen Kirchen im Mittelpunkt vieler Berichte. Und ihre Pastoren sind oft die besten Kenner der Geschichte ihrer Gegend. Davon hat “der Wanderer” sehr profitiert. Das alte Dorf – Pfarrhaus mit dem oft gebildeten Pastor hat Fontane noch erlebt, auch wenn er – etwa im „Stechlin“ – genau weiß, dass es mehr konservative und leider nur einige mutige, vorwärts denkende Pastoren gibt: Nur sie lösen sich langsam aus der Bindung der Kirche an die wilhelminische Monarchie, die ja tatsächlich eine Abhängigkeit er Kirche vom konservativ – national bestimmten Staat war. Eine Bindung der Kirche, die über das Ende der Monarchie bis in die Weimarer Republik unerfreulich weiter dominierte!
Man denke also vor allem an die sympathische Gestalt des Pastor Lorenzen im “Stechlin”, der schon Ende des 19. Jahrhunderts mit sozialen, „linken“ Ideen sympathisierte. Er zweifelte an der Gültigkeit der Maxime der Konservativen: „Was einmal galt, soll immer gelten“…Eine neue Zeit bricht an. Ich glaube, eine bessere und glücklichere“, so Pastor Lorenzen im Roman „Der Stechlin“. Der selbst eher dem Konservativen zuneigende Fontane war im Alter eben doch so liberal gesinnt, dass er voller Sympathie diesen Pastor förmlich zu einer der Hauptpersonen im Roman „Der Stechlin“ machte…

3.
Unter den vielen Themen, die in dem so langen „Fontane-Jahr 2019“ dokumentiert und debattiert wurden, finde ich die Frage wichtig: „Welche Bedeutung haben die Kirchen auf den Dörfern der Mark Brandenburg, für Fontane damals, und vor allem auch für die Gegenwart und Zukunft“ ? Ist diese wichtige Frage angemessen debattiert worden?
Über „Fontanes Umgang mit alten Kirchen“ hat Prof. Hubertus Fischer, Ehrenpräsident der Theodor Fontane Gesellschaft, einen einführenden Aufsatz verfasst in dem schönen Jahresheft „Offene Kirchen 2019“ (https://www.altekirchen.de/offene-kirchen/broschuere/2019-2/zwischen-barbarei-und-apathie)
Hubertus Fischer zitiert Fontane: “Nur unsere Dorfkirchen stellen sich uns vielfach als Träger unserer ganzen Geschichte dar und die Berührung untereinander zur Erscheinung bringend, besitzen sie und äußern sie den Zauber historischer Kontinuität“ (S.5). Der Autor weist darauf hin, wie sehr Fontane sich kritisch auseinandersetzte mit den Architekten, die damals alte Dorfkirchen einfach abrissen und neue „Basilika-Kirchen“ bauten. „Sie haben mit der (langen) Vergangenheit gebrochen… sie sind eine Schale ohne Kern“. Fontane denkt dabei an die „Basilika-Kirchen“ in Petzow, Bornstedt, Sakrow, Caputh, Werder usw.. “die das Havelufer auf Geheiß und nach den Ideen Friedrich Wilhelm IV. umstellten“. Der Eindruck des Mittelalterlichen, des Erhabenen, sollte dadurch geweckt werden. Kirchenarchitektur also als Beispiel für Herrschaftsideologien. Dieser Friedrich Wilhelm IV. hat auch das Kreuz auf das Stadtschloss setzen lassen, was heute für das Humboldt – Forum leider wieder geschehen ist. Ein anderes Thema…
Der aus der reformierten, also eher „bilderfeindlichen“ Tradition des Protestantismus stammende Fontane kann es gar nicht verstehen, wie denn aus einem gewissen anti-katholischen Geist bestimmte Objekte und Gemälde aus den alten, einst ja katholischen Kirchen, entfernt werden. „Ein von Borniertheit eingegebener Antikatholizismus ist mir immer etwas ganz besonders Schreckliches gewesen“ (S. 6). Hubertus Fischer erinnert an den Unterschied zwischen einfachen Dorfkirchen und den oft gepflegten und „sehenswerten“ Patronatskirchen: Diese sind Kirchen, die unter der Obhut eines Landesherren oder der Grundherren stehen. Die Dorfkirchen sind eher von schlichtester Ausstattung, gekennzeichnet „durch eine Abwesenheit alles Malerischen und Historischen“. In Schmöckwitz (in Berlin, Stadtteil Köpenick) erlebte Fontane z.B. „einen tristen Bau“. Obwohl Fontane zurecht weiß: Selbst triviale Dorfkirchen können „noch das Rührendste und Schönste verbergen“. In Schmöckwitz fiel dem Wanderer durch die Mark Brandenburg ein „verstaubter Altar unter den Kanzel“ auf. „Was hier so niederdrückend wirkte, war die melancholische Abwesenheit alles Freien und Selbständigen; die Armut kann poetisch sein, die Armseligkeit nie“.

4.
Nach der Wende wurde erst allgemein bewusst und bekannt, in welchem miserablen baulichen Zustand hunderte von Dorfkirchen in der Mark Brandenburg sich befinden. Dem „Förderkreis Alte Kirchen Berlin-Brandenburg e.V.“ ist es seit vielen Jahren schon gelungen, Kirchen vor dem Verfall zu bewahren, sie zu renovieren, die Kunstwerke dort zu retten. Auch in den Dörfern selbst haben Initiativen der Bürger, auch der “religiös Nichtgebundenen”, dafür gesorgt, “ihre Kirchengebäude”, oft die einzigen Zeugen für eine Kultur, die “von weit her” kommt und eigentlich so gar nicht in einen oberflächlichen Alltag passt, vor dem Verfall zu bewahren. So entstanden in renovierten und “umgewandelten“ Kirchen Orte der Begegnung, der Kultur.
Aber: In vielen Dörfern nimmt die Anzahl der Einwohner ständig ab: Wer kümmert sich dann noch um die mit viel Mühe und viel Geld renovierten, umgewandelten Dorfkirchen? Wer will sie oft nutzen? Wo sollen die TeilnehmerInnen möglicher Veranstaltungen herkommen?
Natürlich gibt es viele Beispiele für Kirchengebäude, die kreativ genutzt werden, als „Hörspielkirche“ etwa oder als „NABU-Kirche oder als Ort für Vorträge und Konferenzen. Hinsichtlich der Nutzung umgewandelter Kirchen hat die Phantasie viel Raum, wenn denn das nötige Geld vorhanden ist.
Ganz andere Probleme ergeben sich, wenn man fragt: Was wird, langfristig gesehen, aus den nun z.T. aufwendig renovierten Kirchen auf den Dörfern, die noch vorwiegend als Stätten des Gottesdienstes, der Meditation, der Segnungen von Ehepaaren, der Bestattungen usw. genutzt werden? Bernd Janowski, Geschäftsführer des Förderkreises Alte Kirchen Berlin-Brandenburg e.V.“ hat in der Broschüre „Offene Kirchen 2019“ einen Aufsatz zu dem Thema verfasst. „Das Problem besteht in der Frage, wer in zehn oder zwanzig Jahren überhaupt noch in diese Kirchen hineingeht. Bereits heute gibt es nicht wenige Dorfkirchen in den Berlin fernen Regionen, die nicht mehr oder nur äußerst sporadisch gottesdienstlich genutzt werden“ (S. 73). Die Gemeindemitglieder sind sehr oft überwiegend ältere Menschen, die in einer „Diaspora“ leben, wo nur ca.15 Prozent der Bevölkerung evangelisch sind. Die Zahl der Katholiken ist dort noch viel kleiner.
Es wäre eine ziemliche Katastrophe, wenn etwa die mühsam und kostspielig renovierten Dorfkirchen nach etlichen Jahren dem Ungenutztsein, also der Vernachlässigung und damit dem langsamen Verfall (wieder) preisgegeben werden müssten. Kann die kommunale Nutzung da weiterhelfen? Haben die (kleinen) staatlichen Kommunen Geld, Kompetenz und Konzeptionen, um diese Kirchen, oft der einzige Mittelpunkt im Dorf, weiter zu pflegen, zu “bespielen”, wie man im kulturellen Umfeld gern sagt? Müsste sich da die Kirche im Verbund mit gesellschaftlichen Gruppen nicht Neues einfallen lassen?

5.
Sicher wird man da meiner Meinung nur weiterkommen, wenn man auch theologisch Neues zu denken wagt, selbst wenn dies einigen Konservativen nicht gefällt.
Wie sieht denn die ökumenische Zusammenarbeit aus? Damit meine ich nicht, dass in den evangelischen Dorfkirchen gelegentlich katholische Messen von den wenigen durchreisenden Priestern gelesen werden. Warum ist nicht möglich, die wenigen Katholiken in den Dörfern, oft „treue Kirchgänger“, einzuladen, an den evangelischen Gottesdiensten am Sonntag teilzunehmen? Dann wäre der Kreis der Gottesdienst-Gemeinde nicht nur größer, es könnte auch ein weiterer ökumenischer Austausch stattfinden. Ökumene praktisch werden. Dass da die katholische Kirchenleitung Bedenken hat, ist klar. Aber die Gemeinden könnten sich kreativ über Bedenken und Verbote auch hinwegsetzen… um des Glaubens willen.
Wenn in den Kirchen nicht Bänke, sondern Stühle als Sitzgelegenheiten aufgestellt sind: Könnten IN den Kirchen selbst werktags, vor allem am Wochenende, (Gesprächs-) Kreise angeboten werden, mit einem kleinen Café in der Kirche selbst. Man sollte sich von dem Gedanken befreien, Kirchengebäude nur für „sakrale“ oder „hochkultuelle“ Veranstaltungen (Konzerte etc.) zu gebrauchen. Kirchengebäude sind spirituelle UND menschliche Lebensräume. Wenn es schon keine Gaststätten in vielen Dörfern mehr gibt: Wie wäre es, die Kirche umfassend selbst als “Stätte für Gäste” zu verstehen?
Warum könnte die Kirchenleitung nicht die „Provinz -“ bzw. „Dorfbegeisterten Berliner gewinnen, „ihre Dorfkirche“ sozusagen zu adoptieren: Warum könnten nicht Künstler und Musiker, Schauspieler und Politiker, sofern sie denn spirituell bewegt und kompetent sind, in „ihren“ adoptierten Dorfkirchen Veranstaltungen organisieren, vielleicht auch spirituelle Übungen, Meditationen, Yoga, Zen, Lektürekurse der Bibel und anderer Schriften? Wenn man sich allerdings auf das uralte und zweifellos überholte Modell fixiert: „Ein Pfarrer und seine Kirche“ (mit dem Gemeindekirchenrat) wird man nicht weiterkommen. Menschen und Gruppen, die ihre Dorfkirche „adoptieren“, könnten auch Verantwortung übernehmen, wenn sie selbst zumindest am Wochenende in den Dörfern wohnen und diese Kirchen offen halten.

6.
Mit anderen Worten: Nur neue Experimente, also Übertragung von Verantwortlichkeiten an „Laien“ über die Pfarrer hinaus, werden die vielen Kirchengebäude auf den Dörfern „retten“, also als lebendige Gebäude bewahren.
Aber im letzten geht es doch gar nicht um die Kirchen als Gebäude: Es geht um die Bewahrung und Weiterentwicklung der Kultur, auch der Religion, auch der Kirche, auf den Dörfern. Es geht um die Pflege und Entwicklung einer demokratischen Kultur. Auch und gerade in den Kirchen.
Diese neuen Projekte lassen sich mit dem alten, eingefahrenen, üblichen Denken wohl kaum mehr garantieren. Wenn es immer weniger Dorfpfarrer gibt: Warum könnte die Kirche nicht den neuen Beruf eines „Dorf-Moderators“ realisieren, also junge Frauen und Männer, auch Pädagogen, auch arbeitslose Philosophen etc. einladen, auf dem Dorf wohnend für die „Belebung“ der Dorf-Kirchen ihrer Umgebung zu sorgen. Sie könnten in den alten, dann renovierten Pfarrhäusern wohnen und ihre Kirchen spirituell- religiös „bespielen“, wie man so gern sagt. Und dafür natürlich honoriert werden.
Bekanntlich sind ca. 70 Prozent der Bewohner in der Mark Brandenburg kirchlich „nicht gebunden“, wie man sagt. Sind sie aber alle kämpferische Atheisten? Wohl kaum. Es sind diese kirchlich kaum wahrgenommenen Menschen, die auf eigene Art ihr Leben gestalten, suchend, fragend, wie auch immer. Oder die sich bescheiden mit dem Alltäglichen zufrieden geben, oft resigniert, oft voller Wut…
Mit diesen Menschen gilt es in den Dörfern und IN den DORFKIRCHEN Gespräche und gemeinsame Aktionen zugunsten der Menschen zu inszenieren. Dafür werden diese von mir geforderten neuen „Moderatoren der Dörfer“ gebraucht. Und sie sollen alle diese Menschen, die, oft mit dem Gefühl der Einsamkeit, des Vergessenseins, des Verlorenseins, am Rande der Kirche stehen, einladen: IN diese Kirchen zu kommen als ihre Orte, in dem sie Gemeinschaft finden, sich wohlfühlen, sich bejaht wissen. Ob getauft oder nicht, ist dabei völlig egal. Es gilt allein die „jesuanische Großzügigkeit“. Selbstverständlich sind dann auch Atheisten willkommen, auf der Suche nach Gesprächen, die vernünftig gestaltet werden, also ohne Dogmatismus auf beiden Seiten.
. Nur wenn die Kirche über ihren Schatten springt, den Schatten der Dogmen und des permanenten (finanziellen) Machterhalts, wird sie mit weniger Schatten und weniger Angst den Weg in eine neue Zukunft finden … zugunsten der Menschen auf den Dörfern.

7.
Vielleicht sind also die Dorfkirchen, diese neuen Orte der geistvollen Kreativität, der Ausgangspunkt für eine Kirchenreform…Dies ist natürlich angesichts der real existierenden Kirchen-Behörden eine Utopie. Aber können wir ohne Utopien leben?
Es ist ermutigend, dass sich Anfang 2020 der evangelische Landesbischof Ralf Meister (Hannover) und der katholische Bischof von Hildesheim, Heiner Wilmer, gemeinsam ausdrücklich für ökumenische Gemeinden zumal in der „Diaspora“, in den Dörfern, ausgesprochen habe. Dieser Vorschlag verdient weite Beachtung und sollte nicht gleich wegen eines offiziell katholischen Widerstandes konservativer Bischöfe ad acta gelegt werden.

8.
Nebenbei gesagt: Theodor Fontane war stets ein kritischer spiritueller Mensch: „Ich persönlich kenne keinen Menschen, habe auch nie einen kennen gelernt, der den Eindruck eines Vollgläubigen auf mich gemacht hätte“. (Maximilian Harden über Theodor Fontane 1898, in : Deutsche Abschiede, München 1984, S. 247.) Theodor Fontane, der sich als religiösen Skeptiker sah, der gar nicht dogmatisch, im Sinne der Kirchenführung, dachte, wäre sicher ein Gast in den nun lebendigen Dorfkirchen der Mark Brandenburg, den Orten der offenen Spiritualität und Begegnung für “Wanderer” von weit und breit…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Philosophische Stadtführer: Ein Buch über Bamberg

Ein Hinweis von Christian Modehn

Das hat es bisher noch nicht gegeben, auf dem wachsenden Markt der „Reiseführer“: Bücher, die speziell die Vergangenheit und Gegenwart der Philosophie in einer Stadt anschaulich beschreiben und auch speziell „philosophische Spaziergänge“ anbieten: Dabei hat es doch einen ungewöhnlichen Charme, auf den Spuren von Philosophen und philosophierenden Künstlern oder Schriftstellern durch eine Stadt zu wandeln … einiges zu lesen, unter kompetenter Begleitung zu Debattieren und ins Reflektieren zu kommen.

Für Bamberg ist vor kurzem ein „Stadtphilosophischer Lehrpfad“ erschienen: Meines Wissens in dieser Form ein Novum! Das Buch der Philosophen Andreas Reuß und Matthias Scherbaum verdient also Beachtung nicht nur bei denen, die sich für diese Stadt als „Weltkulturerbe“ interessieren, sondern auch bei allen, hoffentlich bei Verlegern, die „Philosophie und Stadt“ bzw. noch spezieller „Philosophie und Tourismus in der Stadt“ in Büchern gestalten wollen. Bekanntlich sind spezielle Reiseführer zur jüdischen Geschichte und zum jüdischen Leben sehr erfolgreich, wie auch Reiseführer „auf den Spuren von Künstlern, Literaten und Dichtern“. Nun also könnte eine neue Dimension von Reiseführern entstehen, zumal die Philosophien und damit auch etliche Philosophen heute aus der engen Welt der Universität herausgefunden haben.

Der philosophische Stadtführer zu Bamberg beschreibt viele Orte in der Stadt, die eine philosophische Vergangenheit für die Gegenwart sichtbar machen: Dabei wird nicht nur an den Aufenthalt Hegels in der Stadt erinnert und bei der Gelegenheit einiges Wesentliche über dessen philosophischen Ansatz vermittelt. Immerhin hat ja Hegel sein erstes ganz großes Werk „Die Phänomenologie des Geistes“ im Jahr 1807 in Bamberg veröffentlicht. Er arbeitete dort übrigens als Chefredakteur der „Bamberger Zeitung“, ein Job, der ihm gar nicht gefiel. Und von journalistischer Leichtigkeit und Zugänglichkeit ist seine „Phänomenologie“ jedenfalls nicht geprägt. Aber das Buch hat trotzdem bis heute „Geschichte gemacht“. Leider fehlt es offenbar an Orten und philosophischen Salons in Bamberg, wo Interessierte, auch Touristen, über die „Phänomenologie des Geistes“ oder Hegel „überhaupt“ ins Gespräch kommen könnten.
Vor Hegel hatte schon sein Studienfreund Schelling Bamberg besucht und naturphilosophische Vorlesungen gehalten, im Zusammenhang auch mit dem berühmten Arzt und vorbildlichen Klinikgründer Dr. Marcus. Auch der Philosoph Ludwig Feuerbach hat Beziehungen mit Bamberg: Er ging hier zur Schule. Schwer zu sagen, ob er sich angesichts der Überfülle von Kirchen und katholischen Traditionen damals (heute eher etwas marginaler) gerade deswegen zu einem Religionskritiker entwickelt hat.
Natürlich werden in dem Buch die großen Bamberger Kirchen auch philosophisch gewürdigt, etwa der Dom und der Domplatz oder das Karmeliterkloster mit seinem berühmten Kreuzgang. Philosophen und Theologen des Mittelalters begegnen dem Leser und Stadtbesucher etwa auf dem Michelsberg, die Autoren bieten einige Hinweise zu den „Lehren“ der jeweiligen Philosophen, diese Hinweise wirken manchmal etwas lexikalisch und „abstrakt“. Auch der Begründer des „Gregorianischen Kalenders“, der Jesuit Christophorus Clavius (1538 – 1612) ist, weil in Bamberg geboren, in dem Buch erwähnt.
Und das ist wohl gut so: Denn ein philosophischer Stadtführer, bestimmt „für viele“, muss den Begriff der Philosophie eher weit fassen und auch Forscher, Schriftsteller, Dichter und Künstler einbeziehen: Denn auch sie inspirieren zum philosophischen Reflektieren. So wird etwa E.T.A. Hoffmann in dem Buch „Stadtphilosophischer Lehrpfad Bamberg“ zwar erwähnt, für mich leider viel zu kurz. Und der „Lehrpfad“ selbst führt leider nicht zu seinem Wohnhaus, das heute ein kleines, aber feines Museum ist.

Was könnte ein philosophischer Reiseführer alles bieten, etwa über Berlin: Leibniz, Fichte, Hegel auch und Schelling, Kierkegaard, Marx, Schleiermacher, Guardini, sie alle und viele andere, etwa die Kantianer oder philosophisch gebildeten protestantischen Theologen hatten in Berlin ihre Orte, Benjamin auch in Grunewald … und all die Künstler, auch die Russen, die in Berlin (kurz) lebten, etwa der russische Philosoph Berdjajew: Was für ein prächtiges philosophisch und sicher auch unterhaltsames Buch könnte entstehen, auch ein Gedenken an den philosophierenden König Friedrich II, den „Alten Fritz“, der, tolerant wie er war, den Katholiken in Berlin die St. Hedwigskathedrale baute im Stil des römischen Pantheons. Ein solches Buch, das Philosophieren in die jeweiligen Lebensbedingungen der Stadt platzierend, und mit Adressen gegenwärtiger philosophischer Orte (Salons z.B.), könnte Menschen in die Philosophie führen. Es wäre ein Projekt, selbstverständlich mit entsprechenden Büchern über München, Frankfurt, Heidelberg, Paris, Amsterdam usw. für junge journalistisch begabte PhilosophInnen…

„Stadtphilosophischer Lehrpfad Bamberg“. Von Andreas Reuß und Matthias Scherbaum. Erich Weiss Verlag, Bamberg 2018. 168 Seiten.

Copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon Berlin.

PS: Der Obertitel für die hier empfohlene Buchreihe könnte heißen: „Denk-Städte“. Diesen Titel reserviere ich mit copyright: 16.8.2019 Christian Modehn