Jacob Böhme – ein Religionsphilosoph für unsere Zeit.

Ein Hinweis von Christian Modehn, am 1.9.2017, erneut veröffentlicht am 15. Nov. 2024, anläßlich des 400. Todestages Jacob Böhmes am 17.11.2024! Geboren wurde Jacob Böhme am 24.4.1575 in Stary Zawidów (Schlesien), gestorben ist er am 17.11.1624 in Görlitz.

1.

Jacob Böhme verdientBeachtung, Lektüre, Mitdenken und Debatte vielleicht heute noch mehr als im 16. und 17. Jahrhundert. Hegel sagt in seinen „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie“ (Band 3, Suhrkamp 1971, Seite 94) sehr treffend: “Böhme ist genannt worden der philosophus teutonicus, und in der Tat ist durch ihn erst in Deutschland Philosophie mit einem eigentümlichen Charakter hervorgetreten. Es ist uns wunderbar zumute beim Leben seiner Werke; und man muss mit seinen Ideen vertraut sein, um in dieser höchst verworrenen Weise (der Texte Böhmes, CM) das Wahrhafte zu finden“. Eine mühsame Aufgabe auch heute! Immerhin widmet Hegel in seiner Vorlesung Böhme viel Aufmerksamkeit! Das Böhme Kapitel in dem genannten Buch umfasst immerhin 28 Seiten! Dabei ist Hegel aus seiner Position durchaus kritisch gegen Böhme, spricht von der „Barbarei in der Ausführung der Böhmeschen Gedanken“ (S. 118), von „gewaltsam sinnlichen Vorstellungen“ in Böhme Sprache. Dabei respektiert aber Hegel die “größte Tiefe“ von Böhmes Gedanken, „diese Tiefe hat sich mit der Vereinigung der absolutesten Gegensätze herumgeworfen“ (ebd.).

2.

Denn der Philosoph und Mystiker aus Görlitz hat eine zentrale Erfahrung gemacht und zu Wort gebracht, auch wenn seine Sprache, seine Begriffe heute manchmal sehr vermischt und schwer zugänglich erscheinen: Aber es gibt eine zentrale Einsicht, sie berührt genau den heutigen globalen Umbruch der religiösen Situation in einer säkularisierten Welt. Gleichzeitig bieten Erfahrungen und Erkenntnisse Böhmes gerade auch Auswege an, angesichts des langsamen, aber sehr deutlichen Verschwindens der orthodoxen, katholischen oder evangelischen, aber in allen Fällen dogmatisch versteinerten Kirchenformen in Europa.

3.

Was ist also inspirierend in Böhmes Erkenntnis? Dass Gott als der Ewige in jedem Menschen lebt. Und dass dies das einzig Wichtige und Entscheidende ist: Alle bürokratischen Kircheninstitutionen, aller Klerus, alle feierlichen Messen und Gottesdienste, alle Lehrschreiben usw. sind gegenüber der ewigen Präsenz des Ewigen IM Menschen mindestens sekundär! Was ist entscheidend? Die Achtsamkeit auf diesen Gott IN mir und IN uns. Und folglich wäre dann die Einrichtung von Gruppen, Kreisen, Salons usw., die diese Qualität des Menschseins in aller Freiheit auch mit so genannten Atheisten besprechen.

Man möchte meinen, dass Böhme mit seinem absoluten Plädoyer für den Gott IN mir und IN uns eine gewisse Form moderner liberaler, d.h. auch freisinniger Theologie da formuliert. Dem wäre später eingehend einmal nachzugehen.

4.

Die Gottesbeziehung ist nach Jacob Böhme also nichts Äußerliches, keine zuerst durch Worte. Lehren und Dogmen vermittelte Lebenshaltung. Das setzt ihn heraus aus der lutherischen Orthodoxie. Manche Überzeugungen wirken gar katholisch, etwa wenn er die Weisheit verehrt wie eine jungfräuliche, weibliche Seite Gottes.

Auf Gott als der inneren und ewigen und ungeschaffenen und damit vom Tod nicht berührten Wirklichkeit bezieht sich der Mensch, wenn er sich auf sich selbst, seinen Geist und damit seine Freiheit bezieht.

5.

Diese eine entscheidende Grundeinsicht wurde Jacob Böhme förmlich geschenkt: Alles gründet bei ihm auf einer mystischen Erfahrung, d.h. einer plötzlichen Einsicht, einer Erleuchtung: Die er aber nicht spinös oder fanatisch herausschreit, sondern in einem langen Reflexionsprozess gedanklich und sprachlich bearbeitet und – dem Thema angemessen – mühsam zu Papier bringt. Man nennt ja manche Komponisten, wie Mozart, mit dem etwas altertümlichen Wort „Genie“. Ebenso ist es ja sicher treffend, Dichter, wie Goethe, genial zu nennen, ohne dabei in einen säkularen Heiligenkult umzukippen. Mit diesem Vorbehalt kann man selbstverständlich auch Philosophen genial nennen in der Konzentration ihres Gedankens. Jacob Böhme könnte wohl zu diesen Philosophen gehören. Er, der kluge Autodidakt, der ja bekanntermaßen das Schusterhandwerk gelernt hatte, also alles andere als ein stolzer, klerikal gebildeter Pfarrer oder gar Theologieprofessor war. Er hat sich alle Kenntnis selbst erworben und sich in damalige Theologie, Philosophie und die Wissenschaften eingearbeitet. Dass er dabei auch auf die Alchemie in gewisser Hinsicht zurückgriff, hängt ab von seiner Bindung an die gängige Kultur seiner Zeit. Er kannte die Arbeiten des damals hoch geschätzten Naturphilosophen Paracelsus (also Theophrastus Bombastus von Hohenheim, 1493 – 1541). Schon Paracelsus legte – wie Müntzer – allen Nachdruck auf eine Kirche, die vom Geist, nicht aber vom toten Buchstaben, regiert wird. Die theologischen Auffassungen (seine Abweisung der gewaltsamen Mission, der Bekehrungen, sein Eintreten für die Gleichheit aller Stände) verdienen viel mehr Aufmerksamkeit als ihn bloß in die Ecke von Astrologie oder Magie zu stellen).

6.

Jacob Böhme, der „Laie“ also, störte den dogmatischen Betrieb der lutherischen Kirche in Görlitz und anderswo. Nicht weil er stören wollte, sondern weil seine Erkenntnis so universal ist, dass sie den Frieden in der Welt, mitten im Dreißigjährigen Krieg, hätte bringen können: „Gott ist kein Gott der Christen“, sagt Böhme sehr treffend, Gott gehört keiner Konfession, Religionskriege sind Gotteslästerung, könnte man fortfahren. Religionskriege haben bis heute ihre Ursache in der Bindung an Dogmen, die der Vernunft nicht zugänglich. Dogmenferne und Friedfertigkeit gehören also auch für Böhme zusammen!

7.

Er, der sich auf die Erfahrungen des heiligen Geistes berief und diese wichtiger fand als die ewige Wiederholung und das ständige Nachsprechen von Bibelworten, Böhme also, hat die Menschen seiner Zeit bewegt, weil er keine trockene Bücherlehre verkündete, sondern aus dem Leben selbst stammende Erweise des Wirkens Gottes im Menschen. Diese starke Bindung an die Wirkkraft des Geistes – gegen den trockenen Buchstaben der Bibel – erinnert an Thomas Müntzer, den Böhme sicher nicht kennen konnte: Denn Luther und seine Nachfahren hatten auch für den geistige Berschwinden des Reformators Müntzer gesorgt.

8.

Aber auch Böhme wurde verfolgt, geschmäht, diffamiert. Die Herren der Kirche machten ihm das Leben sehr schwer. Seine Texte duften in Deutschland nicht gedruckt werden, als Abschriften von Hand wurden sie weitergereicht. In Holland, dem liberalen Land, konnten Böhmes Texte gedruckt werden, nicht nur auf Deutsch oder Niederländisch, sondern auf Englisch. Eine feste „Böhme – Gemeinschaft“ oder gar “Böhme – Kirche“ hat sich langfristig nicht gebildet, auch wenn eine kleine Begleitbroschüre zur Ausstellung (in Dresden 2017) auf S. 6 betont: „Viele Anhänger Böhmes gingen wegen religiöser Verfolgung ins niederländische Exil“.

9.

Der bekannte Spezialist für westliche esoterische Philosophie, Prof. Wouter J. Hanegraaff, UNI Amsterdam, erwähnt immerhin kleine „Böhme-Gruppen“: wie die „Angelic Brethren“ von Johann Georg Gichtel (1638 – 1710) oder die „Philadelphian Society“ von John Pordage (1607-1681) oder Jane Leade (1623- 1704), die erste `philosophisch – esoterische` Frau, wie Hanegraaff erwähnt (in: „Western Esotericism“, Bloomsbury, 2013, Seite 32). Die Ideen einer „christlichen Theosophie“ (so Hanegraaff) verbreiteten sich dann weiter über Friedrich C. Oetinger, Louis – Claude de Saint Martin und Franz von Baader…

Ein eignes Thema ist die Frage, die Böhme nicht zur Ruhe kommen ließ: Wie kommen Leiden und Böses in die Welt? Böhme denkt in diese Richtung: Wenn Gott der Schöpfer von allem ist, dann müssen auch das Böse, das Leiden, ihren Grund in Gott selbst haben…

10.

Im ganzen gesehen hatte Böhme keine „philosophischen“ Schüler, die – wie etwa im Falle Hegels – nach dem Tod sein Werk „fortsetzten“.   Das ist eine Mangel, zumal wenn man bedenkt, dass bis heute meines Wissens keine ins moderne Deutsch übertragene kritische Gesamtausgabe von Böhmes umfangreichen, verstreut vorliegenden Werken gibt. So müssen viele LeserInnen die veraltet – sprachlichen Zitate durcharbeiten, das ist auch angesichts der an Symbolen reichen komplexen Sprache des Görlitzer Mystikers nicht einfach. Immerhin gibt es eine „Internationale Jacob Böhme – Gesellschaft“ in Görlitz, Vorstandsmitglied ist Sibylle Rusterholz, die insgesamt über die barocke Mystik forscht. Wir sind gespannt auf die Veröffentlichungen dieser Böhme – Gesellschaft.

11.

Es bleibt natürlich ein Problem: Böhme setzt die „Existenz“ Gottes in seinem Denken voraus. Er wird ja förmlich in seiner mystischen Erfahrung von einer Wirklichkeit überwältigt, die er dann Gott bzw. etwas befremdlich „finsteres Tal“ bzw. „UNGRUND“ nennt. Und die Spekulationen zum inneren Leben Gottes selbst sind sozusagen auf Anhieb nur mitvollziehbar für jene, die schon eine reflektierte Kenntnis der „göttlichen Wirklichkeit“ haben. Böhme selbst wollte ja über die Naturerfahrung zur inneren göttlichen Wirklichkeit „durchstoßen“.

Damit will ich sagen: Um die aktuelle Relevanz Jacob Böhmes auch für die modernen Skeptiker und Zweifler deutlich zu machen: Da müsste man wohl versuchen, einen tragenden Sinn-Grund in jedem geistigen Leben gedanklich aufzuweisen und diesen Sinngrund dann gedanklich mit jener Wirklichkeit zu verbinden, die klassisch „Gott“ genannt wurde und wird.

12.

Was mich bei meinen aktuellen Studien besonders freut, dass Böhme selbstverständlich den Menschen als freies Wesen definiert, weil er ja Ebenbild Gottes ist, des – sozusagen „absolut“ – freien Wesens. Wenn der Mensch frei ist, kann er sich selbst für das Gute entscheiden. Die zerstörerische Macht der alle Freiheit und alles Denken vernichtenden Erbsünde ist also für Böhme hinfällig. Nur wenige Jahrzehnte nach Luthers und Calvins Reformation ist Böhme also eine Stimme der Freiheit, eine Stimme der Ablehnung dieser grässlichen Erbsünden-Lehre. Böhme ist deswegen tatsächlich kein treuer Lutheraner, er ist sozusagen ein weiterer, ein radikaler Reformator der Freiheit. Und eines universalen Gottes IM Menschen.

13.

Gleichzeitig, zu Beginn des 17. Jahrhunderts, stand in den Niederlanden der Theologe Jacob Arminius auf, um die Freiheit zu retten in der dogmatischen Starre des Calvinismus. Daraus entstand dann die theologisch liberale und freisinnnige Remonstranten Kirche…Über diesen Zusammenhang Böhme – Arminus müsste auch weiter studiert werden.

14.

Zum Schluss ein zentrales Zitat von Böhme: “Ich trage in meinem Wissen nicht erst Buchstaben zusammen aus vielen Büchern; sondern ich habe den Buchstaben in mir; liegt doch Himmel und Erden mit allem Wesen, dazu Gott selber, IM Menschen“ (in dem genannten Aufsatzband, S. 16).

Und ein hermeneutischer Hinweis zur angemessenen Lektüre: “Hermann Hesse schreibt über Böhme:  Die Lektüre seiner Texte erfordere `ein vorübergehendes Leerwerden`, eine völlig freie Aufmerksamkeit und Seelenstille`“.

Für religionsphilosophisch Interessierte ist es wichtig, den Aufsatzband: „Grund und Ungrund – Der Kosmos des mystischen Philosophen Jacob Böhme“ zu lesen. Der 216 Seiten umfassende, schön gestaltete Band wurde von Claudia Brink und Lucinda Martin herausgegeben, im Sandstein Verlag 2017.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

 

 

 

 

Die Hedwigskathedrale wird neu eröffnet

Die Toleranz eines Kirchenkritikers: König Friedrich II. fördert den Bau einer katholischen Kirche in Berlin.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 7. 11.2024

Das Bild zeigt die Katholische St. Hedwigskathedrale zu Berlin im Jahr 1777, als Johann Georg Rosenberg (1739 – 1806) diese Radierung schuf: Gesehen von der Französischen Straße aus. Der Preußenkönig Friedrich II. ist der Initiator dieser ersten katholischen Kirche seit der Reformation; Friedrich II. war bekanntlich ein heftiger kirchenkritischer und religionskritischer Geist; aber er von der Philosophie der Aufklärung (Voltaire war sein liebster Brief – und Gesprächspartner) bestimmt und deswegen der Toleranz auch gegenüber den Kirchen verpflichtet. Ein Freigeist also hat den Bau dieser St. Hedwigskirche im Zentrum des damaligen (und heutigen) Berlin ermöglicht,  er hat den Bau ausdrücklich gewünscht und gefördert. Wer diese Kirche heute sieht und besucht, sollte wissen: Dieses “Gotteshaus” ist ein Ausdruck aufklärerischer und kirchenkritischer Philosophie. Wer dort predigt, könnte doch bei aller Bibeltreue und üblicher Dogmenbindung den Geist der philosophischen Aufklärung respektieren und … verkünden! Es ist der Geist der Menschenrechte, selbstverständlich auch IN der Kirche geltend!

1.

“In seiner Großzügigkeit ging Friedrich II.  der Große über die von seinem Vater den Katholiken gewährte Duldung weit hinaus und gab ihnen zusätzlich auch noch die staatsrechtlich verbindliche Zusage der freien Religionsausübung. Sein Beispiel hat wie ein Erdrutsch gewirkt und dazu beigetragen, die konfessionellen Gegensätze zu entschärfen und echte Toleranz anzubahnen”, so der Historiker Josef Mörsdorf in “Kirchliches Leben im alten Berlin”, erschienen im katholischen Morus – Verlag, Berlin 1962, s. 136 f..

Und man wird erneut dokumentieren müssen, wie viele der katholischen Könige und Fürsten in den katholischen Stammländern Spanien, Frankreich, Österreich oder im Papsttstaat Vatikan usw. zu Zeiten Friedrichs II. in ihren Ländern den Bau protestantischer Kirchen erlaubten und sogar förderten. Da sieht die Antwort ziemlich düster aus…Das heißt: Auch wenn Friedrich II. innenpolitische, strategische Überlegungen für den Bau der katholischen St. Hedwogskirche hatte: Er hat in dem Fall einem philosophischen Aufklärer entsprechend gehandelt, was die Herrscher der genannten katholischen Ländern in ihrer Bindung an katholische Dogmen eben nicht taten…Über Friedrich II. als Religionsphilosoph siehe LINK.

2.

Die St. Hedwigskathedrale wird nach einem umfassenden Umbau am 24. November 2024 erneut eingeweiht. Es gab zuvor aussichtslose Debatten über den Sinn dieses Umbaus LINK, die Debatten wollen wir hier nicht wiederholen. Der Klerus hat sich durchgesetzt, wie immer.

Die ursprünglich veranschlagten Umbau – Kosten von 43 Millionen Euro konnten nach Angaben des Erzbistums Berlin gehalten werden – nicht zuletzt durch eine Reduzierung der Planung. LINK.

Auf diese hohen Kosten (an denen sich selbstverständlich auch der Staat beteiligte !, es gilt ja die Trennung von Kirche und Staat ?) hinzuweisen ist deswegen wichtig, weil im allgemeinen die Kleriker über knappe finanzielle Mittel der katholischen Kirche in Berlin – wie in Deutschland im ganzen – klagen, wegen der vielen tausend Kirchenaustritte.

Bekanntlich werden bereits katholische Kirchen in Berliner Bezirken und im Land Brandenburg geschlossen, verkauft und abgerissen. Der Klerus mutet den verblieben (vor allem älteren) Katholiken lange Wege zu, um noch eine Messfeier zu erleben.

Die Fixierung der Kirchenleitung auf ein zentrales, repräsentatives und touristisch attraktives und teures Gebäude bleibt also erstaunlich. Diese attraktive Präsenz im Herzen der touristischen Zone „Unter den Linden“ ist also wichtiger als Präsenz zu erhalten zugunsten der kleinen Gemeinden.
LINK

3.

In Berlin lebten 2023 – laut Information des Erzbischöflichen Ordinariates vom 24.6.2024 – 275.399 Katholiken; 31.000 weniger als im Jahr 2020. An der Sonntags-Messe nahmen in Berlin 2023 noch 27.814 Personen teil. Diffenzierte Angaben zum Alter der Teilnehmer an der Messe werden nicht gemacht, ebenfalls fehlen Zahlen über die Internationalität der katholischen Mess-Teilnehmer.  Ihr Anteil dürfte beträchtlich sein.

4.

Besucher können überrascht sein: Es sind Stühle, keine Bänke, als Sitzgelegenheiten in der Kathedrale vorgesehen, großartig ! Wenn dann mal nicht konservative Katholiken sich wie immer erregen: „Das ist ja protestantisch…“
Aber der Altar in der umgestalteten Kathedrale steht absolut in der Mitte, auf ihn fällt von oben das Licht (Gottes bzw. das der Aufklärung Friedrich II. „siècle des lumières“ ?).
Diese herausragende Stellung des Altars, an dem die Priester zelebrieren, ist Ausdruck der katholischen Dogmen: Der Priester steht entscheidend immer im Mittelpunkt, nur er feiert das Wichtigste der katholischen Lehre, die Eucharistie. Darum gilt er als unersetzbar und am wichtigsten! Warum? Weil Christus das angeblich so gewollt hat… behauptet eine fundamentalistische Bibel-Auslegung bis heute, trotz theologisch – wissenschaftlich ganz anderer Argumente. Aber die zählen nicht im Vatikan.

5. ERGÄNZUNG zum Umbau des benachbarten HAUSES, “Bernhard Lichtenberg Haus” genannt, der Umbau/Neubau wird teurer als geplant:

“Für Sanierung und Teilumbau des Bernhard-Lichtenberg-Hauses waren damals insgesamt 17 Millionen Euro vorgesehen. Die prognostizierten Gesamtkosten für die Fertigstellung bis frühestens Ende 2025 liegen nun laut Erzbistum bei rund 33,8 Millionen Euro. Gründe seien Verzögerungen durch die Pandemie, bei Genehmigung und Abriss sowie eine Kostensteigerung durch den Krieg in der Ukraine. Im Lichtenberg-Haus sollen laut ursprünglicher Planung künftig ein “Wissenschaftszentrum” zum Dialog über ethische oder interreligiöse Fragen, ein niedrigschwelliges Caritasangebot sowie der Dienstsitz des Erzbischofs untergebracht werden.
Gesamtkosten: 78 statt 60 Millionen Euro
Die prognostizierten Gesamtkosten für beide Teilprojekte belaufen sich damit auf 78 Millionen Euro, statt ursprünglich 60 Millionen Euro. Zur Finanzierung gibt es staatliche Zuschüsse: Zwölf Millionen Euro vom Bund und acht Millionen Euro vom Land Berlin. Ferner geben die deutschen Bistümer zehn Millionen Euro dazu. Laut Erzbistum konnte eine ursprünglich erhoffte zusätzliche Unterstützung in Höhe von weiteren zehn Millionen Euro durch einzelne Bistümer “nicht realisiert werden”. Ferner seien aus ganz Deutschland rund 600.000 Euro Spenden eingegangen.” Kath.de am 13.11.2024.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer-Salon.de

 

Was ist Aufklärung? Ausstellung im “Deutschen Histor. Museum“ Berlin.

Vernunft ist Licht. Und Licht ist stärker als Dunkelheit in Politik, Wirtschaft und Religionen…

Ein Hinweis von Christian Modehn am 1.11. 2024,

Vorwort:
Die philosophische Aufklärung sollte man übersetzen mit „ Herrschaft der universellen Vernunft“. Und das ist: „Universelle Herrschaft der Menschenrechte“.
Aber: Wir leben noch nicht in einem „aufgeklärten“, vernünftigen Zeitalter! Sondern wir leben in einem Zeitalter der mühsamen, tätigen, stets bedrohten Aufklärung. Menschen streben nur nach umfassend herrschender Vernunft, das betont Immanuel Kant in seinem Aufsatz „Was ist Aufklärung“ (1784) (Fußnote 1).
Wohl wahr: Wenn man sich umsieht und diese Gestalten bewertet, die heute politisch die Menschheit verwirren und beherrschen: Trump, Putin, Xi, Orban, Erdogan und sehr viele andere, dann hat Kant recht. Aber es gilt, die Hoffnung auf die Herrschaft der Aufklärung, d.h. der Vernunft und Menschenrechte, zu bewahren. Das ist die Grundeinstellung von Kant, des Aufklärers.

1.
„Wenn Sie nicht die totale Dunkelheit bevorzugen, die keinen Ausweg läßt und in der Sie wahrscheinlich – orientierungslos – umkommen, dann sollten Sie das Licht hüten und pflegen und lieben. Das Licht aber ist die menschliche Vernunft.“
So könnte man die Erkenntnis der Philosophie der Aufklärung des 18. Jahrhunderts (bis heute gültig) „für alle nachvollziehbar“ formulieren: Aufklärung ist identisch mit der Kraft des Lichtes, lumière, enlightenment…

2.
Ohne Licht kommen (und kamen) sogar die Liebhaber der Finsternis, der Dunkelheit und des Dämmerzustandes nicht aus, die Freunde der verschwindenden Sonne oder des ständigen Nebels, in dem die Willkür der Herrscher es so leicht hat.
Aber auch diese Herrschaften brauch(t)en das Licht als die schwache Kraft ihres egoistisch verformten Verstandes: Sie wollten schließlich doch auch zusammenhängende, logisch erscheinende Sätze zugunsten ihrer totalen Herrschaft publizieren. Ohne (etwas) Licht also gibt es niemals und für keinen geistvolles Leben. Und darum ist alle Abwehr der vorrangigen Geltung des Lichtes der Vernunft falsch.

3.
Eigentlich eine Selbstverständlichkeit: Licht ist größer und wichtiger als Finsternis und Dunkelheit. Wer etwa die Vielfalt der Dunkelheiten differenziert verstehen, also „ausleuchten“ will, kommt nicht ohne Licht aus! Ohne Licht, ohne Aufklärung, ohne Vernunft kein humanes Leben, auch nicht in Staat und Gesellschaft.

4.
Große Worte, gewiss! Aber vielleicht haben sie noch eine Wirkung in dieser dunklen, von Feinden der allgemeinen universell geltenden Vernunft getrübten Gegenwart. Die autokratischen und faschistischen Regierungen werden immer zahlreicher, die demokratischen, liberalen und sozialen Demokratien sind jetzt längst eine Minderheit. Für die universell geltende Vernunft muss heute gestritten, wenn nicht gekämpft werden.

5.
Die Philosophie der Aufklärung sagt heute: Die Menschenrechte für alle sollen auch gelten für alle. Menschenrechte sind eine europäische „Entdeckung“, aber sie werden weltweit hoch geschätzt, selbst in Diktaturen, von den unschuldigen demokratischen Opfern in den Lagern und den Dissidenten in den Gefängnissen: Es ist in den Folterkammern der Schrei nach Gerechtigkeit vernehmbar, und dies ist der Schrei nach den Menschenrechten, also nach der allgemein geltenden Vernunft, nach der Aufklärung!
Demokratie ist zwar eine anspruchsvolle Staatsform, allzu oft korrumpiert von unwürdigen sich demokratisch nennenden Politikern, die mehr den Sprüchen ihrer Lobbyisten folgen als den Grundprinzipien und dem wahren Geist (Spiritualität!) der Demokratie. Trotzdem, wir haben wirklich keine Alternative: Demokratie als eine sich stets verbessernde, d.h. reformierende und kritisierbare Staatsform ist die beste denkbare Regierungsform.

6.
Soweit unsere Einstimmung für einen Besuch der Ausstellung „Was ist Aufklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert“ im „Deutsches Historisches Museum“ (DHM) in Berlin (bis zum 6.4.2025).
Im 18. Jahrhundert waren Philosophen, Literaten, Künstler und einige protestantische Theologen in etlichen Ländern Europas, auch in den deutschen Staaten, leidenschaftlich interessiert, das alte System autoritärer Regime und deren Denkzwänge zu überwinden: Die allgemeine menschliche Vernunft sollte gelten, und nicht die begrenzt – egoistischen Ideologien der Herrschenden. Sie bedienten sich oft genug religiöser (Wahn-)Vorstellungen als stützende Ideologie. Wichtig wurden Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland auch die Debatten in der viel beachteten „Berlinischen Monatsschrift“, dort publizierte Immanuel Kant im Dezember 1784 seinen bis heute inspirierenden Aufsatz „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ Kants Beitrag richtete sich an den kleinen Kreis der elementar Gebildeten, der des Lesens Kundigen und der Diskussion fähigen (leider meist nur männlichen) Bürger. Heute ist die Debatte über Aufklärung, Vernunft und Freiheit universell, auch dabei zeigt sich der „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“, wie Hegel sagte.

7.
Die Ausstellung im Deutschen Historischen Museum (DHM) führt, wie gesagt, zu den Ursprüngen der Aufklärung, ins 18. Jahrhundert. Ausstellungen zur Geschichte des Denkens und der Philosophie sind bekanntlich eher anspruchsvolle, nicht schnell konsumierbare Veranstaltungen, die zum Betrachten vom Büchern, Erstdrucken, Bildern, Gemälden, Videos, Gegenständen einladen. Philosophische Ausstellungen fordern zum nachdenklichen Lesen auf, zum Verweilen, zum Gespräch im kleinen Kreis. Schade, dass das DHM keine kleinen Salon – Räume als Orte des Gesprächs innerhalb der Ausstellung anbietet…
Aber die Ausstellung kann nur eine Art Einführung und Hinführung sein, sozusagen eine Aufforderung, das Thema weiter zu bedenken und zu studieren.
Darum ist in unserer Sicht der Begleitband zur Ausstellung sehr hilfreich: Raphael Gross und Liliane Weissberg haben das Buch unter dem Titel der Ausstellung herausgegeben, erschienen ist es im Hirmer Verlag, es hat 336 Seiten, enthält viele Abbildungen, es kostet im Museum 30 Euro. Alle Essays wurden eigens für dieses Buch verfasst!

Paul Franks (Prof. für Philosophie und jüdische Studien an der Yale University) erklärt die Haskala, also die Gestalt der “jüdischen Aufklärung”. Für sie setzte sich Philosoph Moses Mendelssohn ein (S. 133ff.): “Mendelssohn trug zur Wiederbelebung einer selbstbewussten deutschen rationalistsichen Tradition bei…” (S. 136).

Moses Mendelssohn

8.
Wir können hier nicht auf die 28 Essays des Buches im einzelnen eingehen. Das Buch ist systematisch gegliedert von „Ein Klärung des Begriffs“ über die „Ordnung der Welt“ und die „Geschlechterrollen“ und die „Gleichheit der Menschen“ bis hin zu „Publikationsmedien und öffentliche Räume“…
Unter der Frage „Was bleibt?“ ist einer der wichtigsten Texte des Buches publiziert, der Beitrag des us-amerikanischen Philosophen Peter E.Gordon mit dem Titel „Das Erbe der Aufklärung“ (Seite 291-299). Und weil Jürgen Habermas nicht fehlen darf bei dem Thema: Er hat seinem kurzen Beitrag den Titel „Was ist Aufklärung“ (S. 300 – 302) gegeben in der abschließenden Rubrik „Was bleibt“.

9.
Einige wichtige Hinweise zu den Essays, als Einladung, selber zu lesen und weiter zu denken:
Die Verbindung von Licht (Sonne) und Geist bzw. Vernunft und Freiheit wird schon von Platon in seinem „Höhlengleichnis“ beschrieben, betont der Philosoph Volker Gerhardt (S. 281).

Das philosophische Eintreten und Kämpfen für die Aufklärung gibt es schon vor dem 18.Jahrhundert und es ist keineswegs auf Europa begrenzt.

Aber im 18. Jahrhundert konnten nur die gebildeten Bürger Freunde und Täter der Aufklärung werden. Entsprechende Bücher hatten damals keine größere Auflage als 2000 bis 3000 Exemplare.

10.
„Die“ Aufklärung wurde und wird pauschal schlecht geredet, vor allem auch von konservativen und reaktionären Literaten. Sie geben etwa der philosophischen Aufklärung die Schuld am Niedergang alter Werte, sie behaupten, „die“ philosophische Aufklärung habe nur zu einer technokratischen Verengung des Verstandesbegriffs geführt, letztlich für eine seelische Verarmung gesorgt. Dabei ist es zurückzuweisen, dass so oft pauschal von „die Aufklärung“ die Rede ist. „Die Aufklärung“ als tätiges Subjekt kann es gar nicht geben, es sind immer Menschen, Subjekte, die mehr oder weniger für die Aufklärung – oder nicht – eintreten. Erst wer Namen nennt von Protagonisten der Aufklärung in Politik, Ökonomie, Religion, Kirchen, Kultur usw. kann ernstgenommen werden in seiner Aufklärungskritik.

11.
Theodor W.Adorno und Max Horkheimer gehören wegen ihrer Publikation „Dialektik der Aufklärung“ zentral in die Debatten über die Bedeutung der philosophischen Aufklärung . Das Buch, „Dialektik der Aufklärung“, wurde von den beiden Autoren 1939 – 1944 im amerikanischen Exil erarbeitet, 1947 in New York publiziert und dann in Europa erstmal 1947 in Amsterdam. Kaum ein anderes Buch hat so heftige Debatten inszeniert, das Thema füllt ganze Bibliotheken. Jürgen Habermas etwa bemerkte kritisch in seinem Buch „Philosophischer Diskurs der Moderne“ , die beiden Autoren hätten sich zu Zeiten des Faschismus übertrieben und hemmungslos ihrer Skepsis hinsichtlich der Vernunft – Geltung überlassen, vor allem: Sie seien ihrer eigenen Skepsis nicht skeptisch begegnet. (Fußnote 2).
Für mich ist, wie schon gesagt, der Beitrag des us-amerikanischen Philosophen und Philosophiehistorikers Peter E. Gordon in dem Band zur Ausstellung im DHM ganz wichtig: Er hat sehr ausführlich auch früher schon das Werk von Adorno/Horkheimer untersucht: „Trotz ihres Pessimismus haben Adorno und Horkheimer stets geglaubt, dass Vernunft und Emanzipation intrinsich (wesentlich) miteinander verbunden sind. In diesem Punkt wurden sie von vielen mißverstanden. Die beiden haben nicht verkündet, dass sich die Aufklärung selbst widerlegt habe, sondern betont, dass die Menschheit nur dann wahrhaft frei sein kann, wenn sie den höchsten Idealen der Aufklärung treu bleibt“ (S. 295). Durch die Benennung des falschen Lebens und der missratenen Aufklärung wollen Adorno und Horkheimer nur die Idee eines wahren und richtigen Lebens festhalten. In einer Besprechung von Gordons Buch „Prekäres Glück“ in der NZZ heißt es treffend: „Mit der durch das Denken gewonnenen Erkenntnis über den desaströsen Zustand der Welt ist die Möglichkeit gegeben, diesen Zustand zum Besseren hin zu verändern.“ (NZZ, 27.3.2024).
Die schon übliche Kritik, wenn nicht Verurteilung „der“ Aufklärung wiederholt hingegen meines Erachtens der Philosoph Gunnar Hindrichs (Basel) in dem Buch des DHM, der Titel seines Beitrags „Der lange Marsch zur Mündigkeit“ (S. 57 ff.). Er deutet, wie schon so oft gehört, die Französische Revolution (1789 ff) als Ausdruck der irregeleiteten Aufklärung: „Die Negativität der Aufklärung hatte es mit der Unfähigkeit zu tun , den Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit in einer Revolution durchzuführen, die menschlich bleibt.“ (S. 65). Sehr pauschal und etwas kryptisch auch das Urteil Gunnar Hinrichs am Schluß seines Essays: „Wenn wir nun die Frage stellen: Was ist Aufklärung? dann zeigt sich: Aufklärung ist ein Weg, der sich selbst zu zerstören droht und nur in der Verarbeitung seiner Selbstzerstörung weitergegangen werden kann. Wer das tut, macht sich wesentlich (?, Heidegger läßt grüßen, CM) auf den Weg – auf den langen Marsch der Aufklärung.“(S. 67).

12.
Lesenswerter ist der Beitrag der us – amerikanischen Politologin Anne Norton über „Das Bekenntnis zur Gleichheit der Menschen“ (S. 187 ff). „Im Zeitalter der Aufklärung begann die Idee der Gleichheit der Menschen die auf Wohlstand und Status beruhenden Hierarchien in Europa hinwegzufegen. Die Revolutionen  beflügeln noch immer unser Denken, unser Handeln und unsere Hoffnungen“ (S. 187). Die Reichen und Mächtigen begegneten der Forderung der Armen nach Gleichheit „durch die Unterscheidung zwischen politischer und ökonomischer Gleichheit. Diese unaufrichtige Unterscheidung beschäftigt uns bis heute“. (S. 188). Das heißt : Die Armen dürfen in der Gunst der Herrschenden zwar politisch an Wahlen teilnehmen, aber ihre berechtigten Forderungen nach Einschränkung des unsittlichen Reichtums der Milliardäre wird ignoriert: Eigentum auch maßlos ist im Kapitalismus das Heiligste des Heiligen. „Die Revolutionen und Verfassungen, die die Aufklärung vorangetrieben hatten, veränderten zwar die Welt, aber es gelang ihnen nicht, die sich wandlende Macht der Hierarchien zu überwinden.“ (S. 190) …“Das Zeitalter der Aufklärung war auch das Zeitalter der Imperien… Die Kolonisierung bleibt die immerwährende Schande.“ (S. 192).
Aber Anne Norton zieht daraus die Konsequenz: „Wie alle großen Errungenschaften der Aufklärung ist auch die Gleichheit der Menschen nicht irgendwann abgeschlossen. Die Vernunft hat kein Ende. Freiheit wird nicht durch eine einzige Revolution gewonnen, sondern durch kontinuierliches Streben nach revolutionären Zielen“ (S. 194).

13.
Auf die Kritik der Aufklärungsphilosophen an den Religionen und Kirchen wird in dem Buch zur Ausstellung im DHM mehrfach hingewiesen, etwas ausführlicher in einem Beitrag von Margaret Jacob über „Die Religion im Europa der Aufklärung“ (S. 125-132). Für uns wichtig der Hinweis zur religiösen Toleranz in den Niederlanden schon im 17.Jahrhundert: Dort fanden ihres Glaubens wegen Verfolgte eine Zuflucht, nicht nur Juden, auch christliche Minderheiten, wie die Sozinianer, die sich gegen das Trinitätsdogma wehrten und verfolgt wurde. „Innerhalb des niederländischen Protestantismus gab es viele Gruppen, die für religiöse Toleranz eintraten“, schreibt Margaret Jacob (S. 127.) Leider vergißt sie die bis heute in der Hinsicht wichtigen protestantischen Remonstranten (auch früher “Arminianer” genannt) zu würdigen… immerhin erwähnt sie etwas ausführlicher die „Etablierung der Freimaurerlogen“…

14.
Über den Katholizismus und die Aufklärung hat der katholische Kirchenhistoriker Prof. Hubert Wolf eine Aufsatzsammlung veröffentlicht: „Verdammtes Licht“ ist der Titel. (C.H. Beck Verlag, 2019.

15.
Über Kants nach wie vor inspirierenden Vorschlag, eine christlich Vernunftreligion zu gestalten, siehe: LINK.

Über den christlichen Glauben des Aufklärers Voltaire: LINK 

Über einen aufgeklärten katholischen Priester: Abbé Meslier:LINK 

16.
Das Deutsche Historische Museum: www.dhm.de/aufklaerung
www.aufklaerungnow.de   Offen Montag bis Sonntag von 10.00 bis 18.00 Uhr.

Fußnote 1:
Immanuel Kant, „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“, in: der., „Zum ewigen Frieden und andere Schriften“, Fischer Taschenbuch Verlag, 2008, dort das Zitat S. 31.

Fußnote 2:
Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1981, S. 156.

 

“Was ist Aufklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert”. Das wichtige Buch zur Ausstellung im Deutschen Historischen Museum Berlin (DHM) hg. von Raphael Gross und Liliane Weissberg, 130 Abbildungen in Farbe!, HIRMER VERLAG,  München, 336 Seiten, 30 € in der Ausstellung. Auswärts, also Ladenpreis: 39, 90 €.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Wer aus der Kirche austritt, könnte eine neue Gemeinde gründen…

Ziemlich rebellische Vorschläge des katholischen Theologen Thomas Laufmöller unter dem Titel „Aufruhr“ (ein Buch aus dem Herder – Verlag)

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.

Europa erlebt einen tiefgreifenden kirchlichen und religiösen Umbruch, man möchte sagen: eine spirituelle Zeitenwende. Viele tausend Christen kündigen seit Jahren schon ihre Mitgliedschaft in den Kirchen. Sie „treten aus“, wie man so sagt. Aber: Wo treten sie hin? D.h.: Treten sie irgendwann wieder in eine religiösen Gemeinschaft ein? Sind sie seit dem Kirchenaustritts (oder vielleicht schon davor?) „bloß“ Atheisten, Skeptiker, Agnostiker, Nihilisten usw.? Etliche Religionssoziologen meinen: Viele „Ausgetretene“ bleiben oft auch spirituell interessierte Menschen. Religionsphilosophen können diese These grundsätzlich bestätigen: Es gibt vielleicht so etwas wie unsichtbare Religionen und Spiritualität bei allen Menschen…

2.

Bislang sind katholische Theologen in Deutschland nicht dadurch aufgefallen, dass sie den „Ausgetretenen“ (um diesen Begriff zu verwenden) explizit sagten: Sucht doch euch die eigene Spiritualität in neuen Gemeinschaften! Organisiert euch neu in Gesprächskreisen, Gemeinden. Ihr lebt doch immer noch spirituell, befreit von der Leitung der Hierarchie, befreit von vielen kaum nachvollziehbaren katholischen Traditionen (Zölibat, Papst-Amt usw., um nur katholische Beispiele zu nennen). Und ihr seid befreit von vielen nicht nachvollziehbaren, belastenden und verstörenden Dogmen, wie der Erbsünde. Die ewig wiederholten Glaubensbekenntnisse des 4. und 5. Jahrhunderts versteht doch kein kritischer Mensch der Gegenwart.“

3.

Soweit und so diffenziert geht der katholische Theologe Thomas Laufmöller in seinem Buch „Aufruhr!“ nicht, seinen Aufruf zur Aufruhr könnte man so zusammen fassen: „Ihr ausgetretenen Katholiken gründet doch eure neuen Gemeinden, zum Beispiel kleine Hausgemeinden, Treffpunkte, Gesprächskreise und entdeckt die schlichten gemeinsamen spirituellen Feiern von Brot und Wein, dabei kann man sich der Worte Jesu von Nazareth erinnern…“. Laufmöller schreibt: „Ich möchte als Seelsorger mithelfen und unterstützen, dass die lebenserfüllende Botschaft Jesu nicht durch die institutionellen Strukturen der Kirche gebremst, vielleicht sogar erstickt wird.“ (S. 187). Gleich am Anfang schreibt er: „Ich möchte, dass wir weiter nach unseren Wegen des Glaubens suchen, dass wir den Glauben in Gemeinschaft leben.“ (S. 12). Thomas Laufmöller gestaltet auch als „entlassener“ bzw. „ausgetretener“ Priester neue (!) Formen von Gottesdiensten, von „Messen“ spricht er nicht: „ Ich bin also ein gutes Beispiel dafür, dass sich auch in unserer Zeit etwas Neues rund um den christlichen Glauben aufbauen lässt. Inzwischen treffen wir uns einmal im Monat zum Gottesdienst, und es kommen viele Menschen.“ (S. 176).

4.

Das ist die „zentrale Message“ des sonst eher biographischen Buches von Thomas Laufmöller. Wie gesagt, mit dem sehr anspruchsvollen Titel „Aufruhr!“ Tatsächlich: Der katholische Theologe deutet seinen Vorschlag zur Gründung neuer Gemeinschaften und Gemeinden als Aufruhr, also als Aufstand und Rebellion. Aber Aufruhr gegen wen? Gegen die etablierte Kirchenhierarchie. Und Aufruhr wozu denn eigentlich? Es geht Laufmöller leidenschaftlich um die Gestaltung neuer elementar – christlich orientierter Gemeinden bzw. Gemeinschaften. Sie möchte der katholische Theologe als Wiederbelebung der Urkirche verstehen , also jener immer wieder idealisierten kleinen bescheidenen Gemeinden, in denen angeblich „alle alles gemeinsam“ hatten, wie es in der „Apostelgeschichte“ (Apg., 2,44) heißt. Der Ursprung also als Utopie gelten: Laufmöller plädiert in gewisser Weise für einen „Rebellion nach hinten“, in eine idealisierte urkirchliche Vergangenheit des 1. bis 3. Jahrhunderts, „vor Kaiser Konstantin“ und seiner Staatskirche.

5.

Auf dieses Thema „Gemeindegründung sozusagen „von unten“, „ohne bischöfliche Kontrolle“, laufen die Ausführungen auf 192 Seiten hinaus. Lang und breit berichtet der katholische Theologe auch von der Beendigung seines Priesteramtes im Bistum Münster im Jahr 2023, das er viele Jahre gern und offenbar mit großer Zustimmung der Gemeinden ausübte… Bis ihn eben sein zuständiger Bischof Genn von Münster, bürokratischen Üblichkeiten folgend, versetzen wollte: Mit anderen Worten: Pfarrer Laufmöller sollte aus seiner weithin anerkannten Gemeindearbeit in eine andere „vertrieben“ werden. Dagegen regte sich der Widerstand der Laien, vergeblich, bei den bekannten amtlichen katholischen Strukturen. Pfarrer Laufmöller trat aus dem Priesteramt aus und „löste sich von der Institution Kirche“ (S. 183, Details auch S.90 f.)

6.
Seit einem Jahr also ist Thomas Laufmöller freier Gestalter von Hochzeits-, Segnungs – und Trauerfeiern, er ist sozusagen privater Seelsorger und privater theologischer Referent . Siehe etwa die website Thomas Laufmöllers: https://www.thomas-laufmoeller.de
7.
Der Gedanke ist schon interessant: Sollen doch die „Ausgetretenen“, wenn sie denn wollen, aus eigener Initiative neue Formen eigener, persönlicher Spiritualität in Gemeinden, Gemeinschaften, Gruppen usw. entwickeln. Die Frage, ob „die“ „Ausgetretenen“ das noch wollen, lassen wir hier beiseite. Wenn das Projekt aber gelingt. Dann sollten politische Reflexionen in diesen neuen Gemeinden eine Rolle spielen, genauso wie die Sensibilität für Fragen des seelischen Wohlbefindens. Und: Wer käme als kompetente ModeratorIN für diese Gruppen in Frage? Braucht man später dann auch Organisationen, braucht man Vernetzungen der neuen Gemeinden? Entsteht dann doch wieder eine neue Art (säkularer ?) Kirche? Fragen über Fragen, die es aber verdienen, mit Religionssoziologen und aufgeschlossenen Theologen weiter diskutiert zu werden. Vor allem: Ist die Idee, die „Ausgetretenen“ zu einem eher diffusen Modell „Urkirche“einzuladen, wirklich hilfreich? Heute geht es letztlich um die Rettung der Welt, um die gute Zukunft der Menschheit, etwas großspurig formuliert. Also konkret um die Eingrenzung der Klimakatastrophe, um den Widerstand gegen den zunehmenden Faschismus, um nur zwei globale Herausforderungen zu nennen. Das ist nicht nur ein politisches Thema im engeren Sinn, es hat auch spirituelle Dimensionen, etwa wenn es um geistige Widerstandsreserven der Demokraten geht. Deswegen müssen sich alle Menschen stärker verbinden und verbünden als Gemeinschaften des demokratischen Widerstands. Allein demokratische Gemeinschaften, demokratische Gruppen, demokratische NGOs, demokratische Parteien können wirksam sein in dieser individualistischen Gesellschaft mit den zu Konsumenten reduzierten Personen.
8.
Trotzdem: Das genannte zentrale Thema Thomas Laufmöllers verdient Beachtung der Theologen, Philosophen, Soziologen und hoffentlich auch der Bischöfe. Denn die Zeit der alten etablierten Kirchen als Systeme und Machtstrukturen ist – in Europa – definitiv vorbei. Es geht heute um eine neue überkonfessionelle, den Dialog liebende Spiritualität in diesem nun zunehmend kirchenfernen und kirchenfreien Europa.

Thomas Laufmöller, „Aufruhr! Warum wir eine neue Urkirche brauchen“. Herder Verlag 2024, 191 Seiten, 20 €.

Copyright: Christian Modehn, religionsphilosophischer-salon.de

 

 

Buchmesse 2024: Wo sind die Ketzer Italiens?

Über das Thema Religionen und Kirchen auf der Buchmesse in Frankfurt.

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Die Buchmesse in Frankfurt am Main 2024: ITALIEN ist „Ehren-Gast“.

2.
Der Religionsphilosophische Salon Berlin erinnert auch 2024 an ein Thema, das auf der Frankfurter Buchmesse meist keine große Bedeutung hat und eher wenig Beachtung findet: Es sind die Religionen und Kirchen und Philosophien. Dabei geht es uns gerade am Beispiel Italiens nicht um die dort übliche massenhafte Produktion frommer Traktate und Broschüren, sondern um Hinweise zu kritischen Aspekten des religiösen Lebens dort.
Nebenbei: In vergangenen Jahren hatten wir schon Hinweise gebracht: Zu 2017 Frankreich  LINK und LINK zu Georgien 2018 und Link 2011 zu Island.

3.
2024 konzentrieren wir uns anläßlich des Ehrengastes Italien auf eine zahlenmäßig kleine, aber geistig und politisch bedeutende progressive protestantische Kirche. Sie ist für uns ein Kontrast Programm zum allgegenwärtigen, auch politisch noch machtvollen Katholizismus in Italien. Diese protestantische Kirche hat den Namen „Waldenser – Kirche“. Und dieser Titel passt gut zum Motto des „Ehrengastes“ der Buchmesse 2024: „Verwurzelt in der Zukunft“. Die Waldenser – Kirche ist tatsächlich stark verwurzelt in der Geschichte Italiens und sie hat auch richtige, d.h. den Menschenrechten entsprechende  politische Perspektiven für die Zukunft dieses nicht nur in Nord und Süd geteilten Landes. Die Bindung dieser Kirche an die Menschenrechte ist für andere Kirchen inspirierend unter den Bedingungen der von Neofaschisten bestimmten Regierung Melonis.

Unsere Hinweise verstehen sich wie immer als Einladungen, als Impulse an die LeserInnen, selbst weiter zu forschen.

4.
Der Name Waldenser bezieht sich auf den mittelalterlichen Katholiken Petrus Valdes, er stammte aus Lyon (Frankreich), war ein Laie, kein Kleriker, aber er war ein kirchenkritischer Prediger und ein leidenschaftlicher Freund der Armen in dergleichen Kleriker – Kirche. Die Bibel wollte er selber lesen und deuten, etliche katholische Lehren lehnte er ab, wie den Glauben an ein Fegefeuer oder die Heiligenverehrung. Mit ihm bildete sich die “Bewegung der Armen von Lyon“. Sie konnte sich in Zeiten der Verfolgung durch die Inquisition in die westlichen Bergtäler Norditaliens (Piemont) zurückziehen.
Um 1210 ist Petrus Valdes gestorben. Die Waldenserkirche hat als ketzerische Vereinigung (ketzerisch in der Sicht der Päpste) trotz aller Anfeindungen und Verfolgungen durch die Päpste und die weltlichen Herrschaften überlebt. Eigentlich ist dies eine Sensation. Sie zählt heute etwa 40.000 Mitglieder in Italien, auch in Lateinamerika und sogar in Deutschland gibt es Waldenser – Gemeinden. LINK Deutsche Waldenservereinigung.
In Italien haben sich die Waldenser mit einer anderen protestantischen Kirche, den Methodisten, zusammengeschlossen.
Nebenbei: Papst Franziskus hat in einem Schreiben die Waldenser um Vergebung gebeten für die Verfolgung durch die katholische Kirche. LINK.

5.
Die Waldenser Kirche in Italien ist heute eine moderne, NICHT – fundamentalistische protestantische Kirche, die Bibellektüre folgt den historisch – kritischen wissenschaftlichen Grundsätzen und Frauen sind als Pfarrerinnen willkommenem, um nur zwei Beispiele zu nennen. Die ewigen Probleme der Katholiken haben Waldenser also nicht.
Und diese Kirche ist wegen ihres sozialen Engagements zugunsten behinderter Menschen und vor allem zugunsten der Flüchtlinge sehr beliebt. Ein Beispiel: Nur 70 Prozent der katholischen Italiener wollen ihre so genannte Kultur – und Religions-Steuer, das sind 0,8 Prozent der Steuerschuld, der dominanten katholischen Kirche überlassen. Viele weisen diese Steuer sozialen Projekten des Staates zu oder eben auch der Waldenserkirche: Obwohl weniger als 0,1 Prozent der Italiener Mitglieder dieser Kirche sind, entscheiden sich fast 3 Prozent aller steuerpflichtigen Italiener, diese Steuerschuld den Waldensern zu überweisen! Ein Zeichen für das gute Renomée dieser Kirche, die sehr genau und mit großer Transparenz dokumentiert, was mit dem Steuergeld geschieht: Viel Geld geht an Projekte zur Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten oder an die Prävention und Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt… „Die Arbeit der Projektbewertung ist schwierig und komplex, und wir versuchen, das Prinzip zu respektieren, das auf die Emanzipation der Menschen, auf die Verteidigung der Schwächsten und die Entwicklung der Völker blickt, soziale Veränderungen mit der gebührenden Aufmerksamkeit für den Nächsten und ohne Vorurteile“, heißt es in einer Publikation der Waldenser. LINK

Intermezzo: Zum Selbstverständnis der Waldenser Kirche, veröffentlich am 19.5.2024: Der kritische Geist zugunsten der Demokratie: “Gewissensfreiheit ist eine weitere Säule der Waldenskirche. Dieses Prinzip bestätigt, dass jeder Einzelne in der Lage sein muss, seinem Gewissen in Fragen des Glaubens und der Moral zu folgen, ohne äußere Zwang oder Zumutungen. Dieser Ansatz hat die Waldensische Kirche dazu veranlasst, historisch das Recht auf Religionsfreiheit zu verteidigen und sich jeder Form von Autoritarismus und Intoleranz zu widersetzen.
Gleichheit ist ein Wert, der alle Aktivitäten der Waldenskirche durchdringt. Alle Mitglieder der Gemeinschaft, unabhängig von Geschlecht, Alter, ethnischer Herkunft oder sozialem Status, gelten vor Gott als gleich. Dieses Prinzip spiegelt sich auch in der Struktur der Waldensischen Kirche wider, die auf demokratische und partizipative Weise organisiert ist, mit Ratschlägen und Synoden, in der alle Gläubigen ihre Meinung äußern und zu Entscheidungen beitragen können.
Schließlich ist die Aufnahme ein Kernwert für die Waldenserkirche. Die Waldenser-Gemeinde setzt sich dafür ein, für alle ohne Diskriminierung willkommen zu sein. Dieses Engagement zeigt sich auch in den zahlreichen sozialen und humanitären Initiativen der Waldenser-Kirche, die darauf abzielen, die Schwächsten zu unterstützen und Ungerechtigkeit zu bekämpfen. (Quelle. LINK ) 

6.
Ausdruck für die theologische ökumenische Offenheit der Waldenser ist auch deren theologische Fakultät in Rom: Sie ist offen für Studenten aller Konfessionen und auch für Interessenten, die keiner Kirche angehören, wie es in einer Publikation der Fakultät heißt. LINK
In diesen Zusammenhang gehört auch ein Hinweis auf eine ökumenische Monatszeitschrift: CONFRONTI ist der Titel, einst gehörte der bekannte ehemalige Benediktiner Abt und Theologe Giovanni Franzoni (1928 – 2017) zur Chefreaktion. Franzoni ist auch als Autor zahlreicher (politischer) Bücher bekannt geworden: Aber es ist bezeichnend, dass die Theologen der Waldenser Kirche mit einem vom Papst abgesetzten katholischen Abt zusammenarbeitete. I LINK.

7.
Offen für die Rechte der Homosexuellen eintreten und die Gleichberechtigung praktisch leben: Dies ist ein weiteres typisches Kennzeichen der Waldenser. Der Journalist und Italien -Experte Thomas Migge sagte im Deutschlandfunk 2011: „Bereits im Jahr 2010 hatten die italienischen Waldenser auf ihrer Synode die Möglichkeit der kirchlichen Eheschließung für homosexuelle Paare einstimmig beschlossen. Aber erst Ende Juni 2011 wurde dieser Beschluss in die Tat umgesetzt. Eine Entscheidung, die vom Vatikan in Rom wie ein Schlag ins Gesicht empfunden wurde. So hieß es nach dem Trauungsakt von Homosexuellen in einer Waldenser Kirche in Mailand inoffiziell aus dem Vatikan, dass nach so einem Schritt an eine Vertiefung der Beziehungen zwischen beiden Kirchen im ökumenischen Sinn vorerst nicht zu denken sei.“ LINK.

8.
Die Waldenser sind nach wie vor ein Stachel im Fleisch des italienischen Katholizismus: Diese Kirche verliert ständig und sytematisch an Mitgliedern, vor allem unter jungen Leuten und Frauen: Im Jahr 2018 waren 73 % der Italiener Mitglieder der katholischen Kirche, im Jahr 1981 waren es noch 93%. Der Katholizismus ist zwar nicht mehr offizielle Staatsreligion, aber er ist die „Religion des italienischen Kulturerbes“, etwa mit Religionsunterricht auch in staatlichen Schulen und dem obligatorischen Kreuz in staatlichen Gebäuden. LINK

9.
Der Katholizismus in Italien setzt nach wie vor auf die Pflege der so genannten Volksfrömmigkeit: Also auf Wallfahrten (man denke etwa an den Marienwallfahrtsort Loreto in den Marken, dort kann das Haus besichtigt werden, in dem die Jungfrau Maria als Mädchen angeblich lebte.) Oder man denke an die Verehrung des heiligen Scharlatans, des Paters Pio, LINK  oder an die Verehrung des Heiligen Gennaro und seine mysteriöse Blutkapsel in Neapel. Diese Mischung aus Aberglaube und diffusem Volkskatholizismus gilt offenbar immer noch als eine starke Stütze für die zerrissene italienische Gesellschaft. Heilen kann dieser religiöse Wahn diese kranke Gesellschaft (Mafia!) nicht.
Unter diesen Bedingungen haben die Waldenser als eine nüchterne, aufgeklärte, man könnte sagen vernünftige Kirche nur wenige Chancen, eine breite Reform- Bewegung zu werden…

10.
In Italien gab es immer schon Abweichler vom offiziellen Katholizismus, eigentlich müßen Historiker und Religionswissenschaftler eine italienische Ketzergeschichte schreiben, wobei es immer die Herrscher und die Päpste waren, die Menschen als Ketzer definieren. Aber sie waren oft klüger und wertblickender als das meist erstarrte System des Katholizismus.

11.
Vom fast vergessenen Theologen und Augustiner-Mönch Arnaldo de Brescia (1090- 1155) wäre im Zusammenhang der Ketzerei zu sprechen, an die theologisch radikalen Franziskaner – Spiritualen wäre zu erinnern, genauso an die Tatsache, dass Franziskus von Assisi eigentlich eine radikale Armuts-Bewegung als Glaubensgemeinschaft gründen wollte. Dann aber hat er sich der Macht des Papstes beugen müssen und einen „normalen, korrekten Orden“ entstehen lassen. Zur Rettung dieser machtvollen Klerus – Machtkirche… Neapel wurde später für kurze Zeit ein Zentrum reformatorischer Ideen, auch Venedig war zeitweise ein Zufluchtsort für Protestanten. Weil die kirchliche Zensur in Italien so heftig war, konnten Luthers Schriften in Italien kaum verbreitet werden. Bartolomeo Fonzie hat als erster Luthers Traktat „An den christlichen Adel“ ins Italienische übersetzt. Die wenigen Lutheraner wurden verfolgt, der Humanist Antonio Bruccioli (1498- 1566) übersetzte die Bibel ins Italienische, wurde deswegen von den Päpsten verfolgt… er lebte unter Hausarrest und starb in großer Armut.
Später machten radikale italienische Reformatoren von sich reden, wie Girolamo Zanchi (der später in Neustadt an der Weinstraße predigte), vor allem Lelio und Fausto Sozzini (1539 – 1604) sind auch nach wie vor wichtig und in Deutschland leider kaum bekannt oder sie werden verteufelt wegen „dogmatischer Abweichungen“ etwa von den großen Konzilien des 4. Jahrhunderts. Aber die Sozzinis waren theologisch hochgebildete Theologen und sehr gut begründete Überwinder des üblichen Dogmas der göttlichen „Dreifaltigkeit“ (Trinität). Fausto Sozzini konnte in das damals liberale Polen fliehen und dort Gemeinden aufbauen, die der „Polnischen Brüder“. Aber auch sie hatten letztlich dort kein Lebensrecht, einige „polnische Brüder“ flüchteten nach Holland und traten später in Kontakt mit den dortigen liberal – theologischen Remonstranten.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Der schöne Schein von katholischer Modernität und die dunkle Realität heute.

Was man über die Entwicklungen im Katholizismus jetzt wissen sollte. Einige Fakten.
Hinweise von Christian Modehn.

1. “Klerikalismus ist Sünde” sagt der Papst.
Papst Franziskus ist wahrscheinlich der erste Papst, der den Klerikalismus aufs heftigste öffentlich kritisiert und explizit verurteilt. Der Papst ist als oberster Kleriker („heiliger Vater“) über die Verhaltensweisen und Ideologien der heute lebenden Kleriker, also der Priester in der römisch-katholischen Kirche, total empört. In seiner wohl Biographie zu nennenden Veröffentlichung mit den Titel „Leben. Meine Geschichte in der Geschichte“ (2024, ein in mehreren Sprachen herausgegebenes Buch, auf Deutsch bei HarperCollins) sagt Papst Franziskus: „Klerikalismus ist eine wahre Krankheit, eine Pest, Klerikalismus ist Sünde, eine Perversion, Klerikalismus habe die Macht, die Kirche zu zerstören usw…“ (die Belege auf den Seiten 256-257). Und dann auch dieses: „Klerikalismus ist das Gegenteil von Synodalität“, so auf Seite 257. Und der Leser denkt Ende September 2024 daran, dass ab 2. Oktober 2024 wieder die Weltsynode in Rom tagen wird: Und alle wissen schon jetzt: Synode im eigentlichen Sinne ist diese Veranstaltung nicht: Die Kleriker sind die große Mehrheit der Teilnehmer; Mehrheits-Entscheidungen der Synodalen haben keine Bedeutung, alle Entscheidungen der Synodalen müssen vom Papst gutheißen oder verworfen werden. Und der Anteil der Frauen unter den Synodalen ist sehr gering. Dabei sind mindestens eine halbe Milliarde der Katholiken weltweit Frauen! 45 Frauen unter den 368 Synodalen sind stimmberechtigt., berichtet katholisch.de am 1.10.2024. Anne Soupa, eine französische Historikerin und Theologin über die uralte Angst des Klerus vor den Frauen, diese Angst gilt auch für den Papst und seine Synode: LINK  Das Thema Diakonat für Frauen hat der Kleriker, Papst Franziskus, ausgeschlossen. Und die Presse ist bei den Synoden-Debatten nicht zugelassen. Von umfassender Demokratie ist auf der Weltsynode keine Spur. Der Klerikalismus, verstanden auch als päpstliche Allmacht, besteht also auch wie vor weiter. Was sollen dann aber diese Verbal – Attacke des Papstes gegen den Klerikalismus? Nur eine von anderen, schnell daher gesagten emotionalen päpstlichen Ausrutschern oder Launen? Wahrscheinlich ist das so.

2. Keine Analyse des “perversen Klerikalismus”.
Man beachte: Die Verurteilung des Klerikalismus, als, so wörtlich, Perversion, als Sünde, als Zerstörung der Kirche, als Pest usw. wird vom Papst nur kurz als Empörung ausgesprochen, sie wird von ihm nicht tiefer analysiert, geschweige denn überhaupt präzise definiert. Man könnte also den Eindruck haben: Der Papst äußert seine Klerikalismus – Empörung, um noch etwas Beifall in katholischen – progressiven Kreisen zu erhalten: Diese Gruppen sind ja bekanntlich mit sehr gutem Grund antiklerikal. Und diese sollen sich nun über einen verbal antiklerikalen Papst freuen…
Nebenbei: Es ist durchaus zum Schmunzeln, dass die Klerikalismus – Attacken des Papstes in einer Epoche stattfinden, in der die aus Europa selbst stammenden Kleriker de facto, also für alle nachweisbar, zu einer aussterbenden Berufs – Gruppe gehören. Der viel besprochene „enorme Priestermangel“ (und die Vergreisung des Klerus) in Europa kann nur noch durch den Import von vielen tausend Klerikern aus Afrika, Indien, den Philippinen, aus Polen auch noch vorläufig noch etwas ausgeglichen werden. Aber der Klerikalismus besteht auch mit wenigen Priestern fort.

3.
Schon im Jahr 2014 hatte Papst Franziskus in seiner Ansprache vor den Kardinälen den Klerikalismus aufs heftigste kritisiert und die in päpstlicher Sicht irregeleiteten Kardinäle und Bischöfe am päpstlichen Hof eigentlich verurteilt….LINK

4.
Aber entscheidend ist: Die heftigste Zurückweisung des Klerikalismus durch den Papst hat für ihn selbst und seine Theologie kaum praktische Konsequenzen. Der Papst könnte bei der Allmacht seines Amtes das unsägliche Zölibatsgesetz für Kleriker sofort abschaffen. Das wäre kirchenrechtlich möglich. Der Papst ahnt doch hoffentlich: Das Zölibatsgesetz, die Verpflichtung der Priester, sich ohne erotische – sexuelle Liebesbeziehung irgendwie „keusch“, vielleicht a- sexuell, vielleicht zunehmend homosexuell, durchs klerikale Leben zu schlagen, ist fraglos ein Grund fürs Entstehen des krankhaften, vom Papst pervers genannten Klerikalismus. Und der Klerikalismus zeigt sich in der Öffentlichkeit als neurotische Herrschaft, als Allmachtsgefühl, als Überzeugung von heiliger Auserwähltheit, als neurotischer Zwang, eigene, auffallende Priestergewänder (Talare etc.) in der Öffentlichkeit zu tragen… Man lese das Buch von Eugen Drewermann „Kleriker“ erneut!

5. Papst Franziskus hält gegen alle theologische Erkenntnis am Zölibat fest.
Selbstverständlich gibt es in dieser verrückt gewordenen Welt voller Rassismus und Rechtsextremismus und Ignoranz der Klimakatastrophe etc. philosophische dringendere Themen. Aber Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie also Religionskritik muss sich um dieses Thema kümmern. Einen kritischen Journalismus, also einen, der sich mit Kirchenfragen als Investigativer Journalismus befasst, gibt es bekanntlich nicht. Wir erinnern also an dieses Thema, weil der Papst aus seinem offenbar innersten Zorn auf den Klerikalismus heute keine wirksamen, praktischen Konsequenzen zieht.
2014 sagte er noch auf einer Pressekonferenz, „weil der Zölibat kein Dogma ist, ist die Tür (zur Aufhebung des Zölibates ) Immer offen“. Aber schon 2019 lehnte der Papst dann die Forderung der so genannten „Amazons – Synode“ im Vatikan ab, verheiratete Männer als Priester wenigstens für den Amazonas- Bereich zuzulassen. Und 2023 sagte er dem argentinischen Publikation „Perfil“: „Ich bin noch nicht bereit, das Zölibatsgesetz zu überprüfen“. In einem Brief an französische Seminaristen vom 1. 12. 2023 zeigte Papst Franziskus auch noch seine Bindung an eine fundamentalistische Bibelauslegung, als er behauptete: „Der Priester ist zölibatär, weil Jesus es war, ganz einfach.“ LINK
Und auch auf der Weltsynode, die am 2.Oktober 2024 in Rom beginnen wird, hat der Papst, nach wie vor allmächtig, das Zölibatsgesetz NICHT als Thema auf die Tagesordnung gesetzt. Und die synodalen Schäfchen folgen brav der päpstlichen Verfügung…

6. Nur Kleriker leiten die Kirche.
Papst Franziskus setzt also (trotz der vielen tausend Missbrauchs-Verbrechen durch den Klerus) das von ihm so verhasste klerikale System in aller Form fort, zum Schaden der ganzen Kirche und … auch der Gesellschaft: Denn neurotische Priester, möglicherweise pädosexuelle Täter, sind nun einmal keine guten Seelsorger… in schwierigen Zeiten zumal.
Sicherlich, es gibt einige päpstliche kosmetische Reförmchen: Zum Beispiel: Einige Frauen arbeiten jetzt in päpstlichen Behörden, einige Frauen arbeiten sozusagen als Notlösung in bischöflichen Bürokratien, Ordinariate genannt; einige wenige Frauen sind TeilnehmerInnen der Weltsynode im Oktober 2024. Im ganzen aber bleibt es dabei: Papst Franziskus unternimmt nichts Grundlegendes gegen die Macht des Klerus, die Leitung der Kirche bleibt absolut Kleriker-, also Männer Sache.

7. Katholische Kirche ist stolz, nicht demokratisch zu sein.
Und die katholische Kirchenführung betont jetzt erneut, wie stolz sie ist, keine Demokratie zu sein, keine demokratische Strukturen etc. zu haben und bei dem Ausschluss der Frauen vom Priester auch die universal geltenden Menschenrechte zu missachten. … Und all das sagt die Kirchenführung ungeniert, zu einer Zeit, in der in den wenigen noch verbliebenen Demokratien dann die Demokratie von Rechtsextremen abgeschafft werden wird.
Noch einmal: Die katholische Kirche tut so, als würde sie mit diesen Synoden einen modernen und demokratischen Anschein wecken. Die Realität ist anders: Papst Franziskus negierte in seinem Buch „Leben“ (Verlag HarperCollins 2024, Seite 64) jegliche Hoffnung auf eine demokratisch – katholische Kirche: „Die Kirche ist doch, wie ich häufig genug sage, kein Parlament!“

8. Fundamentalistische Theologie des Papstes
Aber der angeklagte, aber auch wie bestehende Klerikalismus zeigt seine Macht auch in seinen Weisungen zur spirituellen Praxis der Glaubenden, der Laien und der „einfachen Priester“. Und dieser Einfluß klerikaler Theologie, also meist fundamentalistischer Theologie. Siehe dazu die Bibelauslegung des Papstes, siehe dazu u.a jetzt wieder das Insistieren auf die absolute biologische Fixierung auf die zwei von Gott angeblich auf immer fest gelegten Geschlechter, so der Papst am 28.9. 2024 in Löwen, Belgien. Und von dieser fundamentalistischen Rede des Papstes hat sich die katholische Universität Löwen, Belgien, distanziert! LINK
Es geht also um die Vorherrschaft klerikaler Theologie und klerikaler Spiritualität heute. Der Papst unternimmt nichts, um abergläubische Praktiken der Frömmigkeit und Spiritualität zu unterbinden. Im Gegenteil, er unterstützt diese Formen abergläubischer Spiritualität sogar noch.
Zur theologischen Erinnerung: Religiöse Praktiken können nicht nur nach inner-religiösen oder inner-theologischen Kriterien beurteilt werden, sondern vor allem nach universell allgemeinen Grundsätzen der Vernunft. Diese selbstkritische Vernunft hat ihren Ausdruck in den universell gelten Menschenrechten. Deswegen ist die Kategorie „Aberglaube“ im religiösen Bereich auch in der katholischen Kirche berechtigt und notwendig. Das heißt: Ein vernünftiger Mensch kann nicht zulassen, dass die Religionen und Kirchen und Päpste etc. heute ausschließlich selbst definieren, was Religion, Glaube, Spiritualität ist.

9. Ablass wird propagiert: Von Martin Luther nichts gelernt.
Alte, theologisch längst obsolete Praktiken werden wieder propagiert: Das Jahr 2025 wird in der katholischen Kirche als „Heiliges Jahr“ gefeiert. Und das bedeutet: Etwa 25 Millionen Pilger werden in Rom erwartet. Sie werden zweifellos die leeren Kassen des Vatikans füllen: Denn der „heilige Stuhl“ hat ein Haushaltsdefizit von ca.80 Millionen Euro, wie der Papst vor dem Kardinalskollegium betonte, so wurde am am 20.9. 2024 berichtet.

Auch der Ablass wird wieder im heiligen Jahr besonders gewährt! Der Ablass ist keineswegs in den „Verließen“ des Vatikans verschwunden nach Luthers Kritik, nein, er wird nach wie vor offiziell propagiert. LINK.

10. An den Teufel glauben!
Der Glaube an den Teufel wird nach wie vor offiziell vom Papst gefördert und unterstützt: Am 25.9.2024 belehrte Papst Franziskus in seiner wöchentlichen Generalaudienz: „Der Teufel existiert, er verführt die Menschen dazu, seine Existenz abzulehnen.“
Der Exorzismus als katholischer Ritus, Menschen aus der Macht des Teufels zu befreien, wird nach wie vor von Priestern praktiziert, auch wenn die Kirchenführung jetzt, so der Papst in seiner Ansprache am 25.9.2024, etwas vorsichtiger vorgehe bei der rituellen Vertreibung des Teufels…
Auch dies: Exorzismus – Kurse finden an der Universität „Regina Apostolorum“ in Rom (unter der Leitung des höchst umstrittenen katholischen Ordens „Legionäre Christi) seit vielen Jahren regelmäßig statt. „Nach Schätzungen von Geistlichen sind allein in Italien rund 400 Exorzisten tätig.“ LINK
Wer etwa die Websites französischer Bistümer studiert, findet immer wieder den Hinweis auf die zuständigen Exorzisten. Etwa für das Erzbistum Paris LINK https://dioceseparis.fr/service-de-l-exorcisme.html. Oder ein Beitrag aus „Le Monde“ 2021: LINK

11. Die Kleriker sind absolut wichtig, weil nur sie die Messe zelebrieren dürfen!
Die absolute Vorrangstellung des Klerus in der Katholischen Kirche wird nach wie vor auch in der Spiritualität und der Glaubenslehre zementiert. Die Priester stehen an erster Stelle, weil nur sie die heilige Messe zelebrieren dürfen. Diese Messe wird als das absolut Höchste innerhalb der katholischen Spiritualität propagiert. Ohne Priester keine Messe, ohne Messe keine wahre Spiritualität. Wenn Priester fehlen, müssen „halt eben“ die überflüssigen Kirchengebäude geschlossen und verkauft werden. Das ist jetzt Praxis in Europa. Natürlich verlassen sehr viele Millionen nachdenkliche Menschen in Europa diese Kirche, so dass auch deswegen die Gebäude überflüssig werden…
Die ursprüngliche, biblische Mahlfeier der Gemeinde als Gedenken an Jesus von Nazareth wurde durch den Klerus zu einer kultischen Opferhandlung (zur Messe) umgewidmet, dieser kultischen Opferhandlung kann nur der geweihte Priester (ein Mann natürlich) vorstehen. (Vgl. den Beitrag des Theologen Helmut Jaschke „Das Eucharistieverständnis der katholischen Kirche ist überholt“ in Publik-Forum 17/2024, Seite 38.)

12. “Ich betete zur Mutter Gottes”.
Der Marien – Kult ist in der heutigen katholischen Kirche, Stand September 2024, kaum zu bremsen:
Papst Franziskus ist intensivster Verehrer der Jungfrau Maria. Seit jungen Jahren verehrt er besonders die wundertätige Jungfrau Maria mit dem Titel „Maria Knotenlöserin“: Der Papst sagt: „Ich hab mich Maria ganz hingegeben und gespürt, wie sie mir geholfen hat, alle meine Knoten zu lösen. ….Die Hingabe an die Mutter Gottes muss klar, schön, rein und schlicht sein, Maria und ihr Sohn (in dieser Reihenfolge, sic CM) müssen immer an erster Stelle stehen“, so in dem Buch des Papstes mit dem Titel „Leben“, Verlag HarperCollins. Seite 123. Dort war er auch sehr ehrlich: „Ich betete zur Mutter Gottes“ (Seite 73).

13. Maria erscheint auf Erden
Die überschwängliche Verehrung Mariens im Wallfahrtsort Medjugorje in Bosnien wird jetzt vom Papst anerkannt, selbst wenn er es verbietet, die monatlichen Äußerungen der dort aus dem Himmel hereinschwebenden Maria als Offenbarungen zu deuten. Quelle. Die Übernatürlichkeit, also Echtheit der Erscheinungen Marias auf bosnischem Boden, wird also vom Papst nicht bestätigt, so weit ist man theologisch schon gekommen. Um die vielen tausend Medjugorje – Pilger nicht zu brüskieren, drückt der Papst dann doch ein insgesamt positives Urteil über den Wallfahrtsort und die Botschaften Mariens dort aus: Insgesamt sei dieser Ort der Auftritte Mariens in Medjugorje „ein Schatz“ für die Frommen, den es zu pflegen gilt.
LINK
Die website katholisch.de nennt weitere Orte der Erscheinungen Mariens und angeblicher Wunder. „Zu nennen sind Trevignano bei Rom, Brescia und Como in der Lombardei, Kalabrien im Südwesten Italiens, gefolgt vom spanischen Wallfahrtsort Chandavila.“ LINK

14. Blutwunder als Spiritualität moderner Menschen.
Neben der höchst lebendigen Marien-Verehrung ist der so genannte mysteriöse, nicht mystische (!) Volksglaube vor allem in Italien, Spanien, Portugal, Lateinamerika sehr lebendig. Diese Frommen wollen das Göttliche oder ihren Gott und ihre Heiligen wirklich greifen, sehen, spüren, riechen…Bekannt ist die Vorliebe der Neapolitaner für das Blutwunder des heiligen Januarius (San Gennaro). Das Blut befindet sich in einer Ampulle, es darf sich aber erst verflüssigen nach einem zu Ehren des Heiligen gefeierten Messe. Aber im September 2024 war das Blut bereits vor der Messe verflüssigt, und das gilt als ein böses Omen. Aber der kompetente Blutwunder – Spezialist, der Erzbischof, beruhigte die nervösen und furchtsamen Frommen. Der katholische Aberglaube erzeugt Angst: Denn das Ausbleiben des Blutwunders wird in Verbindung gebracht mit den (bevorstehenden ?) vulkanischen Aktivitäten in der Nähe Neapels…

15.  Ein heilihger Scharlatan
Offiziell propagiert und fördert nach wie vor der Klerus auch eine exzessive Heiligen – und Reliquien- Verehrung. Über den Kapuziner-Pater Pio, den Scharlatan mit den Wundmalen Jesu an den Händen, wurde oft berichtet: Er ruht in einem Glassarg in San Giovanni Rotondo. Papst Franziskus holte die Kapuziner – Mumie in seinem Glassarg sogar in den Petersdom nach Rom. LINK

16. Das heilige Herz  auf Reisen.
Nicht weniger interessant ist die aktuelle Verehrung des jungen Heiligen Carlo Acutis (1991-2006), dessen Leiche im offenen Sarkophag in Assisi ausgestellt wird. Dem toten Körper hat man allerdings das jugendliche Herz entnommen (nicht für mögliche Transplantation), sondern: Die Kirche schickte dieses heilige konservierte Herz im Jahr 2024 auf Pilgerfahrt quer durch Europa. Selbst Katholiken fanden diese Rundreise eines Herzens geschmacklos. Um das Herz des jungen Toten wurde das Bekenntnis Carlo Acutis angebracht: „Die Eucharistie ist meine Autobahn zum Himmel“.

Nachtrag am 26.10.2024: Ende Oktober 2024 hat Papst Franziskus erneut eine Enzyklika veröffentlicht, ausgerechnet, um die Verehrung des Herzens Jesu zu fördern! Veröffentlicht zu einem Moment, als im Vatikan dreihundert Katholiken aus aller Welr, vor allem Kleriker, über die “Synodalität” der katholischen Kirche, also deren schwacher, möglicher Modernität und Demokratie, debattieren. Gibt es für Papst Franziskus wirklich kein dringenderes Thema für die bedrohte Menschheit von heute? Offenbar nicht.

Das Herz Jesu ist Gegenstand einer Frömmigkeit, die seit dem 19. Jahrhundert vor allem entleiblicht ist und nur das Herz Jesu bedenkt und pflegt, wenn nicht beweint, und gerade nicht umfassend dessen ganzes irdisches schwieriges, aber befreiendes Leben betrachtet. Es sind die  neuen geistlichen Gemeinschaften, wie die sehr konservative Bewegung “Emmanuel” in Paray-Le-Monial, die heute den Herz – Jesu – Kult fördern … für eine kleine Gruppe sehr frommer, sehr antimoderner Katholiken. Aber denen entspricht die Enzyklika.

17. Psychiater vermeiden im Apostolischen Palast
Papst Franziskus hasst also den perversen, sündigen Klerikalismus. Aber er hasst offenbar nicht die Kleriker. Aber er persönlich will doch Vorbild sein und lehnt klerikale Bevorzugung ab, das darf nicht vergessen werden. Er findet das für Päpste übliche Leben in den Palästen des Vatikans unerträglich. Entsprechend äußerte er sich in seiner Biographie mit dem Titel „Leben“ (2024): „Hätte ich mich nach der Papstwahl entschieden, in die Päpstliche Wohnung des apostolischen Palastes zu ziehen, dann hätte ich vermutlich über kurz oder lang einen Psychiater gebraucht“ (S. 221). Zur Erinnerung: Papst Benedikt XVI. hat mit seinem Sekretär Erzbischof Georg Gänswein in diesem apostolischen Palast offenbar recht gern gewohnt, Papst Johannes Paul II. übrigens auch…Waren diese geistlichen Herrschaften während all der Jahre des isolierten Wohnens im Apostolischen Palast beim Psychiater?

18.
Weitere Beispiele für den Klerikalismus und für den damit zusammenhängenden Aberglauben in der katholischen Kirche heute können die LeserInnen aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen einbringen. Wir brechen diese religionskritischen Hinweise hier erst einmal ab.

19.
Mit dem Fortbestehen des Klerikalismus und damit der Kleriker als einem herausgehobenem, besonderen exklusiven Stand begibt sich die katholische Kirche weiterhin ins Getto.
Und damit zusammenhängend: Mit der ungebrochenen Förderung populärer Frömmigkeit und veralteter Theologien wird diese Gettobildung weiter gefördert.

20.
Wenn gelegentlich der Anschein erweckt wird, wie jetzt durch die „Weltsynode“ im Oktober 2024, die katholische Kirche suche den Anschluß an die demokratische Moderne, sie habe die Absicht, mit einfacher, nachvollziehbarer Glaubens -Lehre auch kritisch denkende Menschen religiös zu interessieren: Dann sollte man wissen: Es handelt sich immer nur um Reförmchen des Klerus, also um leichte Veränderungen der klerikal bestimmten Kulissenlandschaft. Erst wenn es keinen herausgehobenen Klerus – Stand mehr gibt, wird diese Kirche menschenfreundlicher, frauenfreundlicher vor allem, sagen wir es: Erst dann wird diese Kirche modern und vernünftig werden und den Weisungen des armen Propheten Jesus von Nazareth entsprechend leben.

21. Dieser Hinweis  bezieht sich nur auf die römisch – katholische Kirche. Ähnliche Studien sollten zu den orthodoxen Kirchen unternommen werden oder natürlich auch zu den fundamentalistischen evangelikalen Kirchen und den Pfingstkirchen.
Wenn man sich nur das weite bunte Feld der christlichen Kirchen ansieht, und von kritischen Beobachtungen zum Islam oder zum Judentum absieht, dann muss man sagen: Das „Christentum“ ist heute ganz überwiegend noch anti-modern, anti-demokratisch, anti-feministisch bestimmt. Und man fragt sich: Wie sinnlos ist eigentlich die kritische theologische Wissenschaft, wenn die Herren der Kirchen gar nicht die Erkenntnisse der theologischen Wissenschaften respektieren. Man sollte dieses Verhalten Dummheit nennen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Jesus als Mann. Aber: Christus als Witwer, als gay, als Frau?

Was die Phantasie mit dem armen Mann aus Nazareth so alles macht.
Anläßlich des Buches „Christus (m/w/d)“ von Anselm Schubert

Von Christian Modehn am 15.9.2024

1.
Welche seltenen Themen suchen sich Theologieprofessoren, wie viel Zeit widmen sie Problemen, die en vogue sind? Etwa der Frage: Wie männlich war Jesus von Nazareth, und zu welchem Mann wurde Christus gemacht, welches andere Geschlecht könnte er gehabt haben? Ein Freund sagte mir: Das sind Themen, die nicht von sehr dringender Relevanz sind, wenn man nur an die aktuellen Debatten der zerrissenen Gesellschaft und der verfeindeten Staaten denkt, an die Klima – Katastrophen, die Sehnsucht nach heilender Transzendenz und nach Sinn, nach Respekt, vielleicht auch noch nach einer Kirche, die ihre veralteten Dogmen endlich beiseite legt und die Klerusherrschaft abschafft…
Aber Anselm Schubert zeigt, mit welcher Phantasie Fromme und weniger Fromme sich auf das Thema „Christus (m/w/d)“ schon seit dem 2. Jahrhundert mit der Wucht aller ihrer Phantasie eingelassen haben. Auch die christliche Religion lebt von Phantasie, Projektion, man könnte manchmal auch sagen vom frommen Wahn derer, die sich Christen nennen.

2.
Dies nur als Einstimmung auf die Lektüre des Buches „Christus (m/w/d)“, mit dem Untertitel „Eine Geschlechtergeschichte“. Die Studie (396 Seiten, davon 117 Seiten wissenschaftliche Anmerkungen Literaturhinweise) hat der protestantische Erlanger Kirchenhistoriker Prof. Anselm Schubert nach Jahre langem Studium verfasst. Erschienen ist das Buch im C.H. Beck Verlag, 2024. Ganz zum Schluss, im „Dank“ bei seinen Helfern für diese ungewöhnliche Studie, schreibt Professor Anselm Schubert: „Dieses Buch ist über eine lange Reihe von Jahren entstanden“ (S. 277). Wohl wahr, man glaubt es sofort, so viele Quellen und Literaturverweise zu diesem bislang kaum bearbeiteten Thema wird man so leicht nicht mehr finden.

3.
Das Buch ist in gewisser Hinsicht eine Meisterleistung, eine Meisterleistung des Fleißes und der Energie, die absonderlichsten Fragen zur Männlichkeit “Christi“ bzw. „Jesu Christi“ zu erforschen: Wer hat sich schon einmal mit Themen befasst wie: „Der mystische Bräutigam“ (S.85), „Die Trinitarische Weiblichkeit“ (S.78), „Der geschlechtslose Erlöser“ (S. 66), „Die Seitenwunde Jesu als Uterus und Vagina“ (S.113 ff.). Wie sonderbar interessiert, darf man sagen: verrückt, waren viele kirchlich Fromme damals…Sie hatten keine Scheu zu sagen: „Die Brüste Christi stillen mit Milch“ (S. 105). Auch sehr „erbauend“: „Jesus als Witwer“ (S. 217) oder inspirierend der „Polygame Jesus der Mormonen“ (S. 221). Natürlich darf bei dem Thema nicht der schwule Jesus (S. 229) fehlen. Bibelfeste LeserInnen erinnern sich daran, dass Johannes, offenbar der Jüngste in der 12-Apostel-Schar, oft an der Brust Jesu, „des Herrn“, ruhte bei gemeinsamem Speisen. Eine Idee, die viele tausend Künstler begeisterte: Man beachte, dass Hans Schäufelin in seinem Abendmahlsgemälde (1515) diesen Jüngling Johannes sogar auf den Schoß Jesu setzte. War das etwa ein heimlicher Ausdruck von Pädophilie? Da entsteht – nebenbei – die Frage: Hat die „Pädophilie“ im zölibatären Klerus vielleicht eine ihrer Wurzeln in pädophil deutbaren Gemälden, Ikonen, die allüberall in katholischen Räumen zu finden sind? Ich kam auf diese Idee, als ich in der sehr geräumigen Sakristei einer Kathedrale in Spanien, also dort, wo sich die Priester für den „heiligen Dienst“ ankleiden und auskleiden, eine Fülle von nackten männlichen Putten und nackten heiligen (?) Knaben entdeckte… Eine gute Inspiration für die Priester vor dem „heiligen Opfer“, der Messe…

4.
Das Buch des Kirchenhistorikers Anselm Schubert bietet Einsichten und Einblicke in eine schier unerschöpfliche Materialfülle zu allen nur denkbaren Fragen zur Männlichkeit, zur Sexualität, Diversität, Weiblichkeit und Homosexualität von Christus.
Anselm Schubert verteidigt in einem Interview mit „Christ und Welt/Die Zeit“ vom 12.9.2024, Seite 15, seine mühevolle Kleinarbeit: Bestimmte Menschen und Gruppen hätten halt ein „ein Bedürfnis gehabt, sich mit Christus auf ihre Weise zu identifizieren. Jede und jeder sucht sich immer auch etwas Eigenes in Christus.“ Jedem und jeder sein, ihr Christus also. Ob es allerdings theologisch normative Grenzen dieses Bedürfnisses der Christus-Frommen geben sollte, wird nicht erörtert.

5.
Religiöse Phantasie gibt es auch heute: Vielleicht kommt jemand auf die hübsche Idee angesichts der Raumfahrt heute, Christus als den ersten Raumfahrer zu verehren, angesichts seiner biblisch besprochenen und als heiliges Fest gestalteten „Himmelfahrt“. Vielleicht wird der Weltraumfahrer Christus bei seinem Aufstieg sogar von seiner unbefleckten Mutter Maria begleitet, die laut katholischem Dogma auch eine „Aufnahme in den Himmel“ post mortem (z. T. staatliches Fest am 15. August) kennt und erfahren sein dürfte. Man sieht an diesen Beispielen, wie religiöse Traditionen zu Phantastereien und zu Wahn verführen können. Noch eine Idee: Über den leiblichen Vater Jesu von Nazareth, den „heiligen Joseph“, wird im Neuen Testament fast nichts aussagt, dennoch oder gerade deswegen entwickelte sich allmählich eine eigene ausgebreitete Josephs – Forschung, die „Josephologie“, mit einem Schwerpunkt in Montréal. LINK. https://www.saint-joseph.org/fr/

6.
Anselm Schubert hat sich vorgenommen, so wörtlich, „den letzten blinden Fleck“, also das bisher total Vernachlässigte in der Jesus/Christus – Forschung, auszubreiten und hervorzuheben, also die Frage nach der geschlechtlichen Identität und sexuellen Orientierung Christi (S. 21). Trotz dieser Materialfülle habe ich den Eindruck, dass eine tiefere theologische und historisch fundierte Reflexion hilfreich gewesen wäre: Etwa eine Antwort auf die Frage: Warum kamen denn vor allem die Mystiker und die Mystikerinnen im Mittelalter auf diese so absonderliche Ideen…Hatten sie nichts Besseres zu denken und zu tun? Schämten sie sich vielleicht sogar über ihre – in unserer heutigen Sicht ! – hoch merkwürdigen Ideen, Phantasien, Projektionen und sogar abartigen Themen? Wer sich durch diese von Schubert ausgebreiteten historischen Details förmlich lesend durchgeboxt hat, sagt sich am Schluss: Wie konnte sich eine ungebremste, sich religiös nennende Phantasie über die Sexualitäten Christi da nur in dieser christlichen Kirche breit machen. Waren die sonst so strengen Bischöfe und Päpste ausnahmsweise mal großzügig, weil sie dachten: Hauptsache die Leute sind fromm?

7.
Freilich: Das Hauptproblem für Theologen, nicht nur angesichts dieser Studie, muss genannt werden: Im Neuen Testament, das ist die entscheidende Hauptquelle aller auf Jesus bezogenen Studien ist, wird Jesus von Nazareth eindeutig als Mann beschrieben: Er wurde als Knabe nach jüdischem Gesetz beschnitten. Und er ist als Mann identifiziert worden im Prozess, der zu seiner Hinrichtung führte; an seinem Kreuz hoch oben wurde der Titel „König der Juden“ von den Römern angebracht und nicht etwa „Königin der Juden“.
Und trotz dieser evidenten Männlichkeit Jesu explodierte förmlich die fromme Phantasie einige Jahrzehnte nach Jesu Tod. In den Gemälden zur Geburt Jesu wird dieser Neugeborne als Junge gezeigt, und dazu schreibt Schubert: „Aber er war für viele Christinnen und Christen eben manchmal doch ein Mädchen, ein Androgyn oder etwas, das sich in den Kategorien menschlicher Geschlechtsidentitäten schlicht nicht fassen ließ“ (S. 22). Mit anderen Worten: Die Künstler (und die Literaten und die Theologen) nahmen sich ab dem 3. Jahrhundert die Freiheit, um auch der Kultur der Umgebung zu entsprechen, Christus als Mädchen oder als Androgyn oder, wie Schubert befremdlich schreibt, „als ETWAS“ (sachlich?,CM) darzustellen, das aus den Geschlechtsidentitäten herausfällt…
Aus Jesus wurde dann, wie Schubert zeigt, die göttliche „Weisheit“, er wurde als „androgyn“ usw. gedeutet, und das bis ins 18. Jahrhundert hinein. Dann aber wurde Christus vor allem in harter Gegenüberstellung gedeutet: Man lehrte: Der Mensch ist eben nur männlich ODER nur weiblich, so hieß die rabiate allgemeine Norm. Erst die feministische Philosophie und Theologie hat diese schlichte und falsche Definition der Identitäten aufgehoben. Sehr viele Christen und Kirchenführer halten aber diese veralteten Identitäten für absolut gültig, auch jetzt noch.

8.
Über die gelebte Sexualität Jesu von Nazareth wird im Neuen Testament nichts, aber auch gar nichts berichtet. Genauso wie nichts explizit über den Humor Jesu gesagt wird oder über seine ja durchaus denkbaren körperlichen Krankheiten, etwa wegen des vielen Wanderns in glühender Hitze usw. Dass er leibhaftiger Mensch war, wird nur in seiner Vorliebe fürs Essen und fürs Trinken guten Weines angedeutet. Vielleicht ist diese Vorliebe damals schon typisch männlich? Die Menschlichkeit des Mannes Jesus von Nazareth wird also im Neuen Testament auf ein Minimum an „Informationen“ reduziert. Die Geschichten, Mythen, von der Geburt Jesu und seiner Kindheit, wurden, kurz und bündig, erst spät in die Evangelien aufgenommen.

9.
Jesus als der religiöse Mensch, als der Prediger, als Kritiker bestehender jüdischer Religion, wird immer im Neuen Testament auch als der keusche, enthaltsame Mann dargestellt. Was wäre denn auch passiert, wenn Jesus als Mann Kinder gezeugt hätte, wie hätte die Kirche diese Jesus- Kinder bewerten müssen? Unvorstellbar, dass nach Jesu Tod seine Söhne als dann kirchlich zu deutende Gottessöhne herumlaufen und sich so systematisch eine Art Gottessohn – Geschlecht auf Erden etabliert! Undenkbar eine solche dann entstehende Dynastie der „Gott – Menschen“ und Erlöser…
Mit anderen Worten: So klug waren die ersten Christen schon: Jesus durfte also gar keine gelebte Sexualität haben! Anselm Schubert sagt in einem Interview für katholisch.de am 21.8.2024: „Eine Ehe Jesu wird nirgends in der Bibel erwähnt – und dem wäre sicher so gewesen, wenn er eine geführt hätte. Den Zölibat halte also auch ich für die wahrscheinlichere Variante.“ Wichtiger ist: Jesus durfte in kirchlicher Sicht überhaupt keine Ehe führen und schon gar nicht – wie und mit wem auch immer – Kinder zeugen.
PS: Die Gottessöhne und – töchter entstanden aber dann auf andere Weise doch, indem die Kirche lehrte: Jeder Christ (wenn nicht sogar jeder Mensch) ist mit dem heiligen Geist ausgestattet, als Gottes Sohn und Tochter… Solche tiefer gehenden Überlegungen vermisse ich im Buch von Anselm Schubert.

10.
With zu übersehen ist für die sexuelle Enthaltsamkeit Jesu von Nazareth etwas anderes, das meines Erachtens von Anselm Schubert nicht ausführlich herausgearbeitet wird. Denn es ist allgemein anerkannte Tatsache: Jesus von Nazareth war vom alsbaldigen Ende aller Zeiten überzeugt, und mit diesem Ende wird das Gottesreich Wirklichkeit (vgl. Matthäus 10,23 oder Markus 9,1 und 13,30. „Jesu Naherwartung (des ankommenden Reiches Gottes) ist das alles entscheidende Element: Es prägt Jesu Verhalten und Tun“, so der katholische Theologe Prof. Hermann Baum in seinem Buch „Die Verfremdung Jesu“, erschienen im katholischen Patmos Verlag, 2006, dort S. 35). Vor allem Paulus zeigt in seinen Briefen, etwa im 1. Thessalonicher – Brief aus dem Jahr 51: Wenn das Ende der Welt bevorsteht, dann sind alle Fragen nach einer möglichen Ehe, Sexualität, Frauen – oder Männer-Freundschaften usw. völlig zweitrangig.
Die Erwartung Jesu vom alsbald bevorstehenden Ende der Welt und dem Beginn des Reiches Gottes ist wohl der entscheidende Schlüssel für das Desinteresse Jesu von Nazareth selbst, sich irgendwie sexuell aktiv zu betätigen oder seine sexuelle Identität hervorzutun. Jesus war demnach de facto bloß ein Mann, ein jüdischer Mann, und das ist alles, was historisch zu sagen ist.

11.
Die ersten Christen hätten ja auch sagen können: Jesus von Nazareth war ein Mann, also evident ein jüdischer Mann. Und dann hätten sie in ihrer beliebten theologischen Deduktion sagen können: Unser christlicher Gott wird also („inkarniert“ sich!) ein jüdischer Mann. Und damit, dem kirchlichen Dogma entsprechend, wird auch die zweite Person in der göttlichen Trinität, Jesus – Christus, jüdisch, also Teil der jüdischen Gemeinschaft. Das heißt: Der christliche Gott des kirchlichen Dogmas wird also Jude. Damit werden natürlich zwei Weltbilder miteinander verschränkt, das jüdische (Gott als handelnder, liebender, zorniger Gott) und das griechische Weltbild der Trinität bzw. eines philosophischen Gottes: Dieser überlässt die Menschen und die Welt nach der Schöpfung sich selbst…
Trotzdem, dieser ketzerische Gedanke „Der trinitarische Gott wird jüdisch“ drängt sich spekulativ auf, nachdem man sich durch diese Fülle von Phantasien und frommem Wahn zur Männlichkeit, Weiblichkeit, Homosexualität, Diversität Christi in diesem Buch durchgeboxt hat. Ein ungeheuerlicher Gedanke, gewiss, der bisher nicht diskutiert wurde.

12.
Bei diesem Faktum zum jüdischen Mann (und Propheten) Jesus von Nazareth könnte eigentlich die Studie von Anselm Schubert wirklich enden. Aber das Haupt – Problem aller christlichen Theologie ist bekanntlich: Für Christen (also für Glaubende schon wenige Jahre nach Jesu Tod und seiner geglaubten Auferstehung) ist Jesus von Nazareth immer der Christus, der Erlöser. Jesus ist eben nicht Christus, und Christus ist nicht Jesus, obwohl dies immer behauptet wird.
Spätestens seit dem 3. Jahrhundert wird Jesus im Dogma zum Gottessohn erklärt bzw. dann seit dem 4.Jahrhundert zu einer „Person“ der göttlichen Trinität. Diese göttlich – menschliche Christus – Gestalt wurde von der frühen Kirche und ihren Theologen nur konstruiert, also „gemacht“ (vom heiligen Geist natürlich, sagen die Dogmatiker…), um den armen, sehr begrenzten Jesus von Nazareth sozusagen für alle Menschen und immer, außerhalb des Judentums, bedeutend und „erlösend“ zu machen. Und mit dieser „Umwidmung“ dieses kulturell – religiös begrenzten jüdischen Jesus zu einem universalen Christus werden alle geistigen Türen der Phantasie und des frommen Wahns geöffnet, um sich auch mit dem Sexualleben dieses Christus (nicht mehr dieses Jesus!) zu befassen, wie es in Nr. 3 unseres Hinweises in der hier gebotenen Kürze angedeutet wurde. Mit der „Umwidmung“ Jesu zum universalen, allen Kulturen und Sprachen zugänglichen Christus wurde es möglich, dass jeder und jede sich so seine phantastischen Gedanken über diesen seinen Christus machen konnte. Der Glaube ist ja immer individuell, keine Frage! Aber meiner Meinung nach haben die frommen MystikerInnen im Mittelalter doch allzu stark ihr erotisches Ego in ihre Glaubensergüsse und Christus – Bindungen einfließen lassen. Also, ein sehr sehr weites Feld frommer bzw. esoterischer und literarischer, künstlerischer und theologischer Spekulationen wird eröffnet.

13.
Das Buch von Anselm Schubert wird zu weiteren theologischen und kulturwissenschaftlichen und sicher auch spekulativen Forschungen zur Sexualität „Christi“ führen. Schubert macht in seinem Buch auf die Themen weiterer Diskussionen aufmerksam: „Geschlecht galt in der Antike (auch zur Zeit Jesu) eher als moralische und intellektuelle Eigenschaft, nicht als körperliche. Man ging von einer einzigen menschlichen Geschlechtlichkeit aus, die sich auf einer Skala bewegte zwischen weiblich und männlich, wobei das Männliche höherwertig galt…“ (Die Zeit, 12.9.204, Seite 15.)

Anselm Schubert, „Christus (m/w/d). Eine Geschlechtergeschichte.“ C.H.Beck Verlag München , 2024, 396 Seiten, 32€.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin