Ich habe nur „meinen“ Gott …

Der Soziologe Ulrich Beck lässt sich von Etty Hillesum inspirieren
Ein Hinweis von Christian Modehn am 24.9.2025

1.
Ihre „eigene Religion“ haben Menschen sogar inmitten der Säkularisierung der westlichen Welt entwickelt. Das Bekenntnis heißt: „Ich habe mir meine eigene Religion gestaltet (manche sagen `gebastelt).“ Oder: „Ich lebe meine Spiritualität, meine Religiosität, also eine, die zu mir passt und die mir gehört.“

2.
Die „eigene Religion“ wurde in gewisser Weise auch einst, in Zeiten intensiv erscheinender Kirchenverbundenheit gelebt – inmitten der fest strukturierten Konfessionen. Aber dabei wählten die Frommen einzelne Aspekte INNERHALB dieser vorgegeben Konfession und ihrer Traditionen bzw. Dogmen aus: Man verehrte etwa heftig die „Gottesmutter Maria“ oder war von der Erlösung durch das Kreuz Christi bis zu Tränen gerührt begeistert. Aber an dem offiziell vorgegebenen dogmatischen Rahmen rüttelten diese Frommen nach außen hin nicht, das taten nur wenige Häretiker und Schismatiker.

3.
Jetzt geht es um etwas viel Radikaleres: Es geht um die religionsphilosophisch interessante Tatsache: Menschen sagen explizit:Wir schaffen uns selbst unsere eigene Religion, den eigenen Glauben, den je-eigenen, „meinen“ Gott.

4.
Auf dieses Thema machte im Jahr 2008 auch der Soziologe Ulrich Beck aufmerksam. Ein spezielles Interesse an der inneren Welt des Christentums war in seinem umfassenden Werk nie deutlich hervorgetreten. Nun aber versammelte er Aufsätze unter dem Titel “Der eigene Gott. Friedensfähigkeit und Gewaltpotential der Religionen“, erschienen ist das Buch im „Verlag der Weltreligionen“. Und das erste Kapitel dieses komplexen religionssoziologischen Buches findet unser besonderes religionsphilosophisches Interesse: Dieses Kapitel hat den Titel: „Das Tagebuch des `eigenen Gottes`: Etty Hillesum, eine unsoziologische (sic) Einleitung.“

5.
Es ist also erstaunlich, dass sich ein renommierter Soziologe, der sich selbst „ungläubig“ nennt, auf ein spirituelles Tagebuch einlässt. In ihrem „Tagebuch“ fasst die junge niederländische Jüdin vom März 1941 bis September 1943 ihr Leben selbst in Worte, sie will Klarheit für sich selbst und über sich finden und dabei spricht sie unmittelbar, ohne „Filter“, von ihrer Hoffnung, ihrem Glauben inmitten der Verfolgung durch die Nazis. Und das ist das Bemerkenswerte: Sie spricht ausdrücklich, wie sie schreibt, von dem „Allertiefsten, das ich der Einfachheit halber als Gott bezeichne“.

6.
Nur ganz kurz: Etty Hillesum wurde am 15.1.1914 in Middelburg , Niederlande, geboren, sie war schon als junges Mädchen, in einer liberalen jüdischen Familie geboren, literarisch interessiert; von einem Psychologen wurde sie angeregt, Tagebuch zu schreiben. Sie spricht ihr Leben aus während der Besetzung der Niederlande durch die Deutschen, die Nazis, und sie begann im März 1941, Tagebuch – Einträge zu verfassen. Seit dem 6.6.1943 wurde sie im Nazi – Lager Westerbork festgehalten, am 7.9.1943 wurde sie mit ihren Eltern nach Auschwitz deportiert; am 30. November wurde sie dort (im Alter von 29 Jahren) von Nazis und ihren Helfern ermordet. Sie wusste, dass ihre Tagebücher von bleibendem Wert sind und überließ ihre Texte noch rechtzeitig einer Freundin in den Niederlanden.

7.
Der weltweit viel beachtete Soziologe Prof. Ulrich Beck (1944-2015) ist über die Tagebuchnotizen Etty Hillesums nicht nur höchst erstaunt. Man möchte sagen, er ist von ihnen tief berührt, wendet er sich doch wie in einem Brief an die junge Frau mit der Anrede „Liebe Etty“ (S. 26). Was findet Beck so wichtig? Inmitten der Verfolgung und Ermordung der Juden ist Etty Hillesum überzeugt: Gott ist in ihrer eigenen Seele sozusagen als das Beste und Wertvollste anwesend. Dieses Beste und Wertvollste wird dabei als ihr eigener Gott verstanden und hoch geschätzt; es ist nicht der Gott im fernen Himmel, nicht der allmächtige Herr der Schöpfung. Betty Hillesum spricht auch zu ihrem inneren Gott, zu einer inneren Präsenz in ihrem Leben. Und dabei weiß sie etwas Überraschendes: So wie sie als einzelner Mensch hilflos ist angesichts der Vernichtung der Juden, so glaubt sie auch: Ihr eigener Gott ist ebenso hilflos. Aber Etty Hillesum braucht dieses innere Gegenüber, diesen menschlichen Gott, nicht etwa nur, um ins philosophische Nachdenken zu kommen. Sie braucht ihren Gott, weil sie weiß: Gott gehört zu ihr wie eine Art Gesprächspartner. „Aus dem Selbstgespräch Hillesums entwickelte sich ein Gespräch mit einem eigenen Gott. Sie erhoffte sich keine Rettung. Sie sah ihren Gott als hilflos. Sie war es, die Gott helfen musste, damit er seine Stimme in der Katastrophe des Holocaust nicht verliert“, sagt Ulrich Beck in einem Interview (von Sven Hillenkamp) mit dem „Tagesspiegel“ vom 20.7.2008. Und in dem genanten Buch schreibt Beck: „Es ist der Gott, der in der endzeitlichen Katastrophe ohnmächtig und heimatlos ist. Der Gott, der die Menschen braucht, um nicht unterzugehen… Der hilflose Mensch muss den hilflosen Gott in sich bewahren, retten.“ Etty Hillesums klammert sich förmlich an die Erfahrung: Dieser mein Gott ist in mir, er gehört zu mir, er ist das `Produkt` meiner Seele. Aber dieser „mein Gott“ darf nicht untergehen, nicht verschwinden angesichts von Verfolgung und Mord. Ulrich Beck: „Etty Hilversum findet Trost und Würde (nicht Sicherheit!) in der Intimität des eigenen, hilflosen Gottes, in der Gott selbst zum Fragenden wird, der keine Antwort weiß.“(S. 23).

8.
Ulrich Beck fasst die Erfahrung und die Erkenntnis Etty Hillesums zusammen: „Liebe Etty… Sie haben Gott in ihre eigenen Hände genommen… Denn vorher wurde man in eine Amtskirche hineingeboren… sie sind auf die Idee verfallen, etwas mehr erlangen zu wollen, über die Fügsamkeit predigende Kollektivreligiosität hinaus…“(S. 25).

9.
Der Soziologe Ulrich Beck hat sich
auf Etty Hillesums Tagebücher durchaus voller Sympathie eingelassen, sie waren wohl für ihn auch ein Erkenntnisgewinn… Denn er deutet die zentrale Aussage Hillesums als deutlichen Hinweis auf die religiöse Situation heute: Faktisch orientieren sich in Europa und Amerika nicht mehr gehorsam an den vorgegebenen Dogmen und Lehren. Sie (er)finden ihre eigene Religiosität und damit (er)finden sie auch ihren „eigenen“ Gott. „Mir ging es bei Etty Hillesum darum zu zeigen, dass der eigene Gott nicht als Esoterik abgetan, sondern als eine neue historische Form der Religiosität begriffen werden muss. Ich will die Individualisierung Gottes als soziologisches Phänomen ernst nehmen“, so im genannten Interview mit dem „Tagesspiegel“.

10.
Aber was bedeutet die „Individualisierung Gottes“ für theologische und philosophische Überlegungen?
Theologisch und damit auf die Kirchen bezogen nur der knappe Hinweis: Faktisch leben heute sogar kirchengebundene Christen ihre eigene Religiosität und entdecken auch in ihrer Seele ihren je – eigenen Gott. Man untersuche etwa die Spiritualität von Frauen, die noch mit der katholischen Kirche verbunden sind…Viele andere geben hingegen – dogmatisch befreit – ihre konfessionelle Bindung auf, aber sie werden nicht „Atheisten“, sondern leben ihren eigenen Gott. Natürlich gibt es auch Christen, die es mit ihren traditionellen dogmatischen Glaubensbekenntnissen und der Kirchen-Moral noch ernst meinen.

11.
Für die Christen, die ihren eigenen Gott entdecken, stellt sich theologisch und religionsphilosophisch die Frage, die dann doch ins Normative führt: Ist „mein“ Gott eine Wirklichkeit, die wichtigen Charakteristika Gottes gerecht wird, wenn denn der Begriff und irgendwie noch klassisch überlieferte Titel „Gott“ noch einen Sinn macht. Über die wahrhaftig ausgesprochene Gotteserfahrung Etty Hillesums soll hier nicht geurteilt werden. Nur so viel: Ihr “eigener Gott” bedeutet ihr so viel, dass sie auf keinen Fall das Verschwinden Gottes inmitten des Nazi – Mordens zulassen will: Es ist eben Gott und nicht nur ihr eigener Gott, den sie nicht sterbend erleben möchte.
Um bei der Frage nach einem normativen Kriterium zu bleiben: Andere religiöse Menschen werden sich – normativ – fragen: Ist mein Gott eine Wirklichkeit, die mich zu einem umfassenden humanen Leben wirklich befreit, mich zur Selbst -Liebe wie zur Liebe der anderen, auch der Nächsten, ermuntert, wie auch zum Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden. Oder ist dieser „mein“ Gott doch nur eine Art ideologische Bestätigung meines üblichen Lebensmodells, das Egoismus und Nationalismus und Krieg als oberste „Werte“ wie Götter hochschätzt.

12.
Theologisch und religionsphilosophisch wird man wohl auf die Frage nach dem Normativen in der Auseinandersetzung mit „meinem“ individuellen Glauben nicht und niemals verzichten können. Und die Frage bleibt, in welcher Form unterschiedliche Menschen unterschiedlichen Glaubens (an den je „meinen” Gott) eine Gemeinschaft formen können.
Aber die kritischen Normen für eine über das Subjektive hinausgehende Beurteilung der vielen je – meinigen Religionen können niemals den Religionen und Kirchen selbst entstammen. Diese kritischen Normen können nur in allgemein gültigen philosophischen Erkenntnissen begründet sein, man denke etwa an den Kategorischen Imperativ von Immanuel Kant.

13.
Das führt weiter: Menschen sind mit dem förmlich absolut im geistigen Leben präsenten „Kategorischen Imperativ“ – sozusagen unauslöschlich – „ausgestattet“? Weist der gelebte „kategorische Imperativ“ in seiner universellen Bedeutung nicht in die Richtung einer geistigen, aber unkirchlichen, deswegen eher unbeholfen zu nennenden „säkularen Heiligkeit“? Wobei Heiligkeit nicht mit dem klassischen Gottesbegriff verbunden ist, sondern einfach die Unantastbarkeit eines jeden Menschen meint, seine Würde, die dann zur Forderung der wesentlichen Gleichheit aller Menschen führt. Der Soziologe UlrichBeck hat sich in seinem genannten Interview mit dem Tagesspiegel leider zu kurz, aber deutlich geäußert: „Die Menschenrechte heiligen das Individuum. In diesem Sinne stellt Amnesty International eine moderen Kirche des eigenen Gottes dar.“ Ist also dereigene Gott, den Etty Hillesum in ihrem Leiden als „meinen“ Gott in ihrer Seele entdeckte, vielleicht auch inhaltlich zu beschreiben mit den auch heute überall nur verbal behaupteten, oft niedergetretenen und mißachteten, aber trotzdem nach wie vor, „an sich“, universell geltenden Menschenrechten?

14.
Eine philosophische Reflexion zum Thema „mein Gott“ müsste sich mit dem Thema „Gott – und die Götter – durch den Menschen geschaffen“ befassen. Damit wird etwa auf Ludwig Feuerbachs “Wesen des Christentum”  verwiesen. Wir haben in einem früheren Beitrag in Auseinandersetzung mit Feuerbach zu zeigen versucht: Wenn der Mensch selbstverständlich seinen Gott schafft, dann ist dabei immer auch Gott selbst tätig dabei: In der Gestalt des Geistes im Menschen, eines Geistes, den man auch göttlich nennen kann: Der Mensch wird in einer metaphysisch orientierten Philosophie als Geschöpf eines Gottes verstanden. Und dieser Gott hat seine Schöpfung, die Welt, und damit die Menschen, mit seinem schöpferischen Geist ausgestattet. Geist ist für die klassische Metaphysik etwas Göttliches. Darum kann gelten: Die Menschen, geistvoll und kreativ, schaffen sich ihren Gott und ihre Götter: Und daran ist Gott selbst – durch seinen Geist – beteiligt.

15.
Wirklich „nur“ von Menschen gemachte Religion und Götter gibt es also nicht. Und den Menschen bleibt auch heute die dringende – auch politische – Aufgabe, einen Gott der Befreiung und Humanität von den Göttern und Götzen des Materialismus, Egoismus, Nationalismus zu unterscheiden.

In unserer Welt heute wimmelt es bekanntlich von Göttern und Götzen. Trump hat seinen Gott, aber der ist sein Götze, der ihm ständig einen guten „Deal“ zu eigenen Milliardärs – Gunsten diktiert. Putin hat seinen Götzen, den Wahn des russischen Nationalismus in russisch-orthodoxem Gewand, Neoliberale haben ihre Götzen, die ihnen ständig Wachstum um jeden Preis diktieren und dabei die universelle Gerechtigkeit ignorieren. Kann Sport, kann Fußball, zum Götzen werden? Über diese „meine“ Götter und „meine“ Götzen des Alltags wäre endlich öffentlich – etwa in so genannten Talk-Shows – zu sprechen. Wer kann sich erinnern, dass Religionen und Kirchen in den letzten drei Jahren Themen einer Talkshow im Ersten oder im ZDF waren? Diese Themen werden wohl bewusst übersehen zugunsten immer derselben Sachen mit denselben Gästen….Und die katholische Kirche – sie könnte öffentlich über ihren spezifischen Götzen debattieren, um diesen Götzen dann bitte abzuschaffen: Dieser Götze ist die Jahrhunderte alte Klerus-Herrschaft, die der Klerus – fundamentalistisch und falsch – von Jesus von Nazareth herzuleiten meint. Natürlich ist gerade auch diese Götzenkritik nicht mehr als ein absolut “frommer Wunsch“…

16.
Wo also ist Gott, „mein“ Gott, der diesen Namen Gott wirklich verdient?

Weiteres zur Auseinandersetzung mit Ludwig Feuerbach „Wesen des Christentums“: LINK. https://religionsphilosophischer-salon.de/15229_ludwig-feuerbach-vor-150-jahren-gestorben-der-mensch-erschafft-sich-gott_religionskritik

Literaturhinweise:
Die Tagebücher Etty Hillesums: „Das denkende Herz“, Rowohlt Verlag.
Sehr ausführlich: „Ich will die Chronistin dieser Zeit sein“. Sämtliche Tagebücher und Briefe. C.H. Beck Verlag.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

 

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