Warum sehen wir zu, wie Millionen Menschen verhungern? Weil es “bloß” im Sudan ist?

Die 21. der „unerhörten Fragen“.
Von Christian Modehn am 18. August 2024.

Das Motto: “Speise den vor Huger Sterbenden, denn ihn nicht speisen heißt: ihn töten” (Weisheit der alten Kirche, “Decretum Gratiani” C 21, dist.86).

1.
Wer weiß auf diese unerhörte Frage eine treffende Antwort? Oder vielleicht Antworten? Solche, die mehr sind als diplomatisch verpackte Entschuldigungen?

Wer sucht überhaupt noch Antwort auf diese unerhörte Frage? Wer glaubt noch, etwas Sinnvolles bei der Frage tun zu können?

Wer ist angesichts der Tatsachen vom tausendfachen (welch anonyme Zahlenangabe ohne die Gesichter und Namen) Hungersterben in Sudan und Ost – Kongo am Rande der Verzweiflung?

„Was derzeit im Sudan passiert, ist absolut intolerabel. Fast vier Millionen Kinder sind dort akut unterernährt, 730.000 laut UNICEF besonders schwer betroffen. Diese Kinder werden innerhalb weniger Wochen tot sein, wenn nichts geschieht“ (Der Arzt Nicolas Aschoff, am 17.8.2024, SZ)

2.
„Der nicht-vor Hunger sterbende Teil unserer Welt“, zum Beispiel Europa und Nordamerika, kreist heute, wie immer schon, um sich selbst. Man könnte von Egozentrismus, Nationalismus, Rassismus, Verachtung der „anderen“ sprechen.

Die westliche, nicht-hungernde Welt, ist auf ihre eigenen, unmittelbaren Wichtigkeiten mit einer solchen Bravour und Totalität fixiert, dass weite Teile menschlichen Lebens und gesellschaftlichen Zusammensein in „entlegenen“ Regionen kaum beachtet werden.
Die Armen, die Hungernden, die Verhungernden und Verdurstenden stören in der herrschenden Welt der Nicht – Hungernden, der Reichen, der Kapitalisten. Dabei ist auch der jetzige europäische Wohlstand Resultat des Kolonialismus, des damaligen wie des heutigen Kolonialismus.

3.
Zum Beispiel:
Ist die üblich gewordene, höchste Ausführlichkeit der deutschen Medien tagtäglich für die Wahlkämpfe in den USA jetzt wirklich ein absolut dringendes Thema, das in breitester Breite „behandelt“ werden muss? Oder ist dies auch eine letztlich unterhaltsame Ablenkung von humanen Katastrophen, etwa in Afrika. Damit leugnen wir nicht, dass Trump eine Katastrophe ist, vor der gewarnt werden muss…

Und weiter: Sind die einigen tausend Toten im Krieg Israel – Gazastreifen, Palästina, etwa wertvoller und wichtiger und bedeutender als die vielen Zehntausenden von Toten und Verhungernden im Krieg im Süden oder in Ost-Kongo?

4.
Wie lässt sich unser Blick auf die Welt im ganzen befreien von der eurozentrischen bzw. us-amerikazentrischen Ideologie?

Wahrscheinlich ist die ideologische Befangenheit der nicht – hungernden Welt die Ursache: Diese armen Menschen haben keinen Namen, werden nicht interviewt, dazu sind sie vielleicht längst schon zu schwach … in den KZ ähnlichen grausamen Hilfs-Unterkünften irgendwo im Zufluchtsort Tschad. Es ist die Ideologie der Herrenmenschen, die das humane Leben weltweit zerstört.

5.
Tatsache ist in unserer Welt 2024: Wir lassen mit vielen diplomatischen Worten die Hungernden – weltweit – krepieren, selbst wenn manche Hilfsorganisationen spärlich Hilfe leisten und internationale Organisationen zu Beratungen in New York oder Genf zusammenkommen…um danach zu sagen: „Das Gespräch war wichtig, aber mit Ergebnissen haben wir nicht gerechnet.“ Wie lange wollen wir solches noch hören?

6.
Die Sorge um die praktisch gelebten Menschenrechte ist nicht nur ein berechtigter Kampf hier in Deutschland gegen die rechtsextreme AFD und ihre (Neo-) Nazi – Führer.
Die Sorge um die Realisierung der Menschenrechte verpflichtet uns als Menschen, Menschsein heißt: Über die engen Grenzen unserer „Heimat“ und unserer Nation hinauszuschauen, hinauszudenken. Und entsprechend zu handeln. Wagt jemand noch zu sagen: Dass dieses unser Verhalten, dieses unser Leben, uns glücklich macht, uns Sinn stiftet, aus Einsamkeit befreit? Diese Frage klingt ein bißchen religiös, ein bißchen christlich, aber davon wollen die meisten ja nichts mehr wissen hierzulande…

7.
Bekanntlich nehmen arme afrikanische Staaten wie Tschad und Kenia – mit Mühe zwar, aber immerhin – sehr viele tausend Flüchtlinge aus dem Sudan und anderen Terror – Staaten auf.
„Toll“, „vorbildlich“ sagen dann Politiker der satten Staaten Europas, einige nennen sich noch christlich, und versuchen die Grenzen für Flüchtlinge fast total zu schließen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Warum Rechtsradikale noch für Meinungsfreiheit eintreten

Die große Lüge der Rechtsradikalen und Faschisten

Ein Hinweis von Christian Modehn am 26.Mai 2024

1.
Rechtsextreme Politiker, auch rechtsextreme Katholiken, streben mit aller Gewalt nach der Herrschaft über die Medien (aller Art). Auf den äußerst rechtslastigen französischen Katholiken und Milliardär und Medienmogul Vincent Bolloré haben wir im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin schon vor einiger Zeit hingewiesen. Bolloré wird in Deutschland bislang kaum wahr – genommen. LINK:

2.
Solange diese Rechtsextremen, die von Politologen und Kulturwissenschaftlern auch heute Faschisten genannt werden, nicht die Herrschaft übernommen haben: So lange plädieren und werben diese Rechtsextremen, wie jetzt die AFD, ungeniert, mit Parolen im Wahlkampf (Mai 2024) „Meinungsfreiheit schützen“. Ja, diese rechtsextremen Führer leben von der demokratischen Meinungsfreiheit, solange, bis sie die Macht übernommen haben. Diese Leute sind nichts als Lügner, und alle, die diese Lügner wählen und unterstützen, kann man wegen ihrer geringen Urteilskraft bedauern oder besser noch gesprächsweise zur Vernunft bringen? Für die Philosophin Hannah Arendt ist das Fehlen von kritischer Urteilskraft (etwa der Nazi – Anhänger) Hinweis auf irregeleitetes, nur noch banales Denken und banales Leben. Zu diesem Urteil kam Hannah Arendt beim Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem.

3.
Der Wiener Kulturwissenschaftler Andreas Gerlach veröffentlicht in „Geschichte der Gegenwart“ vom 26. Mai 2024 eine Studie (von Umberto Eco angeregt) über heutigen Faschismus. Wir zitieren aus den Ausführungen Gerlachs zur Kampf der rechtsextremen um die totale Medien – Herrschaft:

„So lange für Meinungsfreiheit sorgen, bis sie sie abschaffen können. Bis zur Übernahme der Medien ist ein scheinbares Eintreten für Meinungsfreiheit das wichtigste Mittel der Faschisten zur Erzwingung, in den Medien aufzutauchen. Sie wollen als Meinung wie alle anderen auch wahrgenommen werden. Sobald dann irgendwelche rechten Milliardäre oder Parteien ein Medium wie Twitter, eine Zeitung wie die NZZ oder öffentlich-rechtliche Sender gekauft haben oder die Gremien besetzen können, bricht diese scheinbare Begeisterung für den freien Markt der Meinungen, wie am Beispiel Polens, an der Übernahme eines ganzen Medienimperiums in Frankreich oder an Elon Musks Übernahme von Twitter gesehen werden kann. Die modernen rechten, reaktionären und oftmals völlig offen faschistischen Bewegungen haben viele Eigenschaften, aber eine wichtige, die Umberto Ecos Liste als fünfzehntes Element hinzugefügt werden kann, ist die ewige Fixierung des Faschismus auf seine mediale Repräsentation. Deswegen ist dort gerade das wichtigste Kampffeld gegen die Faschismen des 21. Jahrhunderts. Man darf den Faschisten nicht die Medien überlassen.“ (Quelle: LINK ) 

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

 

Omri Boehm (Philosoph und Kritiker der Politik Israels) erhält den Leipziger Buchpreis 2024

Von Christian Modehn am 8.3.2024

Am 21.3.2024 eingefügt: Die Rede von Omri Boehm in Leipzig mit dem Titel “Freundschaft in finsteren Zeiten”. LINK

Über das in Leipzig wichtige geehrte Buch von Omri Boehm: “Radikaler Universalismus”:  LINK

Die Laudatio auf Omri Boehm und sein Buch “Radikaler Universalismus” hielt in Leipzig die Soziologin Eva Illouz (Frankreich/Israel). LINK

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Unser Hinweis vom 8.3.2024:

1.
Man darf am 20. März 2024 gespannt sein, wenn in Leipzig der israelisch – deutsche Philosoph OMRI BOEHM den Leipziger Buchpreis erhalten wird. Die Laudatio wird die Soziologin Eva Illouz halten. Omri Boehm wurde 1970 in Haifa (Israel) geborren, er besitzt die israelische und die deutsche Staastbürgerschaft, er arbeitet vor allem in New York an der “New School for Social Research” als Philosophieprofessor.

Und wir können nur hoffen, dass den richtigen Aussagen Omri Boehms zur gegenwärtigen Politik in Israel (siehe unten) die Attacken erspart bleiben, die der jüdische Filmemacher Yuval Abraham nach seinen Aussagen, auch auf der “Bären Gala”der Berliner Filmfestspiele, erleben musste. Yval Abraham (Regie: “No Other land”) hatte die rechtsextrem beherrschte Politik Israels treffend als “Apartheids-Politik” bezeichnet. Und er hatte deswegen Morddrohungen erhalten, weil bestimmte “übereifrige Deutsche”  seinen Argumenten unterstellten,  sie seien antisemitisch… LINK zu Yval Abraham.

2.
Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung wird seit 1994 verliehen, LINK,  er gehört in Deutschland zu den bedeutendsten Literaturauszeichnungen. Veranstalter des Preises sind der Freistaat Sachsen, die Stadt Leipzig, der Börsenverein des Deutschen Buchhandels und die Leipziger Messe.
Omri Boehm erhält den Preis zu Beginn der Leipziger Buchmesse am 20. März 2024 im Leipziger Gewandhaus.

3.
Omri Boehm zeigt u.a. in seinem wichtigen Buch „Radikaler Universalismus“ einen Ausweg aus den ständigen Kriegen Israel – Palästina: Es ist die Idee/Utopie eines gemeinsamen Staates von Juden und Arabern. Die viel besprochene Zweistaatenlösung lehnt Omri Boehm ab.

4.
Aktuell wichtig erscheint uns die Deutlichkeit, mit der Boehm in seinem Buch „Radikaler Universalismus“ (Propyläen – Verlag) den Staat Israel und seinen Zionismus, vor allem die jetzige Regierung Israels kritisiert. Schon 2020 verfasste er eine „Streitschrift“ „Israel. Eine Utopie“. Nach dem Terroranschlag der Hamas am 7.10.2023 wiederholte Boehm seine Grundüberzeugung: “Wir haben es mit einer unerträglichen Situation zu tun, wo das Unmögliche notwendig ist. (…) Wir müssen Vorschläge für eine politische Lösung in der Zukunft finden. Die einzige Alternative zum entgrenzten Krieg ist der Kompromiss einer Föderation.“
Omri Boehm spricht auf Seite 150 des Buches „Radikaler Universalismus“, von der „Apartheidsstruktur, die Israels jahrzehntelange Siedlungspolitik im Westjordanland bestimmt.“

5.
Das Wort Apartheidsstruktur öffentlich zur Qualifizierung von Israels Westjordan – Politik zu gebrauchen, ist hierzulande doch „ein bißchen“ mutig. Man denke an die Aufgeregtheit, die anläßlich der Berliner Film – Festspiele die Debatten bestimmten, als auch das Wort „Apartheidspolitik Israels“ fiel…

6.
Ebenso erstaunlich, dass Boehm den Staat Israel und die westlichen Demokratien dadurch gekennzeichnet sieht, „dass sie für immer auf der gewaltsamen Unterdrückung anderer gegründet“ sind.(S. 152). Noch deutlicher auf Seite 153: Israel könne beides sein, ein Staat der Holocaust – Überlebenden und ein kolonialistischer Apartheidsstaat. Israel kann dieses beides nicht nur sein, sondern, so fügt Boehm wörtlich hinzu: „Ist es auch“ (S. 153).

7.
Mit dieser Kritik will Omri Boehm überhaupt nicht einen Antisemitismus fördern. Und auch ein deutscher Journalist, der Böhms Aussagen und Urteile dokumentiert, ist kein Antisemit, sondern wie Boehm ein Kritiker der von rechtsextremem Denken bestimmten gegenwärtigen Politik Israels! Diese Politik ist ein heftiger und für Humanisten und Philosophen unerträglicher Widerspruch gegen die vernünftige Politik, die den „radikalen UNIVERSALISMUS“, „Jenseits von Identität“ lebt. Zum Buch „Radikaler Universalismus“ der Hinweis des “Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin” ,veröffentlicht am 30.9.2022: LINK.

8.
Omri Boehm will nur für Klarheit sorgen über die gegenwärtigen Zustände in Israel und Palästina; er denkt und argumentiert zugunsten eines besseren, eines gerechten Israel für Juden wie auch selbstverständlich für Araber.

9.
Unser herzlicher Glückwunsch zum Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung für Omri Boehm.

10.

Zur “weiten Herkunft” (und damit der universalen “Verbreitung” dieser Erkenntnis, also des universell gültigen Prinzips der selben Menschenwürde für alle Menschen. Nur ein Beispiel: Marc Aurel (121 – 180 n.Chr.) sagt in seinen “Selbstbetrachtungen”: „Ich habe klar erkannt, dass der Mensch, der gegen mich fehlt, in Wirklichkeit mir verwandt ist, nicht weil wir von demselben Blut oder derselben Abkunft wären, sondern wir haben gleichen Anteil an der Vernunft, der göttlichen Bestimmung.“ (Seite 22 in Reclam, „Marc Aurel, Selbstbetrachtungen 2001). Und auch: „Jedes vernünftige Wesen ist mit mir verwandt“, (ebd. S. 34, 3. Buch)
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Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Karl Marx als Ökologe: Gegen das permanente Wachstum!

Über das Buch „Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus“ des Philosophen Kohei Saito
Ein Hinweis von Christian Modehn am 30.11.2023.

1.
Karl Marx wieder lesen, studieren, diskutieren? Das ist gar keine Frage… Weil die real-sozialistischen, verbrecherischen Regime (Gulag, Lager etc…) Marx angeblich „verwirklichten“, d.h. verfälschten, gibt es keinen Grund, Karl Marx jetzt zu ignorieren, wenn es um heutige Kritik am Kapitalismus und Neoliberalismus geht. Und der Kapitalismus als ökonomische Allmacht muss unbedingt kritisiert werden, das ist die allgemeine Überzeugung der Mehrheit der Menschen: Für sie ist nicht nur Gerechtigkeit für alle, sondern auch das Überleben dieser Welt dringendes Gebot.

2.
Marx und sein Werk zu ignorieren, wäre ungefähr genauso, wie wenn Christen jetzt die Bibel, zumal das Neue Testament, beiseite legen würden, nur weil die Institutionen der Kirchen über Jahrhunderte hindurch Verbrechen begangen haben, Ketzer verfolgt und Irrlehrer verbrannt haben und Kriege, gegenseitiges Töten von Christen, richtig fanden. Diese Herren der Kirchen haben das Evangelium und die Gestalt Jesu von Nazareth heftigst missbraucht. Aber das ist kein Grund, das Weisheit Jesu von Nazareth beiseite zu legen, die Bibel muss nur richtig, d.h. kritisch gelesen und verwirklicht werden, sie ist ein Hinweis auf ein humanes Leben für alle.

3.
Das Denken von Karl Marx kann jetzt also einen neuen, auch politischen Aufschwung fördern. Einige höchst überraschende neue Erkenntnisse zum Werk „Das Kapital“ werden über den kleinen Kreis der Forscher für eine breite Öffentlichkeit zugänglich. Der japanische Marx – Forscher Kohei Saito zeigt in seinem Buch „Systemsturz“, dass „es jetzt um eine kühne Neuinterpretation von Marx“ geht (S. 151). Eine solche Neuinterpretation hat „noch niemand vorgelegt “ (S. 112). Sie ist eine grundlegende Korrektur an dem üblichen, vertrauten Marx – Bild: Als hätte sein Denken die Idee der stetigen Steigerung der Produktivkräfte als Mittelpunkt, als sei die umfassendste Industrialisierung und damit die Zerstörung der Natur für ihn alles entscheidend beim Gedanken an einen Sieg des Kommunismus.
Der Marx – Spezialist Saito hingegen entdeckt zusammen mit einem großen internationalen Forscher – Team einen anderen Marx aus den Zeiten der Abfassung des „Kapital“, 1. Band, Veröffentlicht 1868. So wurde Marx zum prominenten Kritiker des Kapitalismus und zwar aus ökologischen Gründen! Das war bislang weitesten Kreisen unbekannt.

4.
Diese Umkehr im Forschen und Denken von Karl Marx wird greifbar in den seit einigen Jahren publizierten, bisher unveröffentlichten „Forschungsnotizen“. Sie erlauben es, „den Fokus auf die in Vergessenheit geratene ökologische Kapitalismuskritik des späten Marx zu richten“ (S. 122). Saito erwähnt eine „enorme Anzahl an Forschungsnotizen von Marx, die sich mit Geologie, Botanik, Chemie, Mineralogie und mehr befassen…So behandelt Marx Themen wie die exzessive Abholzung der Wälder, die Übernutzung fossiler Brennstoffe oder das Artensterben als Widersprüche des Kapitalismus“ (S. 122 f). Diese Erkenntnisse konnte Marx allerdings nicht mehr in seine weiteren Studien zum „Kapital“ einbringen, die Bände 2 und 3 des „Kapital“ wurden von Friedrich Engels nach dem Tod von Marx eigenmächtig herausgegeben.

5.
Im ganzen gesehen hat Marx in seinen sehr umfassenden Forschungsnotizen und Manuskripten eine ökologische Wende und Umkehr in seinem Denken vollzogen. Es geht ihm, so der Marx Forscher Kohei Saito, um die Akzeptanz, Realisierung und Wiederherstellung der „Commons“: Bildung, Natur, Wasser, Menschenrechte sind „Gemeinbesitz“, sie sind gemeinschaftlich produzierte, „organisierte und gemeinschaftlich genutzte Güter, gesellschaftlich geteilter und verwalteter Reichtum, eben Gemeinbesitz“ (S. 108). Commons sind öffentliche Güter… Elektrizität, Wohnung und Gesundheitsversorgung“ (ebd.), die, weil sie öffentliche, nicht private Güter sind, niemals privatisiert werden dürfen und in die gierigen Hände der Kapitalisten geraten dürfen. Sie kaufen diesen genannten Gemeinbesitz auf, machen darauf ihren eigenen Profit, indem sie Commons privatisieren, immer im Zusammenhang mit willigen neoliberalen Regierungen. Diese Menschen verachtende Privatisierungswelle ist in vielen Ländern vor allem des globalen Südens Realität, man denke an die mühevollen Kämpfe der Bürger gegen die Privatisierung des Wassers in Bolivien oder Chile durch Kapitalisten.

6.
In diesem Zusammenhang bringt der Philosoph Kohei Saito eine neue Definition des Kommunismus ein, im Sinne des nun umfassend zu lesenden und zu verstehenden ökologischen Karl Marx. „Marx hatte mit dem Kommunismus niemals eine staatlich verwaltete Einparteiendiktatur im Sinn. Für ihn bedeutete Kommunismus eine Gesellschaft, in der die Produktionsmittel von den Produzenten als Commons (als Gemeinbesitz, Gemeineigentum) gemeinsam verwaltet werden“ (S. 109).

7.
Diese neuen Erkenntnisse zum Werk von Karl Marx verdanken wir einem internationalen Forscher – Team, es gestaltet eine neue Gesamtausgabe der Werkes von Marx und Engels. Sie trägt im Unterschied zur alten Gesamtausgabe (MEGA), unter der Regie der Sozialistischen, Kommunistischen Parteien einst, nun den Titel „MEGA 2“. Die Initiative zu MEGA 2 stammt vom „Internationalen Institut für Sozialgeschichte“ (IISH) in Amsterdam. Das Institut gründete gleich nach dem Zusammenbruch des Kommunismus bzw. Staatssozialismus die „Internationale Marx-Engels-Stiftung (IMES).

8.
Der genannte japanische Philosoph Kohei Saito ist als Forscher an der MEGA 2 Ausgabe beteiligt. „Der Gesamtumfang von MEGA 2 soll bei Fertigstellung über 100 Bände umfassen, darunter auch bisher unveröffentlichtes Material, was eine bisher nie dagewesene Größenordnung darstellt““ (S. 113). In der „Vierten Abteilung“ von „MEGA 2“ werden die ökologisch relevanten „Exzerpte, Notizen, Marginalien“ veröffentlicht:  LINK

9.
Saito betont: Marx ökologische Wendung nach der Publikation des 1. Bandes des „Kapital“ geht in Richtung einer Degrowth – Wirtschaft. „Degrowth“ bezeichnet eine Wirtschaftsordnung in einer Gesellschaft und einem Staat, die von einer gezielten Verringerung des Materialverbrauchs bestimmt ist. „Degrowth“ meint: In der politischen und ökonomischen Praxis Abschied nehmen von der Ideologie, die Welt bräuchte immer mehr und immer stetiges ökonomisches Wachsen. Von dieser Ideologie profitieren nur die reichen Länder und in ihnen vor allem die Reichen. Die Ressourcen des ständigen Wachstums sind begrenzt.
Der japanische Philosoph Saito weist in seinem Plädoyer für „Degrowth“ eine übliche Vorstellung zurück, der Kapitalismus sei mit Degrowth auch noch vereinbar und kompatibel. Saito meint, solches zu behaupten, sei so ähnlich, wie wenn man „ein rundes Dreieck zeichnen wollte“. Denn der Kapitalismus ist erwiesenermaßen die Hauptursache für die Klimakatastrophen, darum muss der Kapitalismus überwunden werden. In welchen Schritten das gelingen kann, beschreibt Saito in seinem Buch „Systemsturz“.

10.
In einem Interview vom 8. September 2023 mit Benedikt Namdar für die website MOMENT (des Momentum Instituts in Wien) LINK https://www.moment.at/story/kohei-saito-degrowth-kommunismus sagt der Philosoph Kohei Saito: „Eine einfache Definition ist: Kapitalismus ist ein System konstanten Wachstums, unendlicher Profitsteigerung. Es geht darum, Kapital durch Gewinn zu vermehren.  Die Natur hat Grenzen. Durch das ständige Wachstum verletzen Menschen im Kapitalismus genau diese Grenzen. Denn im Kapitalismus verbrauchen wir zu viele natürliche Ressourcen, emittieren zu viele Treibhausgase. Wenn das passiert, entstehen ökologische Krisen wie die Klimakrise. Benedikt Namdar fragt dann:
Wenn nicht Kapitalismus, was dann?
Darauf Kohei Saito: „Ich schlage einen “Degrowth-Kommunismus” vor.  Degrowth will unendliches Wachstum stoppen, daher kann es nicht im Kapitalismus stattfinden.
Eine kommunistische Gesellschaft ist in meiner Auffassung eine, die auf Gemeingütern basiert, die wir miteinander teilen. Ich verbinde Degrowth mit Kommunismus, weil wir vermehrt teilen müssen, wenn wir nicht mehr unendlich wachsen und der Kuchen nicht größer wird.
Ich schlage vor, dass Güter wie Internet, Mobilität, Wasser, Elektrizität und andere Gemeingüter werden. Wir sollten diese miteinander teilen und für alle garantieren. Dann hätten wir die Befriedigung von Grundbedürfnissen garantiert und müssten nicht so viel arbeiten, um Bedürfnisse zu befriedigen.
Es geht bei Degrowth vorrangig darum, ständiger Vermehrung von Kapital ein Ende zu machen. Es muss nicht alles weniger werden. Wir sollten bessere Technologien haben, müssen Smartphones nicht aufgeben. Wir sollten Wachstum in gewissen Gebieten haben, aber verringern, was unnötig ist. Wir brauchen keine Ferraris, Privatjets, Kreuzfahrtschiffe oder Kurzstreckenflüge. Wenn wir auf solche Dinge verzichten, müssen wir auch nicht so viel arbeiten. So kann man mehr Zeit mit Aktivitäten verbringen, die einen glücklich machen.
11.
Welche Konsequenzen diese Erkenntnisse für die Praxis haben könne, zeigt Saito auf den Seiten 245 bis 279 seines Buches. Wikipedia schreibt über ihn (gelesen am 30.11.2023): „Saito gehört zu einer Gruppe, die in den Bergen westlich von Tokio Land erwirbt, das kollektiv betrieben werden soll, um der lokalen Gemeinschaft dienlich zu sein. Saito ist Ratsmitglied der Progressiven Internationalen”: LINK: https://progressive.international/
12.
Die New York Times publizierte im Sommer 2023 ein ausführliches Porträt über Kohai Saito LINK. : https://www.nytimes.com/2023/08/23/business/kohei-saito-degrowth-communism.html. Leider ist der Beitrag nur gegen Bezahlung erreichbar, lesbar…
13.
Kohai Saito wurde 1987 geboren, er studierte u.a. in Berlin, an der Humboldt Universität wurde er zum Dr.phil. promoviert, der Philosoph Prof. Andreas Arndt ist sein Doktorvater. Saito ist, wie gesagt, Mitarbeiter an der Herausgabe von MEGA 2, zur Zeit ist er auch „Associate Professor“ an der Universität Tokio. 東京大学, Tōkyō Daigaku, abgekürzt: 東大, Tōdai) ist eine staatliche Universität in Bunkyō und wird generell als die Universität Japans mit dem größten Prestige angesehen.
14.
Wir empfehlen das Buch, es wird die Diskussion über Degrowth (Überwindung des permanenten Wachstums) sehr beleben und ein neues Bild des Kapitalismus-Kritikers Karl Marx fördern und damit ein Ende bereiten, Marx und die Marxisten seien am Abbau und der Zerstörung der Natur bloß um des industriellen Gewinns wegen interessiert.

Kohei Saito, „Systemsturz. Der Sieg der Natur Über den Kapitalismus“. Aus dem Japanischen übersetzt von Gregor Wakounig. 316 Seiten, DTV, 2023, 3. Auflage, 25 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.
www. religionsphilosophischer-salon.de

 

 

Konfessionen, Kirchen, Religionen relativieren – zugunsten einer universalen Vernunftreligion.

Warum Immanuel Kant Frieden stiften könnte … und zu einem Vorschlag des Ägyptologen Jan Assmann.

Ein Hinweis von Christian Modehn.

Dieser Hinweis erinnert an Erkenntnisse der Philosophie zur Überwindung dogmatisch – fixierter Theologien bzw. Ideologien in Kirchen und Religionen. Philosophie muss solche Erkenntnisse formulieren, verbreiten und zur Diskussion stellen, selbst wenn die Aussichten auf Erfolg, d.h. praktisch-politischen Respekt,  minimal sind. Aber: Es gibt auch Verpflichtungen vernünftigen Denkens. Daran ist festzuhalten, selbst wenn allgemein menschliche, vernünftige Erkenntnisse von (sich religiös nennenden) Terroristen nicht beachtet werden, wie etwa von der Hamas in ihrem Krieg gegen jüdische Menschen in Israel wie auch gegen muslimischen Menschen („Nicht-Hamas-Freunde“) in Gaza.

ERSTER TEIL: Allgemeine Grundsätze

1.
Die gegenwärtigen (und früheren) Kriege sind auch von Religionen bzw. Theologien motiviert und unterstützt, und mit denen haben sich oft Ideologien des Nationalismus zu einer Einheit verbunden. Es ist immer eine fundamentalistische Form religiösen Glaubens, die zu Aggression, Krieg und Auslöschung des „anderen“ (des Feindes) führt. Diese Aggressionen gegen „andere“ haben auch ihre Wurzeln in den Mythen und Erzählungen („heiligen Schriften“) der monotheistischen Religionen. Das heißt: Religionen und Konfessionen, Kirchen, die behaupten, DIE Wahrheit, also die absolute, für alle gültige Wahrheit zu besitzen, müssen schon aufgrund dieser Ideologie den anderen, den „Nichtglaubenden“ und „Anders-Glaubenden“ aggressiv gegenüber treten und sogar zur Konversion auffordern, wenn nicht zwingen, falls die „anderen“ überleben wollen. Die Missionsgeschichte etwa der Christen und Muslime bietet dafür zahllose Beispiele.

2.
Religiöser Glaube kann zu militantem Wahn, werden: Diese Ideologie (oft Theologie genannt) bezieht sich auf Worte aus den Büchern der „göttlichen Offenbarung“: Diese „Offenbarung“ – Interpretation wird aus Gründen politischer Macht ins Reale, Politische, hineingezogen, also aktuell – wortwörtlich, d.h. fundamentalistisch, verstanden. Dabei sind es Mythen, literarische Erzählungen aus uralten Zeiten, die als „Offenbarungen“ Gottes behauptet werden und nun im 21. Jahrhundert noch wegweisend sein sollen. Und dabei werden die vernünftigen Erkenntnisse der universal geltenden Menschenrechte nicht nur ignoriert, sondern verurteilt und bekämpft.

3.
In unserer pluralistischen Welt kann das Kriterium fürs Verstehen religiöser Traditionen niemals aus der dogmatischen Lehre einer Religionen oder Kirche hergeleitet werden. Deren Horizont ist viel zu begrenzt, dogmatisch und intellektuell viel zu verschlossen, um kritische Erkenntnisse für heute zu befördern. Kriterium für ein Verstehen der Religionen, auch ihrer Mythen, ihrer Erzählungen, ihrer Dogmen und Moral-Lehren, ist darum einzig die allgemeine kritische, den universalen Menschenrechten verpflichtete Vernunft. Diese Einsicht wird aber von den Religionen und Konfessionen im eigenen Interesse verdrängt und verfolgt, aber Theologen ahnen: Nur die Anerkennung eines vernünftigen Kriteriums in der Interpretation der Religionen und ihrer „heiligen Bücher“ befreit vom traditionell etablierten, fundamentalistischen Wahn, der zu Gewalt und Krieg führt.

4.
Der katholische Theologe Hans Küng hat recht, wenn er sagte: „Kein Friede unter den Nationen ohne Frieden zwischen den Religionen“. Dies ist sein Motto und Programm des Weltethos-Projektes. (vgl.“Projekt Weltethos“, 1980). Aber die Religionen müssen, um friedlich zu werden, den Prozess der Selbstkritik durchlaufen, ehe sie wirksam zu Frieden auffordern können. Die Religionen und Kirchen müssen selbst friedlich werden und tolerant, ehe sie selbst glaubhaft und wirksam Frieden stiften können. Sonst bleibt es bei den üblichen, hundertfach bekannten Dialog-Debatten prominenter religiöser Führer und den Aufrufen zu Gebeten für den Frieden. Mit dem Friedensgebet wird – etwa von Päpsten bis heute – unterstellt: Ein persönlicher Gott im Himmel hört die Gebete der Frommen und wirkt dann als Gott je nach Belieben Wunder, die den Frieden bringen. Manche fragen sich:
Wie soll sich Gott bloß entscheiden, wenn etwa im 1. Weltkrieg deutsche Katholiken für den Sieg Deutschlands, französische Katholiken für den Sieg Frankreichs beteten. Aktuellere Beispiele für ein solches nationalistisches Gebets-Verhalten gibt es es viele.

5.
Wenn die Ideologien (Theologien) der Religionen und Konfessionen so bleiben wie sie sind, also sich fundamentalistisch äußern und entsprechende gläubige Zustimmung in der jeweiligen Bevölkerung finden, kann es keinen Frieden unter den kulturell und religiös verschiedenen Menschen geben.

6.
Die entscheidende Frage also heißt: Können heutige, sich selbst absolut setzende Religionen lernen und sich neu orientieren, indem sie auf ihre vertrauten dogmatischen Bestimmungen verzichten oder diese nach Grundsätzen der allgemeinen humanen Vernunft interpretieren?

7.
Nur eine radikale Reform der Inhalte (Theologien, Ideologien) aller Religionen kann zum Frieden führen. Und Reform heißt: Radikale Reduzierung der Dogmen, historisch-kritische Lektüre der so genannten heiligen Schiften: Sie können gar nicht „Wort“ eines in die Welt reinredenden Gottes sein, sondern sie sind bunt gemischte, vielfältige, zum Teil widersprüchliche religiöse Poesie einer bestimmten Zeit.

ZWEITER TEIL: Über Immanuel Kants Vorschläge

Kant
Kant

8.
In seiner „Religionsschrift“, „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (1793, 2. Auflage schon 1794, nach dieser Ausgabe wird, wie üblich, mit „B“ versehen, zitiert), setzt sich Immanuel Kant kritisch, mit den dogmatisch bestimmten christlichen Kirchen („Kirchenglauben“, B 253) auseinander. Er zeigt, wie diese Kirchen vom abgehoben herrschenden „despotischen“ Klerus (B 277) bestimmt sind, wie die Glaubenden in ihrer religiösen Praxis zum Aberglauben und Wunderglauben geführt werden, wie dieser Kirchenglaube insgesamt die Menschen unfrei macht („in eine Beherrschung der Mitglieder der Kirche führt“ B 251).

9.
Weil die dogmatischen, von „Statuten“ (wie Kant sagt) bestimmten Kirchen die göttliche Wirklichkeit nach außen, in die „Ereignis – Geschichte“, auch in die Mythen und Erzählungen versetzen und die göttliche Idee eben nicht im Innern der allgemeinen Vernunft suchen (B 255), kommt es zum ständigen Streit und Kampf über die richtige Interpretation all dieser äußeren, angeblich göttlichen Gegebenheiten. Jede Kirchen hält sich, so Kant, „für die ein(z)ige allgemeine Kirche“ (also die allein selig machende, CM), deswegen wird „der, welcher ihren besonderen Kirchenglauben gar nicht anerkennt, von ihr ein Ungläubiger genannt und von ganzem Herzen gehasst“ (B 155, 156). Kant spricht dann weiter von Irrgläubigen und Ketzern, die als Abweichler von den jeweiligen Kirchen bestraft und ausgesondert werden.
Kant nennt diese allgemeine kirchliche Verirrung „Religionswahn“, der im Aberglauben gründet. Dieser kirchliche Aberglaube ist völlig dem „wahren, von Gott selbst (in der Offenbarung durch die Vernunft, CM) geforderten Dienst (der Nächstenliebe) entgegen“ (B 256). Es geht Kant um die Anerkennung der Erkenntnis: „Die Erfüllung aller Menschenpflichten ALS göttlicher Gebote, ist es, was das Wesentliche aller Religionen (!) ausmacht“ (B 158). „Das Lesen der heiligen Schriften oder die Erkundigung nach ihrem Inhalt, hat zur Endabsicht, bessere Menschen zu machen“ (B 161). Dies ist das „oberste Prinzip aller Schriftauslegung“ (ebd.) Es kommt darauf an, beim Studium des auf Geschichte und heilige Bücher fixierten Kirchenglaubens zu entdecken, „was darin eigentliche Religion (also Vernunftreligion, CM) ist“ (B 162).
Der Vernunftglaube lebt also bereits fragmentarisch in den einzelnen Religionen, wie sollte es auch anders sein, ist Religion immer auch unvollständiger und weithin unvernünftiger Ausdruck des menschlichen Geistes bzw. der Vernunft…

10.
Nebenbei: Kant erwähnt in Fußnoten auch den „Mohammedanismus“ (B 285, Fn. 1), „Er findet in den Siegen und der Unterjochung vieler Völker die Bestätigung seines Glaubens…“ Für den „jüdischen Glauben“ (B 186) sieht Kant die entscheidende Mitte in dessen Fixierung auf „bloß statutarische (also äußerliche, historisch gegebene Satzungen, CM) Gesetze“ (B 186).

11.
Ein Ausweg aus dem konfessionalistischen Religionswahn (den Kant zur Zeit König Friedrich Wilhelm II. in dessen Schikanen und Zensurbestimmungen erlebte,) sieht Kant in der Förderung einer allgemeinen, alle „wohldenkenden Menschen“ betreffenden „unsichtbaren Kirche“ (B 271). Diese unsichtbare, d.h. institutionell nicht wahrnehmbare, aber geistig lebendige Kirche entwickelt aus der allgemeinen Vernunft drei in der Sicht Kants evidente Grundsätze: Den Glauben an einen göttlichen Schöpfer der Welt, die Überzeugung von der Freiheit eines jeden Menschen und die Überzeugung von der Unsterblichkeit der Seele des Menschen. Diese allgemeine, „alle Menschen betreffende Vernunftreligion muss auf Vernunft gegründet sein“ (B 163).

12.
Das Erstaunliche ist: Kant „plädiert für eine „allgemeine Weltreligion“ (B 255). Dieser Vorschlag einer allgemeinen Menschheits- Religion entspricht der Idee der „unsichtbaren Kirche“, wie Kant sagt, also der Kirche aller „Wohlgesinnten“, die eine „wahre alleinige Religion“ leben. Diese Religion wird nicht durch äußere Offenbarung vermittelt, sie „offenbart sich im Menschen durch reine Vernunft“ (B 255). „Der reine Vernunftglaube beweist sich selbst“ (B 194), er ist also für jeden Menschen evident.

13.
Aber noch besteht, sagt Kant, der fest etablierte Kirchenglaube. Deswegen vollzieht sich der Übergang zur allgemeinen Vernunftreligion langsam (B 181), die als Vernunft aber auch einen ethischen vernünftigen Staat aufbauen will. „Die wirkliche Errichtung eines ethischen Staates auf Erden als Ziel (den Kant sogar wörtlich als göttlich qualifiziert, B 181) „ist noch in unendlicher Weite von uns entfernt“ (ebd.).

14.
Kant zeigt sich trotz der Repressionen in Preußen zu der Zeit in seiner Religionsschrift durchaus explizit kritisch, wenn nicht polemisch gegenüber der einzelnen dogmatisch – historisch gebundenen Religionen, Konfessionen, die ja Staatsreligionen – von Königen geleitet – damals waren. Von seinem Ziel wird er nicht müde zu sprechen: „Die universale Religion des guten Lebenswandels ist das wahre Ziel des religiösen Menschen, wenn dereinst, so die Hoffnung bzw. Utopie, der Kirchenglaube überwunden ist (vgl. B 269). Erst dann wird Frieden eintreten und die Menschen mit viel weniger Entfremdung leben können…

Dritter TEIL: Moses Mendelssohn und die Vernunftreligion

15.
Immanuel Kant kannte bereits die Publikation des jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn (1729-1786) mit dem Titel „Jerusalem. Über religiöse Macht und Judentum“. Kant schrieb einen Brief an Mendelssohn am 16.8.1783, kurz nach Erscheinen des Buches. Kant ist voller Bewunderung für Mendelssohn Vorschlag. Worum geht es?
Für den Forscher der Religionsgeschichte der monotheistischen Religionen, den Ägyptologen Jan Assmann, bietet hier Moses Mendelssohn den entscheidenden Unterschied „zwischen den partikularen Religionen wie Judentum, Christentum, Islam einerseits und der allgemeinen Menschheitsreligion (mit ihren von sich aus evidenten Vernunftwahrheiten, CM) andererseits.“ Und Mendelssohn versteht diese Vernunftreligion als eine allen Menschen gemeinsame, auf ihrer gemeinsamen Teilhabe an Gottes Schöpfung beruhende Religiosität. Jeder Mensch gehört demnach zwei Religionen an. Einer bestimmten und angestammten Religion, in die er hineingeboren oder zu der er konvertiert ist, und der allgemeinen Menschheitsreligion. Diese doppelte Mitgliedschaft stiftet, wenn die Menschen sich ihrer nur bewusst werden, Anerkennung und Frieden zwischen den Religionen“ (Jan Assmann, „Totale Religion“, Wien 2016, S. 166).
ABER: Wer sorgt für einen Sieg der Vernunftreligion, wer fördert diese Menschheitsreligion, wo wird sie wie gelehrt in allen Ländern? Dies ist die entscheidende Frage, gerade jetzt.

VIERTER TEIL:  Jan Assmann und die “religio duplex”

16.
In seinem Buch „Totale Religion“ spricht Jan Assmann von der „Religio Duplex“, der doppelten religiösen Bindung, die Menschen leben sollten: Einerseits die Bindung an eine bestimmte Konfession, in der man möglicherweise als Kind erzogen wird.Und der allgemeinen Vernunftreligion, die einige wenige vernünftige religiöse Prinzipien artikuliert. Diese allgemeine Vernunft ist universal für alle Menschen und deswegen wichtiger als die Bindung an die enge, historisch-dogmatische Konfession, in der man groß geworden ist. Und Assmann erinnert auch (S. 172) an die „Goldene Regel“ („Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu“): „Niemand sollte sich unter Berufung auf religiöse Vorschriften bereitfinden, anderen anzutun, was er selbst sich nicht antun lassen will“, so übersetzt Assmann diese uralte, allen Religionen bekannte „Goldene Regel“ in die heutige Problematik.
Assmann weist darauf hin, dass Gandhi diese religiöse Doppelstruktur im Bewusstsein des einzelnen Frommen schätzte: „Alle konkreten Religionen zielen auf die eine, noch versteckte Religion der Wahrheit“ (Assmann, „Monotheismus unter Gewaltverdacht“, S. 259). Diese Religion hat mystischen Charakter, betont Assmann, mit ausdrücklichen Bezug auf Jacob Böhme.

17.
Ein Ausweg aus den Formen des militanten religiösen Fundamentalismus könnte auch die Akzeptanz der „Ringparabel“ sein, wie sie Lessing populär gemacht hat, auch darauf weist Jan Assmann hin. Der echte Ring der drei Ringe (Religionen) ist gar nicht zu erweisen. Assmann schreibt: „Das heißt ja nicht, dass es keinen echten Ring gibt und alles nur Einbildung ist, sondern dass die Echtheit des Rings eine Sache des Glaubens und der tätigen Liebe , aber keine Sache des sicheren Besitzes ist. Es gibt die Wahrheit und es gibt Offenbarung, aber da es mehr als eine gibt, bleibt die absolute Wahrheit verborgen“ (Assmann, „Monotheismus unter Gewaltverdacht“, 2015, S. 255). Und in demselben Beitrag kommt Assmann auch auf die Religion Duplex zurück: „Der Preis dieser Theologie ist die behutsame Zurücknahme des harten Offenbarungsbegriffes, d.h des absoluten Wahrheitsanspruches einer bestimmten Offenbarung, ihr Gewinn ist die Entschärfung des interreligiösen Konflikts“ (S. 258).

18.
Es ist wohl eine Niederlage der Vernunft, dass diese hier erinnerte Möglichkeit einer Kultur, also dieses Wissens von der Relativität der eigenen religiösen Bindung, aus unserer Zivilisation und aus den Köpfen der Politiker verschwunden ist … bzw. ignoriert wird, gerade weil es nationalistische Machtinteressen stört. Wir leben also in einer Welt, in der Nationalismus, Fundamentalismus, Festhalten an sozialer Ungerechtigkeit die obersten Götter sind. Kant sagt in der“ Religionsschrift“: „Der Eigennutz ist der Gott dieser Welt“ (B 243)… Insofern ist unsere Welt polytheistisch … Der Monotheismus, heute interpretiert, findet sich in der friedensstiftenden universalen Botschaft der Menschenrechte. Ihr Text sollte in den religiösen Veranstaltungen der verschiedenen Religionen genauso oft verlesen und gedeutet werden wie die Bibel des Alten und Neuen Testaments oder des Korans. Warum soll denn nur die Bibel oder der Koran als heilige Buch der Juden, Christen und Muslims gelten? Wenn schon diese Religionen von einem handelnden und „sprechenden“ Gott reden, warum soll dieser Gott nicht auch in universal geltenden vernünftigen Menschenrechten „sprechen“ und sich gerade so – für die Frommen – als der lebendige Gott erweisen? Sind nicht die Menschenrechte Ausdruck eines säkularen Monotheismus?

19.

Siehe auch das Interview mit dem Theologen Prof. Wilhelm Gräb (Berlin, + 2023) über das Thema: “Die Menschenrechte Bekenntnisgrundlage einer universalen Religion?” LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Wenn PolitikerInnen „etwas auf den Weg bringen“…

Hinweise zum Verfall der Alltagssprache von Christian Modehn. Veröffentlicht am 14.10.2023.

Ergänzung am 13.5.2024: Jens Jessen schreibt in “Die Zeit” vom 25.4.2024 (Seite 41) einen Beitrag über “nichtssagende sprachliche Formeln” unter dem Titel “Eingemauert in Plattitüden”. Er erläutert etliche Beispiele: “Frei Haus”, “Traumatische Erfahrungen”, “Zumutungen”, “nicht okay” und vor allem der Politiker Lieblingsfloskel “Hausaufgaben machen” und “Eine Auszeit nehmen” usw…

Unsere These: Der Verfall der Sprache, die Banalität der so oft wiederholten  Floskeln entspricht dem Verfall, d.h. dem Verzicht auf kritisches Denken. Diesen Zusammenhang haben alle verstanden, die einige Seiten von Hannah Arendt gelesen haben. Aber sie wehren sich selten gegen den Verfall des Sprechens d.h. den Verfall und Ausfall des kritischen Denkens.

1.
Spätestens seit Ludwig Wittgensteins Einsichten hat sich das Philosophieren und damit die Philosophie auch mit Verfall und Missbrauch der Sprache, also auch des Sprechens von Politikern in der Öffentlichkeit, zu befassen. Ein Verfall der Sprache, auch als begriffliche Vernebelung und Verschleierung von Fakten, verstellt unsere Erfahrung von Wirklichkeit. Darauf kritisch zu reagieren, gehört zur philosophischen Lebenshaltung.

2.
Ein aktuelles Beispiel: Hören Sie „Spitzen – Politikern“ ein paar Minuten zu, etwa in Interviews mit Fernsehreportern, und zählen Sie, wie oft von Politikern die Floskel benutzt wird: „Das haben wir auf den Weg gebracht“. Ich habe bei einer „Spitzenpolitikerin“ diese Formel in einem Interview von ca. 3 Minuten etwa 15 mal gehört. Ihr fiel keine andere Sprache ein, um ihre politische Aktivität zu beschreiben.

3.
Mit dieser Floskel soll die dumpfe Ahnung geweckt werden, die Politiker hätten „etwas getan“, „etwas realisiert“, „etwas verändert“, „etwas reformiert“, „ein Versprechen praktisch eingelöst“.

4.
Wer die Floskel und Formel „Etwas auf den Weg bringen“ so oft gedankenlos daher redet, will eigentlich sagen: Ich habe auf einem Weg irgendetwas hingestellt, abgestellt. Es ist ja ein „etwas“, ein Projekt, ein Vorhaben, eine Reform, die der Politiker da auf einen Weg stellt. Es ist kein Mensch, keine Gruppe, keine Organisation lebendiger Wesen, die, zu einem Weg geleitet, nun etwas an einem Ziel bewegen könnten. Sondern es wurde ein etwas auf einem Weg abgestellt. Eine bequeme Lösung, etwas loszuwerden. Und ein Verzicht auf eine Antwort: Wohin führt denn dieser Weg? Was ist die Qualität dieses Weges?

5.
Als Berliner muss ich bei dieser Politiker – Floskel daran denken, dass so viele Mitbürger dieser Metropole ungeniert und schamlos ihren Dreck, ihren Müll, ihre alten Sofas und TV-Geräte oder ihren Computer Schrott, ihre zerfetzten Bücher und stinkenden Hosen eben einfach so „auf den Weg bringen“. Also auf die Straße stellen oder auf Wegen im Park oder im Wald ablegen. Sie entledigen sich ihrer Dinge, bringen also auf ihre Art etwas auf den Weg … und dort bleibt es eine Weile liegen. In Rom, so hört man ständig, bringen viele Bewohner ihren Müll auf den Weg, indem sie ihn neben die schon bestehenden Dreck – und Müllberge legen. Und nur hoffen, dass die Stadtreinigung, falls noch nicht ganz verschwunden, irgendwann mal zupackt…

6.
Wer diese Floskel „Ich bringe etwas auf den Weg“ oder „Wir Politiker, wir Wirtschaftsmanager haben das auf den Weg gebracht“, ernsthaft als Erkenntnis verkaufen will, erzeugt nichts als Nebel. Sprachkritik wird so zur Kritik der Politiker.

7.
Wir bräuchten Politiker, die sagen: Dieses und jenes genau beschriebene Reformprojekt realisieren wir ab jetzt, wir gestalten es Schritt für Schritt, und wir erklären den Bürgern, wie wir in diesen Schritte täglich vorangehen. Und sagen, wie dieses Vorangehen der Reformprojekte dann gelingt oder eben auch nicht gelingt… aufgrund widerwärtiger politischer und ökonomischer Mächte.

8.
Und wir Politiker sind es auch, die wir uns selbst auf den Weg gebracht und auf den Weg gemacht haben, und wir versprechen: Wir wollen uns wirklich bewegen, einer gerechteren Zukunft entgegen gehen.

9.
Und auf diesem Unterwegssein, also Handeln der Politiker, begleiten wir Bürger sie gern hilfreich, weil wir ja nicht passiv auf dem Weg stehen, sondern unterwegs sein wollen.

10.
Über den Verfall der Alltagssprache müsste mehr geforscht werden. Es sind vor allem die Mächtigen, die sich gern hinter Floskeln und leeren Worthülsen verstecken oder in der Verwendung von angeblich allgemein bekannten Begriffen sich anbiedern wollen. Immerhin werden „Unwort des Jahres“ seit langem dokumentiert. Ein Wort ist der Begriff „Kollateralschaden“, er soll verschleiern, dass bei militärischen Attacken gegen einen Feind auch unschuldige Zivilisten getötet werden. „Auch Zivilisten wurden getötet“ klingt verstörender und erregender als zu sagen: „Es gab Kollateralschäden“. Es ist die Verwendung von Substantiven aus dem technischen Bereich, die das Unmenschliche verschleiert. Nur für das Ertrinken so vieler tausend Flüchtlinge im Mittelmeer seit Jahren gibt es noch keinen verschleiernden, verharmlosenden, neutralisierenden Begriff. Vielleicht könnten zynische Politiker in ihrer Frechheit verschleiernd sagen: „Leider sind wieder viele Nichtschwimmer aus Afrika im Mittelmeer gescheitert“.

11.
Ein weites Feld der philosophischen Sprachkritik liegt vor uns: Wer untersucht etwa die sehr häufige Verwendung des Begriffs „Maßnahme“ durch führende Politiker? Wie viele hundert mal habe ich Politiker von Maßnahme schwadronieren hören, als sie von Wärmepumpen und der Versorgung mit Gas und Erdöl nach dem Krieg Russlands gegen die Ukraine sprachen. Und Maßnahmen muss man auch noch „durchführen“.

12.
Ein weiteres Projekt muss angedeutet werden:
Natürlich gibt es auch seit Jahrhunderten einen Verfall der religiösen Sprache: Man zähle nur einmal, wie oft etwa Papst Franziskus bei jeder kleineren oder größeren oder ganz großen Krise sich auf die Formel zurückzieht: „Ich werde für die Betroffenen beten“. Damit will er in einem korrekten theologischen Verständnis sagen: Ich bin überzeugt, ich kann eine himmlische göttliche Macht durch meine Worte bewegen, alles zum Guten zu wenden.
Kann man ja behaupten und vielleicht auch glauben…Man kann diese Haltung aber auch Aberglauben nennen. Ob auch gegen den Aberglauben „nur noch beten hilft“? Oder ist Beten das letzte Schreien der hilflosen Kreatur?

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Rassismus der Könige von Preußen bzw. der Kaiser aus dem Hause Hohenzollern.

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Erneut werden wir konfrontiert mit dem Kolonialismus und Rassismus der Kurfürsten von Brandenburg, dann der späteren Könige von Preußen und schließlich der beiden Kaiser Wilhelm: Im Schloss Charlottenburg bietet die Ausstellung „Schlösser.Preußen.Kolonial“ noch bis zum 31.Oktober 2023 überraschende Zeugnisse der Verachtung, Ausbeutung und Versklavung von schwarzen Menschen durch die genannten Herrscher in Berlin. Dokumentiert werden entsprechende herrschaftliche Gemälde mit den damals so genannten „Mohren“, es wird auf Skulpturen verwiesen oder exotische Gebäude, die in königlichen Gärten (wie Sanssouci) bis heute Zeugnisse sind von der europäischen Vormachts-Ideologie. LINK.

2.
Gleichzeitig ist ein empfehlenswertes Buch erschienen, der Titel ist mit dem der Ausstellung identisch (siehe unten). An einige Fakten muss wieder erinnert werden, damit sie sich dem Gedächtnis einprägen.

3.
Erst 1857 wurde in Preußen die Sklaverei verboten. „Jedoch hielt der Zustrom der Versklavten nach Preußen auch danach noch an, da andernorts weiterhin Sklavenmärkte betrieben wurden. Unter ihnen waren Menschen wie Saban El Cher oder Billillee, die man als versklavte Kinder nach Brandenburg brachte“ (Seite 51).

4.
1682 wurde die „Brandenburgisch-Afrikanische Compagnie“ (BAC) gegründet mit ihrer Festung „Fort Großfriedrichsburg“ im Gebiet des heutigen Ghana.

Von 1683 bis 1717 unterhielt Brandenburg im diesem Gebiet eine Niederlassung für den eigenen Sklavenhandel. Dieser Stützpunkt wurde an die in dieser Hinsicht erfolgreicheren Niederländer verkauft, in den Niederlanden wurde die Sklaverei 1863 offiziell abgeschafft.

5.
Die Ausstellung dokumentiert zahlreiche, oft übersehene Zeugnisse des Kolonialismus und Rassismus am preußischen Hof. Die 24 in der Ausstellung vorgestellten Objekte bzw. Gebäude werden zunächst kunsthistorisch beschrieben, dann aber auch philosophisch-politisch bewertet.
Es wird etwa eine Verbindung gezogen von dem Reiterstandbild des Kurfürsten Friedrich Wilhelm (1620-1688), zu dessen Füßen vier in Ketten gefesselte Männer sitzen und knien. Das Denkmal wurde auf Wunsch von Friedrich III., dem späteren König Friedrich I., 1708 errichtet: Er war es, der starke Ambitionen zum Sklavenhandel in Westafrika (dem heutigen Ghana) hatte. In dem genannten Buch wird berichtet: „So soll Kaiser Wilhelm I. nach dem Erwerb von Kolonien ehrfürchtig gesagt haben, dass der nun mit gutem Gewissen vor dieses Reiterstandbild treten könne: Da er, Wilhelm I., das koloniale Vorhaben des Kurfürsten, so wörtlich: `aufgenommen und weiter ausgebildet` habe.“ (S. 13, mit Verweis auf das Buch von Ferdinand Schmidt, `Kaiser Wilhelm I. und seine Zeit`, Berlin 1893 (sic), dort Seite 450).

6.
Von den zahlreichen Beispielen kolonialen und rassistischen Denkens und Handelns in Preußen noch ein Hinweis auf den Skulpturenschmuck des ersten Rondells im Park Sanssouci: Dort sind insgesamt sechs Bildnisbüsten zu sehen, von denen vier Afrikaner darstellen, zwei Männer und zwei Frauen. „Es ist davon auszugehen, dass König Friedrich II.die Skulpturenausstattung im ersten Rondell plante“ (S. 37). Die Büsten der AfrikanerInnen stehen im Park, als der „wilden Urwüchsigkeit der Natur“…Die Gesichter der Schwarzen haben keine Pupillen, sie sind also „blind gegenüber der weißen Zivilisation“ (S.39).

7.
Mit Glasperlen bezahlten die preußischen Kolonisten das Gold und das Elfenbein, das ihnen die Einwohner Afrikas anboten, und auch die Menschen, die als Versklavte nach Amerika wie Handelsware transportiert wurden. Die Glasperlen wurden auf der beliebten Ausflugsinsel auf der Havel, der Pfaueninsel, seit 1678 hergestellt (vgl. in dem genannten Buch S. 55 ff.)

8.
Besondere Aufmerksamkeit verdienen in der Ausstellung die Darstellung der „Schwarzen Hofbediensteten im Preußen des 19.Jahrhunderts“. Von den getauften Afrikanern Heinrich Karl Albrecht Kerallah wird berichtet oder von Karl Ferdinand Theobald Itissa oder Alexander Anastasius Feryallah usw. (S. 102 ff.), sie konnten als exotische Gehilfen am Hof überleben.

9.
Es ist sehr an der Zeit, dass endlich große Ausstellungen, Kongresse und entsprechende kritische, also kirchenunabhängige Publikationen über die Verbindung von (katholischer) Kirche und Sklaverei realisiert werden! Dass dabei auch der Umgang mit der Sklaverei in Israel, also im „Alten Testament“, und etwa in den Paulusbriefen des „Neuen Testaments“ dokumentiert und bewertet werden sollte, ist keine Frage.

10.
Über die Bindungen des Vatikan-Staates an die Sklaverei ist kürzlich in Italien eine Studie erschienen, die leider noch nicht in deutscher Sprache vorliegt. Die an der staatlichen Universität in Rom lehrende Historikerin Marina Caffiero hat ihrer wissenschaftlichen Studie zum Thema der päpstlichen Sklaverei den Titel gegeben: «Die Sklaven des Papstes»; die Studie bezieht sich vor allem auf das 18. und die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts – diese Zeit ist zum Thema Sklaven in Rom also im Papststaat gut dokumentiert.
Von einer offiziellen Abkehr der Bindung der Kirche an die Sklaverei kann erst seit 1890 die Rede sein, damals verfasste Papst Leo XIII. die Enzyklika „Catholicae ecclesiae“, in der die Bischöfe Afrikas zumal zur Bekämpfung der „düsteren Plage der Sklaverei“ aufgefordert werden. Bezeichnenderweise sollte diese Plage wie üblich mit Spenden aus Europa bekämpft werden… (Siehe dazu: Marita Wagner, „Moderne Sklavereien“, Stimmen der Zeit, 2020, S. 587-595)

Zur dringend notwendigen Umbenennung der “Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche” in Berlin als Kirche, als “Gotteshaus”, die an einen Kolonialherren und Rassisten erinnert, siehe: LINK

Zum Kolonialismus Deutchlands bzw. Preußens: Eine Datenübersicht: LINK.

Schlösser. Preussen. Kolonial. Herausgegeben von der Stiftung Preussische Schlösser und Gärten. Berlin-Brandenburg. Sandstein Verlag, 2023, 18 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.