Hannah Arendt: Fünfzig Jahre tot … Ihr Denken lebt

Ein Hinweis anlässlich ihres Todestages am 4. Dezember 1975
Von Christian Modehn am 22.11.2025

1.
Über Hannah Arendt ist jetzt eine umfangreiche Biographie erschienen: Willi Winkler, Autor und Journalist, erschließt mit wissenschaftlicher Klarheit (bei einem 50 Seiten umfassenden Anhang mit Belegen und Fußnoten und Register sowie zahlreichen Fotos), angenehm zu lesen, durchaus mit kurzen, ironischen Kommentaren am Rande, das Leben Hannah Arendts: Ihr 50. Todestag am 4. Dezember 2025 könnte ein Anlass sein, mit ihren Büchern ins philosophische Fragen, auch zur Notwendigkeit des politischen Handelns zu gelangen. Viele einzelne Erkenntnisse Hannah Arendts könnten schon fast als „Denksprüche” gelten: „Niemand hat das Recht zu gehorchen“ (ursprünglich von Kant) oder „Jeder hat die Fähigkeit, einen neuen Anfang zu setzen“ oder „Denken ohne Geländer“ oder: „Macht beginnt immer dort, wo die Öffentlichkeit aufhört.“ Sogar PolitikerInnen (Angela Merkel, Robert Habeck, Frank Walter Steinmeier, Winfried Kretschmann…) loben heute Hannah Arendt, sie haben offenbar einige ihrer Bücher gelesen.

2.
Natürlich wollen wir hier in wenigen Sätzen nicht das ganze Leben Hannah Arendts zusammenfassen: Hannah Arendt ist eine unabhängige philosophisch -politische Autorin, die sich nicht in „Schubladen“ einsortieren lässt. Sie ist Jüdin, kritisiert aber heftig den Staat Israel und die damalige Regierung. Sie hat als Jüdin bei dem katholischen Religionsphilosophen Romano Guardini in Berlin studiert und später bei Karl Jaspers eine Promotion über den heiligen Augustinus geschrieben. Sie kennt die Philosophie von Karl Marx, ist aber keine Marxistin. Sie setzt sich leidenschaftlich für die Menschenrechte (Gleichheit!) ein, ist aber keine Feministin. Sie irrt auch bei politischen Stellungnahmen, etwa zu den Rassenauseinandersetzungen in „Little Rock“ (USA) im Jahr 1958 (siehe „Denken ohne Geländer“, S. 157.) Sie bekämpft antisemitische Mentalitäten, muss aber – um veröffentlichen zu können – in den Verlagshäusern der BRD mit alten Nazis zusammenarbeiten.

3.
Die Frage ist alles andere als „bloß akademisch“: In welcher Weise ist Hannah Arendt Philosophin? Sie ist sicherlich nicht „nur“ Philosophin, ihre Promotion 1928 in Philosophie bei Karl Jaspers und ihre Heidegger – Lektüren und – Vorlieben sind bekannt. Sie verstand sich explizit als Jüdin nach ihrer Flucht aus Nazi – Deutschland, also seit ihrer Zeit in den USA, als eine auch publizistisch – journalistisch arbeitende „Theoretikerin“ des Politischen, immer mit philosophischem „Background“. Willi Winkler schreibt zwar gleich zu Beginn: „Zweifellos ist an ihr (Hanna Arendt) eine Philosophin verloren gegangen“ (Seite 10), weil sie ihre philosophische Karriere in Deutschland als Jüdin in der Nazi – Zeit nicht fortführen konnte. Und Winkler zitiert Arendt: „Der Philosophie habe sie (in den USA) endgültig Valet gesagt“ (S. 258)… Immerhin betont Hannah Arendt auch: „Sie sei aus der deutschen Philosophie hervorgegangen“ (S. 263). Beweis dafür sind ihre Bücher „Vita aktiva“ (1958 ), „Vom Leben des Geistes (posthum 1978) oder „Über das Böse“ (posthum 2003: Dies sind philosophische Studien. Insgesamt gilt: Hannah Arendts Bücher, Aufsätze und Stellungnahmen handeln von Politik, vom politischen Leben und politischem Kämpfen, aber verbunden mit philosophischen Perspektiven.

4.
Das Buch von Willi Winkler ist also eine ausführliche Biographie, über Arendts Ehemann Heinrich Blücher wird detailliert berichtet wie auch über ihre erste Ehe mit Günter Anders (bzw. Günter Stern)… Zu ihrer Verbundenheit mit ihrem Liebhaber Martin Heidegger siehe Nr. 8 in diesem Hinweis.
Die Stellungnahmen Winklers zu Arendts Veröffentlichungen sind eingebunden in die kritische Würdigung ihres intellektuellen, philosophischen und vor allem politischen Umfeldes zumal in den USA (dort seit 1941.) Es ist ein Leben, das sich die eigene Freiheit im Denken und Handeln und im – subjektiv gestalteten – Umgang mit Freunden und Gegnern (man denke an ihre Abgrenzung von Theodor W. Adorno) förmlich erkämpft und dann verteidigt.
Uns erscheint es bemerkenswert und wichtig: In dieser Arendt – Biographie werden ihre vielfältigen Begegnungen in Deutschland (BRD) und mit den Deutschen seit 1949 dargestellt. Willi Winkler beschreibt treffend die wirklichen Verhältnisse: „Die alten Nazis sind weiter und wieder nicht bloß im Amt, sondern überall… Hannah Arendt hat kein Problem damit, das Land der Mörder zu besuchen, sie hat ein weites Herz… aber sie traut ihnen (den Deutschen) nicht, sie hält die Deutschen auf Abstand.“ (S. 173).
Und viele LeserInnen werden noch „neue“ Informationen finden: Über die Nazi – Verbindungen etlicher verantwortlichen Lektoren des Piper – Verlages (in diesem Verlag erschienen/erscheinen die Bücher Arendts), etwa ab S. 175 ff.. Oder: Informationen über den im Piper Verlag tätigen Germanisten Hans Rössner, SA -, NSDAP – und SS-Mitglied, mit ihm hatte die Autorin Arendt zu tun, ohne von dessen Nazi- Verstrickungen zu wissen. Willi Winkler schreibt: „Nach dem Krieg wurde Rössner von der Spruchkammer als `Mitläufer` eingestuft, kam mit einer Geldstrafe davon und bewies seine Läuterung durch einen `prononcierten Philosemitismus´. Beim Antikommunismus musste er nicht umlernen“ (S. 180). Der knappe Satz „Beim Antikommunismus musste er nicht umlernen“ ist nur ein Beispiel für die zahlreichen sehr treffenden ironischen Kommentare Willi Winklers, die er nebenbei in seinen objektiven Bericht einfügt…
Die Studie Willi Winklers wird, wie gesagt, dadurch auch wertvoll, weil ausführlich an die „braune Vergangenheit“ der Menschen in Deutschland und etlicher BRD Politiker und BRD „Kulturschaffender“ erinnert wird – immer, um Hannah Arendts Auseinandersetzungen und Entscheidungen besser zu verstehen.
Auf die Nazi – Vergangenheit des ehemaligen bayerischen Kulturministers Theodor Maunz (CSU, Minister von 1957 -1964) wird deswegen hingewiesen (S. 284, aber auch 174 f.) Maunz ist ein berühmter Verfasser juristischer Standardwerke … und nach seinem Rausschmiss als Minister war der CSU Mann noch Mitarbeiter der „Deutschen Nationalzeitung“… Oder man muss an den rechtsextremen (SS – Mitglied) Armin Mohler erinnern: Er war in der BRD Redenschreiber für Bayerns Ministerpräsident Franz – Josef Strauß (CSU) und er hatte als „Leiter der Carl Friedrich von Siemens Stiftung ein eigenes rechtsnationales Netzwerk aufgebaut“ (S. 99). Mohler propagierte in der BRD die „Revolution von rechts“…

5.
Innerhalb der Biographie Willi Winklers sind uns einige Erkenntnisse besonders aufgefallen zu wichtigen Themen, an denen sich Hannah Arendt abarbeitete.
Zu Eichmann:
Hannah Arendt wurde 1961 von der Kultur – Zeitschrift „New Yorker“ als Reporterin nach Jerusalem geschickt zum Prozess gegen den Nazi-Verbrecher Adolf Eichmann. Willi Winkler meint: Sie sei dort „eine schlechte Reporterin gewesen, sie hält es nur für wenige Tage dort aus“ (S. 225)
Für einige LeserInnen ist es vielleicht neu: Der BND hatte wegen des Chefs des Kanzleramtes (des einst führenden Nazis) Hans Globke in der Adenauer – Regierung alles Interesse daran: Dass Eichmann im Jerusalem Prozess bloß nicht zu viel plaudert, etwa von der Bedeutung Globkes für ihn und sein Amt. BND Chef Reinhard Gehlen versorgte über Mittelsmänner in Jerusalem Globke mit den neusten Nachrichten, damit er sich nicht beunruhige (S. 230). Die Bundesregierung hatte ohnehin mit der Regierung Israels abgesprochen: Im Eichmann Prozess gehe es nur um Eichmann und dessen “satanischem Plan der Endlösung der Judenfrage.“ Eichmanns Anwalt war der deutsche Robert Servatius, er war wie sein Assistent Dieter Wechtenberg in den Prozess als „Close associate“ des BND in den Prozess eingeschleust. Der Prozess gegen Eichmann war also sehr sorgsam von der BRD für die „deutsche Sache“ inszeniert (S. 227). Als auch der DDR – Anwalt Friedrich Karl Kaul als Prozessbeobachter in Jerusalem auftauchte, wurden ein BND Mitarbeiter und ein Journalist der Springer-Presse sehr nervös: Denn Kaul hatte offenbar Namen von Nazis im Umfeld der BRD Regierung sozusagen im Gepäck. BND und BILD Reporter, bestürzt und verängstigt, drangen in Kauls Zimmer im „King David Hotel” ein und entnahmen dort die entsprechenden Unterlagen, die sofort nach Bonn weitergeleitet wurden. (S. 233)… Aber davon konnte Hannah Arendt nichts wissen (S. 233).
Selbstverständlich fehlt nicht eine Auseinandersetzung mit der Einschätzung Arendts, Eichmann sei eine Art Repräsentant der „Banalität des Bösen“. Der Autor ist sehr kritisch gegenüber Arendts fast schon populärer These von der „Banalität des Bösen“, das in Eichmann sichtbar werde. Leider erwähnt Winkler nicht die Studie von Irmtrud Wojak „Eichmanns Memoiren“ (2001). Darin wird gezeigt, dass sich Hanna Arendt in Jerusalem von der Verteidigungskonzeption Eichmanns sehr täuschen ließ, sie hat Eichmanns Aussagen vor Gericht dann doch Glauben geschenkt. „Sie war in Jerusalem (beim Eichmann – Prozess) intellektuell überfordert,“ schreibt Winkler (S. 240). In den Protokollen der Gespräche Eichmanns mit dem ehemaligen SS Offizier Willem Sassen hätte Arendt erfahren können, Eichmann war alles andere als ein bloß total gehorsamer, ziemlich dummer Deutscher Nazi, also eigentlich banal… Die Philosophin Bettina Stangneth hat die Dialoge Sassen – Eichmann in Argentinien dokumentiert und treffend bewertet. (Bettina Stangneth: „Eichmann vor Jerusalem. Das unbehelligte Leben eines Massenmörders“, Zürich 2011)
Willi Winkler schreibt: „Zum Skandal wurden vor allem aber Arendts Bemerkungen über die Judenräte und damit über die Juden insgesamt. Sie hatten, das war ihr Vorwurf, keinen Widerstand geleistet, als sie nach Auschwitz deportiert wurden…Sie hatten sich gleichschalten lassen und, noch schlimmer, mit den Nazis kollaboriert.“ (S. 256). Aus dem Befremden über die Aussagen Arendts sei offene Feindschaft vieler Juden gegen Arendt geworden… (S. 257).

6. Zum Staat und zu der Regierung in Israel:
Auf Seite 223 schreibt Willi Winkler. „Die Konfrontation mit dem zum Staat gewordenen Zionismus schockiert Hannah Arendt. Sie rebelliert gegen das Völkische (dort).“ Winkler kommt zu dem Schluss: „Hannah Arendt hasste die Regierung Ben Gurions …und die Adenauer Regierung auch.” (S. 234). Und weiter: „Hannah Arendt ist entschlossen, den Juden in Israel und der Welt zu sagen, was ihr an Israel missfällt.“ (S. 224). Und beim Eichmann Prozess sah sie so viele Deutsche, die „so philosemitisch waren, dass einen das Kotzen ankommt.“ (S.224.) Arendt spricht – bezogen auf den Eichmann – Prozess in Jerusalem von der Deutschen „schwerster Krankheit“, so wörtlich weiter, der „Israelitis“ (S. 228.)

7. Zu Theodor W. Adorno:
In ihrer heftigen Kritik an dem Philosophen Theodor W. Adorno (und den ersten Mitgliedern der marxistisch geprägten „Frankfurter Schule“) ist Hannah Arendt geleitet von ihrer Zuneigung zu Walter Benjamin, den sie im Pariser Exil kennenlernte. Dessen wichtiges Manuskript zur Geschichtsphilosophie rettete sie auf der Flucht in die USA. Hannah Arendt beansprucht förmlich, gegen den Marxisten Adorno die authentische und beste Benjamin – Interpretin zu sein. Sie deutete Benjamin als einen Dichter (S. 64), nicht als einen marxistischen Philosophen. Die Frankfurter Schule nennt sie eine „Schweinebande“ (S. 344.), Adorno ist für sie „einer der widerlichen Menschen, die ich kenne.“ (S. 344). Von Adorno wird Arendt „ein altes altes Waschweib“ genannt. Philosophen-Gezänk der sich total wichtig nehmenden Denker…

8. Zu Martin Heidegger:
Willi Winkler bietet sehr ausgebreitet und ausführlich offenbar die meisten der bis jetzt erreichbaren Details zu Hannah Arendts Bemühen, gerade nach dem Krieg, nach dem Holocaust, mit ihrem alten Liebhaber aus Marburger Zeiten, dem Philosophen Martin Heidegger, in Freiburg wieder Kontakt aufzunehmen. Über dieses starke Insistieren Arendts auf Begegnungen mit Heidegger ist ohnehin schon viel geschrieben und über ihre vielfältigen Motive auch viel nachgedacht worden: Wie kann eine Jüdin, nach dem Krieg, nach dem Holocausst, noch so leidenschaftlich interessiert sein, mit Heidegger zusammenzutreffen? Dessen starke Bindungen an die Nazi – Ideologie damals schon bekannt waren. Willi Winkler hat diese Einschätzung: „Hannah Arendt arbeitet an der Rehabilitierung Heideggers.“ (S. 368) Und auf S. 372: „Sie will ihn verstehen und will ihn in dieser Lebensphase besser verstehen als je zuvor.“ Und auf S. 381 „Hannah Arendt hatte ihm längst verziehen. Sie muss nicht aussprechen, wie sehr sie dem Wiedersehen entgegenfiebert.“ Am 26. Juli 1967 dann eine Begegnung mit dem Heidegger, dem Geliebten der Jugend. Im August 1975 eine letzte Begegnung mit dem Greis.

PS1: In der Sammlung vieler (kurzer) Texte und Zitate aus dem Werk Arendts „Denken ohne Geländer“, Piper Verlag 2013, (S. 69) ist auch Arendts Beitrag zu Heideggers 80. Geburtstag 1969 abgedruckt. Darin bewertet sie in kaum präzisen Aussagen Heideggers parteipolitische Verbundenheit mit den Nazis als ein „Nachgeben der Versuchung.“ (S.69)Und sie meint, er wäre „nach zehn kurzen hektischen (sic) Monaten“ (gemeint ist mit dieser wohlwollenden Formulierung tatsächlich Heideggers explizite Nazi-Bindung), wieder „auf seinen angestammten Wohnsitz“ zurückgetrieben worden… Gemeint ist damit wohl, das für Heidegger übliche, angeblich politisch neutrale Seins- Denken, zu dem er wieder gelangte….Merkwürdige, dunkle Formulierungen schreibt da Hannah Arendt, offenbar voller Liebe zu Heidegger, indem sie sie dessen Sprachwelt des Dunklen, des Nebels, übernimmt.
PS2: Am 26. Mai 1976 ist Heidegger gestorben, ob es anläßlich seines 50. Todestages auch sehr viel Aufmerksamkeit geben wird? Wird man Heidegger im Rahmen der aktuellen, auch intellektuellen Zeitenwende nach rechts(außen) Heidegger neu schätzen lernen?

9.
Willi Winkler zeigt in seinem Buch, wie in den Auseinandersetzungen Hannah Arendts nach 1945 sehr viele Nazis in der BRD Politik und BRD Kultur nicht nur präsent, sondern bestimmend waren.
Dies ist heute ein bleibende Herausforderung, eine aktuelle Aufgabe: Rechtsradikale und Rechtsradikalismus in Deutschland, in Europa, den USA usw. öffentlich zu machen und vor den Vernichtern der Demokratie zu warnen. Zumal Rechtsradikale heute unter vielen ideologischen Gewändern auftreten („MAGA“, Nationalismus, religiöser Fundamentalismus, Anti-Islam-Ideologie und Philo-Semitismus als Ersatz für den in diesen Kreisen bisher üblichen Antisemitismus…)
Wichtig bleibt Hannah Arendts Lehre, dass der Mensch als geistiges Wesen sich dadurch auszeichnet, dass er reflektieren kann, dass er also sein eigenes Handeln und Denken nicht nur stets beobachten und wahrnehmen muss, sondern auch bewerten soll … um überhaupt als Mensch gelten und bestehen zu können. Diese eindringliche, philosophisch bestens begründete Lehre Arendts bleibt dringend aktuell: Der Mensch soll sich selbst beurteilen an dem normativen und universellen Maßstab des Kategorischen Imperativs (Kant) und damit auch der Menschenrechte. Mit diesem normativen Wissen werden die USA von Arendt kritisiert, siehe etwa das Buch „Denken ohne Geländer“. Sie spricht dort von „einer grundsätzlichen Ungeistigkeit des Landes“ (S.244)… Und: „Jeder Intellektuelle ist hier (USA) aufgrund der Tatsache, dass er ein Intellektueller ist, in Opposition“ (ebd., geschrieben 1946 in einem Brief an ihren Freund, den Philosophen Karl Jaspers).

10.
Heute werden auch Grenzen im Denken Arendts genannt, wie sollte es bei seriöser Forschung auch anders sein, immer im Wissen, dass Arendt, vor 50 Jahren gestorben, doch nicht zu allen Themen als unsere Zeitgenossin gelten kann. Vom Desinteresse Arendts an speziellen Themen der Befreiung der Frauen wäre zu sprechen und damit auch davon, dass von ihr keine positiven Aufschlüsse zur Gender – Theorien zu erwarten sind oder auch keine Hinweise, wie wir mit dem Kolonialismus umgehen sollten.
Zur Ökologie und der von Menschen gemachten Zerstörung der Umwelt hat sich Hannah Arendt – soweit ich sehe – nicht geäußert.
Zu ihrer eigenen spirituellen, religiösen Haltung müßte wohl ausführlicher studiert werden. Ich finden ihre Äußerungen in einem Brief an Karl Jaspers im Jahr 1951 wichtig: „Alle überlieferte Religion, jüdische oder christliche, sagt mir als solche gar nichts mehr. Ich glaube auch nicht, dass sie irgendwo und irgendwie noch ein Fundament für etwas so unmittelbar Politisches wie Gesetze hergeben können“ (S. 236). Die Macht des Islamismus sah sie nicht oder den hinduistischen Fundamentalismus konnte sie offenbar nicht studieren, auch nicht die reaktionären Tendenzen im Katholizismus oder bei den Evangelikalen… Für Hannah Arendt ist, wie sie an Jaspers schreibt, „ein kindliches, weil nie bezweifeltes Gottvertrauen wichtig… „im Unterschied zum (dogmatischen)Glauben, der ja doch immer zu wissen glaubt und dadurch in Zweifel und Paradoxien gerät.“(S. 236 in „Denken ohne Geländer“).

11.
Was bleibt heute von Hannah Arendt – ein Fazit vermisst man in dem Buch von Willi Winkler, einer sehr umfangreichen Biographie („Ein Leben“)… Spätestens, wenn die „Kritische Gesamtausgabe“ (16 Bände) der Werke Arendts vollständig vorliegt, kann vielleicht mehr zum „Bleibenden“, Bedeutenden, nach wie vor Aktuellen im Werk Hannah Arndts gesagt werden. Leider ist in diesem anspruchsvollen Projekt der Gesamtausgabe keine vollständige Publikation ihrer Briefe vorgesehen, schreibt Willi Winkler (S. 439.) Zur Gesamtausgabe im Wallstein Verlag: LINK https://www.wallstein-verlag.de/reihen/hannah-arendt-kritische-gesamtausgabe.html

Willi Winkler, „Hannah Arendt – ein Leben, Rowohlt Verlag Berlin, 2025, 509 Seiten, 32 €.

Der Religionsphilosophische Salon Berlin hat früher schon einige – z.T. ausführliche Hinweise zu Hannah Arendt veröffentlicht.
Wir nennen hier nur eine Beispiele:

— Über ein neues Buch von Lyndsey Stonebridge
Ein Hinweis von Christian Modehn am 17.5.2024. LINK

— “Die größten Übeltäter sind jene, die sich nicht erinnern”: Hannah Arendt, verstorben am 4.12.1975.
Geschrieben am 20. November 2016.  LINK

— Hannah Arendt: Die Banalität des Bösen, die “lebenden Leichname” und die Überflüssigen.
Geschrieben am 29. Dezember 2012.  LINK

— Hannah Arendt – eine Propagandistin von Martin Heideggers “braunem Denken” ?
Geschrieben am 20. Oktober 2016
Ist Hannah Arendt gebunden an Heideggers eher braunen Denkweg?
Ein Hinweis auf ein verstörendes und inspirierendes Buch von Emmanuel Faye, verfasst 2016  LINK 

— Hannah Arendt: Pluralität und Erfahrung des anderen. Sie haben ihre Wurzeln im Selbstgespräch des einzelnen.
Geschrieben am 4. September 2016.  LINK

Erhellend zum Thema Nazis in der BRD ist in unserem Zusammenhang eine Studie über den Eichmann Verteidiger Robert Servatius: Dirk Stolper: „Eichmanns Anwalt. Robert Servatius als Verteidiger in NS-Verfahren“, Frankfurt a. M./New York 2025, Campus, 498 Seiten, gebundene Ausgabe,  49 €. Siehe dazu die Rezension: https://rsw.beck.de/aktuell/daily/meldung/detail/robert-servatius-anwalt-nazis-eichmann-prozess und auch:  https://www.arendt-research-center.de/team/index.html

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

 

 

Philosophieren im Urlaub: Arbeit oder Erholung?

Ein Plädoyer fürs Philosophieren – auch in den Ferien
Von Christian Modehn am 27.7.2025

1.
Einige Stunden in der Ferienzeit als Philosoph(In) zu erleben, ist vielleicht ein ungewöhnlicher Vorschlag. Der Einwand kommt gleich: Ist denn nicht Philosophie etwas Anstrengendes, ist sie also in gewisser Hinsicht Arbeit? Und wollen wir uns Arbeit zumuten im Urlaub, der doch eher von der Lust am Nichtstun und Spiel, von der Lust an der Entspannung und Faulheit bestimmt sein sollte!
Vielleicht kann aber Philosophie zur Erholung beitragen, wenn man sie als eine besondere Form des Spiels versteht, des Gedankenspiels, als Freude am Fragen, am Zweifeln, am genauen Hinschauen und Verweilen … und als Freude darüber: Durch eigenes Nachdenken etwas mehr Klarheit im Leben erlangt zu haben. Diese Art, Heiterkeit und Klarheit durch eigenes Nach – und auch Voraus- Denken zu finden, nennen wir Philosophieren.

2.
Vorweg, um elementar für Klarheit zu sorgen: Philosophieren hat nichts zu tun mit Grübeln oder Phantasieren oder Tagträumen, was oft gemeint ist, wenn es in der Öffentlichkeit heißt: „Darüber könnte man lange philosophieren“. Etwa, ob der Verbrecher Putin irgendwann einmal selbst seine Kriege beendet…Philosophieren wird so zu etwas Irrealem, Utopischen, Spinösen, Zweifelhaften.

3.
Hingegen ist philosophieren die Praxis der Philosophie. Wie musizieren, bereits schon Klavier- oder Violine-Üben die Praxis der Musik ist. Ohne elementares Philosophieren gibt es keine Philosophie. Nun hat nicht jede(r) Philosophierende die Begabung oder die Zeit, seine Gedanken als „philosophisches Buch“ zu veröffentlichen. So wie auch nicht jeder, der Mozarts Sonaten übt, automatisch im Konzertsaal auftreten wird. Der Unterschied ist nur: Klavierspielen kann nicht jeder (lernen), hingegen Philosophieren ist eine Möglichkeit, die jedem und jeder gegeben ist. Man muss sie nur entdecken. Sie eröffnet auf ungeahnte Art grundlegende Erfahungen des Daseins. Ein Mensch kann unmusikalisch sein, der Mensch ist aber niemals unphilosophisch oder besser: “nicht-philosophierend”!

4.
Philosophieren ist etwas Elementares im Menschen, immer Gegebenes, Geschenktes, oft “schlummernd”, aber immer “aufzuwecken”. Bekanntlich ist der Mensch kein Tier wie etwa ein Hund oder ein Schwein, sondern ein, wie begrenzt auch immer, vernünftiges Wesen der Freiheit. Philosophieren als Leben des Geistes und der Vernunft geschieht immer: Und diese Erkenntnis stellt sich ein, wenn man wahrnimmt, dass jede unserer Entscheidungen Ausdruck unserer eigenen, oft gar nicht thematisierten Philosophie ist.
Ein Beispiel, und es ist ziemlich banal: Ob ich mir für 300 Euro eine Opernkarte für die schon dreimal gehörte „Entführung aus dem Serail“ kaufe oder ob ich diese 300 Euro einer Welthungerhilfe spende oder eine Gruppe von FreundInnen und Fremden (!) zum Essen einlade. In dieser Entscheidung zeigt sich meine Präferenz für bestimmte Werte, zeigt sich, was mir im Augenblick wichtig ist. Da wird mein philosophischer Lebensentwurf mir bewusst.

5.
Dabei wird deutlich: Wir Menschen entkommen sozusagen dem Philosophieren nie, wir sind ins Denken unüberwindbar immer förmlich eingelassen, jede Entscheidung ist Ausdruck unseres Lebensentwurfes. Selbst unsere Frage nach dem Wetter, kann eine philosophische werden, wenn uns bewusst wird: Warum sprechen wir mit anderen so gern übers Wetter? Fällt uns nichts anderes ein?

6.
Und wie ist es nun im Urlaub? Philosophieren beginnt dann etwa mit der Frage: Will ich mir wie seit 3 Jahren bei mir üblich die 40 Grad im Juli in Griechenland in einem überfüllten Hotel wieder zumuten? Mich dem Streß des Fliegens aussetzen und durch diese Form des Reisens die klimaschädlichste Art jeglicher„Fortbewegung“ überhaupt wählen? Oder will ich es wagen, in meiner nahe oder weiten Nachbarschaft, in kühleren Regionen hoffentlich, spazieren zu gehen, einmal in Ruhe die Umgebung und vielleicht die Museen kennenzulernen, vor allem die Natur dort zu erleben oder in Ruhe zu lesen … und eben … zu philosophieren. Und das heißt: In einem ruhigen Raum oder inmitten der Natur die Fragen zuzulassen, die sich dann wie von selbst aufdrängen: Warum ist die jetzt erlebte Ruhe und Stille eigentlich so hilfreich und wohltuend in meinem Leben? Warum berührt mich die Natur in ihrer steten Wandlung? Was bewegt mich da eigentlich etwas schon zu finden? Ist es die Schönheit der Blumen? Oder ihre Vergänglichkeit? Fühle ich mich eins mit der Natur? Was bedeutet deren Werden und Vergehen eigentlich? Jetzt bin ich im Urlaub unterwegs, aber bin ich nicht in Wahrheit immer unterwegs? Aber immer anders unterwegs, bloß: wohin denn? Was ist eigentlich mein Ziel? Wenn ich diese sich aufdrängenden Fragen zulasse, sie bedenke, also reflektierend hin – und herdrehe, an manchen Eindrücken und Erkenntnissen zweifle, dann bin ich schon mitten im Philosophieren.

7.
Aber ist dieses Philosophieren im Urlaub denn nun Arbeit, Denkarbeit? Das Sortieren der Begriffe, das Abwägen der sich mir aufdrängenden Argumente, ist tatsächlich eine Art Arbeit, sie verlangt Konzentration und Mut zur Abwehr jeglicher Ablenkungen. Aber ich verlange niemals von mir, im Urlaub philosophierend, einen langen Essay über Grundprobleme, etwa den Sinn des Lebens im allgemeinen, zu schreiben. Eine definitive Antwort auf die Frage: Was ist Wahrheit? werde ich auch im Urlaub nicht finden. Sich an diese Themen im Urlaub von 3-4 Wochen zu wagen, wäre anstrengende Arbeit, Denk – Arbeit, verbunden mit Lektüren, vielen Fach – Gesprächen, dem Setzen von Fußnoten usw.

8.
Aber zur Ruhe kommen, innehalten, die Umgebung betrachten, die Natur wahrnehmen, ihr in Stille (Kontemplation)  begegnen; eine gotische Kathedrale oder eine Barockkirche betrachten und neugierig erleben und nicht nach drei Minuten wieder verlassen, weil man eine „Sehenswürdigkeit“ abhaken kann auf einer so gfurchtbaren “to-do-Liste” im Urlaub: Es gibt eine “alternative” Tätigkeit im Urlaub und sie ist ein Vergnügen, keine Arbeit. Die ist ein zweckfreies Verhalten, ohne Leistungsdruck, ohne den üblichen “Zeitdruck”, ohne Kontrolle durch einen Chef etc.… Im Philosophieren bin ich völlig frei, mir bislang ungewöhnliche Fragen zu stellen und dabei förmlich aus der Zeit herauszutreten.  Wenn ich in einer Barockkirche zur Ruhe komme: Kann mich die Bilderwelt erdrücken, die Frage lass eich zu: Warum sieht man überall Darstellungen der „Jungfrau Maria“. Ist Maria vielleicht doch eine geheime Göttin im Katholizismus?

9.
Die Auswahl der Themen inmitten eines philosophierenden Alltags im Urlaub  ist endlos. So weit und bunt wie das Leben, so vielfältig wie das Leben des Geistes, der Vernunft und unserer Gefühle. Philosophieren lebt nur von dem Mut, sich seine eigenen Gedanken zu machen und auch vorläufige Erkenntnisse, wenn nicht vorläufige Wahrheiten wie ein Geschenk des Nachdenkens anzunehmen. Für Kant war das philosophische Denken auch eine Frage des Mutes! (“Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen”).
Nur ein Mensch, der selbst philosophiert, wird mit anderen dann auch philosophieren wollen und können. Dialoge der Philosophierenden können inspirierend sein, am besten in kleinem Kreis, wenn man einander respektiert und auch das Zuhören schätzt oder die  „Denkpausen“ des Schweigens nicht als peinlich deutet. Absolute Wahrheiten wird man auch dann nicht entdecken, aber die Vielfalt der Blickwinkel respektieren und aus die eigene begrenzte Sichtweise gegen eine andere natürlich auf andere Art auch begrenzte Sichtweise tauschen, die alsbald aber auch überwunden wird…im Philosophieren.

10.
Manche „philosophierende Anfänger“ sagen mir: Wie sehr es ihnen Denk – Freude bereitet, in der deutschen Sprache einige tatsächlich in die Tiefe führende Worte und Begriffe mit neuem Erstaunen wahrzunehmen und dann philosophierend „auseinanderzunehmen“.
Immer wieder wird dann das Verb „Aufheben“ genannt, das sich als „hoch-heben“, aber auch „ungültig machen”, aber auch als „bewahren“ zeigt. Hegel liebte das Verb aufheben sehr.
Oder: Wiederholen: Ich hole etwas wieder …hole es in meine Gegenwart hinein. Oder auch: Ich repetiere eine alte Erkenntnis, wiederhole übend ein Klavierstück. Oder: Ich besorge, hole mir, etwas Verlorenes wieder…
Oder man denke an das Verb gedenken, das etwa bei Walter Benjamin die Zuspitzung des Ein-Gedenkens erhält. Und damit kann gemeint sein: Das Erinnerte in den eigenen Geist hin-ein-nehmen, also nicht bloß oberflächlich etwas Vergangenes zur Kenntnis nehmen, also bloß historisch – faktisch an Daten denkend gedenken, sondern eben ein-gedenken, d.h. das Erinnerte mit dem eigenen Geist verbinden, das Erinnerte in den eigenen Geist, ins eigene Leben, in die eigene Gefühlswelt hineinnehmen… Sich hineinversetzen….

11.
Oder man philosophiere gerade bei einem Aufenthalt als Tourist im Ausland über „den Fremden“. Wenn ich über die deutsche Grenze gehe, bin ich im Ausland. Dann bin ich in der Fremde, bin ich ein Fremder. Früher mietete man in Pensionen „das Fremdenzimmer“. Aber auch innerhalb Deutschlands, meiner “Nicht – Fremde”, kann ich schnell in der Fremde sein und zum Fremden werden: Ich fühle mich entsetzlich fremd unter religiösen Fundamentalisten aller Konfessionen und Religionen, ich fühle mich absolut fremd unter klassischen Nazis und den nur noch auf die Machtübernahme sinnierenden Nazis der AFD. Fremd können mir auch einige Familienmitglieder werden. Und dann folgt eine andere philosophierende Wahrnehmung: Wer Fremde, etwa Flüchtlinge, als die Anderen, die „nicht zu mir/uns gehören“, in „meinem“ Land als Bedrohung erlebt und diese Menschen rausschmeißen will, vergißt: Dieser nationalistische Feind aller Fremden ist selbst fast überall – auch in seiner eigenen Selbstwahrnehmung – ein Fremder. Wer dann noch weiter denkt, dem zeigt sich wie eine politische Forderung: Es kommt darauf an, Gesellschaften und Staaten so zu gestalten, in der alle Menschen human und gleichberechtigt leben können, im Wissen, dass jeder und jede eigentlich fast immer  fremd oder befremdlich ist: Zunächst ist jeder Mensch ein Fremder, durch Verständnis und Toleranz kann jeder remde zum Freund werden.
In dieser ungerechten Welt ist es üblich, dass es “wertvolle Fremde” gibt, also finanzstarke Fremde, zu denen die Europäer oder die Nordafrikaner gehören, die weltweit explizit als Fremde auftreten können und dann auch erwarten, dass sie im Gastland etwa in Peru oder Ghana als Menschen gut behandelt werden. Nur haben diese „wertvollen Fremden“ sich mit ihrem Geld das Recht erobert, ohne Mühe wieder aus den Ländern des globalen Südens , Peru oder Ghana, ausreisen zu können. Die „demokratischen“ Gesetze der „wertvollen Fremden“ verbieten es aber ihren Gastgebern im globalen Süden, ihrerseits problemlos zu reisen und sich in der Fremde niederzulassen.

12.
Auch das ist zentral beim Philosophieren im Urlaub: Es ist die überraschende Kraft der menschlichen Vernunft: Wir denken etwas, und und gleichzeitig schaut unsere Vernunft auch noch begrifflich auf unser Denken und ihr Resultat: Und stellt die Frage: Stimmt das Wahrgenommene und Gedachte und Erkannte? Unser philosophierendes Denken korrigiert sich also von selbst, man muss es nur zulassen, um immer wieder neue Wahrheiten zu entdecken.

So wird unser Leben zu einem Unterwegssein … zu immer neuen Erkenntnissen oder auch Wahrheiten, die vielleicht umgriffen sind von dieser bleibenden Wahrheit: Der Mensch sollte nie stagnieren, sich nie fixieren. Er sollte also immer ein Reisender sein. Die Alten, die religiösen Menschen zumal, sagten: Der Mensch ist immer ein Pilger.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Die Feinde töten: Aber wertlose und wertvolle unterscheiden!

Ein Hinweis auf die Strategie der „Verlust-Zahlen von Zivilisten“ im Krieg
Von Christian Modehn am 18.März 2025

Ein Vorwort:
Im Krieg werden Menschen zu Objekten, zu Zahlen, zu Ziffern einer „Opfer“ – Statistik. Der völligen Entmenschlichung bzw. Versachlichung des technischen, maschinellen Kriegs – Geschehens entspricht die unwahre, Realität verschleiernde Sprache. Man denke nur an den Putin – Begriff der „Spezialoperation“. Der nun auch in Deutschland wieder übliche Begriff „Kriegswirtschaft“ wird ins Harmlose gewendet und kann/soll Assoziationen wecken etwa an die erfreuliche „Ökowirtschaft“. Und man soll nun dankbar sein, dass Arbeitslosigkeit jetzt kompensiert wird durch die Suche nach „Arbeitskräften“ in der nun aufblühenden Rüstungsindustrie. Allein das übliche Wort „Gefallene“ ist eine Beschönigung. Alle Welt sollte von „ermordeten Soldaten“ sprechen, Ermordete statt „Gefallene“.
Nur wenige Mensch sprechen offen davon, dass die dringend benötige Munition für Kriegsparteien einzig den Zweck hat, Soldaten und „nebenbei“ „leider“ auch unschuldige Opfer als „Kollateralschaden“ zu töten.
Etwas Aufklärung bieten wir hier zu dem eher wenig beachteten, durchaus rassistisch gefärbten Wort „Opferschnittwert“ unter den Nicht – Kämpfenden, also den „Zivilisten“, den hilflosen Bürgern inmitten der Kriege. Dieser „Durchschnitts – Wert“ könnte wert – voll werden fürs Verstehen unserer vom Krieg geprägten Gegenwart, wenn er ideologiekritisch verstanden wird.

Am 20. März 2025 ergänzt: Ein aktuelles Beispiel zur aktuellen Bedeutung dieses Hinweises: 70 palästinenische Zivilisten tötete die israelische Armee vom Dienstag 18. März bis Mittwoch 19. März 2025 im erneuten Krieg im Gazastreifen:  Als aktuelle Bestätigung unserer Hinweise zu den wie immer unverhältnismäßig unschuldig getöteten Zivilisten im Gaza-Streigfen: Es wurde einige wenige führende Hamas-Chefs getötet: „Bei den Angriffen in dieser Woche wurden NUR einige Führungsvertreter der Hamas getötet, darunter der De-facto-Regierungschef des Gazastreifens, der Chef des Sicherheitsdienstes, sein Berater und der stellvertretende Leiter des Justizministeriums.”Quelle: LINK 

1.
Es gilt also, einen so genannten „Wert“, und das kann im Krieg nur „eine wichtige Zahl“ sein, kritisch wahrzunehmen: Es geht um den „Nicht-kämpferischen Opferwert“ , in mühsamer deutscher Übersetzung „Nicht – kombattierender und ziviler Opferdurchschnittwert“ genannt. Auf Englisch ist der Begriff üblich: „Non combattant casuality value“ (NCV). Diese schwierige Formel wird oft auch etwas ausführlicher umschrieben mit „Zufällig erzeugte Verlustzahl von Nichtkombattanten“ oder „Zufälliger Wert (d.h. aber Zahl, Ziffer) der nicht-kämpfenden Opfer“, also der „Zivilisten“.

2.
Ein Krieg führender Staat legt von sich aus fest, wie viele „Zivilpersonen“ möglicherweise sterben, das heißt getötet werden dürfen gemäß dem Kriegsrecht. Es gibt ja bekanntlich ein auf dem Papier stehendes Kriegsrecht, unter anderem das Haager Abkommen oder die die Genfer Konvention. Darin wird geregelt, wie menschenwürdig Kriegsgefangene behandelt werden sollen oder dass Zivilisten nicht gefangen genommen werden dürfen. Nun ist die moderne Kriegsführung (vor allem auch durch den Einsatz von KI) in der Lage vorauszusagen, wie viele Zivilisten bei einer Attacke ums Leben kommen. Das heißt: Der Tod von Zivilisten ist bei bestimmten Attacken durchaus beabsichtigt, selbst wenn er von den Kriegsherren als unvermeidlich dargestellt wird. Um die Zahl dieser zivilen Opfer also handelt dieser genannte „Wert“ , der „Non combattant casuality value“ (NCV). Dieser „Wert“ ist nichts als eine Ziffer der im Krieg „leider“ nebenbei Ermordeten, der unschuldigen Menschen, die vernichtet werden etwa bei einem Bombardement auf ein Krankenhaus, in dem sich (angeblich) immer sehr viele Terroristen verstecken.

3.
Dem „Römischen Statut“ folgend, kann von einem Kriegs- Verbrechen erst dann die Rede sein, wenn ein bewusster und gezielter Angriff auf Zivilisten durchgeführt wird. Das „Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs“ ist die Vertrags – Grundlage des „Internationalen Strafgerichtshofes“ mit Sitz in Den Haag.
„Generell darf man Zivilpersonen per se nicht unter Beschuss nehmen, und die zivilen Opfer dürfen im Vergleich zum erwünschten militärischen Vorteil nicht unverhältnismäßig sein“, berichtet der Spezialist für dieses Thema, der Politologe Prof. Mathias Delori in „Le Monde diplomatique“, März 2025, deutsche Ausgabe, Seite 9.

4.
Wie viele Zivilisten dürfen also – sozusagen mit guten Gewissen – von den Kriegsparteien getötet werden? Diese Zahl der Ermordeten legt eine kriegerische Nation selbst fest, und zwar in dem hier in Nr. 2 genannten „Non combattant casuality value“ (NCV). Hinsichtlich der akzeptierten Zahl „menschlicher Kollateralschäden“ gibt es große Nuancen unter den kriegerischen Staaten, berichtet der schon genannte Prof. Mathias Delori in „Le Monde diplomatique“. Eher verstörende „Werte“ legt Israel aktuell fest, Mathias Delors schreibt: „Die israelische Armee setzt die Zahl der zugelassenen getöteten Zivilisten seit Oktober 2025 sehr hoch an: Sie liegt bei 15 Zivilpersonen, die also getötet werden dürfen, wenn das Ziel des Angriffs nur ein einfaches Hamas-Mitglied ist. Bei einem führenden Hamas – Kader werden bis zu 100 zivile Opfer (der Palästinenser) in Kauf genommen.“ Von der damit gleichzeitigen Zerstörung von Sach- -Objekten, Häusern, Schulen, Krankenhäusern ist dabei gar keine Rede…
Das israelische Militär differenziert unter den palästinensischen Hamas-Feinden zwischen weniger wertvollen (als einfachen Hamas – Leuten) und wertvollen Menschen (Hamas Kader). Und Israel erlaubt sich, je nach (rassistischer?) Wertung mehr oder weniger Zivilisten als Kollateralschaden einzuplanen bzw. hinzunehmen.
Zum Vergleich mit den Kriegen der USA schreibt Prof. Mathias Delori: „Im Luftkrieg der US Airforce gegen den islamischen Staat (IS) lag der `NCV` – Wert“ fast bei NULL für einfache Dschihadisten` und zwischen 5 und 10 für Angriffe auf wertvolle IS Kader“. Darf man daraus auf eine etwas humanere Haltung der US – Streitkräfte im Vergleich zum israelischen Militär schließen? Sicher nicht.

5.
„Die Zahl der zivilen Opfer im Gaza-Streifen ist auch deshalb so hoch, weil die israelische Armee ihre Fähigkeit, militärische Ziele zu identifizieren , mittels Künstlicher Intelligenz (KI) entscheidend verbessert hat… Die neu Technik bietet rund 100 Ziele PRO TAG“, so Prof. Mathias Delori. Und weiter schreibt er: „ Die extrem hohe Zahl der Toten im Gazakrieg beträgt nach manchen Schätzungen 180.000 Menschen.“ Diese hohe Zahl der von der Armee Getöteten geht also auf den enormen technischen „Fortschritt“ mit IK zurück. Wieder einmal wird die dunkle Seite von technischem Fortschritt sichtbar…

6.
Zum Vergleich: Die Zahl der Todesopfer in Israel im Krieg gegen die Hamas seit dem 7. Oktober 2023 ist: 1.200 israelische und ausländische Todesopfer und 5.431 Verletzte in Israel. Diese äußerst geringen Opferzahlen Israels im Krieg sind auch durch die starke internationale militärische Unterstützung Israels bedingt. Quelle LINK
. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1417316/umfrage/opferzahlen-im-terrorkrieg-der-hamas-gegen-israel/

7.
Ideologischer Hintergrund für diese Bereitschaft etwa des israelischen Militärs, viele Zivilisten zu töten, ist die Vorstellung von „menschlichen Schutzschildern“, die von der HAMAS eingesetzt werden. „Damit rechtfertigt die israelische Regierung die hohe Zahl der zivilen Todesopfer in Gaza“, betont Prof. Mathias Delori. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock hat die Ideologie des Staates Israel übernommen, als sie im November 2024 sagte: „Zivile Orte können ihren Schutzstatus verlieren, weil Terroristen diesen missbrauchen.“ Die TAZ berichtete darüber am 14.11.2024. In einem Interview in der TAZ bezog sich Tanya Boulakovski auf die Aussage von Baerbock. Tanya Boulakovski vertritt Fälle von Menschen­rechts­ver­letz­ungen vor internationalen Menschenrechtsgremien und ist Menschenrechtsbeauftragte bei MENA Rights Group: Sie betonte: „Diese Rhetorik (Baerbocks) ist gefährlich und könnte den Weg dafür ebnen, weitere Angriffe auf die Zivilbevölkerung zu rechtfertigen, im Libanon oder in Gaza. Angriffe auf zivile Infrastruktur dürfen niemals gerechtfertigt oder normalisiert werden. Daher rufen wir alle gemeinsam Deutschland dazu auf, sich vielmehr für die Einhaltung der internationalen Gesetze zum Schutz der Zivilbevölkerung einsetzen.“ LINK (TAZ, https://taz.de/Menschen­rechts­ver­letz­ungen-durch-Israel/!6049136/
Nicola Perugini und Neve Gordon schreiben (Fußnote 3) im „Journal of Palestine Studies“, „dass Israels Behauptungen, die Hamas habe ihr Hauptquartier unter dem Al-Schifa und dem Al – Quds Krankenhaus eingerichtet, erfunden waren. Die Behauptungen wurden dazu genutzt, Angriffe auf diese Krankenhäuser moralisch und juristisch zu rechtfertigen“, so zitiert Prof. Mathias Delori die beiden Wissenschaftler in dem genannten Beitrag in „Le Monde diplomatique“

8.
Wenn Zivilisten zur bloßen Zahl einer Statistik der offenbar mit gutem Gewissen getöteten „Kollateralschäden“ werden, sollte eigentlich die philosophische, die ethische Reflexion als Kritik beginnen: Aber soweit wir sehen, zieren sich PhilosophInnen bei diesem Thema. Man hat es ja mit einer Art Grauzone zu tun. Kollateralschaden gilt nur dann nicht als Kriegsverbrechen, wenn er bei einem Angriff auf ein militärisches Ziel als Tötung von Zivilisten als „Nebenwirkung“ entstanden ist und nicht beabsichtigt war. Wer soll das objektiv nachweisen?
Auch über die Entmenschlichung der Zivilisten wäre zu sprechen, sie werden zur Nummer, zur Zahl.
Und vor allem über eine Form des Rassismus wäre zu sprechen: Etwa über die Tatsache: Wenn im Inland ein westlicher Staat gegen Terror kämpft, ist der NCV Wert bei Null anzusetzen, denn es sind ja wertvolle westliche Menschen. Der Politologe Prof. Mathias Delori schreibt: „Wenn ein “terroristischer” Angriff auf dem Territorium eines westlichen Staates stattfindet, ist der von Polizei und Militär eingesetzte NCV nahe Null, was etwa konkret bedeutet, dass sie keinen westlichen Zivilisten gefährden wollen. Wenn Terroristen jedoch in der nicht-westlichen Welt tätig sind und dort westliche Menschen gefährden, steigt der NCV deutlich an. Es können Kollateralschaden unter der einheimischen Bevölkerung entstehen… Aus diesem Grund verwenden westliche Streitkräfte unterschiedliche Instrumente, je nachdem, ob sie in einem westlichen Land oder in anderen Teilen der Welt operieren. Konkret heißt das: Nur Elitekommandos vor Ort im europäischen Fall, bewaffnete Drohnen und Kampfbomber-Jets in letzteren, in der nicht – westlichen Welt“. (Fußnote 1)

9.
Auf eine kritische philosophische Reflexion zur Realität der „menschlichen Schutzschilder“ soll ausdrücklich hingewiesen werden: Die Philosophin Judith Butler hat gezeigt, dass der Begriff „menschliche Schutzschilder“ und deren bei Nichtbeachtung auch in Kauf genommene Tod vieler das Mitgefühl neutralisieren kann. Denn einige Menschen könnten ja Mitgefühl entwickeln, wenn wirklich von getöteten Menschen in dem Zusammenhang die Rede wäre. Judith Butler schreibt: „Wir sollen also glauben, dass Kinder (als menschliche Schutzschilder) nicht wirklich Kinder sind, nicht wirklich lebendig sind, sondern dass sie bereits zu Stahl als Schutzschilder geworden sind. Der Körper eines Kindes (als Schutzschild) wird also als ein militarisiertes Metallstück wahrgenommen“, dieses Metallstück (Kind) soll den Angreifer hemmen, das ist aber nur selten der Fall. (Fußnote 2).

10.
Unser Thema und unser Hinweis hier sind nur ein Element in der jetzt immer umfassender werdenden Kriegs – Gewöhnung auch in den noch verbliebenen Demokratien: Kriege treten mit aller Gewalt und, man möchte sagen, absolut in den Mittelpunkt der Politik. Alles dreht sich um Kriege. Die vielen Millionen Hungernder und Leidender im globalen armen Süden sind vergessen.
Das ist das universelle Leiden: Kriege belasten Geist und Seele der Menschen. Kriege sollen ja Geist und Seele aller verwirren, so wollen es die Kriegsverbrecher in den Diktaturen.
Ein Ausweg aus dieser Situation ist jetzt kaum zu sehen angesichts der Autokraten und Diktatoren, die nicht nur das internationale (Kriegs)Geschehen nach ihrer eigenen perfiden, perversen Laune steuern. Sie spielen sich wie ausgerastete wütende Götter auf, die die Zukunft unserer Welt systematisch zerstören.
Es ist der Nihilismus der heute herrschenden Autokraten, die in ihrem Wahn die Menschheit vergiften. Dieser Nihilismus zeigt sich als absoluter Nationalismus, der wiederum nichts anderes ist als ein ins Politische übersetzter Egoismus verwirrter Ideologen.

Fußnote 1:
Mathis Delori, „The Politics of Emoticons on Contemporary wars“ (“Die Politik der Gefühle in den heutigen Kriegen“). In: Handbook of Critical International Relations. Editor: Steven C. Coach, Edward Elgar Verlag. Dort S. 305– 323.

Fußnote 2:
Judith Butler, „Frames of War“, London, Verso-Editio, 2010. Vor allem das Einführende Kapitel. Auf Deutsch erschienen: „Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen“. Raster des Krieges. Campus, Frankfurt am Main 2010.

Fußnote 3:
Die beiden Autoren in ihrem Aufsatz „Medical lawfare. The Nakba and Israels attacks on palestinian healthcare“, in :Journal of Palestine studies, 53/1.2024.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Der philosophische Glaube – Eine Alternative für heute!

Die Erkenntnis von Karl Jaspers – provozierend-aktuell!
Ein Hinweis von Christian Modehn am 11.2.2025.

1.
Im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin haben wir schon oft darauf hingewiesen: Die Krisen der Kirchen (in Europa und der westlichen Welt) sind Krisen der Inhalte, die diese Kirchen immer noch verbreiten. Mit anderen Worten: Wir haben dafür plädiert, einen elementaren, einfachen, vernünftigen Glauben zu entdecken und zu pflegen, indem die vielen unverständlich und unglaubwürdig gewordenen Glaubensinhalte (Dogmen) beiseite gelassen werden. Das tun die Kirchen aber bisher nicht, sie verwenden alle Energie auf so genannte Reformen, die aber nicht mehr sind als bescheidene Struktur-Reformen. Oder glaubt jemand im Ernst, der alles beherrschende Klerus der katholischen Kirche würde jemals Frauen als Priesterinnen zulassen?

2.
In unserem Plädoyer für Diskussionen über die not-wendige Vernunftreligion haben wir an die Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie von Immanuel Kant ausführlich erinnert: Das heißt an seine Form einer elementaren christlichen (!) Religion, wie sie sich aus der Vernunft selbst gestalten und entwickeln lässt. LINK.

3.
In diesem Hinweis jetzt geht es um eine andersartige, aber zum Thema sehr gut passende Erkenntnisse des Philosophen Karl Jaspers. Für ihn stand die Frage nach der Bedeutung von Religion und speziell von Christentum immer im Zentrum seiner Interessen und vielfältigen Publikationen.

4.
Wir wollen erinnern an den „Philosophischen Glauben“ von Karl Jaspers. Vor allem in zwei Büchern hat er sich ausführlich zum Thema geäußert: „Der philosophische Glaube“ (1948) und „Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung“ (1962). Den philosophischen Glauben hat Jaspers durch philosophische Überlegungen freigelegt, das ist die eine Bedeutung des Titels. Aber dieser so entwickelte Glaube hat dann auch – zweitens – bestimmte philosophische Inhalte.

5.
Der philosophische Glaube wird durch philosophische Reflexionen auf die Existenz des Menschen entwickelt. Existenz heißt Sein – Können, Existenz also als Möglichkeit, auf verschiedene Weise meine Freiheit zu gestalten. Und Existenz ist als Bezeichnung für den Menschen immer auch geistiges Überschreiten bestimmter Grenzen. Dieses Grenzen-Überschreiten ist Transzendieren, das im Sinne von Jaspers dann auch als „Ziel“ des Transzendierens eine ungreifbare, undefinierbare Transzendenz („Gott“ möglicherweise genannt) berührt.

6.
Innerhalb der Reflexionen des Menschen auf das, was ihn eigentlich in seinem Dasein im Letzten gründet und begründet, kommt Jaspers zu der Erkenntnis: „Wo ich eigentlich ich selbst bin, bin ich gewiss, dass ich es nicht durch mich selbst bin.“ (Fußnote 1). Ich bin also notwendigerweise auf etwas Gründendes verwiesen. Das mich und das Dasein aller anderen (die Welt) Gründende kann ich nicht als wissenschaftliche, als exakte und beweisbare Erkenntnis vorweisen: Die Annäherung an dieses alles Gründende ist eher eine Form des Glaubens. Darum der Titel „philosophischer Glaube“. Und wenn er sich begrifflich äußert, dann in „Chiffren“, wie Jaspers sagt, in Worten, die nur Hinweise sind, die „vieldeutige Spiegelungen der Transzendenz sind“ (Hans Saner), sie entziffern die Existenz, sie werden der Transzendenz „nie habhaft“ (Hans Saner, Fußnote 3)

7.
Den Menschen zeichnet also die geistige Verbundenheit mit etwas letztlich „Gründendem“ aus, dieses ist aber in seiner universalen Qualität ganz anders als alle Objekte dieser Welt. Für Jaspers ist dieses Gründende die Transzendenz. Und wer diese Erkenntnis vollzieht, sein Leben frei gestaltet, entwickelt in sich selbst den „philosophischen Glauben“.
Und weil Menschen in allem Denken und aller Praxis – auch umthematisch – dieses alles Gründende sozusagen nicht los-werden, also immer von ihm in der geistigen Freiheit begleitet werden, kann Jaspers sagen: „Der philosophische Glaube ist der unerläßliche Ursprung allen echten Philosophierens“ (Fußnote 2). Hans Saner, der langjährige Assistent von Karl Jaspers schreibt: „Jaspers würde sagen: Ich habe mich für (philosophischen) Glauben entschieden, weil das philosophische Denken in einem objektiven Sinn letztlich auf Glauben zurückgeht.“ (Fußnote 4). In seiner großen Studie „Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung“ von 1962 schreibt Jaspers noch deutlicher: „Glaube ist die Kraft, in der ich mir gewiss bin aus einem Grunde, den ich wohl bewahren, aber nicht herstellen kann… Glaube ist der Grund vor aller Erkenntnis. Der Grund wird im Erkennen heller, aber nie bewiesen“ (a.a.o. s 49).

8.
Der philosophische Glaube ist als explizites „Bekenntnis“ Sache einer Minderheit von einzelnen, denn Philosophie ist für Jaspers immer auch Dialog, im letzten ist es aber auch dann der einzelne, der sich selbst in sein Denken vertieft. Dieser philosophische Glaube kennt keine Dogmen wie der kirchliche Glaube, dieser beruft sich auf Offenbarung, auf „heilige Bücher“, auf das Sprechen Gottes selbst und auf die Interpretation dieser Worte allein durch einen erwählten Klerus. Im philosophischen Glauben ist es immer der einzelne, der sich wertschätzen kann, seine eigenen existentiellen Erfahrungen mit der ungreifbaren, aber sozusagen nur „berührbaren“ Transzendenz zu machen. So sehr Jaspers die in Dogmen erstarrte Offenbarungsreligion in den Kirchen kritisiert: Für ihn ist der eigentliche philosophische Gegner der Nihilist, er kapselt sich in seiner Welt ein, ignoriert, dass der Mensch immer wesentlich Grenzen überschreitet, also transzendiert, in der Offenheit lebt.

9.
Von aktueller Bedeutung ist: Jaspers weist explizit jeden Anspruch der Religionen auf Ausschließlichkeit (etwa: „Wir haben die göttliche Wahrheit“) zurück. Diesen „Ausschliesslichkeitsanspruch“ kritisierte Jaspers schon 1948 nicht nur im Christentum, sondern auch „im jüdischen Gesetzesglauben und in der nationalen Religion, im Islam“ (Fußnote 5). Auf S. 89 f. bietet Jaspers eine ganze Liste, welche Dogmen und Lehren der monotheistischen Religionen aus der Sicht des philosophischen Glaubens „preiszugeben“ (so wörtlich) sind.
„Preiszugeben ist die nationale Religion, wie sie in den frühen Stadien der biblischen Religion als israelische Jahwereligion wirklich war…
Preiszugeben ist die Gesetzesreligion und die Priesterherrschaft, wie sie über das Alte Testament von christlichenKirchen fortgesetzt und beansprucht wird.“
Und jetzt, entscheidend, schreibt Jaspers: „Preiszugeben ist die Christusreligion, die in Jesus Gott sieht und, auf einen Opfergedanken des Deuterojesaja angewandt, auf Jesus das Heilsgeschehen gründet…“ Jaspers legt allen Wert darauf: „Der Christusgeist ist die Gegenwärtigkeit des Göttlichen in jedem Menschen“ (Fußnote 6). LINK zum Konzil zu Nizäa.

10.
Welche wesentlichen Lehren des philosophischen Glaubens nennt Jaspers u.a. (Fußnote 7):
„Der Gedanke des einen Gottes.
Das Bewusstsein der Entscheidung zwischen Gut und Böse im endlichen Menschen.
Die Liebe als Grundwirklichkeit des Ewigen im Menschen.
Die Tat als Bewährung des Menschen.
…. die letzte und einzige Zuflucht bei Gott.“

11.
Jaspers weiß, dass der philosophische Glaube inhaltlich gesehen „blaß“ wirkt. Aber Jaspers will mit seinem Vorschlag auch den religiösen Glauben erneuern, er denkt dabei an die verborgenen Elemente des philosophischen Glaubens im religiösen Glauben. So kann es zu einer möglichen „Verwandlung der Religion in Philosophie oder philosophische Religion kommen. Das wird gewiss nicht der Weg der Menschheit sein, wenn auch vielleicht der Weg einer Minderheit“ (Fußnote 8). Vielleicht heute auch derer, die aus den Kirchen zu tausenden austreten, aber doch eine spirituelle Verbundenheit mit dem alles Gründenden z.B. suchen,

12.
Der Vorschlag von Jaspers, einen philosophischen Glauben in der Existenz selbst zu entdecken und zu fördern, ist auf vielfache Kritik auch von Theologen gestoßen. Philosophisch hat sich Jürgen Habermas davon abgesetzt und einige Argumente im ersten Band seiner großen Studie „Auch eine Geschichte der Philosophie“ ( Suhrkamp, 2019, S 100 ff.) mitgeteilt: Indem Jaspers von dem undefinierbaren gründenden Grund aller Existenz spricht, „lenkt er den philosophischen Glauben und damit die Philosophie überhaupt von den Wissenschaften weg an die Seite der religiösen Lehren und metaphysischen Weltbild (S. 101). Die Frage aber ist: Kann man wissenschaftlich exakt von dem Thema, dem gründenden Grund, sprechen? Oder bewegt sich dann nicht alles selbstkritische Denken in einer gewissen „Grauzone“ der Melange von Sagbarem und Unsagbarem, also von Spiritualität?

13.
Es gilt, die Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie Jaspers`(aber auch seine politische Kritik an Zuständen der BRD damals) wieder intensiver zu studieren, aber es sollte nicht bei einem bloß historischen Interesse bleiben: Die Entwicklung eines „philosophischen Glaubens“ oder einer heutigen Vernunftreligion bleibt dringend, wenn auch vonseiten der TheologInnen dazu kaum konstruktive Anregungen zu erwarten sind.

Fußnote 1:
„Jaspers“. Rowohlts Bild Monographien. Von Hans Saner. 1999, S. 102.

Fußnote 2:
Ebd.

Fußnote 3:
Ebd, S. 103.

Fußnote 4:
Hans Saner, S. 103.

Fußnote 5:
Karl Jaspers, „Der philosophische Glaube“, Fischer Bücherei ,1958, S. 83.

Fußnote 6:
ebd., S. 91.

Fußnote 7:
ebd. S. 92

Fußnote 8:
ebd. S 93.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Warum sehen wir zu, wie Millionen Menschen verhungern? Weil es “bloß” im Sudan ist?

Die 21. der „unerhörten Fragen“.
Von Christian Modehn am 18. August 2024.

Das Motto: “Speise den vor Hunger Sterbenden, denn ihn nicht speisen heißt: ihn töten” (Weisheit der alten Kirche, “Decretum Gratiani” C 21, dist.86).

1.
Wer weiß auf diese unerhörte Frage eine treffende Antwort? Oder vielleicht Antworten? Solche, die mehr sind als diplomatisch verpackte Entschuldigungen?

Wer sucht überhaupt noch Antwort auf diese unerhörte Frage? Wer glaubt noch, etwas Sinnvolles bei der Frage tun zu können?

Wer ist angesichts der Tatsachen vom tausendfachen (welch anonyme Zahlenangabe ohne die Gesichter und Namen) Hungersterben in Sudan und Ost – Kongo am Rande der Verzweiflung?

„Was derzeit im Sudan passiert, ist absolut intolerabel. Fast vier Millionen Kinder sind dort akut unterernährt, 730.000 laut UNICEF besonders schwer betroffen. Diese Kinder werden innerhalb weniger Wochen tot sein, wenn nichts geschieht“ (Der Arzt Nicolas Aschoff, am 17.8.2024, SZ)

2.
„Der nicht-vor Hunger sterbende Teil unserer Welt“, zum Beispiel Europa und Nordamerika, kreist heute, wie immer schon, um sich selbst. Man könnte von Egozentrismus, Nationalismus, Rassismus, Verachtung der „anderen“ sprechen.

Die westliche, nicht-hungernde Welt, ist auf ihre eigenen, unmittelbaren Wichtigkeiten mit einer solchen Bravour und Totalität fixiert, dass weite Teile menschlichen Lebens und gesellschaftlichen Zusammensein in „entlegenen“ Regionen kaum beachtet werden.
Die Armen, die Hungernden, die Verhungernden und Verdurstenden stören in der herrschenden Welt der Nicht – Hungernden, der Reichen, der Kapitalisten. Dabei ist auch der jetzige europäische Wohlstand Resultat des Kolonialismus, des damaligen wie des heutigen Kolonialismus.

3.
Zum Beispiel:
Ist die üblich gewordene, höchste Ausführlichkeit der deutschen Medien tagtäglich für die Wahlkämpfe in den USA jetzt wirklich ein absolut dringendes Thema, das in breitester Breite „behandelt“ werden muss? Oder ist dies auch eine letztlich unterhaltsame Ablenkung von humanen Katastrophen, etwa in Afrika. Damit leugnen wir nicht, dass Trump eine Katastrophe ist, vor der gewarnt werden muss…

Und weiter: Sind die einigen tausend Toten im Krieg Israel – Gazastreifen, Palästina, etwa wertvoller und wichtiger und bedeutender als die vielen Zehntausenden von Toten und Verhungernden im Krieg im Süden oder in Ost-Kongo?

4.
Wie lässt sich unser Blick auf die Welt im ganzen befreien von der eurozentrischen bzw. us-amerikazentrischen Ideologie?

Wahrscheinlich ist die ideologische Befangenheit der nicht – hungernden Welt die Ursache: Diese armen Menschen haben keinen Namen, werden nicht interviewt, dazu sind sie vielleicht längst schon zu schwach … in den KZ ähnlichen grausamen Hilfs-Unterkünften irgendwo im Zufluchtsort Tschad. Es ist die Ideologie der Herrenmenschen, die das humane Leben weltweit zerstört.

5.
Tatsache ist in unserer Welt 2024: Wir lassen mit vielen diplomatischen Worten die Hungernden – weltweit – krepieren, selbst wenn manche Hilfsorganisationen spärlich Hilfe leisten und internationale Organisationen zu Beratungen in New York oder Genf zusammenkommen…um danach zu sagen: „Das Gespräch war wichtig, aber mit Ergebnissen haben wir nicht gerechnet.“ Wie lange wollen wir solches noch hören?

6.
Die Sorge um die praktisch gelebten Menschenrechte ist nicht nur ein berechtigter Kampf hier in Deutschland gegen die rechtsextreme AFD und ihre (Neo-) Nazi – Führer.
Die Sorge um die Realisierung der Menschenrechte verpflichtet uns als Menschen, Menschsein heißt: Über die engen Grenzen unserer „Heimat“ und unserer Nation hinauszuschauen, hinauszudenken. Und entsprechend zu handeln. Wagt jemand noch zu sagen: Dass dieses unser Verhalten, dieses unser Leben, uns glücklich macht, uns Sinn stiftet, aus Einsamkeit befreit? Diese Frage klingt ein bißchen religiös, ein bißchen christlich, aber davon wollen die meisten ja nichts mehr wissen hierzulande…

7.
Bekanntlich nehmen arme afrikanische Staaten wie Tschad und Kenia – mit Mühe zwar, aber immerhin – sehr viele tausend Flüchtlinge aus dem Sudan und anderen Terror – Staaten auf.
„Toll“, „vorbildlich“ sagen dann Politiker der satten Staaten Europas, einige nennen sich noch christlich, und versuchen die Grenzen für Flüchtlinge fast total zu schließen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Warum Rechtsradikale noch für Meinungsfreiheit eintreten

Die große Lüge der Rechtsradikalen und Faschisten

Ein Hinweis von Christian Modehn am 26.Mai 2024

1.
Rechtsextreme Politiker, auch rechtsextreme Katholiken, streben mit aller Gewalt nach der Herrschaft über die Medien (aller Art). Auf den äußerst rechtslastigen französischen Katholiken und Milliardär und Medienmogul Vincent Bolloré haben wir im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin schon vor einiger Zeit hingewiesen. Bolloré wird in Deutschland bislang kaum wahr – genommen. LINK:

2.
Solange diese Rechtsextremen, die von Politologen und Kulturwissenschaftlern auch heute Faschisten genannt werden, nicht die Herrschaft übernommen haben: So lange plädieren und werben diese Rechtsextremen, wie jetzt die AFD, ungeniert, mit Parolen im Wahlkampf (Mai 2024) „Meinungsfreiheit schützen“. Ja, diese rechtsextremen Führer leben von der demokratischen Meinungsfreiheit, solange, bis sie die Macht übernommen haben. Diese Leute sind nichts als Lügner, und alle, die diese Lügner wählen und unterstützen, kann man wegen ihrer geringen Urteilskraft bedauern oder besser noch gesprächsweise zur Vernunft bringen? Für die Philosophin Hannah Arendt ist das Fehlen von kritischer Urteilskraft (etwa der Nazi – Anhänger) Hinweis auf irregeleitetes, nur noch banales Denken und banales Leben. Zu diesem Urteil kam Hannah Arendt beim Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem.

3.
Der Wiener Kulturwissenschaftler Andreas Gerlach veröffentlicht in „Geschichte der Gegenwart“ vom 26. Mai 2024 eine Studie (von Umberto Eco angeregt) über heutigen Faschismus. Wir zitieren aus den Ausführungen Gerlachs zur Kampf der rechtsextremen um die totale Medien – Herrschaft:

„So lange für Meinungsfreiheit sorgen, bis sie sie abschaffen können. Bis zur Übernahme der Medien ist ein scheinbares Eintreten für Meinungsfreiheit das wichtigste Mittel der Faschisten zur Erzwingung, in den Medien aufzutauchen. Sie wollen als Meinung wie alle anderen auch wahrgenommen werden. Sobald dann irgendwelche rechten Milliardäre oder Parteien ein Medium wie Twitter, eine Zeitung wie die NZZ oder öffentlich-rechtliche Sender gekauft haben oder die Gremien besetzen können, bricht diese scheinbare Begeisterung für den freien Markt der Meinungen, wie am Beispiel Polens, an der Übernahme eines ganzen Medienimperiums in Frankreich oder an Elon Musks Übernahme von Twitter gesehen werden kann. Die modernen rechten, reaktionären und oftmals völlig offen faschistischen Bewegungen haben viele Eigenschaften, aber eine wichtige, die Umberto Ecos Liste als fünfzehntes Element hinzugefügt werden kann, ist die ewige Fixierung des Faschismus auf seine mediale Repräsentation. Deswegen ist dort gerade das wichtigste Kampffeld gegen die Faschismen des 21. Jahrhunderts. Man darf den Faschisten nicht die Medien überlassen.“ (Quelle: LINK ) 

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

 

Omri Boehm (Philosoph und Kritiker der Politik Israels) erhält den Leipziger Buchpreis 2024

Von Christian Modehn am 8.3.2024

Am 21.3.2024 eingefügt: Die Rede von Omri Boehm in Leipzig mit dem Titel “Freundschaft in finsteren Zeiten”. LINK

Über das in Leipzig wichtige geehrte Buch von Omri Boehm: “Radikaler Universalismus”:  LINK

Die Laudatio auf Omri Boehm und sein Buch “Radikaler Universalismus” hielt in Leipzig die Soziologin Eva Illouz (Frankreich/Israel). LINK

………………………………………..

Unser Hinweis vom 8.3.2024:

1.
Man darf am 20. März 2024 gespannt sein, wenn in Leipzig der israelisch – deutsche Philosoph OMRI BOEHM den Leipziger Buchpreis erhalten wird. Die Laudatio wird die Soziologin Eva Illouz halten. Omri Boehm wurde 1970 in Haifa (Israel) geborren, er besitzt die israelische und die deutsche Staastbürgerschaft, er arbeitet vor allem in New York an der “New School for Social Research” als Philosophieprofessor.

Und wir können nur hoffen, dass den richtigen Aussagen Omri Boehms zur gegenwärtigen Politik in Israel (siehe unten) die Attacken erspart bleiben, die der jüdische Filmemacher Yuval Abraham nach seinen Aussagen, auch auf der “Bären Gala”der Berliner Filmfestspiele, erleben musste. Yval Abraham (Regie: “No Other land”) hatte die rechtsextrem beherrschte Politik Israels treffend als “Apartheids-Politik” bezeichnet. Und er hatte deswegen Morddrohungen erhalten, weil bestimmte “übereifrige Deutsche”  seinen Argumenten unterstellten,  sie seien antisemitisch… LINK zu Yval Abraham.

2.
Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung wird seit 1994 verliehen, LINK,  er gehört in Deutschland zu den bedeutendsten Literaturauszeichnungen. Veranstalter des Preises sind der Freistaat Sachsen, die Stadt Leipzig, der Börsenverein des Deutschen Buchhandels und die Leipziger Messe.
Omri Boehm erhält den Preis zu Beginn der Leipziger Buchmesse am 20. März 2024 im Leipziger Gewandhaus.

3.
Omri Boehm zeigt u.a. in seinem wichtigen Buch „Radikaler Universalismus“ einen Ausweg aus den ständigen Kriegen Israel – Palästina: Es ist die Idee/Utopie eines gemeinsamen Staates von Juden und Arabern. Die viel besprochene Zweistaatenlösung lehnt Omri Boehm ab.

4.
Aktuell wichtig erscheint uns die Deutlichkeit, mit der Boehm in seinem Buch „Radikaler Universalismus“ (Propyläen – Verlag) den Staat Israel und seinen Zionismus, vor allem die jetzige Regierung Israels kritisiert. Schon 2020 verfasste er eine „Streitschrift“ „Israel. Eine Utopie“. Nach dem Terroranschlag der Hamas am 7.10.2023 wiederholte Boehm seine Grundüberzeugung: “Wir haben es mit einer unerträglichen Situation zu tun, wo das Unmögliche notwendig ist. (…) Wir müssen Vorschläge für eine politische Lösung in der Zukunft finden. Die einzige Alternative zum entgrenzten Krieg ist der Kompromiss einer Föderation.“
Omri Boehm spricht auf Seite 150 des Buches „Radikaler Universalismus“, von der „Apartheidsstruktur, die Israels jahrzehntelange Siedlungspolitik im Westjordanland bestimmt.“

5.
Das Wort Apartheidsstruktur öffentlich zur Qualifizierung von Israels Westjordan – Politik zu gebrauchen, ist hierzulande doch „ein bißchen“ mutig. Man denke an die Aufgeregtheit, die anläßlich der Berliner Film – Festspiele die Debatten bestimmten, als auch das Wort „Apartheidspolitik Israels“ fiel…

6.
Ebenso erstaunlich, dass Boehm den Staat Israel und die westlichen Demokratien dadurch gekennzeichnet sieht, „dass sie für immer auf der gewaltsamen Unterdrückung anderer gegründet“ sind.(S. 152). Noch deutlicher auf Seite 153: Israel könne beides sein, ein Staat der Holocaust – Überlebenden und ein kolonialistischer Apartheidsstaat. Israel kann dieses beides nicht nur sein, sondern, so fügt Boehm wörtlich hinzu: „Ist es auch“ (S. 153).

7.
Mit dieser Kritik will Omri Boehm überhaupt nicht einen Antisemitismus fördern. Und auch ein deutscher Journalist, der Böhms Aussagen und Urteile dokumentiert, ist kein Antisemit, sondern wie Boehm ein Kritiker der von rechtsextremem Denken bestimmten gegenwärtigen Politik Israels! Diese Politik ist ein heftiger und für Humanisten und Philosophen unerträglicher Widerspruch gegen die vernünftige Politik, die den „radikalen UNIVERSALISMUS“, „Jenseits von Identität“ lebt. Zum Buch „Radikaler Universalismus“ der Hinweis des “Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin” ,veröffentlicht am 30.9.2022: LINK.

8.
Omri Boehm will nur für Klarheit sorgen über die gegenwärtigen Zustände in Israel und Palästina; er denkt und argumentiert zugunsten eines besseren, eines gerechten Israel für Juden wie auch selbstverständlich für Araber.

9.
Unser herzlicher Glückwunsch zum Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung für Omri Boehm.

10.

Zur “weiten Herkunft” (und damit der universalen “Verbreitung” dieser Erkenntnis, also des universell gültigen Prinzips der selben Menschenwürde für alle Menschen. Nur ein Beispiel: Marc Aurel (121 – 180 n.Chr.) sagt in seinen “Selbstbetrachtungen”: „Ich habe klar erkannt, dass der Mensch, der gegen mich fehlt, in Wirklichkeit mir verwandt ist, nicht weil wir von demselben Blut oder derselben Abkunft wären, sondern wir haben gleichen Anteil an der Vernunft, der göttlichen Bestimmung.“ (Seite 22 in Reclam, „Marc Aurel, Selbstbetrachtungen 2001). Und auch: „Jedes vernünftige Wesen ist mit mir verwandt“, (ebd. S. 34, 3. Buch)
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